Siegfried Schröpf

Breslauer Schatten

Ein unentdeckter Mordfall

Kriminalroman

Breslau – 17. Januar 1945

Während sich ein leuchtender Sternenhimmel über dem verdunkelten stillen Breslau wölbt, scheint der nordöstliche Horizont zu brennen. Ein roter Glutstreifen zieht sich waagerecht durch die ferne Schwärze der Nacht. Es ist die herannahende Front. Doch davon bekommt der Junge in der Häuserschlucht der Herzogstraße nichts mit. Dort versucht er sich schon seit den frühen Abendstunden dieser eisigen Januarnacht warmzuhalten. Es ist nicht viel los in dieser Straße im Norden der Stadt unweit der Sandinseln. Die dunklen Häuserzeilen wirken im Kontrast zur kalten Helligkeit des knirschenden Schnees auf der Straße bedrohlich düster. Von den wenigen Passanten lässt er sich deren Arbeitskarten zeigen und kontrolliert, ob diese abgestempelt sind. So lautet an diesem 17. Januar 1945 der Einsatzbefehl für den etwa 15- jährigen Jungen, der an seinem Mantel das Abzeichen der Hitlerjugend trägt. Gegen zehn Uhr abends ist der Junge allein in der Straße. Schon seit längerem ist kein Fußgänger mehr vorbeigekommen. Gelangweilt und frierend stapft er auf und ab und schlägt mit den Schuhen gegeneinander. Dann geht der Junge zu einem Laden, über dem sich ein Schild Brosinski & Söhne im eisigen Wind fast unmerklich bewegt.

Plötzlich ist der Junge in einer Mauernische verschwunden und taucht kurze Zeit später im Hinterhof des Hauses wieder auf. Er schleicht lautlos zu den Werkstätten hinter dem Laden. Als er von dort Stimmen hört, kauert er sich erschrocken an die Wand neben der Tür zum Verkaufsraum. Durch einen kleinen Spalt kann er einen etwa gleichaltrigen Jungen sehen, der mit blutender Nase weinend auf einem Stuhl sitzt. Zwei Männer stehen neben dem Jungen und streiten. Einer trägt eine Uniformmütze mit SS-Zeichen. Die vier Quadrate auf seiner Spiegelklappe weisen ihn als Sturmbannführer aus. Auf ihn redet der andere Mann in Zivil heftig ein. Er droht, den Jungen an die Gauleitung zu verraten. Anscheinend war er von seinem HJ-Einsatz abgehauen. Das würde vielleicht dessen Tod bedeuten und wenigstens das Karriereende des Sturmbannführers, so sagt es der andere zumindest. Da fällt ein Schuss, der Mann verstummt und fällt um. Danach ist es still. Draußen hört man das Ladenschild im Wind knarzen, die einzige spürbare Bewegung in den nächsten Minuten. Auf einmal geht es sehr schnell.

Der Bub und der Sturmbannführer wickeln den Toten in eine Decke. Dann verlässt der SS-Mann den Laden und beauftragt den Jungen, in der Wohnung nach Pässen und Dokumenten zu suchen. Kurze Zeit später kommt der Junge mit einer Aktentasche wieder herunter und wartet neben der Leiche, bis ein Auto auf der Straße vorfährt. Der Sturmbannführer kommt zurück und fragt den Jungen, ob er alle Unterlagen habe. Mit gepresster Stimme antwortet der, dass alles in der Aktentasche sei, sogar die Geburtsurkunden und Goldmünzen wären drin. Die beiden zerren das Bündel hinaus. Der Wagen fährt weg, ohne das Licht einzuschalten. Nach einigen Minuten schleicht sich der Hitlerjunge wieder hinaus auf die Straße, wo es gespenstisch still ist. Dort geht er unruhig und ängstlich weiter auf und ab. Bis um Mitternacht sein Einsatz zu Ende ist.

1

„Sag mal, Thomas, den Namen kenne ich doch?“ Jean kam mit der Süddeutschen Zeitung in der Hand in das Büro von Thomas Schöngeist. Der antwortete, ohne großes Interesse vorzutäuschen: „Welchen?“ Dabei wirkte er, als würde er durch den Schneeregen und die grauen Wolken bis zur Marienfeste schauen wollen. Aber auch wenn er das nasse Grau mit seinen Augen durchdrungen hätte, die Festung hätte er trotzdem nicht wahrgenommen.

Er war in Gedanken ganz weit weg.

In einem Hotelzimmer. Ein luftig weißer Vorhang weht im Wind und öffnet immer wieder den Blick zu einem glitzernd blauen Wasser, auf dem feine weiße Schaumkronen kräuseln. Der Luftzug, der den Vorhang tanzen lässt, erfrischt ohne wirklich kühl zu sein. Thomas hört Karin leise und tief ins Kopfkissen atmen, dabei hat sie das dünne Laken nur über ihre Hüfte gezogen. Thomas küsst eine ihrer Brustspitzen. Mit einem wohligen „mmhh“ rückt Karin näher zu ihm, ohne aufzuwachen. Thomas erkennt eine weiße Yacht auf dem Wasser. Als der wehende Vorhang den Blick wieder frei macht, sieht er die argentinische Flagge, die sich stolz von einem Masten über der kleinen Kommandobrücke aus im Wind streckt. Er genießt dieses Bild, das die ruhige Stimmung dieser Tage in Pinamar, an der argentinischen Atlantikküste, so treffend widerspiegelt. Er küsst noch einmal Karins freiliegende Brust in der Hoffnung, dass ihr genießerisches „mmhhh“ auch ihr Unterbewusstsein verlässt und sie ihm noch mehr von ihrem Körper, von dem er nicht genug bekommen kann, anbietet.

Jean Meyer, der Kompagnon von Thomas Schöngeist, konnte von alledem nichts wissen und antwortete auf dessen Frage: „Claus Brosinski!“

Dieser Name ließ Thomas tatsächlich aufhorchen und brachte ihn ins Hier und Jetzt zurück.

