Living Legends

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Des Räubers Gewissen

Maja Köllinger

Für alle,

deren Seelendunkel manchmal erdrückend scheint.

Auch ihr tragt einen Funken Licht in euch.

Lasst ihn strahlen.

»Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele, und niemand kommt, um sich daran zu wärmen.«

Vincent van Gogh

Inhalt

Teil I

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil II

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Teil III

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

Fortsetzung folgt

Danksagung

Ebenfalls von Maja Köllinger erhältlich:

Teil I

Prolog

Wir sind immer noch dieselben

Lynn

Wir haben uns entschieden.

Wir haben nichts bereut.

Wir werden bleiben.


Ich atmete tief ein und aus, während mein Blick über die spiegelnde Wasseroberfläche des Canal Grande glitt. Das hier war also unser neues Zuhause. Unsere Wahlheimat. Venedig.

Ich kniff mich selbst in den Arm, um mich davon zu überzeugen, dass es tatsächlich der Wahrheit entsprach. Allein das Gefühl von Haut auf Haut, die eigenartige Form des Schmerzes, die durch mich hindurchschoss, veränderte alles.

Ich bin die Gleiche wie noch vor wenigen Tagen, als wir Fra Mauro besiegt haben. Und doch ist alles anders.

Irgendetwas hat sich in mir gewandelt, als er mich absorbiert und kurz darauf wieder ziehen lassen hat.

Ich bin nun ein Mensch. Sterblich. Verletzlich. Schwach.

Ein Mensch mit der Seele eines Schutzgeistes.

Wer bin ich?

Am meisten machte mir das Fehlen meiner Gaben zu schaffen. Als hätte die erlöste Seele Fra Mauros meine Fähigkeiten mit sich genommen.

Selbst Nic war das alles nicht ganz geheuer. Er tat so stark, doch wenn er dachte, dass ich nicht hinsah, musterte er mich nachdenklich, beinahe traurig.

Nur weil ich keine überirdischen Kräfte mehr besaß, hieß das nicht, dass ich mit einem Mal vollkommen unfähig war.

Solange ich zurückdenken konnte, war ich Nics Schutzgeist gewesen. Er konnte mir nichts vormachen. Ich wusste genau, wie er sich fühlte, selbst wenn er sich nicht im Klaren darüber war. Und momentan machte er sich mehr Sorgen über mich als um sich selbst.

Seine Verletzungen heilten gut, doch ehrlich gesagt hatte ich mehr Bedenken wegen seines geistigen Zustands. Es war so viel geschehen innerhalb der letzten Tage und Wochen. Die Zeit war im Zeitraffer an uns vorbeigezogen, während wir scheinbar immer noch auf der Stelle traten.

Seit jener Nacht vor etwa einem Monat, seit unserem Kampf und unserem Kuss hatte sich alles geändert. Obwohl wir noch immer dieselben waren.

Kapitel 1

Menschsein

Nic

Schwärze lullte mich ein. Sie umhüllte mich wie eine Decke. Sie schützte mich und nichts konnte mir etwas anhaben. Ich fühlte mich geborgen. Meine Gedanken drifteten immer weiter ab. Die Kontrolle über meinen Körper entglitt meinem Bewusstsein. Schwerelos wurde ich von der Realität hinfort gelenkt.

»Nic! Hilf mir!« Ein Wimmern drang aus dem Echo des Nichts zu mir durch und ließ mich aufhorchen. Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch die Dunkelheit klebte an meinen Wimpern und hielt sie geschlossen.

War das Lynn?

Steckt sie in Schwierigkeiten?

»Lynn? Bist du das? Wo bist du?«, wollte ich rufen, aber meine Lippen verweilten stumm aufeinandergepresst. Als sei mein Körper in Marmor gehauen worden. Versteinert, wie gelähmt. Ich konnte mich nicht bewegen, sondern mich nur durch diese fremde Macht lenken lassen. Die Schwärze wirkte mit einem Mal nicht mehr wie ein Schutz vor der Außenwelt, sondern wie eine Mauer, die mich von der Wirklichkeit trennte.

Vor meinem inneren Auge spielte sich die Szene ab, die mein Herz immer und immer wieder zerfetzt hatte in den vergangenen Tagen.

Lynn, wie sie mir einen entschuldigenden Blick zuwirft und sich von mir abwendet.

Lynn, die einen Deal mit Frau Mauro eingeht.

Lynn, deren Lebensenergie absorbiert und in finstere Macht umgewandelt wird.

Nur um mich zu verschonen.

Ich bin schuld.

Sie hat sich nur meinetwegen darauf eingelassen.

Ein Schrei schwoll in meiner Kehle an, während ich immer wieder durchlebte, wie sich Lynn mit Tränen in den Augen von mir weg- und dem sicheren Tod entgegendrehte.

Die Steinschicht, die meinen Körper umgab, begann zu splittern. Risse zogen sich über meine Gliedmaßen, Klumpen bröckelten von meiner Haut, bis ich mich langsam selbstständig wieder bewegen konnte.

Der Drang zu schreien verstärkte sich immer mehr, bis schließlich das Gestein von meinen Lippen gesprengt wurde und sich ein Ruf entfaltete, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich befreite mich damit aus meinem eigenen Albtraum.

»Lynn!«

Kerzengerade saß ich im Bett und keuchte schwer. Schweißperlen krochen über meine Stirn und liefen an meinen Schläfen hinab. Ich wischte sie unachtsam hinfort, während ich meine hektische Atmung beruhigte.

Mein Herz raste, als sei ich einen Marathon gelaufen, und das Shirt, das ich mir für die Nacht übergezogen hatte, war von Schweiß durchtränkt. Es klebte wie eine zweite Haut an mir.

Es musste bereits früh am Morgen sein, denn die ersten Sonnenstrahlen schlichen sich in das bescheidene Apartment, das Lynn und ich bewohnten.

Die Finsternis lauerte nur in den entlegensten Ecken des Zimmers, ansonsten wurde die Einrichtung von einem blassen Schimmer umspielt, der förmlich über die Möblierung floss.

Es war ein Traum.

Bloß ein Traum.

Nicht die Realität.

Ich vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte meine Gedanken zu erden, um wieder zur Ruhe zu kommen. Ein Ding der Unmöglichkeit.

