Nur die Ostsee weiß die Antwort

Ostsee-Krimi

Emlin Borkschert


ISBN: 978-3-96152-216-3
1. Auflage 2019, Oldenburg (Deutschland)
© 2019 Schardt Verlag, Oldenburg, www.schardtverlag.de

Titelbild: joexx / photocase.de

Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei erfunden. Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Für Sina und Tom, die für Krimis noch zu jung sind.

1. Kapitel

 

„Du bist noch wie lange bei uns?“

Piwi lenkte sein Dienstfahrzeug über die B 109, die ihn – wie er geglaubt hatte – schnellstmöglich nach Greifswald führen würde. Wenigstens floss der Verkehr wieder. Mit drei knappen Worten hatte sein Beifahrer soeben das Kunststück vollbracht, ihm den Tag komplett zu vermiesen. Eine stramme Leistung für einen zwanzigjährigen Polizeianwärter, dessen Aufgabe vor allem darin bestand, sein Team sechs Monate lang auf Schritt und Tritt zu begleiten. Und dabei hoffentlich etwas zu lernen. Dass Till Brenner ihm mittlerweile fast ans Herz gewachsen war, ging niemanden etwas an.

„Noch bis Freitag“, wiederholte Till.

„Wieso kannst du einem das nicht mal früher sagen?“

„Chef, das hat er doch“, tönte es aus der Freisprecheinrichtung am Armaturenbrett. „Mehrmals sogar.“

Piwi tat diesen Einwand mit einer Handbewegung ab, die der Gesprächsteilnehmer am anderen Ende der Leitung kaum würde sehen können. „Erstaunlich, dass ihr beide mal einer Meinung seid.“

„Aber es stimmt, Chef.“

„Ja, ist das so?“ Stirnrunzelnd betrachtete Piwi den jungen Mann neben sich, solange es das Fahren in einer Autokolonne eben zuließ. Dass Till Brenner von sich aus etwas erzählte, kam eher selten vor; meist musste man ihm die Informationen aus der Nase ziehen. Seit wann hatte der Bengel eigentlich eine Brille?

„Mmh“, antwortete er, was wohl so viel heißen sollte wie: „Ja, Herr Vollmer, das habe ich in der Tat mehrmals getan.“

„Tja dann.“ Piwi würde sich mit den Konsequenzen auseinandersetzen müssen. Mitarbeitergespräch, Beurteilungszeugnis und, und, und, ganz zu schweigen davon, dass mit Tills Weggang ebenfalls ein Leistungsträger wegfiele und bei den Übrigen automatisch mehr Arbeit hängen bliebe. Da sie personell nicht gerade üppig ausgestattet waren, eine mittlere Katastrophe. Aber für solche Überlegungen hatte er im Moment keinen Nerv. Ein neuer Fall rief, ein Einsatz am Montagnachmittag, kurz bevor Piwi den Feierabend hatte einläuten wollen, in der Absicht, sein Arbeitszeitkonto um ein, zwei Stündchen zu erleichtern. Doch der Tod nahm darauf keine Rücksicht. Manchmal wünschte er sich, seinen Traumberuf aus Kindertagen erlernt zu haben und Bäcker geworden zu sein, denn die hatten um diese Uhrzeit längst frei.

„Wo soll ich überhaupt hinkommen?“, fragte die Stimme durch die Freisprechanlage und holte Piwi in die unliebsame Realität zurück. „Nach Greifswald, schon klar, aber wohin genau?“

„Ins ehemalige Klinikviertel“, erklärte Piwi. „In Sankt Nicolai wurde eine alte Frau tot aufgefunden.“

„Im Krankenhaus?“

„Altersheim.“

„Oh! Das ist ja mal was ganz Ungewöhnliches, Chef.“

Piwi stimmte gedanklich zu. Eine tote alte Frau im Altersheim klang auf den ersten Blick nicht nach dem Höhepunkt seiner Karriere. Doch die Anweisung war von ganz oben gekommen und besagte, dass er und seine Männer alles stehen und liegen lassen und sich unverzüglich auf den Weg machen sollten. Was konnte es Spannendes daran geben?

„Sankt Nicolai ist kein Altersheim, Ed“, meldete sich Till Brenner zu Wort. Er hatte ein Blatt Papier auseinandergefaltet, das er sich vor die Nase hielt und laut vorlas: „Sondern eine gepflegte Seniorenresidenz, direkt an der Ostseeküste gelegen.“

„Börner, woher weißt du das denn?“, drang es aus der Freisprechanlage.

„Aus dem Internet ausgedruckt.“

„Oh Mann, wirklich, Börner, was werde ich deine Schlagfertigkeit vermissen!“

Piwi unterdrückte ein Schmunzeln. Sein Mitarbeiter Ed Stenzl war das andere Extrem und nie um einen Spruch verlegen. Vier von fünf waren überflüssig, der eine aber traf den Nagel auf den Kopf.

„Ed“, sagte Piwi in mahnendem Ton, denn als Gruppenleiter sah er sich in der Pflicht, für Ordnung untereinander zu sorgen. „Ich weiß, dass dir ein Ehrenmord der Mafia lieber wäre, aber so ist die Situation. Eine vierundachtzigjährige Frau, tot in ihrem Bett, gefunden von ihrem Pfleger. Wenn wir Glück haben, stellt es sich als völlig harmlos raus, und wir sind zum Abendessen zurück.“

„Wenn wir Glück haben, bekommen wir mal wieder richtig was zu tun. Pfusch im Pflegeheim. Organhandel. Oder ein misslungener Enkeltrick.“

„Genau, Ed. Nur um das klarzustellen: Wir werden dieses Mal ganz unvoreingenommen an die Sache herangehen. Verstanden?“

„Weiß man schon Näheres über die Frau?“

„Ob du das verstanden hast?“ Piwi konnte sich lebhaft vorstellen, wie Ed in seinem Ford Fiesta klebte und mit den Augen rollte.

