Sie spricht wieder mit mir.
Zwar nicht viel, aber es ist ein Anfang.
Ich hatte das Gefühl, als sei ich Lynn in diesem unscheinbaren Moment näher gewesen als in dem ganzen vergangenen Monat. Ich wollte noch nicht so weit gehen und behaupten, dass wir in naher Zukunft wieder zusammenfinden würden. Unsere Beziehung zueinander würde nie wieder die Ebene erreichen, auf der sie vor der Begegnung mit Fra Mauro gewesen war, doch wir waren immerhin auf dem richtigen Weg.
Auch der längste Weg beginnt schließlich mit einem ersten, kleinen Schritt.
Der Mut hatte mich wieder gepackt und strömte durch meine Adern, als hätte ich eine Extraportion Adrenalin zu mir genommen.
Beschwingt trat ich auf das kleine Café zu, in dem ich seit knapp drei Wochen arbeitete. Inzwischen hatte ich mich an die Abläufe gewöhnt und war vertraut mit meiner neuen Routine, die mich immer mehr an meine alte Arbeit daheim in Rom erinnerte.
Leider war mein neuer Chef ein pedantischer Nörgler, sodass wir bereits mehr als einmal aneinandergeraten waren. Mir blieb allerdings nichts anderes übrig, als seine Kritik hinunterzuschlucken und weiterzumachen wie bisher.
Das Öffnen der Eingangstür wurde von einem hohen Klingeln begleitet, das laut Lynn an das Plätschern von Wasser erinnerte. Ich wusste nicht genau, was sie damit meinte, nickte aber trotzdem, weil ich so froh war, dass sie überhaupt wieder mit mir sprach. Ihr wochenlanges Schweigen und Ignorieren war schlimmer gewesen als alles andere.
Sie hatte sich vor mir verschlossen und in sich selbst verkrochen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie sehr sie unter der Situation leiden musste. Ihr ganzes Dasein war umgekrempelt worden und ihre Welt stand völlig auf dem Kopf. Ich musste mir immer wenn sie einen Fehler machte, ins Gedächtnis rufen, dass sie gerade erst lernte, menschlich zu handeln. Und dann kam noch hinzu, dass sie ihre ganzen übersinnlichen Fähigkeiten eingebüßt hatte. Wie würde es mir wohl gehen, wenn ich von einem Tag auf den anderen nicht mehr laufen oder sprechen könnte? Diese Fertigkeiten waren für mich so selbstverständlich wie Lynns Fähigkeiten für sie.
Ich hatte sie jetzt schon mehrmals dabei erwischt, wie sie in ihrem kleinen Zimmer mit den Dolchklingen übte, die ich uns beiden kurz nach unserem Einzug gekauft hatte. Schließlich mussten wir vorbereitet sein, wenn das Dämonenheer von Fra Mauro zuschlug. Momentan war uns noch nichts Auffälliges untergekommen, doch es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis die Höllenwesen sich aus ihren Verstecken trauten.
Bis dahin verblieben Lynn und ich in der Beobachterrolle und sammelten so viele Informationen, wie es uns nur möglich war. Eine Aufgabe, die ich – zugegeben – in letzter Zeit hatte schleifen lassen. Besonders seitdem wir nicht mehr miteinander sprachen.
Die Tatsache, dass Lynn ohne mich ihre Kampfübungen machte, hatte mich mehr getroffen als gedacht. Bis zu diesem Zeitpunkt waren wir ein Team gewesen.
Doch was waren wir nun?
Einzelkämpfer, die nebeneinander existierten?
Das durfte ich nicht zulassen. Das Team musste reanimiert werden. Und ich hatte das Gefühl, dass dieser unscheinbare Morgen der Startschuss sein könnte.
Mit schnellen Handbewegungen legte ich meine Schürze um und schnappte mir ein Portemonnaie sowie Block und Stift, um die ersten Kunden zu bedienen, die sich vor wenigen Sekunden an den kleinen Tischen und Stühlen vor der Hausfassade des Cafés niedergelassen haben.