In den letzten Wochen war so vieles geschehen, was ich nicht verstand. Lynn und ich hatten eine unfassbare Reise hinter uns gebracht, den Dämonenherrscher Fra Mauro aufgespürt und verhindert, dass er ganz Venedig einäscherte. Mit seinem Gefolge aus Höllenwesen wäre das ohne unseren Widerstand ein Leichtes gewesen.

Doch schlussendlich hatten wir ihn aufgehalten. Genauer gesagt Lynn. Sie hatte ihre Existenz von ihm absorbieren lassen und in seinem Inneren das verlorene Seelenfragment gefunden, das Fra Mauro Erlösung geschenkt hatte. Der einstige Herrscher wurde gespalten in seine gute und seine böse Seite, ebenso wie seine Seele zuvor schon gespalten war. Zerfetzt von seinem eigenen Inneren, war es für ihn unmöglich, sich weiterhin an seine Unsterblichkeit zu klammern und der Tod hatte ihn schließlich ereilt.

Allerdings ergaben sich aus dieser Situation zwei Probleme, mit denen ich nicht gerechnet hätte.

Erstens: Das Dämonenheer Fra Mauros verflüchtigte sich und zerstreute sich in alle Himmelsrichtungen. Es stand außer Frage, dass wir in Venedig blieben und die Augen offen hielten nach entlaufenen Höllenwesen. Schließlich konnte sich ein ganzes Heer unmöglich einfach in Luft auflösen, richtig?

Das zweite Problem stellte sich allerdings als weitaus schwieriger heraus als ein entlaufenes Dämonenheer. Zumindest in meinen Augen. Ich hatte Lynn geküsst. Nachdem ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen, hatte mich eine solche Verzweiflung gepackt, dass ich bereit war, mein eigenes Leben für sie zu riskieren und Fra Mauro mit bloßen Händen anzugreifen, obwohl ich offensichtlich in der Unterzahl gewesen war. Ich hatte mich gegen eine Armee und ihren König gestellt, nur weil die verschwindend geringe Chance bestanden hatte, dass ich Lynn wiedersehen könnte.

Als ich sie dann in meine Arme schließen konnte und mir sicher war, dass sie noch lebte und das Mädchen war, ohne das ich mir ein Leben gar nicht mehr vorstellen konnte, wäre es eine Sache der Unmöglichkeit gewesen, sie nicht zu küssen.

Doch seitdem hatte sich alles verändert.

Lynn hatte sich nicht wie erwartet in einen Geist zurückverwandelt und verblieb bis heute in ihrer menschlichen Form. Keiner von uns beiden wusste, wie wir damit umgehen sollten und ob es in diesem Fall eine Lösung gab. Jetzt, wo es keine Hindernisse und Barrieren zwischen uns beiden gab, schienen wir die Probleme selbst zu erschaffen, die verhinderten, dass wir zusammen glücklich wurden. Als hätten wir Tag für Tag einen weiteren Stein auf die unsichtbare Mauer gelegt, die uns nun voneinander trennte.

Seit jener Nacht hatte ich sie nicht mehr geküsst. Obwohl mein Herz wie wild schlug, wann immer sie mich ansah. Obwohl meine Gedanken sich beständig um sie drehten, als sei sie meine Sonne. Obwohl meine Fingerspitzen kribbelten, wann immer die Möglichkeit bestand, sie zu berühren.

Doch irgendetwas hielt uns zurück. Vielleicht der Gedanke, dass sie sich jeden Moment wieder in einen Geist zurückverwandeln könnte. Eine Beziehung zwischen uns beiden hatte keine Zukunft. Wir hatten keine Perspektive.

Also taten wir, was wir am besten konnten. Wir verdrängten die Erinnerung an diesen besonderen Augenblick und konzentrierten uns auf das Wesentliche. Überleben in einer Welt voller Gefahren und das Aufspüren von Höllenbewohnern.

Inzwischen war ich mir allerdings gar nicht mehr so sicher, ob die Dämonen nicht auch bereits in meinem Inneren schlummerten.

Lynn

»Lynn!« Sein Schrei riss mich aus meinem traumlosen Schlaf. Seit ich in einem menschlichen Körper steckte, musste auch ich auf die regenerativen Methoden der Sterblichen zurückgreifen. Schlafen gehörte also von nun an ebenso zu meinem Alltag wie umfangreiche Mahl­zeiten und Klogänge.

Allein der Gedanke daran, über Stunden hinweg bewegungs- und bewusstlos herumzuliegen und nichts tun zu können, verursachte mir Übelkeit.

Allerdings unterschied mich eine Sache von den anderen Menschen: Ich träumte nicht.

Während Nic die Erlebnisse des vergangenen Tages in Traum­bildern verarbeitete, war ich dazu einfach nicht imstande. Stattdessen versank ich in einer Welt abseits der Realität. Ich betrat einen Raum, in dem das Nichts mein ständiger Begleiter war und meine Probleme nicht existierten. Als würde ich durch die Zeit schweben und von ihr hinfort getragen werden.

Doch nun war ich wach. Aufgeweckt durch den Schrei von Nic, der im Nebenzimmer schlief.

Ich verharrte still und wartete.

Die dünne Decke umhüllte mich wie ein wärmender Kokon. Ich musterte die Wand vor mir, traute mich kaum zu atmen. Obwohl uns eine Mauer aus Stein trennte, wagte ich es nicht, einen Laut von mir zu geben.

Er hat also immer noch Albträume.

Seit jener Nacht konnte Nic nicht mehr ruhig schlafen. Entweder streifte er mitten in der Nacht durch die Wohnung und saß stundenlang am Küchentisch, bis die Sonne aufging, oder er schrie meinen Namen. Kurz nach unserem Kampf gegen Fra Mauro, als wir in unser Apartment gezogen waren, war er in der ersten Nacht in mein Zimmer gekommen und hatte unschlüssig im Türrahmen gestanden, als wüsste er nicht, was er da gerade tat. Bis zu jenem Abend hatten wir immer im gleichen Zimmer geschlafen. Doch die Tatsache, dass ich nun ein Mensch war und offensichtlich kein vollwertiger Schutzgeist mehr, hatte eine Barriere zwischen uns kreiert, die ich einfach nicht überwinden konnte.

Es stand quasi außer Frage, dass ich ein eigenes Zimmer bekam. Früher hatte es keinen von uns beiden gestört, wenn ich mich im selben Raum befand, in dem Nic gerade schlief. Was hatte sich geändert?

