RENATE DAIMLER, geb. 1949, ist Systemische Beraterin, Lehrtrainerin für Persönlichkeitsentwicklung, zertifizierter Outdoor-Guide und Autorin. Sie hat zahlreiche Bücher zu den Themen Beziehung, Frauen und Lust, Systemische Arbeit und Gesundheit verfasst. Und sie macht selbst immer wieder die Erfahrung, dass das gute Leben ein Prozess ist. Renate Daimler lebt mit ihrer Familie bei Wien.
Außerdem von Renate Daimler lieferbar:
Basics der Systemischen Strukturaufstellungen.
Eine Anleitung für Einsteiger und Fortgeschrittene
Wir wilden weisen Frauen.
Von der Kunst des Älterwerdens
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Renate Daimler
Aus Liebe zu mir
DAS BUCH DER SELBSTERLAUBNIS
Mit einem Vorwort
von Patrizia Collard
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
Das Buch der Selbsterlaubnis. Aus Liebe zu mir
bei Kösel-Verlag, München.
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Copyright © 2017 by Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlag: Favoritbüro
Umschlagmotiv: © Steve Collender/shutterstock
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25626-5
V001
www.penguin-verlag.de
Inhalt
Vorwort
Vorwort von Patrizia Collard
Im Raum der Veränderung
Die Geschichte vom Camper 1
Ich bin das Projekt
Aus Liebe zu mir
Die Erlaubnis zum guten Leben als Hindernislauf
Die Geschichte vom Camper 2
Bin ich authentisch?
Was verbiete ich mir?
Erlaubnis in kleinen Schritten
Über die Schwelle treten
Die Bewertungsmaschine in meinem Kopf
Was die Hirnforschung sagt
Die Geschichte vom Camper 3
Erlaubnis im Kopf
Die Geschichte vom Camper 4
Muster im Kopf
Gesundheit im Kopf
Erlaubnispotenziale und Hindernisse
Die Geschichte vom Camper 5
Frau-Sein, Mann-Sein
Die Geschichte vom Camper 6
Die Eltern
Die Partnerschaft
Die Kinder
Die Geschichte vom Camper 7
Das Alter
Die Ressourcen
Die Geschichte vom Camper 8
Das magische Dreieck
Der Mut und das Scheitern
Die Dankbarkeit
Die Geschichte vom Camper 9
Die Achtsamkeit
Die Stille und die Intuition
Die Freude
Die Fügung
Der Tod als Ratgeber für ein gutes Leben
Der Glaube an etwas Größeres
Die Geschichte vom Camper 10
Nachwort
oder: Die Reise ist nie zu Ende
Dank
Quellennachweis
Wir erlauben uns viel mehr als alle Generationen vor uns. Wir sind freier, mobiler und selbstbestimmter. Doch sind wir das wirklich? Leben wir tatsächlich die beste Version von uns und schöpfen wir unser ganzes Potenzial aus? Oder folgen wir unbewusst noch immer alten Mustern, die uns mitgegeben wurden?
Erlaubt ist für ein Kind, was seine Eltern gutheißen. Und weil wir kein anderes Ziel haben, als geliebt zu werden, bemühen wir uns, ihren Anforderungen zu entsprechen. Wir sind stark und unabhängig, obwohl wir u ns nach Versorgung sehnen, wir sind lustig, obwohl wir in unserem Inneren traurig sind, wir sind leise, obwohl wir gern laut und lebendig wären, wir sind besonders fleißig, weil wir durch Leistung Liebe bekommen.
Wer kennt sie nicht, diese Sätze, die uns so hartnäckig begleiten: »Nur die Starken kommen durch!« – »Der frühe Vogel fängt den Wurm!« – »Ohne Fleiß kein Preis!« – »Wer nicht hören will, muss fühlen!« – »Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen!« – »Sei doch vernünftig!« – »Bescheidenheit ist eine Zier …« Was wir als Kinder lernen, nehmen wir als Verhaltensmuster mit, sie wurden uns im wahrsten Sinn des Wortes in unser Gehirn »eingeprägt«.
Wie wir mit diesen erlernten Mustern umgehen, können wir selbst bestimmen und die Entscheidung, welche davon unser Potenzial stärken und welche uns behindern, treffen wir selbst. Doch dazu müssen wir zuerst unsere Gewohnheiten beobachten und unsere automatisierten Handlungen hinterfragen. Spätestens dann, wenn wir merken, dass wir uns in unserem Korsett der äußeren und inneren Gebote und Verbote nicht mehr wohlfühlen. Spätestens dann, wenn wir merken, dass unsere Lebensfreude von unseren eigenen Ansprüchen erdrückt wird.