„Brosinski, natürlich. Was ist mit ihm?“

Thomas war wirklich neugierig geworden. „Was ist denn passiert?“, fragte er noch mal nach und deutete dabei auf die Süddeutsche Zeitung, mit der Jean immer noch herumgestikulierte.

„Hast du heute noch keine Zeitung gelesen?“ wunderte sich Jean.

Nein, Thomas Schöngeist hatte heute Morgen die Zeitung nicht angerührt. Er war daheim nach dem Aufstehen vor seiner Tasse Milchkaffee gesessen und hatte einfach in das feuchte winterliche Morgendunkel gestiert, ohne Interesse für das, was um ihn herum geschah.

„Aber was ist denn nun passiert?“ bohrte Thomas noch einmal.

„Da, lies selbst!“

Unternehmer-Tragödie:

Claus Brosinski nach einem Unglücksfall verstorben Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der 81 Jahre alte Claus Brosinski nach Informationen der dpa am letzten Tag des vergangenen Jahres Opfer eines tragischen Unglücksfalles geworden. Der erfolgreiche Unternehmer hinterlässt eine 40-jährige Tochter und einen 46-jährigen Sohn, seinen Nachfolger als Vorstandsvorsitzenden der Blaukirchener Brosinski AG. In einer persönlichen Erklärung teilte die Familie mit: „Der Verkauf seines Unternehmens sowie die Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können, haben dem leidenschaftlichen Familienunternehmer seine letzten Lebensjahre zur Qual werden lassen.“

Brosinskis Firmenimperium war vor einigen Jahren ins Wanken geraten. Nach wochenlangen zähen Verhandlungen mit den Gläubigerbanken über einen Überbrückungskredit in Höhe von Hunderten Millionen Euro musste Brosinski damals die Mehrheit seines Unternehmens an einen Finanzinvestor abgeben.

„Das ist ja ein dicker Hund!“, entfuhr es Thomas.

„Ich dachte, dass die Geschichte damals einigermaßen glimpflich ausgegangen ist?“

„Na ja, immerhin wurde damals ein Mordanschlag auf mich verübt!“, antwortete Thomas etwas vorwurfsvoll. Die Bremsleitungen seines alten Mercedes waren angesägt worden. Was und wer wirklich dahinter gestanden hatte, war nie richtig aufgeklärt worden. Auch wenn Thomas außer ein paar Hautabschürfungen und Prellungen keine ernsthaften Verletzungen zu beklagen hatte, war der Schreck tief gesessen.

„Das weiß ich doch, aber ich meine das Schicksal des Unternehmens und der Familie.“

„Ja, du hast recht. Ich dachte mir auch immer, dass die Angelegenheit letztlich doch ein einigermaßen gutes Ende genommen hatte, aber man kann ja in niemanden hineinschauen. Was da wohl passiert sein mag?“

Laura Peters, die langjährige Assistentin der beiden Rechtsanwälte, steckte ihren Kopf ins Zimmer: „Was ist so wichtig, dass ihr die Montagssitzung verpasst?“

„Um Gottes Willen, schon wieder halb zehn? Wie die Zeit vergeht!“ Jean stürmte aus dem Büro in Richtung Besprechungszimmer. Thomas hatte diesen Termin nicht vergessen. Er hatte einfach keine Lust dazu, und in seiner niedergeschlagenen Apathie, in die er sich das ganze Wochenende immer tiefer vergrub, hatte er nicht mal die Energie, sich eine Ausflucht zurechtzulegen.

Den Jahreswechsel hatte er zusammen mit Karin bei ihrer Familie im Spessart verbracht. Es waren schöne unbeschwerte Tage in tief verschneiter Landschaft gewesen. Am Dreikönigstag wollte er unbedingt in die nur zehn Kilometer entfernte Lichtenau zu dem Wirtshaus im Spessart, in dem Kurt Tucholsky eines Sommers in den zwanziger Jahren mit seinen Freunden Jakopp und Karlchen eine Flasche Stein-Wein nach der anderen leerte und daraus einen der schönsten Reiseberichte zauberte, den Thomas kannte.

So stapfte er also mit Karin im Hafenlohrtal durch den weihnachtlichen Schnee, der herrlich in der kalten blauen Luft flimmerte und glitzerte. Das Gehen tat gut nach dem vielen Essen der letzten Tage. Wie Scherenschnitte zogen sich hohe Buchen die Hänge entlang und kontrastierten scharf zum weiß eingedeckten Untergrund. Thomas dachte immerfort an Tucholsky: „Dies ist eine alte Landschaft. Die gibt es gar nicht mehr; hier ist die Zeit stehengeblieben.“

Damals, immerhin 90 Jahre her, war Sommer. Die hohen Bäume rauschten grün, und er sah vor sich die drei Freunde sitzen, wie sie in der aufdämmernden Nacht, vor dem Haus auf einer Stange sitzend, ernste Dinge beredeten.

Dieses Rauschen der hohen Bäume vermisste Thomas an diesem Wintertag und er tat Karin unrecht, wenn er sich vorstellte, jetzt lieber mit seinen alten Freunden Manni und Jean um ernste Dinge und Wein vom Würzburger Stein zu wetteifern.

Er wollte sich das nicht anmerken lassen und nahm Karin bei der Hand. „Schön hier!“

„Sehr schön“, strahlte ihn Karin an.

Thomas hatte ein schlechtes Gewissen, das er gleich mit einem Glas Würzburger Stein beruhigen wollte.

Manche Fenster des Wirtshauses waren wie damals immer noch achtgeteilt. Das Schild Donnerstag – Ruhetag sah dagegen relativ neu aus.

Auf dem Rückweg trübte sich der blaue Himmel ein, der Schnee hörte auf zu flimmern, die Buchen formierten sich zu einer düsteren Wand, und Thomas wurde einsilbig. Er entschloss sich, doch am nächsten Tag heimzufahren und beim Neujahrsempfang der Stadt wieder ins Würzburger Leben einzutauchen, wozu er die letzten Tage keine Lust gehabt hatte.