Die Antwort lag wohl auf der Hand.

Ich.

Ich habe mich verändert.

In der Nacht, in der er zu mir gekommen war, hatte ich die Grenzen allerdings unbeabsichtigt noch weiter verschärft. Anstatt mit Nic zu reden und ihm zu zeigen, dass ich immer noch für ihn da war, obwohl ich ein Mensch war, hatte ich mich schlafend gestellt.

Nic war auf mich zugekommen und hatte innegehalten, bevor er sich abrupt auf dem Absatz umgedreht hatte und aus dem Zimmer gestürmt war. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er damals schon gewusst hatte, dass ich nur so tat, um die Konfrontation mit ihm zu umgehen.

Und nun lag ich hier, mit dem gleichen miserablen Gefühl wie damals, und wusste nicht, ob ich es riskieren sollte, auf ihn zuzugehen. Mir war bewusst, dass ich ihn trösten und für ihn da sein sollte, aber ich konnte es nicht. Früher hätte ich mich ohne zu zögern zu ihm gesellt und ihm das Gefühl vermittelt, dass er nicht allein war.

Wie soll ich für Nic da sein, wenn ich an meinen eigenen Emotionen und Problemen ersticke?

Im Moment war selbst eine flüchtige Umarmung zu viel. Wir sahen uns nicht mehr in die Augen und fokussierten uns auf die Aufgabe, die wir uns selbst gestellt hatten.

Dämonen aufspüren und jagen.

Das können wir.

Darauf sollten wir uns beschränken.

Alles darüber hinaus ist dazu verdammt, schiefzugehen.

Und so kniff ich meine Augen fest zusammen, um die Wirklichkeit aus meinen Gedanken zu verbannen, ebenso wie dieses hässliche Gefühl in meinem Inneren, das mich überfiel, sobald ich auch nur daran dachte, mich gegenüber Nic zu verschließen.

Doch es ging nicht anders.

Es musste sein.

So war es besser für uns beide.

Einige Stunden später

Es war inzwischen zur Routine geworden, dass ich Nic bis zu seiner neuen Arbeitsstelle begleitete. Wie auch in Rom verdiente er sich hier sein Geld als Barista hinzu und arbeitete in einem kleinen Café am Ufer des Canal Grande. Das Geld reichte gerade so, um die winzige Zweizimmerwohnung zu finanzieren. Ich fühlte mich deswegen furchtbar, schließlich blieb die ganze Arbeit wortwörtlich an Nic hängen. Am liebsten hätte ich mich auch um eine Stelle bemüht, allerdings hatte ich absolut nichts vorzuweisen. Keinen Schul­abschluss, keine Berufserfahrung, einfach nichts.

Ich kaute auf meiner Unterlippe und wusste nicht, was ich tun sollte. Hinzu kam, dass ich auch im Bereich Finanzen absolut keinen Schimmer hatte. Nic wollte mir nicht einmal mehr die Einkäufe anvertrauen, nachdem ich einmal für den dreifachen Preis Lebensmittel eingekauft hatte, weil ich nicht wusste, dass man auf die Marke achten musste.

Mir kam es vor, als sei ich mein ganzes Leben lang nur die Begleitung gewesen, ein Anhängsel, das nichts selbst zu erledigen brauchte. Genau genommen entsprach das auch der Wahrheit. Dinge wie Geld und Nahrung erschienen mir damals so nichtig, doch inzwischen kannte ich das Gefühl von Hunger. Ich war inzwischen ein Mensch, also hatten sich auch meine Prioritäten verschoben.

Wie auf Kommando knurrte mein Magen los und ich legte reflex­artig die Hand auf meinen Bauch. Einen festen Körper zu haben, war so unfassbar anstrengend. Man musste ihn pflegen wie eine zarte Pflanze oder ein Haustier. Vergaß man ihn zu füttern oder sich um ihn zu sorgen, wurde man sofort mit Schmerzen bestraft. Ich seufzte entnervt auf.

Nic warf mir ein flüchtiges Lächeln zu, während er neben mir herging. Wir überquerten gerade eine kleine Brücke mit einem Geländer aus Gusseisen. Schnörkel wanden sich umeinander und erzeugten die Illusion von eisernen Blumen.

»Hast du etwa schon wieder Hunger?«, fragte er belustigt. Ich zuckte nur mit den Schultern und erwiderte sein Lächeln.

So war es also von nun an. Wir teilten unsere Sorgen nicht mehr miteinander, aber über Nichtigkeiten konnten wir uns dennoch austauschen. Wollte Nic so verhindern, dass es seltsam zwischen uns beiden wurde? Tja, da musste ich ihn wohl enttäuschen, denn das war es längst.

Vielleicht machten Menschen das auch so, um ihren Problemen auszuweichen.

Was wusste ich schon? Ich lernte schließlich gerade erst, ein Mensch zu sein.

Versuchsweise antwortete ich schnippisch: »Vielleicht liegt es daran, dass du mir das Frühstück vor der Nase weggegessen hast.«

Nic schaute mich erstaunt an, als hätte er nicht erwartet, dass ich überhaupt mit ihm sprach. Leider musste ich ihm in diesem Punkt recht geben, denn seit dem Kampf hatte ich mich vor fast jeder Unterhaltung mit ihm gedrückt. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte, um nicht alles noch kaputter zu machen, als es ohnehin schon war. Die Angst schnürte mir jedes Mal die Kehle zu. Meine Antworten fielen immer dementsprechend knapp aus. Bis heute Morgen.

Nic lachte über meinen schlechten Witz. Das helle Geräusch rieselte über meine Haut und erzeugte einen warmen Schauder, der mich mehr wachrüttelte, als es eine große Tasse Kaffee jemals könnte.

Das Echo des Lachens hallte noch lange in meinem Kopf wider, bis ich mich innerlich fragte, wann ich Nic das letzte Mal hatte lachen hören.

Vielleicht ist das Menschsein doch nicht so schwer wie gedacht.

Kapitel 2

Stolpernder Alltag

Nic

Sie spricht wieder mit mir.

Zwar nicht viel, aber es ist ein Anfang.

