ISBN: 978-3-903059-47-4
1. Auflage 2019, Krems an der Donau
© 2017 EDITION ROESNER
EDITION ROESNER - artesLiteratur
Titelfoto: Julia Jägersberger, Foto von: Eva Schimmer, Der Verlag dankt für die einmalige Abdruckerlaubnis!
Titelbild: © EDITION ROESNER
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Gefördert durch
das Land Niederösterreich
und das Bundeskanzleramt
Von: Julia
An: Chef
Verehrter Herr Regisseur,
bitte sag mir ohne jeden Genierer, wie ich mich bei dir bedanken kann, dass du ausgerechnet mich Nachwuchsblümchen mit der Julia besetzt hast! Ich meine, natürlich danke ich dir erst einmal, dass ich auch in diesem Jahr überhaupt bei den Sommerspielen im Schloss Hunyadi wieder dabei sein darf, aber ganz verrückt hast du mich dadurch gemacht, dass ich wirklich die Julia spielen darf! Diese Rolle ist doch der Traum aller jungen Schauspielerinnen! Du hältst mich offenbar wirklich für begabt, oder?
Umgekehrt hast du jetzt klarerweise auch einen dicken Wunsch bei mir frei.
Setz deiner Phantasie keine Grenzen!
Ganz liebe Grüße von
deiner Julia
Von: Chef
An: Julia
Liebe Julia,
ich hab natürlich einen großen Wunsch. Eigentlich sogar zwei. Erstens möchte ich dich bitten, dass du immer pünktlich zu den Proben kommst und, zweitens, dass du mit ‚gelerntem Text‘ kommst. Am Burgtheater können sie monatelang an einer Szene herumprobieren, wir aber haben nur sechs Wochen. Inclusive der Schlussproben, wo ihr Damen dann ohnedies nur noch mit euren Kostümen beschäftigt seid.
Kannst du dir übrigens vorstellen, dass du schon bei den Stellproben ein Kostüm anziehst, das dem Premierenkostüm ähnlich ist? Der große Brecht hat immer in den Originalkostümen probiert. Damit die dann bei der Premiere nicht zu neu ausgesehen haben. Der Mann war ein Realist durch und durch.
Ich muss Schluss machen.
Dein Regisseur
Von: Julia
An: Chef
Mein Durch-und-durch-Realist,
ich dachte, du hättest, wenn du in einer einsamen Stunde an deine kleine Julia denkst, auch noch andere Wünsche …?
Dabei fällt mir ein: Wer wird eigentlich mein Romeo sein?
Mein Wunschbild kennst du, hoff ich: Groß, schlank, dunkel, aber vor allem muss er witzig sein. Bloß nicht transusig. Und: Mein Romeo muss tanzen, fechten und singen können! Vom Küssen red ich gar nicht! Dass er sich auf diesem Gebiet auskennt, setz ich voraus.
Kleine Nebenfrage: Gibt es eigentlich eifersüchtige Regisseure? Die gibt es nicht, weil das dann gar nicht geht, oder? Das wäre ein echtes Berufshindernis, stell ich mir vor.
Liebste Grüße von
deiner Julia
P. S.: Ist dieses Stück wirklich von diesem Marlowe? Wir haben im Gymnasium gelernt, ROMEO UND JULIA sei von einem gewissen Shakespeare?
Von: Chef
An: Julia
Liebe Wissbegierige,
William Shakespeare, der auf der ganzen Welt bekannte Kaufmannssohn aus Stratford, hat in seinem kurzen Leben n i c h t e i n e e i n z i g e handschriftliche Zeile hinterlassen. Und auch in seinem diktierten Testament gibt es keinerlei Hinweise auf Briefe, Szenen, Theaterstücke oder gar Bücher. Er war Theaterunternehmer, der offenbar gut rechnen konnte, aber dass er irgendetwas geschrieben hätte, dafür hat noch niemand auch nur den geringsten Beleg gefunden.