Dort hatte er dann viel zu viel getrunken. Doch er hätte noch viel mehr trinken können, es war tatsächlich Würzburger Stein, das Gefühl einer langen, bedeutungsschweren Sommernacht mit Freunden stellte sich nicht ein. Dafür begleitete er eine frühere Studienkollegin nach dem Empfang zu ihrer Wohnung.

„Willst du noch einen Kaffee?“

Schöngeist wollte keinen, er wusste eigentlich überhaupt nicht, was er wollte, doch fand er auch nicht die Energie, einfach wegzugehen. Sie sperrte die Tür auf, und weil Schöngeist einfach da stand, ohne etwas zu sagen, zog sie ihn an der Hand mit in ihre Wohnung. Dort landeten sie schnell in ihrem Bett, eine Spur von Kleidungsstücken hinterlassend. Schon kurze Zeit später suchte er seine Sachen wieder zusammen. Nach der hastigen körperlichen Befriedigung wollte er sich gleich wieder aus der kurzen und heftig keuchenden Umarmung lösen.

Am Tag darauf hatte er tobende Kopfschmerzen, draußen verwandelte Schneeregen das winterliche Weiß in tristen Schneematsch. Er bereute den vielen Wein, er bereute die kurze Begegnung mit seiner Studienfreundin, er bereute, nicht bei Karin im Spessart geblieben zu sein.

Selten war Thomas so niedergeschlagen gewesen. Noch dazu war Sonntag. Also keine Möglichkeit, sich irgendwo in den Alltag zu flüchten, und so saß er trübselig, ein Buch in der Hand, in seiner Wohnung und wartete darauf, dass endlich der Montag kommen würde, ohne dass er richtig Lust hatte, irgendetwas zu tun, geschweige denn, sich mit den Problemen seiner Mandanten auseinanderzusetzen. Er hatte nicht einmal Lust zu laufen.

Als er am Montagmorgen das Haus verließ, war es noch dunkel. Trotz des Schneematsches ging er wie fast jeden Tag zu Fuß. Doch hatte er nicht das richtige Schuhwerk an, sodass er schon nach ein paar Minuten patschnasse und eiskalte Füße hatte. Im Büro zog er sich die trockenen Laufschuhe, die er immer im Schrank hatte, sowie die ebenfalls vorrätigen Socken an und stellte seine Lederschuhe auf die Heizung. Darauf legte er auch seine Füße und starrte, von Karin und Argentinien träumend, aus dem Fenster, in der Hoffnung, seinem schlechten Gewissen zu enteilen. Und mit Sicherheit würde es mit voller Wucht über ihn herfallen, wenn er Karin begrüßen würde, die direkt aus dem Spessart erst zur Montagssitzung wieder ins Büro kommen wollte.

So trottete er, wie eine Kuh zur Schlachtbank, Jean hinterher, und ertrug schicksalhaft seine Furcht, Karin gleich in die Augen schauen zu müssen.

Die saß zusammen mit ihrem Lehrling und Axel Brenken im Zimmer und schien in ein angeregtes Gespräch vertieft. Sie nannten Axel Brenken immer noch den Neuen, obwohl er schon seit fast einem Jahr als junger Rechtsanwalt in ihrer Kanzlei Meyer&Schöngeist arbeitete. Anders als sein Vorgänger, dessen Hochmut vor allem seine eigenen Fehler übersah, passte der junge offene Brenken gut in ihr Team. Nach dem Flop mit seinem Vorgänger von Hanstein war es der zweite angestellte Rechtsanwalt, den sich die kleine Kanzlei leistete. Und weil der Schnösel von Hanstein mit despektierlichem Unterton nur „der Vorgänger“ genannt und es tunlichst vermieden wurde, seinen Namen auszusprechen, blieb Axel Brenken in ihren Köpfen der Neue.

Der Neue war gut gelaunt. Er erzählte vom Skifahren über die Weihnachtstage: „Super Tiefschnee!“

Thomas setzte sich an die Stirnseite des Tisches und versuchte, sich nicht ansehen zu lassen, dass er am liebsten nicht mit Karin in einem Zimmer sitzen würde. Es gelang ihm nicht. Auch die betonte Lockerheit von Karin konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass irgendetwas nicht zu stimmen schien zwischen den beiden.

Die allwöchentliche Sitzung dauerte dann auch nicht allzu lange. Nur das Nötigste wurde besprochen und die nächsten Termine abgestimmt. Das neue Arbeitsjahr in der Kanzlei Meyer&Schöngeist konnte beginnen.

2

Wieder an seinem Schreibtisch nahm Thomas Schöngeist die Akte Göbel GmbH in die Hand. Ein verzwickter Fall. Doch die unlautere Abwerbung von Personal interessierte ihn momentan überhaupt nicht. Am Donnerstag sollte der Haupttermin am Würzburger Landgericht in der Ottostraße sein. Er starrte wieder in Richtung Festung, das verregnete Grau des Morgens war kaum heller geworden.

Trotzdem ging es ihm besser. Karin war nach der ersten Arbeitssitzung dieses neuen Jahres noch kurz zu ihm ins Büro gekommen und hatte ihn gut gelaunt zu sich gezogen und geküsst – immer mit einem halben Auge zur Tür schielend. „Wenn uns jemand sieht!“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Anscheinend hatte sich Thomas die gespannte Stimmung nur eingebildet.

Er holte sich noch einen Kaffee und versuchte, sich auf die Akte zu konzentrieren. Es half ja nichts, irgendwann musste er doch arbeiten.

„Eine Frau Helma Schneider ist am Telefon. Sie ist ganz aufgelöst, sie meinte, du kennst sie. Es wäre dringend!“

Beunruhigt ließ er durchstellen. Helma, die Frau von Peter, seinem alten Schulfreund aus Blaukirchen, und Tochter des vor ein paar Tagen verunglückten Claus Brosinski hatte noch nie bei ihm angerufen. Nicht nur das, bei den wenigen Unterhaltungen mit ihr kamen sie über unverbindlichen Small-Talk nie hinaus.