„Klar, Chef!“

Till Brenner schnaufte und wollte damit wohl seine Zweifel daran zum Ausdruck bringen.

„Nun zu deiner Frage, Ed: Die verstorbene Dame hieß Klara Bismarck. Sie galt als vornehm, was auch immer das heißen mag. Viel Geld, in erster Linie.“

„Wurde etwas gestohlen?“

„Das weiß man noch nicht.“

„Wer erbt?“

„Mir ist durchaus bewusst, dass zu Beginn einer Ermittlung Fragen gestellt werden, Ed. Aber vielleicht heben wir uns die auf, bis wir da sind. Meinst du, du kriegst das hin?“

Vor nicht einmal einer halben Stunde war der Leiter des Morddezernats in Piwis Büro gestürzt, nur mit dem Allernötigsten an Information. Ob sich nicht die Kollegen vor Ort darum kümmern könnten, hatte Piwi eingewandt, immerhin befand sich in Greifswald eine Außendienststelle ihres Kriminalkommissariats. Nein, unter gar keinen Umständen, er – Peter Vollmer – müsse das unbedingt persönlich erledigen. Den Grund erführe er später. Aber auch nur er persönlich. Schon wieder persönlich. Dieses Beiwort war es letztendlich gewesen, das ihn gepackt hatte, ansonsten hätte er womöglich auf Durchzug geschaltet.

Sie folgten weiter der Bundesstraße, die seit Kilometern nahezu schnurgeradeaus verlief. Dort, wo die Bauern noch nicht gepflügt hatten, zeigten die Stoppelfelder, dass das Beste des Jahres bereits vorbei war. Einmal mehr bereute Piwi es, die Sommermonate ausschließlich mit Arbeit verbracht zu haben.

„Also gut, Ed. Was meinst du, wann wirst du da sein?“, wollte er von seinem Mitarbeiter wissen. Oder eigentlich nur die einsetzende Stille unterbrechen.

„Zehn Minuten vielleicht. Der Verkehr in Stralsund war echt die Hölle.“

„Aus Anklam raus war auch nicht besser. Scheiß Baustelle!“ Seit Beginn der Arbeiten an der Anklamer Peenebrücke ging stadtauswärts so gut wie nichts mehr. Der gesamte Verkehr, einschließlich der Massen an Touristen, die ihre Herbstferien unbedingt auf der Insel Usedom verbringen mussten, wurde über eine einspurige Behelfsstrecke mit Baustellenampel umgeleitet. Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis sie endlich durchgekommen waren, und aus purer Langeweile hatte Piwi seinen Beifahrer gefragt, wie lange dessen Hauptpraktikum denn noch dauern würde – was er im Nachhinein lieber gelassen hätte.

„Sie sind durch die Baustelle gefahren?“, spottete Ed. „Das ist ein Fehler gewesen. Sie hätten über Jarmen fahren müssen, das ging heute Mittag einwandfrei.“

„Na, danke für den Tipp. Also bis gleich!“ Piwi beendete das Gespräch mit einem Tastendruck. Warum tat er sich das immer wieder an? Diese lächerlichen Versuche, seine Kollegen mit Smalltalk bei Laune zu halten. Es kostete nur Nerven. Seine Nerven.

Er schaltete das Autoradio ein. Eine Jazz-Nummer war genau das Richtige, nicht zu aufdringlich, gefolgt von den Sechzehn-Uhr-Nachrichten inklusive des aktuellen Wetterberichts, der eine ziemlich durchwachsene Herbstwoche ankündigte. Wie um das zu untermauern, setzte ein kräftiger Regenguss ein. Er bräuchte dringend Urlaub. Seine Frau lag ihm seit Wochen damit in den Ohren, und er wusste, dass sie recht hatte. Zwar versuchte er immer aufzupassen, dass seine Überstunden nicht ausuferten, aber wie viel Einfluss hatte man darauf schon in seinem Job?

Sie erreichten Greifswald über die dicht befahrene Anklamer Straße, welche die kleine Universitätsstadt durchschnitt wie einen Käsekuchen und bis ins historische Zentrum im Nordwesten führte. An einer roten Ampel hörte Piwi seinen Beifahrer murmeln: „Direkt an der Ostsee stimmt aber nicht gerade.“

„Was meinst du, Till?“

„Was in dem Prospekt stand. Die gepflegte Seniorenresidenz, direkt an der Küste.“

„Ach so. Jaja.“

Ob er jetzt Urlaub bekommen würde, hing im Wesentlichen damit zusammen, was es mit der alten Frau auf sich hatte, grübelte Piwi. Ein persönlicher Auftrag vom Leiter des Morddezernats hatte natürlich absolute Priorität. Das würde Moni verstehen. Und selbst wenn nicht, sie wüsste sich schon zu beschäftigen, hatte darin schließlich eine Menge Übung. Er verstellte den Radiosender, weil ihm der Sinn momentan weniger nach Whitney Houstons I will always love you stand.

„Vorsicht!“, schrie Till.

Piwi trat voll auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam das Auto vor einer Verkehrsinsel zu stehen, gut einen Meter vor einem Kinderwagen und der Frau, die ihn schob. „Die war eben noch nicht da!“, brüllte er. „Beim Grab meiner Großmutter!“

Die Frau, eine junge Türkin, jedoch ohne Kopftuch, zeigte ihm den Vogel und überquerte schimpfend die Straße.

„Was muss die auch jetzt darüber gehen.“ Piwi raufte sich die Haare. „Glaubt die etwa, dass sie Vorfahrt hat?“

Er wartete ab, bis die Frau die Straße sicher verlassen hatte, und fuhr an wie ein Schüler bei der ersten Fahrstunde. Zum Glück war Till Brenner rücksichtsvoll genug, ihn nicht mit unnötigen Bemerkungen versorgen zu wollen. Was würde er den Bengel doch vermissen.

