Impressum
Lektorat: Dr. Uwe Breitenborn
Layout und Satz: Anne-Katrin Breitenborn
Foto Titelseite: Harmonikamuseum Trossingen
2. Auflage 2011
Arkadien-Verlag Berlin
www.arkadijunold.de
ISBN 978-3-940863-140
eISBN 978-3-940863-393
Printed in Germany
Druck über Projekte-Verlag Cornelius GmbH – Buchfabrik Halle – Hansering 20, 06108 Halle
Alle Rechte vorbehalten.
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auszugsweise, erfordert die Zustimmung des Verlages.
Eine Kulturgeschichte der Mundharmonika
Vorwort 2010
Instrumentale Vielseitigkeit? Eine notwendige Vorbemerkung
Die Mundharmonika in Deutschland
Die Geschichte einer Rechtfertigung
Die Geschichte einer nicht gelungenen Emanzipation
Die Geschichte eines diskreditierten Symbolgehaltes
Zwischen Verspieltheit und Strenge
Deskription, Materialien und Methodik
Die ersten Töne. Frühformen der Mundharmonika und ihr Gebrauch
Taubenschlaggebastle – Die ersten Mundharmonikas
Modischer An-Klang. Zur Funktion, Verbreitung und Beliebtheit der ersten Mundharmonikas
Von den Wolken auf die Straße – Erste Charakterisierung des Instruments
Wackeliges Ergebnis – Ein Nachspiel
Erste Auseinandersetzungen um ein Instrument
Ähnliches Schicksal: Akkordeon
Erste Regeln zum Gebrauch der Mundharmonika
Zusammenfassung
Veränderte Spielweise und Gebrauch der Mundharmonika ab Mitte des 19. Jahrhunderts
Der Einfluss instrumententechnischer Weiterentwicklungen
Neue Mundharmonika-Typen
Zwei Deckel
Das ganze Volk macht Musik! Ein Exkurs zu den Veränderungen im 19. Jahrhundert
Ware Mundharmonika. Von der handwerklichen Herstellung zur industriellen Massenfertigung
Das Geschäft mit der Mundharmonika
Das Spiel der Ingenieure
Zusammenfassung
Vom Mitspielen zum Vorspielen
Die deutsche Mundharmonika-Orchesterbewegung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts
Die Entstehung von Mundharmonika-Orchestern im Rahmen der Arbeitervereinsgründung
Das Berliner Mundharmonika-Orchester Stern als Beispiel der Arbeiterorchesterbewegung
Veränderungen von Instrument, Spielweise, -situation und -inszenierung
„Disziplin, meine Herren, Disziplin!“
Der musikalische Auftritt
Die Vernetzung von Mundharmonika-Spielbewegung und Industrie
Die Mundharmonika als Unterrichtsmittel in der Schule
Kurzes Fazit
Amerika
Going your own way…
Schiefe Töne – Das Richter-Modell. Ein instrumententechnischer Exkurs
Der Blues auf dem Richter-Modell
Talking
Trains and Fox Chases
Ein kurzer Ausblick anstelle eines Fazits
Anhang
Materialien, Fakten und Zitatsammlung
Stand der Aufarbeitung der Mundharmonika-Geschichte
Voraussetzungen der Mundharmonika-Geschichte
Die Erfindung der Mundharmonika
Mundharmonika-Sorten und -Sonderformen
Ausbreitung des Mundharmonika-Gewerbes
Industrialisierung: Entwicklung einer weltweit verbreiteten Mundharmonika-Industrie
Die Entwicklung der Mundharmonika-Industrie am Beispiel der Matthias Hohner A.G.