Der ungewöhnliche Anruf in Verbindung mit der Zeitungsmeldung verunsicherte Thomas. Sein nüchterner Magen meldete sich und er war froh, heute noch nichts gegessen zu haben.

Helma hielt sich auch jetzt nicht mit unnötigem Geplauder auf. Er kam nicht einmal dazu, ihr sein Beileid auszudrücken.

„Peter ist verschwunden!“

Obwohl Thomas ahnte, dass etwas passiert sein musste, brachte er nicht mehr als ein dümmliches „Wie? Verschwunden?“ heraus.

„Er ist am sechsten Januar zu einem geschäftlichen Termin nach Frankfurt gefahren.“

„Aber das war doch ein Feiertag! Heilige Drei Könige!“

„Nicht in Hessen!“

„Und seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen?“

„Genau! Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll!“ Es war deutlich zu hören, dass sich Helma um einen gefassten Tonfall bemühte.

Er hatte auch keine Ahnung und wunderte sich. Darüber, dass ihn Helma ins Vertrauen zog, und noch mehr über Peter. Er versuchte seine Sorge über ihn damit zu beruhigen und sagte das auch zu Helma, dass ‚no news good news‘ wären, man also schon etwas gehört hätte, wenn ein Unfall oder sonst was passiert wäre.

„Das denke ich auch und deshalb glaube ich, dass er absichtlich verschwunden ist.“

Für Thomas ein unglaubliches Szenario. Als er mit Peter das letzte Mal richtig gesprochen hatte, im Rahmen der Brosinski-Geschichte, wirkte er trotz der Schwierigkeiten zufrieden mit seiner Helma und vor allem – gefestigt in seinem Leben. Was mag da passiert sein? Er spürte deutlich, dass sich Helmas Verzweiflung auf mehr als Peters Verschwinden gründete.

„Eine andere Frau?“, fragte er, ohne groß nachzudenken.

„Eher ein anderes Leben“, gab sie schnell, vielleicht einen Hauch zu schnell, zur Antwort.

Er hatte den Eindruck, dass sie auf seine Frage, ob er kommen sollte, wartete. So verabredeten sie sich für den späten Nachmittag. Die Fahrt nach Blaukirchen würde trotz der schlechten Straßenbedingungen nicht länger als zwei Stunden dauern.

Thomas Schöngeist war froh, aus seinem Büro, in dem er heute nie richtig angekommen war, rauszukommen. Er war überhaupt froh, das graue Würzburg hinter sich zu lassen, aber der Anlass beunruhigte ihn immer stärker, je mehr er sich seiner Heimatstadt Blaukirchen näherte.

Kurz vor seiner Ankunft auf der Schwäbischen Alb hatte es wieder zu schneien begonnen. Das ohnehin trübe Tageslicht wurde schon wieder schwächer. Auf SWR3 meldete der Moderator, dass das Dach einer Lagerhalle vom Gewicht des nass gewordenen Schnees eingestürzt sei. Personen wären nicht zu Schaden gekommen.

Helma war schmaler, als er sie in Erinnerung hatte. Der kurze Schnitt ihrer hellen Haare stand ihr gut. „Sylvia ist mit ihrer Oma, Peters Mutter, zur Tante nach Interlaken gefahren! Willst du einen Kaffee?“

Thomas wollte keinen, sagte aber, um die nicht unbefangene Gesprächssituation zu überbrücken: „Ja, gerne!“ Helma war froh um die Beschäftigung und hantierte an einer teuer aussehenden Espressomaschine herum. Die moderne Küche war schnell erfüllt von einem italienisch anmutenden Kaffeeduft, der gar nicht zu der nachweihnachtlichen Winterstimmung passen wollte. Große Fenster ermöglichten einen Blick auf das noch in Weihnachtsbeleuchtung strahlende Städtchen. Eine künstliche Stimmung, die Thomas nicht leiden konnte, an der sie aber hier in Blaukirchen besonders lange festhielten.

Er nahm die Untertasse in seine linke Hand, lehnte sich an einen Küchenschrank, umfasste mit der rechten die kleine Tasse, wusste nichts zu sagen und schaute in Helmas grüne Augen, die nicht verleugnen konnten, dass daraus in den letzten Tagen viele Tränen geflossen waren. Sie stand hilflos und verloren in der Küche und wusste, nachdem sie die Espressomaschine gereinigt hatte, nicht, wohin mit ihren Händen.

„Was meintest du mit anderem Leben?“, fragte er, um das Schweigen zu brechen.

„Seitdem wir, das heißt mein Vater, die Firma verkaufen mussten, war nichts mehr wie vorher.“

Thomas Schöngeist hatte als Rechtsanwalt den Verkauf der Brosinski AG, die in eine finanzielle Schieflage geraten war, begleitet. Den Zuschlag bekam damals ein amerikanischer Finanzinvestor, der sich EIT – European Investment Trust – nannte. Helmas Bruder Michael blieb allerdings nach der Übernahme Vorstandsvorsitzender. Eigentlich dachte Thomas, dass mit diesen Investoren viele Probleme gelöst wären, so bitter es natürlich für die Unternehmerfamilie zunächst sein musste, sich von dem zu trennen, was sie ihr ganzes Leben lang aufgebaut hatte. Doch hatte das Unternehmen auf diese Weise eine gute Überlebenschance, was die Arbeitsplätze und letztlich auch die Reputation des Firmengründers, Helmas Vater, Claus Brosinski sicherte.

Die Zeitungsmeldung über den tragischen Tod von Claus Brosinski belehrte ihn eines Besseren.