„Du hast recht, direkt am Wasser liegt Sankt Nicolai wirklich nicht. Wahrscheinlich zählen sie den Ryck schon dazu.“

„Mmh“, machte Till.

Sankt Nicolai befand sich mitten im sogenannten ehemaligen Klinikviertel und der schmale Fluss dahinter, der einst wohl als eine Art Stadtgrenze gedient hatte, mündete erst nach einigen Schleifen in die Ostsee. Wenn man sich das Gewirr aus Häusern rundherum sowie das geschäftige Treiben wegdachte, blieb ein in seiner Einheitlichkeit perfekt aufeinander abgestimmtes, fast kulissenartiges Areal aus roten Backsteingebäuden zurück, das neben Teilen der Universität, diversen Kliniken und dem Institut für Pathologie eben auch ihr Seniorenheim beherbergte.

Auf dem Parkplatz davor entdeckte Piwi seinen jungen Kollegen in dunklem Anzug, lässig an einen Kleinwagen gelehnt, und stellte sein Fahrzeug daneben ab. Dass er dadurch einen Behindertenparkplatz blockierte, war vielleicht nicht korrekt, aber mangels Alternativen nicht zu ändern. Hatte Ed sich schon wieder über seine Anweisungen hinweggesetzt und sich umgezogen, dachte Piwi verärgert und stieg aus. „Das darf nicht wahr sein“, fauchte er. „Kannst du mir verraten, was das soll?“

Als Ed etwas erwidern wollte, fiel Piwi ihm ins Wort. „Sag jetzt bloß nichts.“ Er knallte die Autotür zu. Sein Mitarbeiter mit der großen Klappe würde nur wieder mit irgendeiner Ausrede ankommen, das wusste er.

„Ich wollte Ihnen hallo sagen“, sagte Ed, „aber wenn das nicht erlaubt ist ... Hallo, Börner.“

Till Brenner quittierte den Gruß mit einem Kopfnicken.

„Was ist, wollt ihr erst ne Runde kuscheln, oder kommt ihr mit?“

Ohne auf die anderen zu warten, marschierte Piwi zu dem dreieinhalbgeschossigen Gebäude, über dessen Eingang in goldenen Lettern St. Nicolai geschrieben stand. In wenigen Minuten würde sich entscheiden, auf welche Weise er die nächsten Tage verbringen würde. Mit einem neuen Fall und jeder Menge Arbeit? Darauf hatte er im Moment zwar keine richtige Lust, allerdings bedeutete kein Fall wiederum, dass er Monis Wunsch nach Urlaub nachkommen könnte – und das wollte er unter gar keinen Umständen.

 

Ed wunderte sich längst nicht mehr über die Launen seines Gruppenleiters. Seit er im Juli dieses Jahres seinen Dienst bei der Kripo Anklam angetreten hatte, hatte sich sein Bild von ihm ziemlich verändert. Zuallererst hatte er ihn für einen lockeren Kerl gehalten, der in seinen bunten Hemden und den Turnschuhen zumindest genau wie einer aussah. Doch schon im August, als sie den Tod eines Teenagers auf Usedom aufklären sollten, war von dem Kumpeltyp nicht mehr viel zu spüren. Als der Fall dann wegen einer verschollenen Entlastungszeugin nur unbefriedigend abgeschlossen werden konnte – für das gesamte Team ein höchst emotionales Erlebnis –, war aus ihm ein kleiner Meckerer geworden. Dass Piwi nun schon bei der Begrüßung herumblaffte, konnte man fast die logische Fortführung nennen. Wenigstens hatte er dadurch keine Gelegenheit mehr gehabt, nachzuhaken, wie Eds erste Sitzung beim Gesundheitsamt in Stralsund verlaufen war. Er schob seine Sonnenbrille zurück und betrachtete das alte Gebäude von oben bis unten.

Aus dem vorletzten Jahrhundert schätzungsweise und ebenso wie die angrenzenden Bauwerke des ehemaligen Klinikviertels behutsam restauriert. Die Mauern strahlten nur an den Stellen nicht backsteinrot, wo der kurze, heftige Regenschauer seine Spuren hinterlassen hatte. Die Sprossenfenster waren in ordentlichem Zustand und im Erdgeschoss sogar mit Balkonkästen geschmückt, in denen weiße Hängegeranien allmählich verblühten. Staffelgiebel, Dachgauben und Türmchen zeugten von einer Zeit, in der auch Zweckbauten ästhetischen Gesichtspunkten unterlagen. Ob das Innere von Sankt Nicolai hielt, was die Fassade versprach?

„Los, komm“, drängte Till, der ihm die Tür aufhielt. „Piwi ist schon genervt, da sollten wir ihn nicht noch warten lassen.“

„Ach ja? Ein Grund mehr, sich nicht zu beeilen.“

Ed betrat eine dunkle Eingangshalle und fühlte sich in seinen Erwartungen beim Anblick von Linoleumfußboden und dem roten Kunststoffgeländer an den Wänden voll bestätigt. Eine dürre Frau im pinkfarbenen Jogginganzug klammerte sich mit beiden Händen an der Stange fest und starrte dabei ins Leere. „Du weißt doch, wenn er sich in diesem Zustand befindet, kann man es ihm eh nicht recht machen. Ist irgendwas vorgefallen? Heute Vormittag war er doch noch ganz smooth.“

„Schau mal in den Spiegel, Ed.“

„Warum? Liegen meine Haare etwa nicht? Nein, im Ernst, warte mal.“ Ed nahm seine Sonnenbrille vom Kopf und strich sich, da es nichts anderes gab, vor der Glasscheibe eines Bilderrahmens einige verrutschte blonde Strähnen aus der Stirn. „Jetzt besser?“, fragte er, doch Till Brenner war bereits hinter der nächsten Tür verschwunden.