Abbildungsverzeichnis
Literatur- und Quellenverzeichnis
Namensregister
Über den Autor
1993 spielte ich schon seit mehr als zehn Jahren Mundharmonika und suchte Kontakt zu Spielern. Denn wie man dieses Instrument gut spielt bzw. wie man es erlernt, konnte mir bis dato niemand sagen. Als ich mich auf die Suche machte, ahnte ich nicht was mich erwartete. Es tat sich ein faszinierender musikalischer Kosmos auf – in Clubs und auf Szene-Festivals. Spieler wie Steve Baker, Carlos del Junco, Roland van Straaten, Howard Levy, Franz Chmel, Mark Ford und Andy Just revolutionierten gerade die Spieltechniken. Mein Verständnis der Mundharmonika, insbesondere des Bluesharpspiels, wurde komplett auf den Kopf gestellt. Meine Sicht auf die Dinge hatte ich Jahre zuvor den Platten von Muddy Waters, Sonny Boy Williamson II und Konzerten von Bernd Kleinow abgehört. Ich jagte dem dampfenden Bluessound nach, wie er in dem Titel „Tribute to Big Walter“1 – eingespielt von Carey Bell, Billy Branch und Harmonica Phil Wiggins in Frankfurt an der Oder – zu hören war. Nun war alles anders! Die Mundharmonika erlebte Anfang der Neunziger eine Renaissance. Ich fragte mich wie das möglich ist und woher eigentlich dieses kleine, aber wirkungsmächtige Instrument stammte?
Davon erzählte ich meinem Mentor und Freund Prof. Dr. Jörg Petruschat. Ich bin ihm immer noch dankbar, dass er sich anstecken ließ und mich ermutigte, diese Fragen wissenschaftlich anzugehen. Es entstand eine Konzeption für vorliegende Studie, die ich 1995 als Magisterarbeit einreichte und mit der ich das Studium an der Humboldt Universität zu Berlin abschloss. Allen Dozenten der Berliner Schule der Ästhetik, Kultur- und Theaterwissenschaft, insbesondere Prof. Dr. Karin Hirdina, Prof. Dr. Günter Mayer, Prof. Dr. Dietrich Mühlberg, Dr. Erhard Ertel sei an dieser Stelle für die Vermittlung von Methoden und Werkzeugen gedankt, Kultur, Geschichte, Philosophie und Kunst zu verstehen.
Das Material für diese Arbeit war zum damaligen Zeitpunkt in keiner Bibliothek zu finden, der Musikwissenschaft war die Mundharmonika nicht mal eine Randnotiz wert. An das Internet, so wie wir es heute kennen und nutzen, war noch nicht zu denken. Die wissenschaftliche Ausgangsbasis fand ich schließlich in der Sammlung der Hohner-Werke, im Harmonikamuseum in Trossingen. Dem dortigen Leitungsteam Martin Häffner und Dr. Haik Wenzel bin ich für die umfangreiche Betreuung sehr dankbar. Außerdem recherchierte ich ergiebig in Kanada, in den USA und in Berlin.
Als die Arbeit fertig war, schickte ich sie einigen professionellen Spielern und Musikwissenschaftlern. Reaktionen blieben jedoch zunächst aus. Die Arbeit verschwand in der Schublade. Nur der Musikjournalist Christoph Wagner interessierte sich dankenswerter Weise für ein Kapitel der Arbeit und veröffentlichte dieses 1996 in seinem Buch Die Mundharmonika – Ein musikalischer Globetrotter.
Mittlerweile hat sich die Situation geändert. 2010 gibt es weltweit viele aktive Spieler. Die Szenen in Amerika, Europa und Asien sind – nicht nur durch Internet und Reisemöglichkeiten – gut vernetzt und eine neue Generation von Spielern wuchs nach. Die Möglichkeiten im Musikmarketing und Livegeschäft, ja sogar im klassischen Konzertgeschäft sind enorm gewachsen, trotz der Exotenrolle der Mundharmonikaspieler. Oder vielleicht gerade deshalb?
Auch für meine Studie änderte sich die Situation. Steve Baker, Pionier eines neuen Denkens über die Mundharmonika, die Musikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Tadday und Arkadi Junold, der dieses Buch verlegt, ermutigten mich, einer breiteren Öffentlichkeit diese Arbeit zur Kenntnis zu geben. Sie liegt hier in einer überarbeiteten und lektorierten Fassung vor, entspricht aber im Kern jener Arbeit von 1995. Für die strukturierende Hilfe und inhaltliche Auseinandersetzung beim Entstehen des Textes möchte ich ganz herzlich Doreen Prasse danken. Dank auch an Dr. Cornel Ionescu, der den Text für die Veröffentlichung nochmals fachlich gelesen hat.