„Ihr wart doch von der Firma gar nicht abhängig? Oder täusche ich mich da?“

„Finanziell nicht unbedingt. Aber sonst drehte sich in meinem Elternhaus und im Freundeskreis meiner Eltern, eigentlich in ganz Blaukirchen, alles nur um das Unternehmen. Es war der Lebensmittelpunkt, nicht nur in den Köpfen unse rer Familienmitglieder, sondern auch bei Freunden, Bekannten, in der Stadt …“ Helmas Stimme schien zu versiegen, doch nach einer Pause fuhr sie fort: „Alles hatte sich verändert. Mein Vater wurde danach eigenbrötlerisch und kapselte sich mehr und mehr ab. Als Michael dann als Vorstandsvorsitzender immer wieder und immer stärker öffentlich in der Kritik stand, kippte die Stimmung in der Familie vollends. Und ich hatte den Eindruck, dass Peter als Sündenbock für alles herhalten musste.“

„Na, ja!“, entgegnete Thomas, „das ist doch weit hergeholt, was kann denn Peter für diese Misere?“

„Nichts natürlich, aber er war der Einzige von den Männern, der vermeintlich unbehelligt diese Krise überstanden hatte, ja vielleicht sogar davon zu profitieren schien.“

„Wieso solltet ihr von der Misere profitiert haben?“

„Wir besaßen vorher ein riesiges Aktienpaket, doch wir konnten oder durften damit nichts anfangen. Sogar die Dividende wurde nicht direkt an uns ausgeschüttet, sondern an eine Familiengesellschaft, die von Papa geführt wurde. Er traute uns nie zu, mit diesem Geld und der Verantwortung umzugehen.“ Helmas Blick verlor sich nach draußen auf die Lichterlandschaft von Blaukirchen. Thomas drängte sie nicht. „Wie hätten wir auch jemals lernen sollen, damit umzugehen? Ich wollte dieses Geld und die vielen Verpflichtungen ohnehin nicht. Peter ebenso wenig, aber er fühlte sich immer verantwortlich, haderte aber auch damit. Zum Beispiel, weil Papa immer darauf bestand, dass wir Immobilien auf Kredit kaufen sollten, damit wir unsere Steuern drücken könnten. Peter wollte dieses fremdbestimmte Leben nicht und stritt sich deshalb oft mit meinem Vater.“ Helma hatte Tränen in den Augen und es fiel ihr schwer weiterzusprechen. „Peter wollte nicht so abhängig leben, doch er ließ sich immer mehr davon in Beschlag nehmen.“

„Aber so schnell läuft man doch nicht einfach davon!“ Thomas meinte es ehrlich: „Und Peter schon gar nicht. Der lässt sich doch nicht so leicht unterkriegen!“

„Das tut er auch nicht. Wenn du Zeit hast, erzähle ich dir, was da noch alles vorgefallen ist.“

„Deswegen bin ich doch hier!“

Das Telefon klingelte. Als Helma den Hörer nahm, konnte er sehen, wie ihre schmalen Hände zitterten. „Ja, Helma Schneider hier!“

„Mmmh … ich weiß nicht … nein, er ist momentan nicht zu sprechen … Moment mal bitte!“

„Einen Augenblick, Thomas, mach es dir erst mal gemütlich.“ Helma deutete dabei in das angrenzende Wohnzimmer, wo sich die Möbel wie dunkle einsame Schatten verloren, von der Weihnachtsbeleuchtung Blaukirchens in ein dämmriges Licht getaucht.

Er blieb lieber in der Küche stehen, er war zu unruhig, um sich im Wohnzimmer alleine in einen der Sessel zu setzen. Gemütlichkeit stellte er sich anders vor. Helma verließ mit dem Telefon die Küche, und er blätterte in den Blaukirchener Nachrichten. Hinten im Regionalsport eine ganze Seite über den Blaukirchener Silvesterlauf. Trotz hohen Schnees eine Rekordbeteiligung mit knapp 500 Läufern. Ein ausführliches Interview mit dem Sieger, der aus dem nicht allzu fernen Tübingen stammte. Am Schluss des Artikels Dankesworte an den Hauptsponsor, die Brosinski AG, vermischt mit Lobeshymnen auf die Unternehmerpersönlichkeit Claus Brosinski, die in hohem Maß den Sport in der Region fördere. Thomas erschrak und schaute auf das Datum der Zeitung: 3. Januar – da wussten sie anscheinend noch nichts.

Draußen schneite es jetzt heftiger. Dicke Schneeflocken, angestrahlt von elektrischem Kerzenschein. Beruhigend und still. Doch seine Unruhe ließ sich nicht dämpfen. Wo mochte Peter sein? Thomas konnte sich nicht vorstellen, dass Peter aus freien Stücken einfach seine Familie im Stich ließ und mir nichts, dir nichts verschwand.

3

Keine Panik, ich erkenne dich schon. Ich bin die Frau, die die Tür öffnet.

Die Pointe in der knappen Mail hatte Witz. Wenngleich die kurze Nachricht sicherlich nicht so witzig gemeint war, sondern eher Wehmut anklingen ließ. Wehmut, dass schon so viele Jahre vergangen waren.

Peter hatte sich außerordentlich gefreut, als er im November sehr persönliche Geburtstagsgrüße von ihr erhalten hatte. Und gleich war er zurück in einem heißen Mannheimer Augusttag vor über 15 Jahren. Nach Arbeitsschluss war er damals in einer trägen Frühabendstimmung durch die Straßen gewandert, ziellos, ruhelos, voller Sehnsucht nach Ferien und Freiheit. Sonst war er im August immer weggefahren, nach Süden, in die für ihn damals große und unbekannte Welt. Aber seit einigen Monaten hatte er eine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem bedeutenden Konzern, und da ziemte es sich nicht, gleich wieder Urlaub zu nehmen. Überhaupt gehörte sich so vieles nicht, was er in seinem bisherigen Leben gewohnt war. So bereitete ihm seine erste Arbeitsstelle Schwierigkeiten. Nicht die Arbeit an sich, die ihm Spaß machte, sondern die vielen ungewohnten Begleitumstände: regelmäßig früh aufstehen, sich anders anziehen als früher, der formelle Umgang mit den Kollegen. Auch mit ihr.

Als er sie an diesem einsamen Abend von weitem sah, ihr Fahrrad schiebend, wusste er gar nicht, wie er sie grüßen sollte. Er konnte sich schon damals nicht mit dem etwas amerikanischen „Hallo“ anfreunden, obwohl es einen bequemen und praktischen Mittelweg zwischen dem duzenden „Servus“ und dem formellen, unpassenden „Guten Tag“ bot. Vorbei die Zwanglosigkeit früherer Begegnungen seiner Studentenzeit.