Dieses Buch ist ein Aufruf zur Revolte. Raus aus den verkrusteten Bahnen und hinein in ein selbstbestimmtes Sein, in dem das zählt, was uns wirklich zufrieden macht.
Das klingt einfach und ist es doch nicht. Unsere Gehirnbahnen, in denen wir wie auf einer Computerfestplatte alle Gewohnheiten seit unserer Kindheit gespeichert haben, lassen sich nicht so leicht von ihren vertrauten Wegen abbringen. Und selbst wenn wir es doch schaffen, was werden dann die anderen sagen? Denn natürlich wollen wir geliebt werden. Nicht nur von uns selbst – und das ist schon schwer genug –, sondern auch von denen, die uns wichtig sind.
Die besorgten Fragen: »Und was wird mein Mann, was wird meine Frau, sagen?«, »Wie werden meine Eltern reagieren?«, »Was werden meine Kinder darüber denken?«, »Was werden die Nachbarn sagen?«, stellen sich meistens, wenn wir zu neuen Ufern aufbrechen wollen. Es wird immer jemanden geben, von dem wir vermuten, dass er oder sie uns ein Stoppschild vor die Nase hält.
Und hier fordert uns das Leben ein Kunststück ab. Denn wenn wir weiter auf der bequemen, breiten Straße der eigenen Beschränkung spazieren gehen, weil es einfacher ist, dann wird das mit der Zeit ein Verrat an uns selbst. Wenn wir uns weiter von unseren erlernten Kindheitsmustern und anderen Menschen bestimmen lassen, dann führen wir ein Leben, das uns verordnet wurde, und nicht unser eigenes.
Das Forschungsprojekt, zu dem ich Sie einladen möchte, führt uns in die Tiefe und die Hintergründe unserer Erlaubnismuster. Die Geschichten, die ich Ihnen dazu erzähle, habe ich so erlebt oder von anderen Menschen erfahren. Sie handeln alle vom Hineinwachsen und Ringen um ein authentisches Sein. An diesem Ringen führt kein Weg vorbei, wenn Sie es ernst mit sich meinen, denn das Leben ist keine Generalprobe.
Dieses Buch trägt den Untertitel: »Das Buch der Erlaubnis«, weil Selbstliebe immer mit Erlaubnis zu tun hat.
Dieses wunderbare Geschenk ist – im wahrsten Sinne des Wortes, für mich wie auch für Sie, die Sie dieses Buch noch lesen werden – wie eine kleine Schatzkiste, die förmlich mit guten Ideen, herzerwärmenden Geschichten, hilfreichen Ratschlägen und Tipps überquillt, wenn man sie erst einmal öffnet.
Für Menschen, die bisher hauptsächlich Regeln und Vorschriften gefolgt sind und die sich gleich egoistisch oder schuldig fühlten, wenn sie sich einmal aus Selbstmitgefühl etwas gegönnt haben, ist dieses Buch ein Muss. Ja, das klingt vielleicht ein wenig protzig, aber bitte glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich so viel aus den weisen Worten Renate Daimlers gelernt habe, dass ich mich schon jetzt – obwohl ich noch lange nicht alles umgesetzt habe – so viel besser, reicher, glücklicher und vor allem erleichterter fühle.
Wie bei der Autorin und wohl den meisten Menschen, sind auch bei mir tiefe Muster wie breite Autobahnen in mein Gehirn geprägt worden, von denen ich einige immer noch manchmal befahre, weil ich sie trotz meiner eigenen Therapieerfahrung und Arbeit als Achtsamkeitstrainerin leider noch immer nicht ganz löschen konnte. Das haben Lebensthemen offenbar so an sich!
Lesen Sie das Kapitel über Hirnforschung, dann werden Sie besser verstehen, was ich meine. Es ist fabulös wie viel tiefe, wertvolle Informationen Renate Daimler in diesem Buch zusammengetragen und für den Leser schmackhaft und leicht verständlich aufbereitet hat, sodass die komplexen Inhalte wie eine zarte Schokoladenglasur auf der Zunge zergehen und als neues Wissen in unserem Gewahrsein verankert werden.
Es geht Renate Daimler um die Förderung unseres Potenzials und sie ist gerne bereit, ihre eigenen, häufig schmerzhaften Erfahrungen mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, zu teilen. Sie tut dies, um zu zeigen, dass die einzige Wahrheit, derer wir uns gewiss sein können abgesehen vom Tod, die Tatsache ist, dass sich alles verändert und wir diese Veränderungen selbst mitgestalten können.