Das große, holzvertäfelte Treppenhaus wirkte dank einer Glaskuppel hell und freundlich. Allerdings wurde dadurch eine Vielzahl kleinerer Makel ans Tageslicht gebracht: Neben frischen Spuren von Regen, die man hineingetreten hatte, gab es auch ältere, getrocknete in den Ecken und dort, wo ein Wischer schlecht hinkam. Die Raufasertapete hatte etliche Schrammen. Und auf den Blättern eines Gummibaums befand sich eine dicke Staubschicht. Über allem lag ein penetranter Zitrusgeruch. Gerne hätte Ed das alles länger in Augenschein genommen. Zwei ältere Herren saßen auf einer Holzbank und redeten unüberhörbar über die verstorbene Frau. Auch das kleine Zimmer mit Fenster zur Treppe fesselte seine Aufmerksamkeit, denn darin flimmerten mehrere Bildschirme. Der Streber von der Polizeischule machte jedoch mit albernen Kopfbewegungen Stress. Ihr Gruppenleiter hatte auf den knarzenden Stufen bereits eine ganze Etage zurückgelegt, und Till hatte offenbar vor, ihn einzuholen. „Mensch Börner, warte doch mal!“, rief Ed und lief ihm hinterher.

„Hauptkommissar Peter Vollmer“, hörte er ebendiesen sagen, als er um die Ecke in einen langen Korridor bog. In dessen Mitte hatten sich vor einer Tür zwei Beamte in Uniform positioniert, von denen Piwi den größeren offenbar persönlich kannte, denn er begrüßte ihn mit „Hallo Olli, du auch hier“. Gegenüber auf dem Stuhl saß eine in rotem Polo-Shirt und weißer Hose gekleidete Pflegekraft und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Kein Menschenauflauf, keine übereifrigen Angestellten, keine Presse, sondern alles ganz beschaulich. „Also, Olli. Was haben wir hier?“

Der größere der beiden Polizisten hob die Schultern. „Keine Ahnung, ob wir überhaupt was haben. Die Bewohnerin heißt Klara Bismarck und wurde gegen Mittag tot in ihrem Bett vorgefunden.“ Er sah kurz zu seinem kleineren Kollegen, ob der etwas einwenden wollte.

„Wer hat sie gefunden?“

„Der Pfleger.“

Piwi nickte. „Und weiter?“

„Nichts weiter. Doktor Ulrich ist grad drinnen ...“

„Gut, gut.“ Piwi drückte die Klinke herunter und hielt inne. „Ist noch was?“

„Ja. Der Pfleger.“ Der Polizist deutete auf die Person auf dem Stuhl.

Piwis hochgezogenen Augenbrauen nach zu urteilen schien ihm Ähnliches durch den Kopf zu gehen wie ihm selbst, dachte Ed beim Näherkommen. Von Weitem hatte die Person mit dem blonden Pferdeschwanz nämlich eher ausgesehen wie eine junge Frau.

Sie haben die Tote gefunden?“, fragte Piwi.

„Wenn man’s so ausdrücken will.“ Die Stimme des jungen Mannes, ein tiefer Bass, ließ keinen Zweifel am Geschlecht mehr zu.

„Ich wüsste nicht, wie man es sonst nennen sollte. Warten Sie hier, ich werde mich gleich mit Ihnen unterhalten.“

„Aber ich muss runter zum Basteln.“ Der Pfleger hatte sich erhoben. „Ich warte jetzt seit fast einer Stunde.“

Piwi raufte sich die Haare. „Ed!“, rief er. „Herr Stenzl, bist du hier irgendwo?“

Ed ahnte, worauf dieser Lockruf abzielte, und ehrlich gesagt, kam es ihm nicht ungelegen. Seinen Gruppenleiter in das Zimmer der Frau zu begleiten, ohne dass man ihn darüber aufgeklärt hatte, woran diese gestorben war, barg ein erhebliches Risiko: Was, wenn es dort überall Blut gab? Ihm wurde schon schwindelig, wenn er an die Sache auf Usedom auch nur dachte. Und heute bei seiner ersten Sitzung in Stralsund hatte er erfahren, dass es Wochen, wenn nicht Monate dauern konnte, bis endlich Besserung eintrat. „Ich könnte doch mit dem Herrn hier sprechen“, schlug er daher vor.

„So?“ Piwi schien sein Angebot nach einem Haken abzusuchen. „Aber du weißt, was wir auf dem Hinweg vereinbart haben.“

Ed stand auf dem Schlauch.

„Stichwort Mafia?“, warf Piwi ein.

„Ach so, das. Versteht sich von selbst.“

„Na gut, einverstanden.“ Sein Gruppenleiter forderte Till auf, ihn zu begleiten, und wechselte mit Olli noch ein paar belanglose Worte, ehe die beiden gemeinsam hinter der Zimmertür verschwanden.

Ed gab dem langhaarigen Pfleger ein Zeichen, mit ihm zu kommen.

Er selbst war schon schlank, aber im direkten Vergleich fiel ihm auf, wie zierlich der junge Mann in seiner Arbeitskleidung wirkte. Und wie träge, denn mit seinen Latschen verursachte er ziemliche Schlurfgeräusche. Am Ende des Flures befand sich unterhalb des Fensters eine Sitzgruppe, bestehend aus zwei Polsterstühlen und einem niedrigen Tisch mit Zeitschriften darauf, geradezu perfekt für seine Zwecke: eine völlig unvoreingenommene Befragung.

„Und Sie sind?“, begann Ed, nachdem sie Platz genommen hatten.