Der andere aber, Christopher Marlowe, war ein professioneller Dramatiker, der allerdings als 29-Jähriger von der damals allmächtigen Kirche ‚gezwungen‘ worden ist, ins Exil zu gehen, weil er unter anderem geschrieben hat: „Jesus ist ein Bastard.“
Der Geheimdienst hat ihn in einer finsteren Nacht heimlich nach Frankreich gebracht. Dafür hat er versprochen, dass er in Zukunft alle seine Sachen nur noch unter Pseudonym veröffentlichen würde.
ROMEO UND JULIA ist also nicht von dem Kaufmann Shakespeare aus Stratford geschrieben worden, sondern von dem Profidramatiker Marlowe. Im Exil.
Davon erzähl ich dir später einmal mehr.
Jetzt kümmere dich, bitte, erst einmal um deinen neuen Partner. Mir gefällt er. Er spricht ein angenehm weiches Deutsch und kann wunderbar Gitarre spielen.
Dein Regisseur
Von: Julia
An: Chef
Großer Gebildeter,
wenn du sagst, der ‚Neue‘ taugt was, dann glaub ich dir erst einmal und freu mich drauf, wie er mir ‚mit seiner angenehm weichen Stimme‘ sagen wird: „Es war nicht die Nachtigall, es war die Lerche …“
In dem entscheidenden Moment muss ich ihn nämlich, laut Buch, heftig umarmen und küssen!
Kann er das, denkst du, tatsächlich so sagen, dass ich das dann wirklich tun will?
Oder wird es wieder so sein, dass ich wie in meinem letzten Stück sagen muss:
„Wer des Lebens Unverstand
mit Wehmut will genießen,
der lehne sich an eine Wand
und strample mit den Füßen …“
Also trotz allem ganz liebe Grüße von deiner Halbgebildeten, die übrigens das Strampeln schon übt.
Es gibt im ganzen Bezirk Mödling keinen hübscheren Schlosshof als den des Schlosses Hunyadi in Maria Enzersdorf. Und klugerweise bringt da ein örtlicher Theaterverein seit fünf Jahren in jedem Sommer ein Stück von Arthur Schnitzler zur Aufführung, von diesem begabtesten Autor aller urösterreichischen Töne und Gefühle, und nirgends passt gerade auch ein Stück wie sein REIGEN besser hin als in diesen Schlosshof, wo es gerade eben aufgeführt wird.
In diesem Sommer probt der Herr Schauspieldirektor aber erstaunlicherweise zusätzlich zum normalen Schnitzler-Programm auch eine eigene Uraufführung, die allerdings überhaupt nicht in ein Schloss passt und schon gar nicht in ein österreichisches, denn dieses Stück spielt im Hafen der alten Stadt Iraklion auf Kreta.
„Das Publikum muss sich also statt des Anninger, der hier die Landschaft überragt,“ sagt der Regisseur Mitte Mai bei der Stellprobe im Schlosshof, „das Mittelmeer vorstellen und statt der kleinen Winzerhäuser rund um unseren Schlossplatz die venezianischen Hafenbefestigungen auf Kreta von 1593. Denn hier, bitte, landete damals der knapp 30-jährige englische Dramatiker Christopher Marlowe – als Kapitän verkleidet, weil er im Exil nicht erkannt werden durfte – in der von den Venezianern damals gerade eroberten Stadt Iraklion.
Marlowe war natürlich kein normaler Segelschiffskapitän, er stand schon seit seinem Studium in Cambridge im Dienst des britischen Secret Service, und er sollte nun auch hier die raffinierten venezianischen Hafenanlagen auskundschaften und abzeichnen. Ja, meine Lieben, das ist der politische Hintergrund unserer Liebesgeschichte ROMEO UND JULIA. Das ehemals türkische Kreta ist jetzt von Venezianern ‚besetzt‘.“
Der Regisseur wirkt gerade am Anfang einer Probenzeit in seinen Erklärungen immer etwas autoritär, besonders, wenn er ein eigenes Stück mit den Schauspielern bespricht, aber absolut unduldsam wird er, wenn jemand die Probenarbeit nicht sofort total ernst nimmt.