Die Autorin zeigt viel Mut, denn sie deckt auf, dass wir uns in vielen Aspekten unseres einzigen Lebens daran hindern, unser Potenzial zu nutzen. Nur weil wir uns nicht die Erlaubnis geben, Neues, ja selbst Waghalsiges, zu tun.
Wenn es Bücher wie dieses als Pflichtlektüre in den Schulen gäbe, sähe die Menschheit glücklicher aus. Jedes Kapitel liest sich wie ein kleiner Roman und endet mit wundersamen Empfehlungen und auch Tipps zur Weiterbildung durch andere Bücher.
Die Geschichte, die die Autorin erzählt, und die sich wie ein roter Faden durch ihr Buch zieht, hat sie selbst erlebt. Sie zeigt uns, wie man sich mit kleinen Schritten an die Fähigkeit herantastet, sich selbst große, schier unerreichbare Wünsche zu erlauben. Aber wie genau, das kann ich besten Willens nicht im Vorwort schon bekannt geben …
Mit Ehrlichkeit und Leidenschaft teilt sie mit uns ihre Erlebnisse und die vieler anderer Menschen, die sich das »Erlauben« langsam aber sicher erkämpft haben. Ganz gleich, ob es sich nun um eine berufliche Veränderung, das Loslassen einer Schuld oder sogar um die Pflicht, um einen Verstorbenen zu trauern, handelte. Manche taten dies, indem sie mit Renate Daimler auf Bergpfaden tagelang wanderten und Zeit zum Denken und Fühlen hatten, andere durch Aufstellungsarbeiten oder aber auch durch individuelles Coaching.
Als ich das Buch zum ersten Mal las, hatte ich unglaublich viele Aha-Erlebnisse und bewunderte das Einfühlungsvermögen der Autorin und die Tiefe ihrer Intuition. Mich begeisterte ihr Mut, uns dazu aufzurufen, die Angst zu überwinden, uns anzunehmen wie wir sind und uns etwas zu gönnen, einfach nur weil wir es möchten. Dass wir es wert sind, werden Sie vielleicht vor dem Lesen dieses Buches noch bezweifelt haben, aber danach wohl kaum mehr.
Warum lese ich es nun schon zum dritten Mal? Weil ich jetzt erst richtig damit angefangen habe, die Übungen und Tipps auch real anzuwenden. Also ist dieser Schatz, von dem ich Ihnen anfangs erzählte, auch ein Juwel, das man zwar nicht trägt, aber immer wieder benutzen kann.
Renate Daimler fördert mit diesem Werk das Verständnis, dass wir alle fähig sind zu heilen, zu wachsen und uns auch tief am Leben erfreuen dürfen.
Patrizia Collard (PhD)
Senior Lecturer at The University of East London,
Psychotherapeutin, Achtsamkeitstrainerin und Buchautorin
Der Zirkuswagen war rot mit goldenen Fensterläden, und auf dem Dach saß eine blauweiß gepunktete Katze. Das kleine Mädchen, das in dem Wagen mit seiner Mutter, einer Seiltänzerin, lebte, stand davor und jonglierte mit Bällen. Lolla war meine Zwillingsschwester. Das wusste ich genau, obwohl ich es niemandem sagen konnte, weil sie mir nicht geglaubt hätten. »Sie«, das war meine sesshafte Familie in Bregenz am Bodensee. Meine Eltern waren ehrbare Kaufleute, und der Zirkuswagen stand neben einem großen, rotweiß gestreiften Zelt auf Seite eins in meinem Lieblingsbilderbuch.
Ich war fünf Jahre alt und hatte nur einen glühenden Wunsch: Ich wollte mit Lolla in diesem Zirkuswagen leben und von einem Ort zum anderen ziehen. Der Grund dafür war nicht nur mein Nomadinnenherz, das noch immer in mir schlägt, es war auch die strenge Ordensschwester im Kindergarten, die mir immer auf die Finger schlug, weil ich mit der »bösen« linken Hand malen wollte.
Ich wusste genau, wie ich es anstellen konnte, damit Lollas Mutter mich mitnehmen würde. Ich würde einen Hund mit roten Ohren haben. Er war aus seinem Wurf ausgestoßen worden, weil er anders war als seine Geschwister. Aber hier könnte er mit mir in der Manege auftreten, und die Menschen würden ihm zujubeln, weil er etwas ganz Besonderes war.