Es wäre noch möglich gewesen, ihr auszuweichen, doch das wollte er nicht. Schon seit langem war ihm ihr schlaksiger Körper, waren ihm die frech im Pagenschnitt kurz gehaltenen blonden Haare aufgefallen. Ihr hastiges Sprechen, ihre verzweifelten Versuche, gleich mehrere Dinge auf einmal zu erzählen, und vor allem diese leicht kehlige, aber nicht tiefe Stimme. So manch anderes mehr hatte er erst später kennen und auch schätzen gelernt.

Kurz nachdem Peter das Schreiben von ihr erhalten hatte, rief er sie an. Und als er ihre Stimme am Telefon hörte, breitete sich ein warmes Gefühl in seinem Magen aus und er war sich sicher, dass sie noch die von damals sein würde. Er würde kein Erkennungszeichen brauchen.

Er wusste gar nicht mehr, was er damals an diesem Augustabend wirklich zu ihr sagte. Es muss nur ein kurzer Gruß im Vorbeigehen gewesen sein, an den er sich eben nicht mehr erinnern konnte. Dieses kurze Vorbeihuschen in der aufgeheizten Mannheimer Innenstadt war auch nicht ihr richtiges Kennenlernen. Das war einige Wochen später anlässlich des Englischkurses ihrer Firma, in der sie ungefähr zur gleichen Zeit versuchten, sich mit ihrer ersten Stelle anzufreunden.

Nach dem Englischkurs gingen sie öfter aus. Sie waren sich in einer solch freien Unbefangenheit nahe, dass sie irgendwann ganz selbstverständlich nackt beieinander lagen und er den Gebrauch eines Pessars kennen lernte. Mehr als die Erinnerung an ihren Körper war es die Stimme, die ihn auch jetzt, kurz bevor er an ihrer Tür läuten würde, nicht losließ. Die Wärme, die sie immer noch auslöste. Diese Stimme und das, was sie von ihr ausdrückt, hatte ihn damals eingenommen und er sehnte sich danach, sie immer wieder zu hören. Ihr tiefes, aber dennoch unverbindliches Vertrautsein in diesen fernen Mannheimer Monaten ihres Berufseinstieges, auch die damalige körperliche Nähe, rührten in ihm immer noch ein starkes Gefühl an, das er nicht missen mochte, und es freute ihn, dass die Erinnerung in ihm wieder so ein angenehm prickelndes Eigenleben entwickelte. Er hatte sie, die mit dieser auch heute noch so nahe gehenden Stimme sprach, liebgewonnen. Liebe wollten sie es beide wohl nicht nennen. Vielleicht, weil ihre Zuneigung jener Tage auch ohne dieses Wort schön und wertvoll war und ihnen viel Raum im Miteinander ließ.

Wie an jenem Abend, als sie ihm zwei neue Kleider vorführte: „Machst du mir den Reißverschluss zu?“ Er zog ihn, hinter ihr stehend, ganz langsam mit einer Hand hoch, während seine andere Hand tastenden Halt an ihren Brüsten suchte und sie sich weich mit ihrem Rücken an ihn schmiegte.

Um Gesprächsstoff waren sie nie verlegen. Ihr Bemühen, manchmal alles auf einmal zu erzählen, hinterließ meist so viele Fragezeichen, denen nachzuspüren er eine Unendlichkeit gebraucht hätte. Ihm genügte es oft, ihr nur zuzuhören und in ihr rastloses Gesicht zu schauen, um ihr ein Lächeln zu entlocken.

Irgendwann hat er Mannheim, nicht sie, verlassen. Dazu war ihr Sich-Mögen zu unverbindlich. Sie sahen sich dann Jahre nicht: an Weihnachten eine Karte, manchmal zum Geburtstag ein Gruß. Bis zu dem Schriftwechsel, der in diese Mail mündete und diesem Sprachspiel, das wirklich gut und letztlich alles andere als ein Witz war. Diese leichte Schwingung von Wehmut in ihrer Stimme am Telefon, das alles machte ihn ganz schön aufgeregt.

4

Helma kam zurück, eine Flasche Wein in der Hand: „Ich kenne mich da nicht aus, schmeckt der?“

„Das ist ein alter Barolo! Und ob der was ist!“

Doch richtig genießen konnte ihn Thomas Schöngeist dann leider nicht. Helma hatte sich anstandshalber auch ein Glas eingeschenkt, aber nippte nur daran. Sie brauchte das Glas mehr zum Festhalten, als Aufgabe für ihre Finger, die sonst nur fahrig herumirrten. Ihre Geschichte klang anfangs ebenso fahrig und er hatte Mühe zu folgen.

„Wie ich schon sagte, hat der Verkauf der Firma unser aller Leben verändert. Mein Vater, der sowieso schon seit Mutters Tod sehr zurückgezogen lebte, igelte sich noch mehr ein. Und kurze Zeit später fing mein Bruder damit an, dass die Firma gar nicht hätte verkauft werden müssen. Sie seien von Professor Voss, dem damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden, in die Irre geleitet worden. Die Zahlen wären gar nicht so schlecht gewesen, und eigentlich hätten wir, hätte er, mein Bruder, die Firma aus eigener Kraft wieder auf Vordermann gebracht. Das hätte er leicht schaffen können, wenn er nur gedurft hätte. Aber die Banken ließen ihn nicht und Professor Voss wäre doch nur ein Handlanger der Banken gewesen. Der hätte nie die Interessen der Firma vertreten, sondern nur die der Bank. Michael war ganz besessen davon. Jedem, der es hören wollte oder auch nicht – eigentlich wollte es keiner hören – erzählte er, dass die Familie Brosinski verraten worden sei.“

„Moment mal“, warf Thomas ein, „Michael blieb doch nach dem Verkauf Vorstandsvorsitzender, da hatte er doch alle Macht und Möglichkeiten?“

„Das ist ja das Problem. Schon nach wenigen Monaten wurden seine Kritiker immer lauter. Stimmen, die früher, als uns noch alles gehörte, nicht einmal geflüstert hätten. Er tat mir fast schon leid, wie er unter Druck stand!“

„Wieso fast?“

„Ehrlich gesagt, glaube ich, dass jetzt an Michael ganz einfach normale Maßstäbe gesetzt werden und er nicht mehr unter väterlichem Schutz steht.“

Er war erstaunt über die offenen Worte, die er von einer Tochter des großen Brosinski so nicht erwartet hätte. Helma war wohl selbst erschrocken.