„Pascal Wecker.“ Der junge Mann gähnte, ohne sich den Mund zuzuhalten. „Das lange Warten“, rechtfertigte er sich mit einem Lächeln. Er war neunzehn Jahre alt, und bei der Frage, wie lange er schon in Sankt Nicolai arbeiten würde, zögerte er kurz. „Gar nicht. Na ja, nicht so richtig. Ich meine, ich mache ein Soja.“

„Ein Soja?“

„Oh Mann. Ein freiwilliges soziales Jahr, was sonst.“

„Verstehe.“ Ed überlegte, was jemanden dazu bewegen konnte, freiwillig zwölf Monate seines Lebens zu verschenken. Steckte meist nicht weniger das soziale Engagement dahinter als die eigene Perspektivlosigkeit? Was für ein Licht warf das auf Herrn Weckers Persönlichkeit? Ed schob die Frage auf und bat ihn stattdessen zu berichten, was genau vorgefallen war.

„Ich hab normal Dienst gemacht“, antwortete er. „Bin ins Zimmer gekommen und hab Frau Bismarck einen schönen Tag gewünscht. Sie hatte ne Anwendung.“

„Wann war das?“

„Keine Ahnung. Doch, so Viertel nach eins. Die Anwendung sollte um halb zwei sein.“

„Anwendung?“

„Ja, wegen Rheuma und Osteoporose. Ich sollte sie runter zur Gymnastik bringen.“

„Machen Sie das immer?“

„Logisch. Jeden Montag. Sie hat es gehasst.“

„Ach ja?“ Ed wollte wissen, was für ein Typ Mensch Frau Bismarck denn so gewesen wäre, wie sie zum Beispiel mit ihrem Alter klargekommen wäre.

„Ganz entspannt, glaube ich. Sie war schon irgendwie cool drauf. Eine kleine Diva. Sie ist nie ungeschminkt zum Essen gegangen. Und abends hat sie sich schon mal gerne in Schale geworfen. Hat auch immer gerne erzählt, von ihrem nichtsnutzigen Sohn, wie sie ihn nannte. Oder sie fragte nach, wie es mir ginge. Das ist nicht selbstverständlich. Die meisten Leute hier meckern doch nur noch rum.“ Pascal machte eine Pause, um Luft zu holen. Dabei trübte sich sein Gesicht und – ja, seine Augen wurden feucht. „Ist echt schade um sie. Ich mochte Frau Bismarck.“

Recht gefühlsbetont, der Knabe, urteilte Ed. „Hat sie schon lange hier gewohnt?“

„Keine Ahnung. Ich bin seit etwa sieben Monaten hier, und seitdem war sie da.“

„Sie sind also heute um Viertel nach eins auf ihr Zimmer gegangen.“

„Ja, sag ich doch.“ Der junge Mann hielt erneut inne und fuhr mit gesenkter Stimme fort. „Ich ... wusste sofort, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Sie bewegte sich nicht mehr. Und dann war da ja das Kissen.“

„Kissen?“

„Ja, krass, oder? Auf ihrem Gesicht.“

„Auf ihrem Gesicht lag ein Kissen?“, wiederholte Ed. Das war ja mal ein Knaller. Wurde die Frau etwa erstickt? Dann wäre es Mord. Sie würden die Autopsie der Leiche abwarten müssen. Zumindest eines bedeutete es sicher: Es gab kein Blut, denn das hätte Pascal an dieser Stelle sicher als Allererstes erwähnt. Verdammt! Er hätte seinen Gruppenleiter gefahrlos in das Zimmer begleiten können. „Was taten Sie dann?“

„Raus, ich wollte nur noch raus. Bin zum Heimleiter gelaufen und hab ihm erzählt, was ich gesehen habe.“ Ruckartig fasste sich Pascal Wecker an sein Haargummi, als müsste er kontrollieren, ob es unterwegs nicht abgefallen war.

„Und?“

„Er meinte, dass er sofort die Polizei holen würde.“

Ed nickte. „Kluge Entscheidung.“

„Kann ich jetzt zurück zu meinem Dienst?“

Die Frage klang leicht genervt, was wenig verwunderlich war: Aus Pascal Weckers Sicht war mit dem Anruf der Polizei alles gesagt worden. Für Ed jedoch war ein Gespräch erst dann beendet, wenn es mindestens eine Information enthielt, die ihn überraschte. Das hatte nichts mit Voreingenommenheit zu tun. Womit sollte er sonst punkten? Alles, was der Soja-Mann bisher von sich gegeben hatte, hätte selbst Börner herausgefunden. „Wer hat Zugang zu dieser Etage?“, wollte er wissen.

„Häh?“

„Stehen die Feuerschutztüren immer auf?“ Ihm waren gleich die wuchtigen Glastüren aufgefallen, die das Treppenhaus vom Korridor abtrennten und vermutlich bei Bedarf oder Feueralarm, wie der Name schon sagte, automatisch schlossen.

„Ey, keine Ahnung, wenn ich da bin, ja.“

„Und die Zimmertüren?“

„Weiß ich nicht. Darüber hab ich mir nie Gedanken gemacht.“ Pascal Wecker schien einen Moment lang zu brauchen, um zu begreifen, worauf die Fragen abzielten, wozu normalerweise keine überdurchschnittliche Intelligenz erforderlich war. Offenbar hatte er für sich selbst diese Möglichkeit bisher nicht erwogen. „Sie meinen also, Frau Bismarck ist getötet worden?“

„Ist nicht auszuschließen“, antwortete Ed knapp.