Ich hatte das Gefühl, als sei ich Lynn in diesem unscheinbaren Moment näher gewesen als in dem ganzen vergangenen Monat. Ich wollte noch nicht so weit gehen und behaupten, dass wir in naher Zukunft wieder zusammenfinden würden. Unsere Beziehung zueinander würde nie wieder die Ebene erreichen, auf der sie vor der Begegnung mit Fra Mauro gewesen war, doch wir waren immerhin auf dem richtigen Weg.

Auch der längste Weg beginnt schließlich mit einem ersten, kleinen Schritt.

Der Mut hatte mich wieder gepackt und strömte durch meine Adern, als hätte ich eine Extraportion Adrenalin zu mir genommen.

Beschwingt trat ich auf das kleine Café zu, in dem ich seit knapp drei Wochen arbeitete. Inzwischen hatte ich mich an die Abläufe gewöhnt und war vertraut mit meiner neuen Routine, die mich immer mehr an meine alte Arbeit daheim in Rom erinnerte.

Leider war mein neuer Chef ein pedantischer Nörgler, sodass wir bereits mehr als einmal aneinandergeraten waren. Mir blieb allerdings nichts anderes übrig, als seine Kritik hinunterzuschlucken und weiterzumachen wie bisher.

Das Öffnen der Eingangstür wurde von einem hohen Klingeln begleitet, das laut Lynn an das Plätschern von Wasser erinnerte. Ich wusste nicht genau, was sie damit meinte, nickte aber trotzdem, weil ich so froh war, dass sie überhaupt wieder mit mir sprach. Ihr wochenlanges Schweigen und Ignorieren war schlimmer gewesen als alles andere.

Sie hatte sich vor mir verschlossen und in sich selbst verkrochen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie sehr sie unter der Situation leiden musste. Ihr ganzes Dasein war umgekrempelt worden und ihre Welt stand völlig auf dem Kopf. Ich musste mir immer wenn sie einen Fehler machte, ins Gedächtnis rufen, dass sie gerade erst lernte, menschlich zu handeln. Und dann kam noch hinzu, dass sie ihre ganzen übersinnlichen Fähigkeiten eingebüßt hatte. Wie würde es mir wohl gehen, wenn ich von einem Tag auf den anderen nicht mehr laufen oder sprechen könnte? Diese Fertigkeiten waren für mich so selbstverständlich wie Lynns Fähigkeiten für sie.

Ich hatte sie jetzt schon mehrmals dabei erwischt, wie sie in ihrem kleinen Zimmer mit den Dolchklingen übte, die ich uns beiden kurz nach unserem Einzug gekauft hatte. Schließlich mussten wir vorbereitet sein, wenn das Dämonenheer von Fra Mauro zuschlug. Momentan war uns noch nichts Auffälliges untergekommen, doch es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis die Höllenwesen sich aus ihren Verstecken trauten.

Bis dahin verblieben Lynn und ich in der Beobachterrolle und sammelten so viele Informationen, wie es uns nur möglich war. Eine Aufgabe, die ich – zugegeben – in letzter Zeit hatte schleifen lassen. Besonders seitdem wir nicht mehr miteinander sprachen.

Die Tatsache, dass Lynn ohne mich ihre Kampfübungen machte, hatte mich mehr getroffen als gedacht. Bis zu diesem Zeitpunkt waren wir ein Team gewesen.

Doch was waren wir nun?

Einzelkämpfer, die nebeneinander existierten?

Das durfte ich nicht zulassen. Das Team musste reanimiert werden. Und ich hatte das Gefühl, dass dieser unscheinbare Morgen der Startschuss sein könnte.

Mit schnellen Handbewegungen legte ich meine Schürze um und schnappte mir ein Portemonnaie sowie Block und Stift, um die ersten Kunden zu bedienen, die sich vor wenigen Sekunden an den kleinen Tischen und Stühlen vor der Hausfassade des Cafés niedergelassen haben.

Ich verabschiedete mich schnell von Lynn und eilte nach draußen. Sie wollte sich bestimmt wie jeden Morgen eine große Portion schwarzen Kaffee zum Mitnehmen bestellen.

Ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sie sich an meinen Kollegen Flavio hinter dem Tresen wandte. Dieser hatte wie immer eine mürrische Miene aufgesetzt und beobachtete Lynn abschätzig. Er war ein von Grund auf pessimistisch eingestellter Menschen, der schnell aus der Haut fahren konnte, wie ich in den letzten Wochen bereits gelernt hatte.

Die beste Taktik war, ihm aus dem Weg zu gehen und damit von seinem Radar zu verschwinden. Mir tat die Tatsache, dass Lynn sich nun an ihn wenden musste, irgendwie leid.

Es dauerte nur zwei Minuten, bis ich mit den Bestellungen der Gäste fertig war und ins Café zurückkehrte.

»Was soll das heißen, du hast kein Geld?«, brüllte Flavio im gleichen Moment, in dem das Wasserklingeln der Glocke über meinem Kopf ertönte. »Bist du total verblödet? Wie kann man ohne Geld aus dem Haus gehen? Verschwinde, bevor ich die Polizei rufe, und vergeude nicht weiter meine Zeit!«

Vorm Tresen stand Lynn und starrte ihn schockiert an. In ihrer Hand lag das geöffnete Portemonnaie. Ich konnte genau sehen, wie ihr Kehlkopf hüpfte, als sie schwer schluckte.

In ihren Augenwinkeln bildeten sich bereits kleine Seen, die kurz davor standen, überzulaufen.

Was zur Hölle ist denn hier los?

Ich vergaß meine Bestellungen sofort und eilte an Lynns Seite. Vor ihr auf dem Tresen stand der dampfende Becher Kaffee.

»Was ist passiert, Flavio? Ich hoffe du hast einen guten Grund dafür, Lynn so anzufahren.« Ein giftiger Unterton hatte sich in meine Stimme geschlichen. Lynn hielt ihren Blick weiterhin zu Boden gerichtet. Von Nahem konnte ich erkennen, wie sehr sie zitterte. Ihre Schultern bebten regelrecht.

Die schwarzen Haare bildeten nun einen Vorhang für ihr Gesicht, sodass ich nicht erkennen konnte, ob sie weinte. Wie von selbst fand meine Hand ihren Rücken und ich strich mit langsamen Bewegungen beruhigend über den dünnen Stoff ihres Sommerkleides.