Ich verabschiedete mich schnell von Lynn und eilte nach draußen. Sie wollte sich bestimmt wie jeden Morgen eine große Portion schwarzen Kaffee zum Mitnehmen bestellen.
Ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sie sich an meinen Kollegen Flavio hinter dem Tresen wandte. Dieser hatte wie immer eine mürrische Miene aufgesetzt und beobachtete Lynn abschätzig. Er war ein von Grund auf pessimistisch eingestellter Menschen, der schnell aus der Haut fahren konnte, wie ich in den letzten Wochen bereits gelernt hatte.
Die beste Taktik war, ihm aus dem Weg zu gehen und damit von seinem Radar zu verschwinden. Mir tat die Tatsache, dass Lynn sich nun an ihn wenden musste, irgendwie leid.
Es dauerte nur zwei Minuten, bis ich mit den Bestellungen der Gäste fertig war und ins Café zurückkehrte.
»Was soll das heißen, du hast kein Geld?«, brüllte Flavio im gleichen Moment, in dem das Wasserklingeln der Glocke über meinem Kopf ertönte. »Bist du total verblödet? Wie kann man ohne Geld aus dem Haus gehen? Verschwinde, bevor ich die Polizei rufe, und vergeude nicht weiter meine Zeit!«
Vorm Tresen stand Lynn und starrte ihn schockiert an. In ihrer Hand lag das geöffnete Portemonnaie. Ich konnte genau sehen, wie ihr Kehlkopf hüpfte, als sie schwer schluckte.
In ihren Augenwinkeln bildeten sich bereits kleine Seen, die kurz davor standen, überzulaufen.
Was zur Hölle ist denn hier los?
Ich vergaß meine Bestellungen sofort und eilte an Lynns Seite. Vor ihr auf dem Tresen stand der dampfende Becher Kaffee.
»Was ist passiert, Flavio? Ich hoffe du hast einen guten Grund dafür, Lynn so anzufahren.« Ein giftiger Unterton hatte sich in meine Stimme geschlichen. Lynn hielt ihren Blick weiterhin zu Boden gerichtet. Von Nahem konnte ich erkennen, wie sehr sie zitterte. Ihre Schultern bebten regelrecht.
Die schwarzen Haare bildeten nun einen Vorhang für ihr Gesicht, sodass ich nicht erkennen konnte, ob sie weinte. Wie von selbst fand meine Hand ihren Rücken und ich strich mit langsamen Bewegungen beruhigend über den dünnen Stoff ihres Sommerkleides.
»Deine Freundin …«, er betonte das Wort geradezu abfällig und Lynn zuckte daraufhin ein weiteres Mal zusammen, »… hatte nicht vor zu bezahlen. Ich könnte sie dafür anzeigen, wenn ich wollte.«
»Ich habe mein Geld daheim vergessen. Ich hatte niemals vor zu stehlen.« Lynns Kopf ruckte nach oben und offenbarte die Tränenspuren, die sich wie Flüsse über ihr Gesicht zogen.
Allerdings war ihre Stimme inzwischen fest und klar. Sie war nicht dazu bereit, sich von meinem Kollegen runtermachen zu lassen. Trotz spiegelte sich in ihren violetten Augen. Sie starrte Flavio in Grund und Boden, bis dieser einen entnervten Ton ausstieß und sich abwandte.
Ich bewunderte die Stärke, die Lynn an den Tag legte, doch ich wusste ebenso gut, dass das alles nur eine Farce war, um Flavio einzuschüchtern. Ihre Augen zuckten verräterisch. Ich kannte sie einfach zu gut. Sobald sie diesen Laden verließ, würde die Fassade, die sie so sorgfältig aufgebaut hatte, in sich zusammenfallen.
Manche Dinge änderten sich einfach nie.
»Ich bezahle«, sagte ich schnell, bevor die Situation noch weiter eskalieren konnte. Flavio sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an, doch das interessierte mich keineswegs.
Stattdessen nahm ich nur wahr, wie Lynn ihren Becher nahm und mit schnellen Schritten das Café verließ.
Das Klingeln des Glockenspiels hallte endlos in meinem Kopf wider.
Ich hasse das.