Mein guter Freund und hartgesottener Musikliebhaber Dr. Uwe Breitenborn lektorierte dieses Buch, Satz und Layout lagen bestens in den Händen von Annkatrin Breitenborn. Beiden gilt mein ganz besonderer Dank.
Für die Zusammenarbeit bei der Durchführung des internationalen Mundharmonikafestivals Zungenschlag 1996 und 1999 in Berlin, danke ich Elke Moltrecht. Dem Berliner Mundharmonikastammtisch, insbesondere den Spielern Dietmar Hummel, Andre Serfas, Matthias Stolpe, Markus Kunz danke ich, dass sie nicht locker lassen, wenn es um die Organisation von Konzerten und Treffen für Mundharmonikaspieler geht. Nichts ist schöner als selbst Mundharmonika zu spielen. Dank all den Musikerkollegen, die mich an ihrer Seite spielen ließen und lassen. Danke für diese tollen glücklichen Momente: Burghard Kühn, Ted Pierce, Dirk Michaelis, Thomas Maser, Gerd Conradt, Lutz Glandien, Waldi Weiz, Magda Piskorczyk, Reinhardt „Daisy“ Kehl, Mike Shelley, Tony Vega, Alexander Blau, Robin Hemingway, Simon Pauli, Klaus Kluge, Peter Schmidt, die Musiker von Engerling, Blues and Loose, Preußisch Blau, 17 Hippies, Machwerk, Blue Smoke, Kamikaze Blues Band, Mr. Speiches Monokel Blues Band und dem Rundfunkorchester Babelsberg. Adam Sikora danke ich für die Einweisung in die Spieltechniken von Sonny Terry.
Und Ihnen, lieber Leser, wünsche ich ein Aha-Erlebnis in der Hoffnung, dass Sie gleich im Internet weiterlesen, vor allen Dingen weiterhören. Mundharmonika-Aufnahmen der letzten hundert Jahre sind dort zu finden – die älteste ist von 1904. Und vielleicht lassen Sie sich anstecken und stöbern mal in Ihrem Tonträgerfachgeschäft und erkundigen sich nach einem nächsten Konzerttermin mit Mundharmonikaspielern.
Meinem viel zu jung verstorbenen Freund und grandiosen Spieler Igor Flach (* 12. 03. 1966; † 08. 03. 2008) verdanke ich die Haltung, nicht still zu stehen, sich für die Mundharmonika immer wieder auf den Weg zu machen. Heute freue ich mich auf das Erscheinen des Buches und gehe in zwei Stunden zum Soundcheck für ein Konzert in einem Berliner Club.
Berlin, 14. Februar 2010
1Höre: American Folk Blues Festival 82 (AMIGA 1983).
„She has the sweetes voice I heard,
so full of clear vibration,
And she can trill like any bird
With richest intonation.“
Mr. Alured Bilderbeck, My Harmonica (1905)
„Die Harmonika, besonders die Mundharmonika, erinnert mich immer an den Krieg. Ihr Geblase hat so etwas Dußlig-Trauriges, der Spieler putzt sich gewissermaßen musikalisch die Zähne und paßt gar nicht auf, was da aus ihnen beiden herausquillt, aus seiner melodischen Zahnbürste und ihm. […] So ein Krieg war das. Aufgebaut auf der Eselsgeduld eines überdrillten Volkes, das längst vergessen hatte, wozu es auf der Welt war, fortgeführt nach dem Gesetz der Trägheit […], geschoben von Jahr zu Jahr, endlos, sinnlos, leer wie die Musik einer Mundharmonika […] Spiel weiter, guter Mann! Man hört’s doch immer wieder gern.“ Kurt Tucholsky, Harmonika (1927)2
Oberflächlich gesehen spielt die Mundharmonika eine Gauklerrolle unter den Musikinstrumenten. Als Lagerfeuerheule mit ihren „trötenden“ Effekttupfern schienen ihre Fähigkeiten vor allem am Rande des musikalischen Geschehens festgeschrieben zu sein, vielleicht als Illustration der Sparte „sentimentaler Folksong“. Mit dem saloppen Spruch „Lass mich blues in Ruhe“3 haben manche versucht sich von zu eifrigen Bluesharmonikaspielern abzuwenden. Andere glaubten zu wissen dieses Ding sei von schwarzen Sklaven nach dem Baumwollpflücken gebastelt worden.