Umgekehrt hat er auch vom ersten Moment an einen sicheren Blick für Begabungen. Wenn eine Schauspielerin plötzlich etwas zeigt, was er nicht erwartet hat, fliegen sofort alle Türen in seinem Herzen auf, und alle Engel singen.
„Bevor wir anfangen, möchte ich noch sagen, dass die Namen der Titelfiguren des Stückes ROMEO UND JULIA heute selbst jenen Menschen etwas bedeuten, die dieses Stück weder gesehen noch gelesen haben.“
„Aber warum, bitte, spielen wir nicht nur Schnitzler-Stücke? Kein Fundus in ganz Österreich hat seriöse Renaissance-Kostüme aus Kreta“, sagt die von allen verehrte Kostümbildnerin.
Man liebt sie übrigens nicht nur wegen ihrer zauberhaften Schnitzler-Kostüme, sondern auch wegen ihrer Art zu reden. Sie hat noch den richtigen Theaterton. Was nicht verwundert, denn sie stammt aus einer berühmten Künstlerfamilie. Sie hat ihr Leben lang an vielen Bühnen bemerkenswerte Erfolge gehabt, trotzdem schleppt sie tief in ihrer melancholischen Seele einen dicken Knäuel von Lebensenttäuschungen mit sich herum. Deswegen tut sie allen leid, auch wenn sie jedes Mitleid sofort mit einer fast beleidigenden Schärfe zurückweist, denn sie weiß doch von vornherein: Es wird alles nur noch schlimmer … Alle Kostümverleihanstalten werden teurer, jedes Theater hat immer weniger Geld, österreichische Filme sind überhaupt von vornherein Pleiteunternehmen, es gibt überall zu viele zerrissene Seidenstoffe an den Rückseiten der Mäntel, Unmengen an abgetretenen Säumen, die niemand gemeldet hat, geschweige denn geflickt, und in jedem Schlosspark gibt es zu viele morsche Äste, die runterstürzen können, in jedem Ort zu viele rücksichtslose Autofahrer, die einen niederfahren können.
Und – das ist das Schlimmste – überall tauchen neuerdings unbekannte Krankheiten auf, woran die kleinen Kinder schon bei der Geburt sterben – und wenn sie nicht bei der Geburt sterben, dann sterben sie später …
Und vor lauter Angst hat sie deswegen auch selber nie ein Kind haben wollen!
„Ja, richtig, ich versteh eigentlich auch nicht ganz, warum wir gerade dieses Stück just hier spielen müssen“, sagt die jüngste Schauspielerin, die sich bis dahin sehr zurückgehalten hat, und macht ihre großen, grünbraunen Augen vor lauter Verzweiflung ganz schmal.
„Meine Liebe, wie spielen dieses weltberühmte Stück, weil ich glaube, dass du die erstaunlichste Julia sein wirst, die jemals hier …“
Flüchtig berührt er mit seinem Manuskript ihre Wange.
Von: Julia
An: Chef
Verehrtester,
ich fürchte, diese Rolle kann ich nicht spielen. Denn es handelt sich doch um eine Liebesgeschichte, oder? Ich habe dich um einen Partner gebeten, der groß, schlank und dunkel sein soll! Und wie ist meiner jetzt? Klein, dick und blond. Und außerdem behandelt er mich dermaßen desinteressiert, dass ich diese Lieblosigkeit nie und nimmer überspielen kann. Entweder der Mistkerl wird umbesetzt, oder ich verschwinde. Und dann kannst du dir eine andere suchen, die diesen Haubenstock zum Blühen bringt.