Ich schlich um jeden Zirkus herum, der nach Bregenz kam, aber Lolla war nie dabei.
Mit siebzehn flüchtete ich aus meiner beschaulichen Kleinstadt nach Paris, mit achtzehn zog ich nach London weiter, und mit zwanzig landete ich dann in Wien.
Meinen Umzug in Österreichs Metropole verdankte ich der Tatsache, dass ich aus beruflichen Gründen täglich eine Zeitung aus meiner Heimat las, um mich als Mitarbeiterin des »Austrian National Tourist Office« auf dem Laufenden zu halten. »Stewardessen gesucht« stand in großen Lettern im Anzeigenteil, und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich keine Lust mehr hatte, andere Menschen auf Urlaub zu schicken, ich wollte unbedingt wieder selber reisen.
In meinem Job als Flugbegleiterin blieb ich zwölf Jahre und kündigte rechtzeitig, bevor Fliegen zum Massentourismus wurde und die Idee der »Gastgeberin an Bord« nur noch für die erste Klasse galt.
Der Nomadin in mir war das recht. Sie liebt es, wenn Dinge sich ändern, und fand es richtig gut, dass ich im weiteren Verlauf meines Lebens Journalistin, Autorin, Radiomoderatorin, Systemische Beraterin, Kabarettistin auf meinen Lesungen, zertifizierter Outdoorguide und geprüfte Wanderführerin wurde. Auch dass ich in diesen vielen Jahren zwölf Mal in Wien umgezogen bin, fand meine Nomadin erfrischend. Fünf Mal davon mit zwei Kindern und einem Hund.
Heute bin ich sesshaft. Ich lebe gemeinsam mit meinem zweiten Mann, der kein Nomade ist, seit einigen Jahren in einem kleinen Haus an einem See in der Nähe von Wien. Meiner Nomadin gefällt das. Sie schwimmt, spricht mit den Pflanzen, streunt durch die Wälder, findet Wege, die nur Tiere kennen, und war bis vor Kurzem noch ganz zufrieden damit.
Doch dann kam plötzlich die alte Sehnsucht wieder, und mit ihr die Erinnerung an das kleine Mädchen, das schon mit fünf Jahren in einem Zirkuswagen leben und durch die Lande ziehen wollte. Meine Nomadin will einen Camper. Ich weiß es schon länger, aber ich wollte ihr nicht zuhören.
Es gibt Dinge, die in einer Beziehung unpopulär sind. Meinen sesshaften Mann musste ich gar nicht fragen, was er von einem Wohnzimmer auf Rädern hält. Er liebt gute Hotels mit einem feinen Frühstückbuffet und würde nicht einsehen, warum er freiwillig in einem Blechauto schlafen soll und sich aus einem kleinen Kühlschrank, der vorher gefüllt werden muss, irgendwo in der Pampa selbst ein Frühstück machen soll.
Was sollte ich tun? Ich wusste es noch nicht. Aber meiner Sehnsucht nach einem Camper verdanke ich unter anderem, dass ich dieses Buch schreibe. Ich musste erforschen, ob es um die Erlaubnis geht, mir meinen Kindertraum, der mich schon so lange begleitet, zu erfüllen. Oder ob es darum geht, eine neue Form für diesen Traum zu finden.
Fortsetzung
Ich war noch nie mein eigenes Projekt. So wichtig fand ich mich nun auch wieder nicht, dass ich mich in den Mittelpunkt meines Lebens gestellt hätte. Das war schon immer so, denn wichtig und einmalig zu sein, lernt man üblicherweise in der Kindheit, und das kam damals bei mir zu kurz.
Meine Schwester war erst elf Monate alt, als ich als »Unfall« geboren wurde, weil der Frauenarzt meiner Mutter gesagt hatte, dass sie nicht schwanger werden könne, solange sie stillt. Niemand hat auf mich gewartet.
Als ich zwei Jahre alt war, kam mein Bruder zur Welt. Endlich ein Sohn, der den Schmerz linderte, dass das erste Kind, »der Stammhalter«, kurz nach der Geburt gestorben war. Ich fühlte mich noch mehr am Rand. Als meine jüngere Schwester geboren wurde, war ich drei. Wir waren verantwortlich für sie und mussten sie, sobald sie laufen konnte, zum Spielen mitnehmen. Ich war acht Jahre alt, als mein jüngster Bruder zur Welt kam. Und weil meine Eltern beide in unserem Geschäft arbeiteten und niemand Zeit für ihn hatte, gehörte er ganz mir. Das war der Tag, an dem ich eine kleine Erwachsene wurde. Ich liebte ihn über alles und stellte mir jeden Abend vor dem Einschlafen vor, dass wir ganz alleine in einem kleinen Haus im Wald lebten. Das war mein neuer Traum, nachdem sich meine Hoffnung nicht erfüllt hatte, mit Lolla, der Heldin in meinem Lieblingskinderbuch, in einem Zirkuswagen durch die Lande zu ziehen.