Aber schaut und hört man genauer hin, ist festzustellen, dass die Mundharmonika merkwürdiger, in allem bedenkenswerter ist. Die Leidenschaft unzähliger Mundharmonika-Spieler hat eine eigenständige „Mundharmonika-Klangwelt“ hervorgebracht, in der die unterschiedlichsten Qualitäten und Nuancen wahrzunehmen sind. Man weiß und hört heute, dass einer Mundharmonika wesentlich mehr als nur Effekte zu entlocken sind. Sie wird konzertant gespielt. Und unter den Mundharmonika-Spielern herrscht nach wie vor die Meinung, dass die Möglichkeiten der Mundharmonika längst nicht an ihr Ende gekommen sind.
Die Ursachen dafür liegen in den sehr flexiblen Eigenschaften des tonerzeugenden Prinzips der Mundharmonika. Das Prinzip der freischwingenden Durchschlagzunge ist einige tausend Jahre4 alt und wurde in den verschiedensten Formen des Musizierens verwendet. Aber im Vergleich etwa zu dem weitaus bekannteren tonerzeugenden Prinzip der Saite wurde dieses Prinzip immer wieder vergessen. Gründe liegen in der historisch unterschiedlichen Konstruktion des Hörens. Generell ist festzuhalten: das Auf und Ab der Durchschlagzunge wiederholt sich auch in der Geschichte der Mundharmonika.
Dem Auf und Ab, diesem „Irgendwo“ der Mundharmonika, ihrer symptomatischen Ortlosigkeit gilt das Interesse dieser Studie. Es geht um die Geschichte der Mundharmonika, ihrer Spielweisen und ihrer Bedeutung innerhalb miteinander verwobener musikalischer, pädagogischer und wirtschaftlicher Interessen. Dabei können natürlich nicht alle Aspekte der Geschichte umfassend bearbeitet werden. Vielmehr geht es um eine Erkundung des bisher aufgearbeiteten empirischen Materials, um einen weiteren komplexen Baustein zu einer Kulturgeschichte der Mundharmonika.
Drei Prozesse erachte ich dabei als besonders wichtig: Erstens soll der Zusammenhang zwischen musikalischen und außermusikalischen Aspekten der Mundharmonika erfasst werden. In welcher Weise beeinflussen und organisieren außermusikalische Aspekte wie z. B. die kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen ihren Gebrauchszusammenhang?
Zweitens lassen sich anhand unterschiedlicher Spielweisen und -inszenierungen die musikalischen Normierungen und „Freiräume“ in den verschiedenen Etappen der Mundharmonika-Spielentwicklung beschreiben.
Drittens sieht man deutlich, wie die instrumententechnische Weiterentwicklung, eingebettet in komplexe kulturelle, soziale und vor allem ökonomische Zusammenhänge, das Verhältnis von Instrument und Spieler bestimmt und damit Impulse für Entwicklungen verschiedener Mundharmonika-Spielweisen gibt.
Der erste Teil dieser Studie beschäftigt sich mit den Frühformen der eigentlichen Mundharmonika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Der zweite Abschnitt fokussiert die Mundharmonika als Industrieprodukt im Kontext des Modernisierungsprozesses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Daran anschließend rücken die Spiel- und Gebrauchszusammenhänge der Mundharmonika am Beispiel der Orchester- und Schulorchesterbewegung der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland in den Mittelpunkt. Zur gleichen Zeit findet sich parallel dazu die Mundharmonika in einem innovativen Kontext in Amerika wieder. Der abschließende Teil wird sich mit den Auswirkungen dieses neuen Kontextes auf die kreative Neubestimmung und Weiterentwicklung der Mundharmonika-Spielweisen beschäftigen.