»Deine Freundin …«, er betonte das Wort geradezu abfällig und Lynn zuckte daraufhin ein weiteres Mal zusammen, »… hatte nicht vor zu bezahlen. Ich könnte sie dafür anzeigen, wenn ich wollte.«

»Ich habe mein Geld daheim vergessen. Ich hatte niemals vor zu stehlen.« Lynns Kopf ruckte nach oben und offenbarte die Tränenspuren, die sich wie Flüsse über ihr Gesicht zogen.

Allerdings war ihre Stimme inzwischen fest und klar. Sie war nicht dazu bereit, sich von meinem Kollegen runtermachen zu lassen. Trotz spiegelte sich in ihren violetten Augen. Sie starrte Flavio in Grund und Boden, bis dieser einen entnervten Ton ausstieß und sich abwandte.

Ich bewunderte die Stärke, die Lynn an den Tag legte, doch ich wusste ebenso gut, dass das alles nur eine Farce war, um Flavio einzuschüchtern. Ihre Augen zuckten verräterisch. Ich kannte sie einfach zu gut. Sobald sie diesen Laden verließ, würde die Fassade, die sie so sorgfältig aufgebaut hatte, in sich zusammenfallen.

Manche Dinge änderten sich einfach nie.

»Ich bezahle«, sagte ich schnell, bevor die Situation noch weiter eskalieren konnte. Flavio sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an, doch das interessierte mich keineswegs.

Stattdessen nahm ich nur wahr, wie Lynn ihren Becher nahm und mit schnellen Schritten das Café verließ.

Das Klingeln des Glockenspiels hallte endlos in meinem Kopf wider.

Lynn

Ich hasse das.

Ich hasse, hasse, hasse das!

Dieses Unwissen, diese Ahnungslosigkeit. Ich verabscheute es zutiefst.

Doch am meisten ärgerte ich mich über mich selbst. Über meine Unfähigkeit, in einem solchen Moment zu wissen, wie man am besten reagieren sollte.

Ich könnte schwören, dass ich gestern erst den Inhalt meiner Geldbörse überprüft hatte, doch heute Morgen hatte ich lediglich ein paar Cents vorgefunden, die ich natürlich unmöglich dem Verkäufer in die Hand drücken konnte.

Ich war wie gelähmt gewesen, als er mich beschuldigt hatte, die Zeche zu prellen.

Ich war nicht in der Lage gewesen, mich zu bewegen, und hatte ihn angestarrt, als würde ich kein Wort von dem verstehen, was er sagte.

Das hatte ihn offenbar nur noch wütender gemacht.

Wäre Nic nicht dazwischengegangen … Ich wüsste nicht, wie die Situation ausgegangen wäre.

Nic.

Ich erinnerte mich zurück an das warme Gefühl, das mich durchströmt hatte, als er mir zur Beruhigung seine Hand auf den Rücken gelegt hatte. Als würde er mir damit zeigen wollen, dass er hinter mir stand. Erst als mir das bewusst geworden war, war ich dazu fähig gewesen, aus meiner Trance auszubrechen und Flavio die Stirn zu bieten.

Schmor doch in der Hölle.

Ich hielt immer noch den Kaffeebecher mit eisernem Griff umklammert. Das flüssige Innere schwappte von unten gegen den Plastikdeckel. Die Hitze setzte meine Handinnenfläche beinahe in Flammen, doch ich hieß den Schmerz willkommen. Er war gewisser­maßen ein Ventil für mich in dieser beschissenen Situation. Am liebsten hätte ich geschrien und gewütet, doch als Mensch ohne überirdische Fähigkeiten war das weitaus schwieriger als als Schutzgeist.

Doch eine Sache begann ich langsam zu schätzen: Die Tatsache, dass ich nicht mehr an Nic gebunden war. Ich konnte von nun an meinen eigenen Weg gehen und ja, ihm auch aus dem Weg gehen. Zu Beginn war mir das überhaupt nicht leichtgefallen. Ich hatte ihn zu seiner Arbeitsstelle begleitet und war ihm den ganzen Tag nicht von der Seite gewichen. Schließlich war ich immer noch seine Beschützerin, ich wollte und konnte diese Rolle einfach nicht ablegen.

Allerdings war mir in den zwei Wochen, in denen er seine Arbeit im Café vollrichtete, bewusst geworden, dass die Umgebung sicher war und ihm nichts passieren konnte. Er könnte sich höchstens die Hand am Kaffee verbrühen, aber dafür musste er sich schon wirklich tollpatschig anstellen.

Also war ich allein losgezogen, um Venedig zu erkunden. Ich hatte viele schöne Ecken und Rückzugsorte entdeckt, aber in diesem Moment wollte ich zu einem neuen Platz. Ich brauchte ein Versteck, um meine Gefühle in den Griff zu bekommen und mich zu beruhigen.

Ich streifte durch die engen Gassen und manövrierte mich durch die Menschenmassen. Es geschah noch viel zu oft, dass ich Leute an­­rempelte oder von ihnen aus dem Weg geschubst wurde. Aus meiner Geisterzeit war ich es gewohnt, einfach durch alle Hindernisse durchzugehen. Manchmal wichen die Menschen einem Geist auch instinktiv aus, als würden sie die übernatürliche Präsenz spüren.

Doch dem war nun nicht mehr so. Stattdessen musste ich achtsam durch die Straßen laufen und dabei niemandem auf die Füße treten. Stolpernd kam ich voran. Schritt für Schritt.

Nach jedem Schritt verpufften meine Wut und mein Ärger ein wenig mehr, bis sie schließlich fast komplett verraucht waren. Nur ein bitterer Nachgeschmack blieb auf meiner Zunge haften.

Ich fand eine verlassene Brücke und lehnte mich an das rostige Geländer, um zur Ruhe zu kommen. Mein Herz raste, was vermutlich daran lag, dass ich ein ganz schönes Tempo vorgelegt hatte, während ich vor Flavio und Nic weggerannt war.

Vor Nic?

Nein, nicht vor Nic.

Oder?

Ich kam ins Grübeln und beobachtete mein Spiegelbild im glitzernden Wasser des Kanals unter mir. Die schwarzen Haare, die zu einem Schattenschemen verschmierten, und das dunkelgrüne Kleid, das ebenfalls in alle Richtungen verfloss. Mein Gesicht war nicht zu erkennen, die blasse Farbe meiner Haut stach allerdings selbst im blaugrünen Wasser klar heraus. Ein weiteres Überbleibsel aus meiner Geisterzeit.