In meiner Kindheit hatte ich so gut gelernt, für andere zu sorgen und mich selbst dabei zu vergessen, dass ich auch später immer Projekte fand, die wichtiger waren als ich. Von Frauenrecht bis Umweltschutz, von Karriere bis Privatleben, mein Leben war bunt und aufregend, und ich fühlte mich wohl dabei. Von außen hätte niemand bemerkt, dass ich mich nicht gut um mich selbst kümmerte, nicht einmal ich selbst.
Und als eines Tages eine Lücke von fast einem halben Jahr in meinem Kalender entstand, weil ich weder Lust hatte, ein neues Buch zu schreiben, noch meine seit einem Jahrzehnt bewährte Fortbildung in Systemischer Strukturaufstellung anzubieten, war ich neugierig, womit sie sich füllen würde. Doch mit einem neuen Buch? Mit einem großen Auftrag? Mit einer neuen Ausbildung? Denn so war es immer. Die Dinge kamen zu mir, als ob sie auf mich gewartet hätten.
Der Tag, an dem ich erfuhr, dass ich selbst das Projekt war, das auf mich wartete, war ein Schock.
»Sie haben auf beiden Augen ein Glaukom, und wenn der Sehnerv weiter zerstört wird, sind Sie in Gefahr, blind zu werden«, sagte der Augenarzt, und ich wusste auch ohne Wikipedia, dass er den gefährlichen Grünen Star meinte.
Der Auftrag war klar und unmissverständlich. Meine beiden Sehnerven waren nicht gut genug durchblutet und damit unterversorgt. So wie ich auch. Mein Körper, dieser weise Ratgeber, hat mir ein Ultimatum gestellt, und ich wusste, dass ich es ernst nehmen muss.
»Ich schau auf mich«, versprach ich mir nicht nur für das nächste halbe Jahr mit den vielen Untersuchungen, sondern für immer.
Denn fast alles, was mir im Leben wichtig ist, hat mit Sehen zu tun: Ich liebe das Gesicht meines Mannes, wenn er mit seiner Mimik mehr sagt als mit Worten, ich forsche in den Gesichtern meiner Kinder und lese darin jenseits aller Worte. Ich schreibe, ich wandere, ich schwimme, ich beobachte, wie die Pflanzen in unserem Garten wachsen …
Aus dieser Erschütterung ist das Geschenk eines neuen Lebens geworden. Ich wurde zu meinem eigenen Projekt – und bin es noch heute, denn ganz so einfach, wie ich dachte, ist die Selbstfürsorge nicht.
Ich arbeite weniger und achte noch mehr darauf, dass alles, was ich tue, mir Freude macht. Ich versuche längere Erholungszeiten einzubauen und meide Menschen, die mir nicht guttun. Ich freue mich darüber, wenn es mir glückt, mir Phasen der Stille zu gönnen, in denen ich nur mir und meiner weisen Seele zuhöre.
Ich sage immer häufiger Nein zu Anforderungen von außen und öfter Ja zu mir selbst.
Und ich scheitere auch immer wieder, weil meine breiten Autobahnen im Gehirn mich dazu verleiten, in alte Muster zu verfallen.
Gleichzeitig spüre ich, dass sich mein Engagement für mich selbst lohnt. Ich bin freudvoller, dankbarer und glücklicher als je zuvor in meinem Leben.
Bin ich nun egoistisch, weil ich mein eigenes Projekt bin? »Egoistisch« ist ein Schimpfwort, das schnell ausgepackt wird, ohne zu hinterfragen, ob es sich nicht einfach um die Erlaubnis zur Selbstfürsorge handelt.
PS: Meine Augen, die mich daran erinnert haben, dass es jetzt endlich um mich geht, sind stabil geblieben. Ich sehe nach wie vor gut und bin zutiefst dankbar dafür.