Ja, lach nicht, aber als wir beide, du und ich, unlängst beim hektischen Von-der-Bühne-Rennen – nach dieser miserabel geprobten Verbeugungsordnung beim REIGEN – kurz aneinandergedrückt wurden, spürte ich deinen Ellbogen an meiner Brust, und ob du es glaubst oder nicht, das war für mich toll! Das war plötzlich einfach super aufregend!
Aber mit diesem Schnösel, der deinen Romeo spielen soll, also der den bedeutenden Spion und nicht ganz unbedeutenden Autor Marlowe geben soll, passiert gar nichts! Wenn ich bei der Probe durchaus nicht ganz unabsichtlich mit meinem Arm seine Hand berühre, zieht er sie nur weg.
Als hätt ich die Beulenpest.
Der hat keine Hände, der hat Tentakel!
Ja, ich weiß, Tentakel sind Fangarme zum Einfangen von kleinen Beutetierchen, die manche Quallen dann fressen, aber der, sag ich dir, der gebraucht seine Tentakel nur zum Wegstoßen.
Maßlos enttäuscht ist
deine Julia Montague-Cicogna
Von: Chef
An: Julia
Liebes Rumpelstilzchen,
ich bin dir sehr dankbar, dass du dir die Mühe gemacht hast, den speziell von mir im Hinblick auf die Liebesgeschichte mit dir schon vor Monaten ausgesuchten Kollegen sofort schlecht zu machen. – So etwas hilft dem Korpsgeist einer Inszenierung enorm.
Vor allem aber hat mich deine Bemerkung, was meine Person betrifft, etwas verwirrt.
Selbstverständlich habe ich bei dem erwähnten Gedrängel nach der Verbeugungsordnung an meinem Arm deine weiche Brust gespürt, aber ich sah das als einen Arbeitszwischenfall an, nicht als eine erotische Annäherung.
Und bei dieser Erkenntnis, dass dieser für dich ‚tolle Moment‘ nichts als ein Arbeitszwischenfall gewesen ist, müssen wir es auch bewenden lassen.
Zumindest so lang wir uns bei dieser Inszenierung auf Wichtigeres konzentrieren müssen.
Aber zurückkehrend zum Anlass unserer Korrespondenz: Mein Vorschlag ist, du gehst einmal nach der Probe mit deinem Partner was trinken.
In der Hoffnung, dein Interesse für den jungen Mann doch noch geweckt zu haben, bleibe ich dein immer an allen Sorgen seiner Schauspieler sehr interessierter Chef
Von: Julia
An: Chef
Verehrtester,
der von dir seit Monaten für mich ausgesuchte Tentakler hat zwei kleine Töchter!
Und als ich ihm schon bei der Begrüßung sagte, dass wir, um uns näher kennenzulernen, doch einmal zusammen essen gehen sollten, murmelte er: „Klar, gern, aber besser später einmal.“ Im Moment sei eine seiner Kleinen krank, und da versuche er eben, an jedem probenfreien Abend zuhause zu sein.
Kannst du ihn nicht doch noch umbesetzen?
Denn ich hoffe, dass du eines weißt: Keine andere ist so absolut loyal ihrem Regisseur gegenüber wie ich. Und wenn ich was Negatives spür, dann sag ich dir das eben auch ehrlicher als jede andere.
Der Kerl ist ein Haubenstock!
Trotz allem verharre ich natürlich, wie immer, in grenzenloser Bewunderung deiner künstlerischen Potenz als
deine Julia Montague-Cicogna
Von: Chef
An: Julia
Verehrte Lieblingsschauspielerin,
nimm seine Hand, du kleiner Feigling, und leg sie dorthin, wo du sie haben willst. Und sag ihm dabei ganz direkt, dass du ihn keineswegs heiraten möchtest, sondern dass du nur etwas mehr von seiner Zuneigung spüren willst.
Bei den Proben.
Wahrscheinlich braucht er diese Klarheit.
Mit großem Dank für deine erfrischende Loyalität bleibe ich dein dich als Schauspielerin grenzenlos liebender Chef