„Entschuldige bitte, ich bin wohl etwas durch den Wind. Die Sache mit Peter … “ Thomas sah sie das erste Mal weinen und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. In den Arm nehmen kam irgendwie nicht in Frage. Das passte nicht zu ihrem distanzierten Verhältnis und ihrem fast vertraulichen verbalen Ausrutscher, der ihr im Nachhinein vielleicht peinlich war. Er kramte ein Tempotuch aus seiner Hosentasche und reichte es Helma. Die nahm es und drückte es so fest mit der Hand zusammen, bis ihre Knöchel weiß aus der schmalen dünnen Hand hervortraten.

„Passt schon, danke!“

„Das ist ja eine blöde Geschichte“, fuhr Thomas fort, dem an diesem Abend schon ein kurzes Schweigen unangenehm wurde, „aber was hat das mit Peter zu tun?“

„Professor Voss hat sich oft mit Peter beraten, und Peter war damals der Meinung, dass der Verkauf wohl die einzige Möglichkeit wäre, die Firma und die Arbeitsplätze hier in der Region zu retten.“

„Das meinte Jean, mein Partner in der Kanzlei, auch immer. Ich selbst wusste damals nicht so recht. Ich dachte eher, dass Finanzinvestoren moderne Heuschrecken wären, die nichts anderes im Sinn hätten, als sich die Filetstücke einer Firma rauszuschneiden.“

„Für Peter war das ziemlich klar und, ehrlich gesagt, mir auch, denn Michael hat nie und nimmer das Zeug wie mein Vater …“ Helma stockte. Wieder liefen ihr ein paar Tränen übers Gesicht. Thomas hatte allerdings kein Taschentuch mehr und stand unbeholfen in der Küche.

In den Arm nehmen kam irgendwie immer noch nicht in Frage.

„Professor Voss wurde damals als Aufsichtsratsvorsitzender abgesetzt, der war dann nicht mehr greifbar, die Bank war ohnehin weit weg. So blieb wohl nur noch Peter, den Michael mit der Zeit für alles denkbare Unglück verantwortlich machte und dem er eigennützige Motive für seine damalige Haltung unterstellte. Das steigerte sich immer mehr. Weil Peter nicht die Ansichten von Michael vertrat, sah ihn Michael nicht nur als Gegner, sondern vor allem als Verräter.“

„Das ist doch blanker Unsinn!“, entrüstete sich Thomas.

„Natürlich ist das Unsinn“, ereiferte sich Helma, „aber da konnte Peter sagen und machen, was er wollte, es nützte nichts. Immer wieder gab es Streit.“

„Konntet ihr dem nicht aus dem Weg gehen?“

„Natürlich. Wir haben uns kaum mehr gesehen. Aber …“, wieder fing Helma zu weinen an. Dieses Mal nahm Thomas Helmas Hand, die immer noch das unbenutzte Taschentuch umschloss. Helma ließ ihre Hand bei ihm, ohne erkennen zu geben, ob ihr das angenehm oder unangenehm war.

„Gab es noch andere Schwierigkeiten?“, fragte Thomas, um eine womöglich aufkommende Stille zu vermeiden.

„Und ob! Die Leute fingen an, uns zu meiden. Erst fiel uns das gar nicht weiter auf, schließlich ist unser Alltag doch ziemlich auslastend und anfangs denkt man sich nichts dabei, wenn man zu einer Geburtstagsfeier nicht eingeladen ist. Aber dann merkten wir, dass wir immer seltener irgendwo dabei waren. Bis uns einer der wenigen wirklichen Freunde erzählte, wie sehr Michael gegen Peter intrigierte. Der gesellschaftliche Einfluss eines Brosinski ist in einem Städtchen wie Blaukirchen auch kaum zu unterschätzen.“

„Hast du nicht mit deinem Bruder gesprochen? Der spinnt doch!“

„Er lässt keine andere Meinung zu, vor allem nicht in diesem Punkt!“

„Das gibt’s doch gar nicht!“ Er konnte kaum glauben, was er da zu hören bekam. Familienzwist hin oder her, aber der Versuch, seinen Freund Peter gesellschaftlich auszugrenzen und damit auch seine eigene Schwester …

„Ja, das tut schon weh!“, murmelte Helma.

„Das kann ich mir vorstellen!“

„Ende November wollte Papa, dass Michael und ich mit ihm ein paar Tage in einem Schweizer Hotel verbringen. Sozusagen als Familienklausur. Ich fand, es war keine schlechte Idee. Dort haben wir so gut wie nicht über Peter gesprochen. Im Prinzip herrschte so eine Stimmung wie Friede, Freude, Eierkuchen. Papa wollte anscheinend ein unbeschwertes Familienwochenende. Wir haben es ihm gegönnt und komischerweise war dadurch auch die Stimmung zu meinem Bruder relativ ungetrübt. Und ich stellte mir doch tatsächlich vor, dass damit die Krise überstanden sei und jetzt alles gut werden würde. Ich dachte wirklich, dass durch die enorme Belastung mit dem Verlust der Familienfirma einfach die Emotionen hochgekocht waren und sie sich wieder legen würden!“

„Und?“, fragte Thomas.

„Anscheinend wollte mir mein Bruder nur zeigen, dass er mit mir kein Problem hat, wohl aber mit Peter, und wenn ich zu ihm halten würde, wohl selbst Schuld hätte.“

„Wieso denn das?“

„Kurz darauf wurde Peter Knall auf Fall als Geschäftsführer von Immobau suspendiert!“

„Davon wusste ich nichts!“ Er war überrascht, fühlte sich übergangen. Warum hatte ihm Peter davon nichts erzählt?