Ich seufzte und nippte an meinem Kaffee. Der bittere Geschmack breitete sich in meinem Mund aus wie eine Explosion, sodass ich das Gesicht verziehen musste. Er war bereits kalt, doch ich trank ihn trotzdem. Das herbe Aroma brachte mich immerhin zur Vernunft und ließ meinen Verstand schneller arbeiten. Zumindest fühlte es sich so an.

Eins musste man den Menschen lassen: Ihr Zaubertrank war wirklich gut. Also nahm ich noch einen Schluck.

In meinem Kopf spulte sich die Szene in dem Café immer und immer wieder ab. Ich sah Flavios erbosten Gesichtsausdruck vor meinem inneren Auge und fühlte die gleiche lähmende Angst wie zuvor. Dabei hatte ich vor ihm überhaupt nichts zu befürchten.

Ich habe gegen ein ganzes Dämonenheer und seinen Anführer gekämpft, verdammt!

So ein schwacher Mensch kann mir doch keine Angst einjagen.

Leider war es ihm dennoch gelungen. Und das wurde mir in diesem Moment nur allzu deutlich bewusst.

In den letzten Wochen hatte ich so viel eingebüßt, so vieles verloren. Es fühlte sich an, als würde ich mich selbst zersetzen. Als würde die alte Lynn nicht mehr existieren. Sie war nur noch eine Erinnerung in meinen Gedanken, ein Schemen, der auf der Wasseroberfläche zu verschwimmen begann.

Wer bin ich, wenn ich nicht Lynn bin?

Kann ich überhaupt als Mensch die Gleiche sein wie als Schutzgeist und Seelenschatten?

Stumm presste ich die Lippen aufeinander und kämpfte mit den sich anbahnenden Kopfschmerzen, die in meinen Schläfen zu hämmern begannen.

Ich hatte noch nie Angst vor Menschen.

Ich hatte nur Sorge um einen ganz besonderen Menschen.

Nic. Immer nur um Nic.

Doch nicht einmal ihn kann ich vernünftig beschützen.

Stattdessen verursache ich nur noch weitere Probleme.

Warum ist er überhaupt noch an meiner Seite?

Er muss doch gemerkt haben, was mit mir los ist.

Ich hielt inne und schnappte nach Luft. Meine Lungenflügel schmerzten und drückten von innen gegen meine Rippen. Schmerzen. Wieder so etwas typisch Menschliches.

Wer bin ich, wenn ich ein Mensch und kein Schutzgeist bin?

Innerhalb eines Wimpernschlags wurde mir plötzlich eine Tat­sache bewusst: Ich war schon lange keine Beschützerin mehr.

Nic war in letzter Zeit und auch heute Morgen derjenige gewesen, der mich beschützte.

Als hätten wir die Rollen getauscht. Und ich hatte es nicht einmal gemerkt. Ein Beweis dafür, wie passiv und unselbstständig ich in letzter Zeit gewesen war.

Der Kaffeebecher glitt mir aus der Hand und fiel auf den Boden, wo der gesamte dunkelbraune Inhalt sich über die Steine ergoss und schließlich vom Rand aus in den Kanal tröpfelte. Ich bückte mich nicht einmal danach, sondern betrachtete weiterhin mein Spiegelbild auf dem Wasser.

Wie konnte alles nur so dermaßen schiefgehen?

Kapitel 3

Wer beschützt wen?

Nic

Nett lächeln.

Bestellung aufkritzeln.

Zu Flavio rennen.

Ihn böse anstarren.

Schnell die Bestellungen abholen.

Zum Tisch eilen, ohne zu rennen.

Alles abstellen, ohne irgendetwas zu verschütten.

Abrechnen.

Lächeln, bis die Wangenmuskulatur schmerzt.

Lächeln, lächeln, lächeln.

Ich tat den ganzen Tag nichts anderes, weshalb mein Gesicht kurz vor Feierabend schmerzte, als hätte ich harten Sport betrieben. Gab es Muskelkater in den Wangen? Falls ja, wusste ich jetzt, wie er sich anfühlte.

Obwohl ich schon lange nichts anderes tat als zu kellnern, war stundenlang gut drauf sein immer noch nichts für mich. Den ganzen Tag musste ich mich verstellen, um nett und höflich zu sein, selbst wenn es meine Gäste nicht waren.

Erst heute musste ich einen Choleriker bedienen, der seine volle Tasse auf den Boden gepfeffert hatte, weil angeblich kein Zucker darin gewesen war. Natürlich hatte ich mich umfangreich entschuldigt, obwohl ich genau wusste, dass ich wie von ihm gewünscht zwei Zuckerwürfel in die Tasse getan hatte. Was blieb mir auch anderes übrig?

Am Ende dieses Arbeitstages war ich dementsprechend entnervt und sehnte mich nur noch nach Ruhe. Ich schloss gerade die Tür hinter dem letzten Kunden, der sich einen Kaffee und einen Muffin zum Mitnehmen gegönnt hatte, und zog die Schürze aus, die ich den ganzen Tag tragen musste.

Ich fuhr mir mit der Handfläche übers Gesicht und dehnte die schmerzenden Muskeln so ein wenig. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Gestalt vor der verschlossenen Ladentür. Für einen Moment geriet ich in Versuchung, auf das »Geschlossen«-Schild zu verweisen, das über dem Türgriff hing. Doch dann erkannte ich, wer dort draußen wartete und sofort verflog meine angespannte Stimmung.

Lynn lächelte mich durch das Glas hindurch schüchtern an. Ich zog die Mundwinkel geradezu automatisch nach oben. Sofort wurden meine Bewegungen schneller und hektischer. Ich schloss die Kasse ab und versteckte den Schlüssel im Tresor, während ich Flavio kurz zunickte, um ihm zu zeigen, dass ich nun gehen würde. Er presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, erwiderte allerdings nichts. Ich wertete das einfach mal als Zustimmung.

Eilig stapfte ich zur Ladentür, die sich problemlos von innen öffnen ließ. Lynn trat vorsichtig einen Schritt zur Seite, als die Tür aufschwang.