Da steht er, dieser Satz: »Aus Liebe zu mir.« Am Anfang dachte ich, dass es gar nicht so schwer ist, mich wirklich selbst zu lieben. Meinen Körper, meinen Geist und meine Seele. Und nun, da ich mehr in die Tiefe dieses Gefühls steige, merke ich, wie oft ich noch immer lieblos zu mir bin, obwohl ich doch schon weiß, dass ich »das Projekt« bin.
Ich komme aus einer Kindheit, in der die Fürsorge für meine Geschwister mir ein Stückchen Aufmerksamkeit und Liebe gesichert hat, und war nie eine kleine Prinzessin. Anders als meine Freundin und Schwägerin Elisabeth, die als Einzelkind aufgewachsen ist und bei der ich einen Kurs in Selbstfürsorge nehmen könnte. Wenn sie etwas nicht will, dann sagt sie einfach mit Nachdruck »Nein« und damit »Ja« zu sich selbst. Ich hingegen sage noch immer viel zu selten »Nein« und muss später die Rechnung dafür bezahlen.
So wie jetzt gerade wieder, als das alte Jahr endet. Ich hatte schon vor längerer Zeit bemerkt, dass meine Muskeln unzufrieden mit mir waren und ich immer steifer wurde. Nicht weil ich alt bin, sondern weil ich nicht mehr zum Yoga gehe. Im Sommer wandere und schwimme ich, aber dieses Dehnen, das mein Körper braucht, um sich wohlzufühlen, danach sehnt er sich im Winter.
Mir fehlt Yoga nicht, sage ich bockig, denn Yoga macht mir keinen Spaß. Es stimmt, es hat mir immer gutgetan und ich bin nach wie vor von seiner ganzheitlichen Wirkung überzeugt.
Als mein Körper mir seine Rechnung für meine Nachlässigkeit präsentierte, wusste ich, dass es Zeit war, etwas zu tun. Also besuchte ich meine Schamanin und Therapeutin Gabriele und machte eine Rassel-Session auf der Suche nach einer Erklärung, warum das, was mein Körper so sehr mochte, bei mir auf Widerwillen stieß.
Das Erste, was auftauchte, war Trauer und das Wort »Drill«, und ich verstand, dass die Genauigkeit der Yogaübungen, das viele »Richtig« und »Falsch«, das ich so gut aus meiner Kindheit kannte, Widerstand in mir erzeugte. Aber das war noch nicht alles. Ich fand mich in einem Dialog mit meinem Körper wieder, der sich bitter bei mir beschwerte: »Du kümmerst dich um deinen Geist und um deine Seele, und mich lässt du immer zurück. Jedes Mal, wenn die Zeit knapp wird, komme ich zu kurz. Dann streichst du das gesunde, gute Essen, die Spaziergänge, die ich so dringend brauche, oder die Ruhe, die notwendig ist, damit ich mich regenerieren kann. Und wenn du schon kein Yoga magst, obwohl es mir so guttut, dann erfinde bitte dein eigenes kreatives Übungsprogramm. Diese Disziplin und Fürsorge, die brauche ich von dir, wenn du gesund bleiben willst.«
Ich bin beschämt. Alles, was mein Körper mir vorwirft, stimmt. So habe ich das mein ganzes Leben lang gemacht.
Bilder tauchen auf. Ich sehe mich als junge Frau im Kampf gegen die Austrian Airlines, die ihre Flugbegleiterinnen mit sechsunddreißig Jahren zum Bodenpersonal versetzen, weil sie angeblich zu alt zum Fliegen sind. Ich sehe mich in der Wiener Innenstadt hastig ein Brötchen in mich hineinstopfen auf dem Weg zum nächsten Termin mit einem Minister, der uns helfen soll, dieses frauenfeindliche Alterslimit abzuschaffen. Ich sehe mich über Monate hinweg wach im Bett liegen, weil ich als Betriebsrätin mit meinen Kolleginnen entscheiden muss, ob wir einen Streik wagen sollen, obwohl unsere Gewerkschaft uns nur zögernd unterstützt. Es war ein Kampf bis zu meiner totalen Erschöpfung, den wir gewonnen haben.
Ich sehe mich als Mutter von zwei kleinen Kindern und einem Mann auf der Flucht und später im Gefängnis. In der Nacht liege ich wach und mache mir Sorgen. Am Tag bin ich für meine Kinder und meinen damaligen Ehemann da und tue alles, damit die Situation für sie leichter wird. Als meine Haut sich mit einem Ganzkörperausschlag gegen diese Überlastung wehrt, nehme ich die Situation immer noch nicht ernst und brauche einen Kreislaufzusammenbruch mit Krankenhausaufenthalt, damit sich jemand um mich kümmert. Mein Leben lang gab es Gründe, mich für eine gute Sache selbst zu verraten.