„Scheiße. Oh Mann, so eine Scheiße.“ Nein, soweit ihm einfiele, hätte er noch vor keiner verschlossenen Tür gestanden, erzählte Pascal stirnrunzelnd und antwortete auch darauf, ob auf den Fluren üblicherweise viel los wäre, relativ ausführlich: „Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. In der Mittagszeit eher nicht. Viele der Bewohner wollen sich nach dem Essen erst mal ausruhen. Oder gehen draußen spazieren.“

„Also wäre es durchaus möglich, dass heute Mittag jemand unbemerkt Frau Bismarcks Zimmer betreten hat?“

„Ja, logisch.“

„Danke.“ Ed warf einen Blick aus dem Fenster und sah das große Backsteingebäude auf der anderen Seite des Parkplatzes, auf dem er sein Auto abgestellt hatte. Dieses vorläufige Fazit war für den Anfang gar nicht mal schlecht. Zu bedenken war, dass bei dem Sauwetter wahrscheinlich nur die Frischluftfanatiker unter den Bewohnern freiwillig nach draußen gegangen waren, was das Vorhaben, jemanden zu töten, umso riskanter machte. „Na gut, dann ...“ Er wollte Herrn Wecker gerade signalisieren, dass er sich nun erheben und endlich zum Basteln gehen konnte, als ihm etwas ins Auge fiel.

Der zierliche Pfleger folgte seinem Blick und stützte den Kopf auf beide Handballen, als hätte er mit einem Mal alle Zeit der Welt. Was wohl zutraf, etliche Monate, ein ganzes Soja lang. „Arme Klara“, seufzte er.

„Jaja.“ Ed hatte weder Zeit noch Lust auf Gefühlsduseleien und bedankte sich für die Aussage. Da sein Gegenüber offenbar nicht kapierte, dass das Gespräch damit beendet war, legte er nach: „Oder ist noch was?“

„Nö.“ Schnaufend stand der Pfleger auf.

Unter den gegebenen Umständen und dem vorhandenen Wissen wäre es einem Täter theoretisch möglich gewesen, Klara Bismarck umzubringen, schätzte Ed, ohne weiter auf Pascal Wecker und dessen Schlurfgeräusch zu achten. Die Frage der Fragen war, ob es überhaupt einen Täter gab, was Piwi in diesem Augenblick hoffentlich mit dem Rechtsmediziner klärte.

Ed grinste. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Was er soeben in der Ecke über dem Fenster entdeckt hatte, würde ihm vielleicht einen großen Vorsprung verschaffen.

 

Mit einem schlichten „Na endlich, da seid ihr ja“ wurden sie empfangen, kaum dass Piwi die Zimmertür hinter sich und seinem Polizeischüler geschlossen hatte. Sofort stieg ihm ein süßlicher Geruch in die Nase, an den er sich in diesem Leben hoffentlich niemals gewöhnen würde. Der Geruch nach Tod.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Rudi“, erwiderte er und griff nach den Gummihandschuhen, die ihm lieblos entgegengestreckt wurden. Eins der Paare gab er an Till weiter mit der Anweisung: „Hier. Überziehen, du weißt ja, warum.“

Ohne das übliche kleine Schwätzchen zu halten, für das Dr. Rudolf Ulrich bekannt und in Piwis Augen sogar geschätzt war, zeigte der kahlköpfige Rechtsmediziner auf die Leiche. „Bevor ihr anfangt, das Zimmer auseinanderzunehmen“, sagte er trocken, „solltet ihr euch das zuerst anschauen.“

„Was ist das?“

Von Klara Bismarck gab es im Grunde nicht viel zu sehen. Bis zu den Schultern in ihre Bettdecke mit Blümchenmuster eingehüllt, wäre man geneigt anzunehmen, sie befände sich in friedlichem Schlummer – hätte nicht ein Kissen wie ein Fremdkörper auf ihrem Gesicht gelegen. Pechschwarzes Haar schaute dahinter hervor.

„Ein Kissen“, stieß Till Brenner aus.

„Richtig. Und natürlich war es weg, als ich angekommen bin.“ Dr. Ulrich erklärte, der Pflegedienstleiter hätte es heruntergenommen, um festzustellen, ob die Frau eventuell noch lebte. Er wäre sich aber sicher gewesen, dass vorher alles genau so ausgesehen hätte. „Ich habe eure Tote wieder in den Urzustand versetzt, damit ihr euch ein besseres Bild machen könnt. Kann ich es jetzt entfernen?“

„Gib mir einen Moment.“ Zuerst wollte Piwi dem Kissen einen zweiten Blick widmen. Es wirkte kompakter als das unter dem Kopf der Frau, außerdem hatte es keinen gewöhnlichen Bettbezug, sondern einen aus braunem Cord, mit allerlei Bändern und Verzierungen. Es war eher das, was man ein Sofakissen nannte. Neben dem Bett befand sich tatsächlich ein Sofa. Er ging in die Hocke, um zu überprüfen, ob es Mund und Nase abdeckte, was der Fall war. „Bitte, Rudi“, sagte er und verschränkte die Arme.

Mit einem Griff entfernte Dr. Ulrich das Kissen und deponierte es in einem Plastiksack. Klara Bismarcks Gesicht kam zum Vorschein.

Für eine Vierundachtzigjährige war sie gut in Schuss gewesen, urteilte Piwi, was allerdings ebenso an der dicken Schicht Schminke gelegen haben mochte. Die Augenbrauen waren fein gezupft, ihre Ohren schmückten wuchtige Ringe aus Gold. Ein paar Falten weniger und die Frau erinnerte ihn an seine neue Kollegin, mit der er im August erstmals in einem Fall auf Usedom ermittelt hatte. „Waren ihre Augen geschlossen, als sie gefunden wurde?“, wollte er wissen.

„Als ich zu ihr gekommen bin, ja. War’s das? Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich sie jetzt mitnehmen.“ Der Rechtsmediziner begann, die vor ihm ausgebreiteten Utensilien zurück in seine Tasche zu räumen.