Wir hielten beide eine Sekunde lang inne und musterten einander. Sie sah bezaubernd aus. Das dunkelgrüne Sommerkleid schmeichelte ihrer Figur und stellte einen klaren Kontrast zu ihrer hellen Haut dar. Die violetten Augen blitzten mich erwartungsvoll an und ich kam nicht umhin, daran zu denken, wie ihr Blick aussah, kurz bevor ich sie damals geküsst hatte. Als wäre etwas in ihrem Innern verglüht und geschmolzen, wie flüssiges Gold.

Violettes Gold.

Ich schüttelte kurz den Kopf, wodurch mir eine schwarze Strähne in die Stirn fiel.

»Wollen wir?«, fragte ich und grinste verschmitzt, während ich ihr meinen angewinkelten Ellenbogen anbot, damit sie sich einhaken konnte.

Lynn starrte zuerst mich unschlüssig an, dann wanderte ihr Blick hinunter zu meinem angebotenen Arm. Sie betrachtete mich so lange, bis ich unter ihrem Blick unruhig wurde. Ich überlegte gerade, ob ich den Arm nicht einfach wieder sinken lassen sollte, als sie sich überraschenderweise tatsächlich einhakte.

Sie legte ihre zierliche Hand sanft auf meinen Unterarm. Wir berührten uns. Während unter meiner Hautoberfläche Flammen loderten und mich zu verzehren drohten, wirkte die ihre kühl und glatt wie Marmor. Ich genoss dieses flüchtige Gefühl und versuchte mich daran zu erinnern, wann wir uns das letzte Mal bewusst berührt hatten.

Nach Lynns Verwandlung in einen Menschen war das nämlich so gut wie gar nicht mehr vorgekommen. Natürlich kam man zwangsläufig in Kontakt, wenn man zusammenlebte. Zum Beispiel falls Lynn mir die Wasserflasche beim Frühstücken heranreichte oder wenn wir nebeneinander durch den engen Flur gingen. Doch das alles waren unbeabsichtigte und zum Teil auch ungewollte Berührungen. Ich bemerkte viel zu oft Lynns angespannten Gesichtsausdruck, sobald wir einander zu nahe kamen. Seitdem hielt ich mich von ihr fern, damit sie sich nicht bedrängt fühlte.

Dieser Moment war das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass sie mich freiwillig berührte und es von sich aus tat. Eine warme Welle aus Freude und Stolz wogte durch mein Innerstes. Vielleicht kamen wir uns endlich wieder näher.

Augenblicklich begann mein Herz schneller zu schlagen. Allein die Möglichkeit, dass es noch eine Zukunft für uns beide gab, jagte einen Stromschlag durch meine Synapsen und verursachte eine mitreißende Gedankenlawine in meinem Kopf.

Wir verharrten eine unendlich lange Sekunde in unserer Position, bis sich Lynn leise räusperte und einen kleinen Schritt nach vorne trat. Erst jetzt erwachte ich aus meiner Trance und tat es ihr gleich. Langsam, Schritt für Schritt begingen wir unseren Heimweg entlang des Canal Grande.

Das glitzernde Wasser plätscherte neben uns und schwappte in einem uns unbekannten Rhythmus gegen den steinernen Gehweg. Ein leichter Geruch nach Algen lag in der Luft und vermischte sich mit dem Geschmack von Salz in meinem Mund.

Zwischen uns verwob sich ein Band aus Stille und Zufriedenheit. In diesem winzigen Augenblick wirkte die Welt perfekt. Wir mussten nicht miteinander sprechen, um zu verstehen, wie der andere sich gerade fühlte. Als hätten sich unsere Seelen auf eine Art und Weise verknüpft, die menschliches Denken überstieg.

Zeitgleich ging die Sonne unter. Sie malte ein Gemälde aus Rot, Orange und Gold auf das Wasser und die Steine unter unseren Füßen. Lang, schmal und dunkel hoben sich schattige Silhouetten von dem lichtgetränkten Untergrund ab. Als würden sie nicht in dieses Bild, dieses Kunstwerk passen.

Ich schluckte und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Weg vor uns. Wir waren schon fast daheim. Ich kramte in meiner Hosentasche gerade nach dem Schlüssel zu dem Haus, in dem sich unsere Wohnung befand. Ein Klicken begleitete die Drehung im Schloss und schon standen wir im Flur.

Immer noch sagte keiner von uns ein Wort.

Ich nahm die Stufen der schmalen Wendeltreppe in den zweiten Stock und hörte das Trippeln von Lynns Füßen dicht hinter mir.

Nach wenigen Sekunden hielt ich die hell gestrichene Tür für sie auf. Die Farbe blätterte bereits von den Wänden im Flur und der Tür selbst ab. Das Haus war alt und fiel mit jedem vergehenden Tag der Zeit ein winziges Stückchen mehr zum Opfer.

Als Lynn sich an mir vorbeischob, entging mir nicht der traurige Schimmer, der über ihren Augen lag.

Ich runzelte verwirrt die Stirn und wollte gerade fragen, was los war, als sie den Mund öffnete: »Nic, wir müssen reden.«

Lynn

Wir müssen reden.

Warum habe ich das gesagt?

Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt. Es hatte so eine friedliche Stimmung zwischen uns geherrscht. Ich hatte es genossen, in Nics Gegenwart zu sein, und hatte nicht das Gefühl verspürt, vor ihm zu flüchten, so wie es in den letzten Wochen oftmals der Fall gewesen war.

Doch kaum hatten wir unsere Wohnung betreten, suchten mich die Zweifel von heute Morgen heim.

Ich hatte stundenlang auf dieser Bank gesessen und nicht gewusst, wie ich mit der Wahrheit umgehen sollte.

Ich bin nicht mehr Nics Schutzgeist.

Diese Erkenntnis hat mich innerlich zerrissen wie ein Blatt Papier, das in winzige Stückchen zerfetzt wurde. Das Echo meiner Gedanken hallte endlos in meinem Schädel wider.

Was soll ich dagegen tun?

Kann ich überhaupt etwas tun?

Der Entschluss, mit Nic darüber zu sprechen, kam spontan und unüberlegt. Vermutlich deswegen, weil er der einzige Mensch war, den ich kannte und den ich schätzte. Der Kontakt zu anderen Männern oder Frauen erschien mir bis jetzt unnötig. Schließlich hatte ich Nic. Er war mein einziger Freund, mein ewiger Begleiter seit Anbeginn meiner Zeit.