Ich hasse, hasse, hasse das!
Dieses Unwissen, diese Ahnungslosigkeit. Ich verabscheute es zutiefst.
Doch am meisten ärgerte ich mich über mich selbst. Über meine Unfähigkeit, in einem solchen Moment zu wissen, wie man am besten reagieren sollte.
Ich könnte schwören, dass ich gestern erst den Inhalt meiner Geldbörse überprüft hatte, doch heute Morgen hatte ich lediglich ein paar Cents vorgefunden, die ich natürlich unmöglich dem Verkäufer in die Hand drücken konnte.
Ich war wie gelähmt gewesen, als er mich beschuldigt hatte, die Zeche zu prellen.
Ich war nicht in der Lage gewesen, mich zu bewegen, und hatte ihn angestarrt, als würde ich kein Wort von dem verstehen, was er sagte.
Das hatte ihn offenbar nur noch wütender gemacht.
Wäre Nic nicht dazwischengegangen … Ich wüsste nicht, wie die Situation ausgegangen wäre.
Nic.
Ich erinnerte mich zurück an das warme Gefühl, das mich durchströmt hatte, als er mir zur Beruhigung seine Hand auf den Rücken gelegt hatte. Als würde er mir damit zeigen wollen, dass er hinter mir stand. Erst als mir das bewusst geworden war, war ich dazu fähig gewesen, aus meiner Trance auszubrechen und Flavio die Stirn zu bieten.
Schmor doch in der Hölle.
Ich hielt immer noch den Kaffeebecher mit eisernem Griff umklammert. Das flüssige Innere schwappte von unten gegen den Plastikdeckel. Die Hitze setzte meine Handinnenfläche beinahe in Flammen, doch ich hieß den Schmerz willkommen. Er war gewissermaßen ein Ventil für mich in dieser beschissenen Situation. Am liebsten hätte ich geschrien und gewütet, doch als Mensch ohne überirdische Fähigkeiten war das weitaus schwieriger als als Schutzgeist.
Doch eine Sache begann ich langsam zu schätzen: Die Tatsache, dass ich nicht mehr an Nic gebunden war. Ich konnte von nun an meinen eigenen Weg gehen und ja, ihm auch aus dem Weg gehen. Zu Beginn war mir das überhaupt nicht leichtgefallen. Ich hatte ihn zu seiner Arbeitsstelle begleitet und war ihm den ganzen Tag nicht von der Seite gewichen. Schließlich war ich immer noch seine Beschützerin, ich wollte und konnte diese Rolle einfach nicht ablegen.
Allerdings war mir in den zwei Wochen, in denen er seine Arbeit im Café vollrichtete, bewusst geworden, dass die Umgebung sicher war und ihm nichts passieren konnte. Er könnte sich höchstens die Hand am Kaffee verbrühen, aber dafür musste er sich schon wirklich tollpatschig anstellen.
Also war ich allein losgezogen, um Venedig zu erkunden. Ich hatte viele schöne Ecken und Rückzugsorte entdeckt, aber in diesem Moment wollte ich zu einem neuen Platz. Ich brauchte ein Versteck, um meine Gefühle in den Griff zu bekommen und mich zu beruhigen.
Ich streifte durch die engen Gassen und manövrierte mich durch die Menschenmassen. Es geschah noch viel zu oft, dass ich Leute anrempelte oder von ihnen aus dem Weg geschubst wurde. Aus meiner Geisterzeit war ich es gewohnt, einfach durch alle Hindernisse durchzugehen. Manchmal wichen die Menschen einem Geist auch instinktiv aus, als würden sie die übernatürliche Präsenz spüren.
Doch dem war nun nicht mehr so. Stattdessen musste ich achtsam durch die Straßen laufen und dabei niemandem auf die Füße treten. Stolpernd kam ich voran. Schritt für Schritt.
Nach jedem Schritt verpufften meine Wut und mein Ärger ein wenig mehr, bis sie schließlich fast komplett verraucht waren. Nur ein bitterer Nachgeschmack blieb auf meiner Zunge haften.