„Warum so eilig, Rudi?“

„Ganz einfach: Weil es für mich nichts mehr zu tun gibt, zumindest hier nicht. Ja, du hast richtig gehört, ich kann dir leider noch nicht sagen, woran Frau Bismarck gestorben ist. Das ist es doch, was ihr immer sofort zu erfahren verlangt.“

Piwi wunderte sich, welche Laus dem Mann heute über die Leber gelaufen war. Es war durchaus übliche Praxis geworden, dass am Fundort der Leiche neben der Bestimmung der Todesart auch eine erste forensische Einschätzung zur Todesursache gemacht wurde. Einfach, weil es oftmals tatsächlich funktionierte. Auf das Ergebnis der Obduktion zu warten kostete Zeit, und genau die hatte man zu Beginn einer Ermittlung in der Regel selten. „Also ist sie nicht erstickt worden? Nein? Wäre wohl zu offensichtlich, wie?“

Dr. Ulrich reagierte nicht, sondern steckte das Glasthermometer, mit dem bei Leichen die Körpertemperatur gemessen wurde, um ihren Todeszeitpunkt zu bestimmen, ins dazugehörige Etui.

„Komm, lass mich nicht dumm sterben. Zumindest eine natürliche Todesart kannst du ausschließen, oder?“, bohrte er nach.

„Im Gegenteil.“

„Im Gegenteil?“ Piwi verstand die Welt nicht mehr. Auch ohne ein Experte auf dem Gebiet zu sein, hätte er seine Großmutter verwettet, dass Rudi hierauf mit „Ja“ geantwortet hätte. Glaubte er etwa, dass Frau Bismarck einfach so eingeschlafen war? „Und was ist mit dem Kissen?“

„Deshalb will ich sie ja mitnehmen. Um sicherzugehen.“

„Also gut, wenn du unbedingt meinst. Kannst du mir wenigstens sagen, wann sie gestorben ist?“

„Sicher. Wenn du mal schauen willst.“ Dr. Ulrich griff nach Klara Bismarcks Arm und schob den Ärmel ihres Nachthemdes ein Stückchen nach oben. Doch statt einer Uhr, die pünktlich zum Eintritt des Todes stehen geblieben war, kam ein Armreif zum Vorschein, der passend zum Fingerring golden schimmerte. „Siehst du die Flecken auf der Haut? Die deutliche Ausbildung in Verbindung mit der Körperkerntemperatur lässt auf einen Zeitpunkt gegen 12 Uhr schließen“, leierte er. „Plus minus eine halbe Stunde, versteht sich.“

„Aha“, machte Piwi. Immerhin eine Aussage, mit der sich etwas anfangen ließ. Dieser Schwebezustand ärgerte ihn. Sie würden vorläufig vom Schlimmsten ausgehen müssen, so viel stand fest. Das hieß, die Spurensicherung holen, den Staatsanwalt benachrichtigen, die ganze allbekannte Prozedur in Gang setzen, was als Begleiterscheinung automatisch die gewünschte Urlaubssperre mit sich brachte. Dennoch bestand die Möglichkeit eines natürlichen Todes weiter. Wenn sich Letzteres manifestierte, wären alle vorherigen Ermittlungsarbeiten zwangsläufig für die Katz gewesen. Ein Desaster für ihr Budget. Was bedeutete das für ihr weiteres Vorgehen?

„Wann, meinst du, hast du ...“ Piwi sprach den Satz nicht zu Ende.

Der Rechtsmediziner verstand ihn offensichtlich auch so. „Keine Frage, wie immer schnellstmöglich, wie auch sonst.“ Er hielt inne und betrachtete den Messschieber in seinen Händen wie einen Fremdkörper. „Tja, irgendwann trifft es wohl jeden.“

„Was meinst du?“

„Eine Premiere. Bisher habe ich immer an Ort und Stelle gewusst, wo ich das Kreuzchen auf dem Totenschein zu setzen hatte.“

Piwi nickte. Daher also rührte beim guten Doktor die Verstimmung. Die ungeklärte Todesart kratzte an seinem Ego. Aber warum sollte es ihm besser ergehen als anderen? „Dann lassen wir dich jetzt in Ruhe“, sagte Piwi betont rücksichtsvoll und gab Till ein Zeichen, dass sie sich in die andere Ecke des Schlafzimmers verdrücken würden. Er zählte in Gedanken bis drei und fügte hinzu: „Du wirst gar nicht merken, dass wir da sind.“

„Ja, hab schon verstanden.“

Piwi zwinkerte seinem Schüler zu. Er mochte Dr. Ulrich. Der Rechtsmediziner bildete eine der wenigen Konstanten in seiner Arbeitswelt. Erst im Sommer hatte sein Vorgesetzter, der Dezernatsleiter Johannes Meier, das komplette Ermittlungsteam der Kripo Anklam auf den Kopf gestellt, nachdem eine Kollegin in den Mutterschutz gegangen war. Fast zeitgleich war ein befreundeter Kollege versetzt und Piwi zum Gruppenleiter befördert worden – ohne Gruppe wohlgemerkt. Die befand sich seitdem noch im Aufbau.

Und bald verließ mit Till Brenner zwar nur ein Polizeianwärter, aber dennoch ein vertrautes Gesicht das Team. Piwi fasste den Beschluss, dem Jungen seine letzten Tage bei der Kripo so angenehm wie möglich zu machen – was in Anbetracht des vorliegenden Szenarios vielleicht sogar gelingen sollte. Er schlug vor, dass sie sich nun gemeinsam einen Überblick über Frau Bismarcks Schlafraum verschaffen sollten.