Genereller Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Mundharmonika in ihrem Herkunftsland Deutschland als relevantes Musikinstrument tendenziell eher ausgeblendet ist. Als Zentren des Mundharmonika-Spiels gelten derzeit Nordamerika (USA, Kanada) und Asien (Japan). Hier gibt es nicht nur eine große Anzahl von Spielern, sondern dort leben auch die meisten, die noch immer die Spielweisen der Mundharmonika weiterentwickeln.
2Die Weltbühne, H. 37 / 1927 vom 13.9.1927, S. 425.
3Das Wort „bloß“ wurde durch „blues“ ersetzt. Dieser Spruch stammt aus der DDR und bedeutete, von einer bestimmten klischeehaften Bluesrezeption „die Nase voll“ zu haben.
4Siehe Anhang: Voraussetzungen der Mundharmonika-Geschichte.
Warum ist in Deutschland die sogenannte „Mundharmonikabewegung“ verdorrt und versackt? Warum hat sich in Amerika bis heute eine lebendige Kultur des Mundharmonika-Spiels bewahrt? Mögliche Antworten auf diese Fragen lassen sich aus der Kulturgeschichte des Mundharmonika-Spiels generieren. Drei wesentliche Phänomene der Geschichte der Mundharmonika in Deutschland sind dabei zu entdecken und seien nachfolgend vorgestellt.
In Deutschland steht und stand die Mundharmonika seit ihrem Beginn in einem ständigen Rechtfertigungsprozess um ihre „musikalischen Qualitäten“. Das dokumentieren einerseits die ständigen Bemühungen der Befürworter, die die Mundharmonika als ein Musikinstrument verteidigen und andererseits die Zweifel an ihrer musikalischen Berechtigung durch die Kritiker. Die Geschichte der Mundharmonika ist immer auch eine Geschichte ihrer Kritiken. Seit ihrer Existenz ist sie von einer Frage begleitet: Kann man auf ihr „ernstzunehmende“ Musik machen oder nicht? Bezüglich eines Klaviers wird diese Frage niemals gestellt. Gründe für die Rechtfertigungsbemühungen um die Mundharmonika als Instrument mögen weit zurückliegen, in der Unbestimmtheit der Mundharmonika sind sie in jeder Hinsicht zu finden. Schon in der Aneignung dieses kleinen Instruments steckten Tücken. Denn solange niemand genau sagen konnte, wie eine Mundharmonika zu klingen habe, wo und wie sie zu spielen sei, war ihre Definition des Gebrauchs und Klanges offen. Es existierte kein legitimierter Diskurs über ihre Spielweisen, ihre soziale Zuordnung und ihren Wertekanon.
So eröffnete sich ein kreativer Freiraum, in welchem sich verschiedenste Menschen betätigten: Hersteller, Verkäufer, Pädagogen, Musiker, Laien, Freunde und Feinde der Mundharmonika. Der Weg vom Hersteller über den Spieler zum Ort des Gebrauchs und zurück ist ein verwinkelter Weg. Die Mundharmonika war und ist einem ständigen kulturellen Experiment ausgesetzt. Selbst die Erschließung der musikalischen Seite, das Erlernen des Mundharmonikaspiels, brachte Schwierigkeiten. In den Auseinandersetzungen, die um den musikalischen Wert der Mundharmonika geführt wurden, standen unter anderem die spezifischen Eigenheiten des Instruments und die benötigten Fähigkeiten des Spielers zur Diskussion (z. B. die Synthese aus Blasen und Ziehen der Luft, um Töne, Klänge und Geräusche zu erzeugen), die in der gesamten Instrumenten-Spielgeschichte neu waren. Da musste etwas Unbekanntes entdeckt und erlernt werden.
Aus heutiger Sicht ist deutlich erkennbar, dass sich die Mundharmonika erst über verschiedene Etappen von einem „bloß Effekte machenden Ding“ zu einem konzertanten Musikinstrument entwickelte. In Deutschland war die Mundharmonika nicht von vornherein als ein Musikinstrument anerkannt. Die Auseinandersetzung um den musikalischen Wert des Instruments war dabei stets auch mit der Auseinandersetzung um kulturelle Werte aufgeladen.