»Worüber möchtest du denn reden?« fragte er vorsichtig, während er mich angespannt beobachtete. Als könnte er nicht einschätzen, was in mir vorging. Ich hingegen las in ihm wie in einem offenen Buch. Jede Emotion stand für mich direkt in sein Gesicht geschrieben, seine Gedanken schrien mir förmlich entgegen. In den letzten zwei Jahrzehnten hatte ich Nic immerhin besser kennengelernt als jeder andere.

»Über mich. Und uns«, erklärte ich vage und lehnte mich an die Wand in meinem Rücken. Wir standen immer noch in dem viel zu engen Flur, in den nicht einmal Nics Garderobenständer passte, den er sich auf einem Flohmarkt vorletzte Woche gekauft hatte.

Er nickte mir zu, als würde er mir sagen wollen, dass ich fort­fahren kann.

»Ich habe realisiert, dass ich nicht mehr ich selbst bin. Und ich weiß nicht, ob ich jemals wieder so sein werde wie vor diesem ganzen Chaos.« Sobald ich diese unumstößliche Wahrheit ausgesprochen hatte, wurde mir das Ausmaß meiner Wandlung nochmals vor Augen geführt. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und hinderte mich am Weitersprechen. Zeitgleich fingen meine Augen an zu brennen und meine Sicht verschwamm langsam.

»Lynn, das stimmt nicht. Du hast dich verändert, ja, aber du bist immer noch das bezaubernde und mutige Mädchen, das ich kennen­gelernt habe.« Nics Lächeln sollte mir vermutlich Aufmunterung spenden, doch es sah so falsch aus. Als würde er selbst nicht glauben, was er da sagte. Er hatte eine Maske aufgelegt, nur damit ich mich besser fühlte. Doch diese Taktik schlug gründlich fehl.

»Nein«, entgegnete ich mit überraschend fester Stimme. »Ich werde nie wieder dieselbe sein.«

Nic wirkte, als würde er mir gleich ein weiteres Mal widersprechen wollen, weshalb ich lediglich meine Hand hob, um ihn zum Schweigen zu bringen.

»Ich bin ein Mensch, Nic. Ich habe keine überirdischen Fähigkeiten mehr und momentan sieht es nicht danach aus, als würde sich daran so schnell etwas ändern. Und nur weil ich die verlorenen Seelen immer noch sehen kann, bedeutet das nicht, dass ich etwas für sie tun kann.«

»Aber das bedeutet doch nichts Schlechtes. Also, ein Mensch zu sein«, meinte er. Ich schüttelte den Kopf und ließ meinen Blick sinken.

»Für mich schon. Ich bin nicht mehr ich.«

»Doch, das bist du. Du hast nur deine Richtung verloren. Du musst deinen Kompass neu ausrichten, Lynn. Gib nicht auf.«

Nics hartnäckiger Optimismus brachte langsam, aber sicher mein Blut zum Kochen. Er schwächte durch seine Aussagen meine Lage ab und stellte sie als nicht ernsthaft dar. Dabei musste ich es doch besser wissen als er, oder? Warum nahm er meine Sorgen nicht ernst, sondern versuchte sie schönzureden?

»Gib nicht auf?« Ein hohles Lachen kam über meine Lippen. »Ich gebe nie auf. Aber ich weiß, wann ich eine Schlacht verloren habe und auf hoffnungslosem Posten kämpfe.« Störrisch reckte ich das Kinn in die Höhe und begegnete seinem überraschten Blick. Dieser wandelte sich nur allzu schnell in ein wütendes Blitzen.

»Lynn, ich möchte dir doch nur helfen.«

»Ich will diese Art von Hilfe nicht. Ich will einfach, dass du mich verstehst und ernst nimmst.«

Ich will es allein schaffen.

Doch das sagte ich natürlich nicht.

Stattdessen beobachtete ich stumm, wie in Nics Blick etwas zerbrach. Als hätte ihn etwas zutiefst erschüttert und würde seine Seele nun spalten. Ich spürte geradezu, wie er eine Mauer um sich herum aufbaute, um seine Gefühle vor mir abzuschirmen. Natürlich gelang ihm das nicht. Nicht bei mir.

Ich sah ganz genau, dass meine Worte ihn verletzt hatten und er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Von allen Menschen, die ihm Schmerzen zufügen könnten, hatte er es bei mir offenbar am wenigsten erwartet.

»Lynn …«, sagte er ein letztes Mal. Er streckte sogar die Hand aus und wollte die meine zu ergreifen, doch ich entzog sie ihm im letzten Moment. Ich spürte wieder das elektrische Knistern, das ihn umgab wie eine statische Sphäre.

»Ich brauche dich nicht, Nic. Und du brauchst mich nicht«, stellte ich klar, was ich heute Morgen bereits herausgefunden hatte.

»Wir sind ein Team!«, widersprach er.

»Ein Team aus Einzelkämpfern trifft es wohl eher.«

Er ließ seine Hand, ein Friedensangebot, sinken.

»Warum sagst du so etwas, Lynn?« In seiner Stimme schwang ein trüber Unterton mit, der mich an verregnete Tage und Einsamkeit erinnerte.

»Ich bin nicht länger dein Schutzgeist, Nic. Und wie du in den letzten Wochen bewiesen hast, benötigst du anscheinend auch keinen. Stattdessen hast du ständig mich beschützt. Das will ich nicht. Nicht mehr. Ich wurde zum Schützen erschaffen, nicht um beschützt zu werden.«

»Ist das hier so eine Art Identitätskrise, Lynn?« Nic starrte mich entgeistert an.

Vielleicht hat er recht.

Möglicherweise ist es eine Identitätskrise.

Ich zuckte nur mit den Schultern. Ahnungslos.

»Du musst dich nicht länger um meine Probleme kümmern, Nic. Du hast bestimmt genug eigene. Ich will …«

… das hier nicht.

Ich will dich nicht verstoßen und verlieren.

Mitten im Satz verstummte ich und schaute ihn mit tränen­verschleiertem Blick an. Ich wusste nicht weiter. Die Hilflosigkeit zerfraß mich von innen wie Säure und brannte in jeder einzelnen Vene.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte ich mich von ihm ab und rannte auf mein Zimmer zu. Bevor ich die Tür hinter mir schließen konnte, vernahm ich ein leises Wispern, von dem ich nicht wusste, ob ich es mir einbildete oder ob er es wirklich gesagt hatte.

»Aber ich brauche dich.«