Heute ist der 27. Dezember, und ich verspreche meinem Körper, dass er im nächsten Jahr endlich Vorrang hat.
Wenn ich einem Veränderungsprozess zustimme, dann weiß ich, dass auch die notwendigen Zeichen auftauchen. Ich muss mir nur erlauben, sie zu bemerken. Dennoch war ich überwältigt von der Geschwindigkeit und Heftigkeit, mit der mein Körper meine Aufmerksamkeit einfordert.
Am 30. Dezember hatte ich ein Erlebnis, bei dem durch ein Missverständnis ein alter, emotionaler Schmerz aus meiner Kindheit heftig aktiviert wurde. Ich nahm es als Zeichen, meine Zellen von emotionalem Müll zu befreien, und ging in den Wald. Zuerst stampfte ich wütend vor mich hin und fütterte mein Selbstmitleid. Dann fühlte ich mich allmählich glücklich und frei und wusste, dass es Zeit war, mit meinem Ritual zu beginnen.
Es gibt Plätze in der Natur, die magisch sind. Es gibt sie überall, und sie brauchen kein Schild »Kraftplatz«. Ich zündete auf einer Waldlichtung, in der ich vorher noch nie gewesen war, zwischen drei Birken meinen Salbei an und bat um die Reinigung meines Körpers, meines Geistes und meiner Seele.
Am 1. Januar fühlte ich mich schlecht, am 2. Januar war ich krank und lag mit einem Grippevirus im Bett. »Bestellung angenommen«, sagte mein Körper. »Du hast dir einen Reinigungsprozess gewünscht.«
»Ja, danke«, antwortete ich. »Aber am 7. Januar muss ich wieder gesund sein. Da startet mein Seminar ›Ich bin das Projekt‹ für Menschen, die das neue Jahr mit einem Vorrang für sich selbst beginnen wollen.«
Mein Körper sagte nichts zu dieser Bedingung, die ich ihm stellte, also ging ich davon aus, dass er einverstanden war. Ich lag zuversichtlich im Bett und ließ es mir im Bewusstsein schlecht gehen, dass ich diesen kurzen Reinigungsprozess selbst gerufen hatte.
Am 5. Januar schrieb ich den Teilnehmerinnen eine Erinnerung, was sie zum Seminar mitbringen sollten, und fühlte mich schon so gut, dass ich beschloss, gesund zu sein und mich zum Morgenkaffee zu meinem Mann zu setzen.
Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass Carl mich anschreit und hart mein Gesicht tätschelt, damit ich wieder zurückkomme. Ich hatte einen schweren Kreislaufzusammenbruch.
Als ich dann erschöpft im Bett lag und mir erlaubte, endlich einfach bedingungslos krank zu sein und meinem Körper die Zeit zu geben, die er braucht, um wieder ganz gesund zu werden, verstand ich, dass ich ihn gerade wieder verraten hatte.
Kaum hatte ich ihm das Versprechen gegeben, dass er in diesem Jahr Vorrang haben wird, ließ ich ihn bei der ersten Gelegenheit im Stich und dachte nur daran, dass ich unbedingt ganz schnell wieder fit sein muss, damit ich mein Seminar halten kann. Doch mit diesem Funktionieren und Leisten müssen um jeden Preis, das ich so gut aus meiner Kindheit kenne, ist es nun vorbei. Wenn ich schon meine Versprechen nicht ernst nehme, mein Körper nimmt mich beim Wort. Und das ist gut so.
Was mir auch noch aufgefallen ist bei der Gelegenheit: Ich esse – auch wenn es nur getoastetes Dinkelbrot ist – und denke dabei an etwas anderes, ich dusche und überlege mir währenddessen, wie ich den Seminartag aufbauen soll. Ich ziehe in Erwägung, ob ich nicht doch für einen vereinbarten Termin für eine Stunde aufstehen soll. Und bei all dem geht es nie um meinen Körper und was er von mir braucht.
Aus Liebe zu mir werde ich jetzt lernen, besser auf ihn zu hören.
Ich weiß jetzt genau, wie Selbstfürsorge geht. Und wenn es klappt, dann erlaube ich mir ein richtig gutes Leben. Dann bin ich »mein Projekt«, spüre die Liebe zu mir selbst und pflege sie: mit mehr Zeit für mich, meine Familie und meine Freunde und mit einem Vorrang für meinen Körper, der so lange darauf gewartet hat. Dann kommt zuerst das Vergnügen, die Arbeit wird zum Spiel, und ich bin ganz richtig, wie ich bin.