Ich fand eine verlassene Brücke und lehnte mich an das rostige Geländer, um zur Ruhe zu kommen. Mein Herz raste, was vermutlich daran lag, dass ich ein ganz schönes Tempo vorgelegt hatte, während ich vor Flavio und Nic weggerannt war.
Vor Nic?
Nein, nicht vor Nic.
Oder?
Ich kam ins Grübeln und beobachtete mein Spiegelbild im glitzernden Wasser des Kanals unter mir. Die schwarzen Haare, die zu einem Schattenschemen verschmierten, und das dunkelgrüne Kleid, das ebenfalls in alle Richtungen verfloss. Mein Gesicht war nicht zu erkennen, die blasse Farbe meiner Haut stach allerdings selbst im blaugrünen Wasser klar heraus. Ein weiteres Überbleibsel aus meiner Geisterzeit.
Ich seufzte und nippte an meinem Kaffee. Der bittere Geschmack breitete sich in meinem Mund aus wie eine Explosion, sodass ich das Gesicht verziehen musste. Er war bereits kalt, doch ich trank ihn trotzdem. Das herbe Aroma brachte mich immerhin zur Vernunft und ließ meinen Verstand schneller arbeiten. Zumindest fühlte es sich so an.
Eins musste man den Menschen lassen: Ihr Zaubertrank war wirklich gut. Also nahm ich noch einen Schluck.
In meinem Kopf spulte sich die Szene in dem Café immer und immer wieder ab. Ich sah Flavios erbosten Gesichtsausdruck vor meinem inneren Auge und fühlte die gleiche lähmende Angst wie zuvor. Dabei hatte ich vor ihm überhaupt nichts zu befürchten.
Ich habe gegen ein ganzes Dämonenheer und seinen Anführer gekämpft, verdammt!
So ein schwacher Mensch kann mir doch keine Angst einjagen.
Leider war es ihm dennoch gelungen. Und das wurde mir in diesem Moment nur allzu deutlich bewusst.
In den letzten Wochen hatte ich so viel eingebüßt, so vieles verloren. Es fühlte sich an, als würde ich mich selbst zersetzen. Als würde die alte Lynn nicht mehr existieren. Sie war nur noch eine Erinnerung in meinen Gedanken, ein Schemen, der auf der Wasseroberfläche zu verschwimmen begann.
Wer bin ich, wenn ich nicht Lynn bin?
Kann ich überhaupt als Mensch die Gleiche sein wie als Schutzgeist und Seelenschatten?
Stumm presste ich die Lippen aufeinander und kämpfte mit den sich anbahnenden Kopfschmerzen, die in meinen Schläfen zu hämmern begannen.
Ich hatte noch nie Angst vor Menschen.
Ich hatte nur Sorge um einen ganz besonderen Menschen.
Nic. Immer nur um Nic.
Doch nicht einmal ihn kann ich vernünftig beschützen.
Stattdessen verursache ich nur noch weitere Probleme.
Warum ist er überhaupt noch an meiner Seite?
Er muss doch gemerkt haben, was mit mir los ist.
Ich hielt inne und schnappte nach Luft. Meine Lungenflügel schmerzten und drückten von innen gegen meine Rippen. Schmerzen. Wieder so etwas typisch Menschliches.
Wer bin ich, wenn ich ein Mensch und kein Schutzgeist bin?
Innerhalb eines Wimpernschlags wurde mir plötzlich eine Tatsache bewusst: Ich war schon lange keine Beschützerin mehr.
Nic war in letzter Zeit und auch heute Morgen derjenige gewesen, der mich beschützte.
Als hätten wir die Rollen getauscht. Und ich hatte es nicht einmal gemerkt. Ein Beweis dafür, wie passiv und unselbstständig ich in letzter Zeit gewesen war.
Der Kaffeebecher glitt mir aus der Hand und fiel auf den Boden, wo der gesamte dunkelbraune Inhalt sich über die Steine ergoss und schließlich vom Rand aus in den Kanal tröpfelte. Ich bückte mich nicht einmal danach, sondern betrachtete weiterhin mein Spiegelbild auf dem Wasser.
Wie konnte alles nur so dermaßen schiefgehen?