„Das müssen die doch begründen!“

„Ihm wurde gesagt, dass es Unregelmäßigkeiten gegeben hätte. Peter hat spontan sein Ehrenwort gegeben, dass das nicht stimmen könne. Er dachte, das könne nur ein Missverständnis sein.“

„Und du meinst, dass …“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass Michael all seinen Einfluss geltend gemacht hat.“

„Aber du hast doch eben angedeutet, dass ihr eher die Nutznießer der Transaktion gewesen wäret? Das klingt jetzt aber ganz anders.“

„Nutznießerei wurde uns unterstellt, dabei stimmt das so viel und so wenig wie bei meinem Bruder. Finanziell selbstständig waren wir schon vor der Tragödie. Aber was bedeutet schon Geld?“

„Um was ging es dann eigentlich, um Geld oder anderes?“

„Um beides: Geld spielte in meiner Familie immer eine große Rolle. Alle Leute wurden danach bewertet, wie viel sie davon hatten. Natürlich wurden nicht einfach auf plumpe amerikanische Art Dollars gegeneinander aufgezählt, sondern es wurden Charaktereigenschaften derjenigen, die viel Geld verdienen, herausgestellt. Wie oft musste ich hören, wie kreativ der ein oder andere sei. Ein wirklicher Künstler war nie dabei. Nicht einmal ein Lebenskünstler.“ Helma lachte gequält. „Nein, Lebenskünstler war wirklich keiner von denen!“

Thomas konnte nicht anderes, es rutschte einfach aus ihm heraus: „Peter war immer einer!“

„Auch das haben sie ihm übel genommen. Und im Lauf der letzten Jahre hat er diese Kunst leider verlernt.“

Helma schluchzte auf und endlich nahm Thomas sie in den Arm. Sie ließ ihn gewähren, doch schon kurz darauf entwand sie sich wieder, nahm einen Schluck Wein, schaute Thomas unverwandt mit ihren verweinten Augen an: „Und jetzt machen sie ihn auch noch für Papas Tod verantwortlich!“

„Wie ist er denn verunglückt?“ Thomas kam bisher noch gar nicht dazu, die Frage zu stellen.

Helma schluckte und brauchte eine Weile, bis sie sagte: „Er hat sich vor einen Zug geworfen.“

Die Stille, die sich nach diesen Worten ausbreitete, lastete schon gar nicht mehr, so leer war sie. Thomas wusste und wagte nichts zu sagen. Jedes Wort wäre falsch angesichts dieser Familientragik. Und Helma hatte alles gesagt.

Nach einiger Zeit stellte sie ihr Weinglas ab: „Warte, ich zeige dir die erste Seite eines Briefes, den ich auf Peters Schreibtisch gefunden habe. Das Blatt war nicht sonderlich versteckt.“

Lieber Peter,

danke für deinen Brief. Du hast wunderschön geschrieben. Glaubtest du wirklich, diese trockene Immobilienfirma in dem beengten Blaukirchen war das Richtige für dich gewesen? Bei all dem, was du kannst? Ja, es gibt immer noch eine andere Welt. So wie es immer schon eine andere gab.

Ja, Wehmut, das ist das, was einen so überkommt. Wie schnell das Leben saust, wie viele Rillen sich im Gesicht eingraben …

Ja, ich meine, wir haben uns im Englisch-Kurs kennengelernt und deswegen habe ich da eigentlich ganz wenig mitbekommen, weil du mir ganz gehörig den Kopf verdreht hast. Ich weiß gar nicht mehr so genau, was der Auslöser war, wahrscheinlich deine unbekümmerte Lausbubenart und die Lebensfreude, die du bei all dem Berufsleid ausstrahltest. Wir waren – glaube ich – alle höllisch dankbar, dem Projektstress für eine Woche zu entkommen. Und die meisten dieser sogenannten Kollegen im Anzug wirkten wie Attrappen, seelenlose Gestalten mit ausdruckslosen Gesichtern wie aus der Boss-Herren-Werbung, mit klugen Sprüchen und hohlen Köpfen. Interessiert an ihren Karriere-Steps und den Aktienkursen ihrer Investmentsfonds. Bubis, angepasst, reingepresst, empfindungslos und zugemauert.

Ich erinnere mich an heißen Spätsommer, Sonnenschein, Englischfetzen. Und an dich – eine Stimme, die Sehnsucht ausstrahlt, Sehnsucht nach dem, was hinter diesem Englisch-Kurs liegen könnte. Kornfelder in der Rheinebene, eine Radel-Tour, ein kühler Bach, ein kaltes Bier, ein amüsantes Gespräch, Sonnenstrahlen, nackte Haut. Eine sonore Stimme, Gefühle auf der Zunge, Augen, die mir in die Seele bis zum Bauchnabel blicken, Sehnsucht… nach einem anderen Leben, nach einer anderen Welt… Jemand, der nicht cool ist, jemand, der versteht…

Diese Gefühle machen heiß … Ich erinnere mich an einen Spaziergang, diese Hitze von innen und von außen …

Thomas stand stumm mit seinem Glas Wein in der Küche und sah hilflos zu, wie sich Helmas Augen wieder mit Tränen füllten, die langsam über ihre schmal gewordenen Wangen rannen.

„Doch eine andere Frau!“ stellte er fest und er bereute seine unbedachte Bemerkung sofort.

Es dauerte, bis Helma antwortet: „Sieht wohl so aus, trotzdem bleibe ich dabei: ein anderes Leben!“ Nach einer Pause fuhr sie fort: „Und das ist letztlich schlimmer!“

So standen beide eine halbe Ewigkeit wortlos in der Küche, der heftige Schneefall draußen verdunkelte die Weihnachtsbeleuchtung, bis Thomas fragte: „Soll ich ihn nur suchen oder auch überreden, wieder zurückzukommen?“

„Sag ihm, dass auch ich ein anderes Leben will! Und zwar mit ihm!“