Doch nun stehe ich erschöpft nach einer Woche der Überlastung an einem Seitenarm unseres kleinen Sees und bin ratlos. Schon wieder gescheitert mit meinem ambitionierten Projekt. Zu oft »Ja« und zu selten »Nein« gesagt. Alle guten Vorsätze wieder einmal über Bord geworfen.
Jede einzelne meiner Zellen vibriert unangenehm von den Anstrengungen der letzten Tage. Ich kann mir zugutehalten, dass ich es wenigstens merke, wenn ich den Pfad des Wohlbefindens verlasse. Ich kann für mich verbuchen, dass es immer häufiger auch klappt mit der so wohltuenden Selbstfürsorge. Aber wieso scheitere ich immer wieder so grandios?
Während ich mich in einer Mischung aus Selbstverurteilung und Selbstmitleid bade, beobachte ich am Wasser Berti, die Schwanengans. Sie war eines Tages da und hat seither das Mitgefühl der Dorfbewohner, weil sie ganz alleine ist. Keine Freunde, keine Artgenossen. Und die Schwäne, denen sie sich immer wieder anzuschließen versucht, obwohl sie aussieht wie eine besonders schöne, zu groß geratene Ente, dulden sie nur manchmal. Niemand weiß, wie sie aus Zentralasien zu uns, an diesen Altarm der Donau gekommen ist, an dem solche Tiere nicht heimisch sind.
Berti, so haben wir Dorfbewohner sie getauft, sitzt träge am anderen Ufer des schmalen Seitenarms und sonnt sich. Doch plötzlich springt sie auf, schnattert aufgeregt und schwimmt hektisch auf mich zu. Während ich mich noch wundere, kommt eine Frau mit einem Sack Futter um die Ecke und ruft nach ihr. Die Schwanengans schwimmt ans Ufer, steigt an Land und frisst begeistert die Leckerbissen. Sie lässt sich auch vom Hund der Frau nicht stören, der direkt neben ihr sitzt und zuschaut.
Während Berti ihr Mittagessen genießt, bekomme ich von der Tierfreundin eine Erklärung für Bertis Verhalten: »Wenn ich zum Wasser spaziere, pfeife ich schon aus der Ferne, und dann reagiert sie sofort und schwimmt vom anderen Ufer herüber. Heute habe ich dem Futter etwas Salat beigemischt, sie wird mir langsam zu dick.«
Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Wenn eine Schwanengans in wenigen Monaten lernt, dem Pfiff dieser Frau zu folgen, dann ist es doch klar, dass meine eigenen Konditionierungen viel stärker und älter sind als die von Berti. Ich bringe sie aus meiner Kindheit mit, und sie hatten mehr als sechzig Jahre Zeit, breite Spuren in meinem Gehirn zu hinterlassen. Und selbst wenn ich meine Muster gut kenne, heißt das noch lange nicht, dass ich sie so leicht verändern kann. Das braucht Zeit, Geduld und vor allem Bewusstsein.
An die prägenden Sätze aus meiner Kindheit: »Nur wer arbeitet, darf essen« und »Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen« haben sich schon meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gehalten. Sie sind seit Generationen als automatische Reaktionen auch tief in mein Gehirn eingegraben. Ich muss ständig etwas leisten, damit ich lebensberechtigt bin.
Und mein anderer Glaubenssatz: »Ich bin nicht richtig, wie ich bin«, hat dazu geführt, dass ich nicht gut Nein sagen kann, weil ich ja ständig beweisen muss, dass ich richtig bin.
Bei diesen Gedanken werde ich wieder ganz vergnügt und setze meine Seerunde fort. Ich sehe mich mit meinen Glaubenssätzen, die wie große, treue Hunde an meiner Leine gehen, durch die Welt wandern. Sie sind so stark, dass sie mich überall hinziehen, wo sie wollen. Soll ich sie nun ins Tierheim bringen und einfach aus meinem Leben verbannen? Oder kann ich sie zähmen und umbenennen?
Und plötzlich merke ich, dass ich meine Glaubenssätze auch mag. Sie haben mich empathisch und erfolgreich gemacht. Ich bin durch sie ein Mensch geworden, der viel leisten und für andere da sein kann. Ich bin richtig, wie ich bin! Ich muss nur die passende Dosis für mein Engagement finden und mir verzeihen, wenn mein spielerisches, neues Leben nicht sofort klappt.