Trotz der überschaubaren Größe des Zimmers sah hier nichts nach Pflegeheim aus. Der Teppichläufer, die gestreiften Gardinen und ein Topf oranger Chrysanthemen auf der Fensterbank verströmten vielmehr wohnlichen Charakter. An der Wand hing eine Hochzeitsaufnahme in Schwarz-Weiß, in den offenen Fächern des Wohnzimmerschranks stand Krimskrams wie Porzellanvögel und Vasen, jedoch in überschaubarer Menge. Ein Fernseher auf der Anrichte in der Ecke, daneben ein tragbares Radiogerät mit CD-Spieler, alles da, was man brauchte.

Piwi zeigte auf das Telefon, ein altes Modell mit Wählscheibe, das mit einem Adressbuch in fliederfarbenem Einband, Block und Bleistift eine Art Stillleben bildete. „Ich brauche eine Liste ihrer letzten Anrufe“, sagte er.

Till nahm den Hörer ab und begutachtete ihn. „Wo ist denn die Taste für Wahlwiederholung?“

„Die gibt es nicht.“

„Aber wie ...“

„Gar nicht. Da staunst du, was? Gerade, wo ihr jungen Leute meint ...“ Piwi hielt inne und verschluckte den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag. „Nun, da wirst du wohl ganz klassisch die Telefongesellschaft bemühen müssen“, schlug er vor und ergänzte, als er Tills angespannten Blick bemerkte: „Frag Ed, wie man das macht, der zeigt dir das schon.“

Hat wohl doch nicht so viel gelernt in den sechs Monaten bei uns, der Bengel, dachte Piwi und nahm eines der gerahmten Fotos von der Fensterbank. Es zeigte ein blondes Mädchen, stolz auf einem altmodischen Schaukelpferd reitend. Für Tante Klara von Linda war in verblasster Kinderschrift in einer Ecke zu lesen. Qualität und Motiv ließen auf eine ältere Aufnahme schließen, vermutlich war aus dem Kind längst eine junge Frau geworden. Er stellte das Bild zurück zu den anderen und begab sich zum Kleiderschrank. „So, und was haben wir hier?“

„Einen typischen Lotten-Schrank“, urteilte Till.

„Einen was?“

„Meine Oma Lotte hatte auch so einen.“ Till erzählte, dass breite, niedrige Schränke aus dunklem Holz einfach Lotten-Schränke wären. Sie wären alle gleich: ordentlich, muffig und langweilig. Wie zum Beweis klappte er die Türen auseinander. Ein sorgfältig eingeräumtes Innenleben kam zum Vorschein. „Sehen Sie? Rechts die Kleiderbügel, links die Fächer mit zusammengelegter Wäsche. Genau wie bei meiner Oma. Da fällt mir ein ...“ Der Junge griff unter eines der Regalbretter in der linken Schrankhälfte und befühlte es. „Wäre auch zu schön gewesen.“

„Was meinst du damit?“, fragte Piwi, ganz perplex über den plötzlichen Redefluss seines Polizeischülers. So viel am Stück hatte er seit Tagen, ach was, Wochen nicht geredet.

„Meine Oma hatte ganz hinten unter ihrem zweiten Brett eine alte Zigarrenbox angeklebt. Mit Liebesbriefen drin.“ Till verzog das Gesicht, als wäre das etwas Peinliches, und beugte sich unter das nächste Brett. „Nichts“, sagte er enttäuscht.

Piwi beschloss, ihn walten und wenn nötig unter das letzte Fach greifen zu lassen, auch wenn er sich selbst weder für die Liebesbriefe von Oma Lotte noch für die von Klara Bismarck interessierte. „Vielleicht ja doch kein typischer Lotten-Schrank, wie?“

„Moment.“ Tills Miene erhellte sich schlagartig. „Ich glaube, da ist was.“ Der Junge kniete sich auf den Teppichboden und verschwand fast mit dem gesamten Oberkörper im untersten Schrankfach. Sekunden später tauchte er wieder auf, mit schief sitzender Brille, und machte „Tadaa!“, in seinen Händen ein Bündel aus grünem Stoff. Offenbar war etwas darin eingewickelt.

Und zwar etwas mit Gewicht, wie Piwi beim Entgegennehmen feststellte. Vorsichtig legte er das Stoffbündel auf die Anrichte und begann, die einzelnen Lagen auseinanderzufalten. „Scheinen keine Liebesbriefe zu sein“, sagte er, dann kam der Inhalt zum Vorschein.

„Ich fasse es nicht“, krächzte Till.

Selbst Dr. Ulrich unterbrach seine Aufräumarbeiten, um die Operation zu verfolgen, und pfiff anerkennend.

Piwi stimmte ihnen zu. Damit hatte er nicht gerechnet. Dass sich in den persönlichen Sachen der Leute Schmuck und dergleichen befand, war normal, dies aber glich der Auslage eines Juweliers. Er hielt den größten und schönsten Ring in die Luft, natürlich aus Gold, in dem drei Diamanten verarbeitet waren. Die fünf übrigen Ringe waren schlichter gehalten, darunter einer mit einem nahezu quadratischen Rubin. Drei Paar Ohrringe und verschiedene Halsketten mit und ohne Anhänger rundeten das Sortiment ab. „Was meinst du“, sagte er und ließ die Diamanten im Licht funkeln, „halbe-halbe?“

Till schien über diesen Vorschlag tatsächlich nachzudenken, wahrscheinlicher war jedoch, dass ihm keine schlagfertige Reaktion einfiel.

„War’n Witz“, sagte Piwi und legte den Ring zurück zu den anderen. „Gute Arbeit, mein Junge.“ Ein Zufallstreffer in seinen Augen, aber das brauchte er seinen Schüler ja nicht spüren zu lassen.

Prompt lief Till Brenner rot an.

Diese unverhofften Schätze in Verbindung mit dem Schmuck, den die tote Frau am Körper trug ... Piwis Bauchgefühl sagte ihm, dass nichts gestohlen worden war. Nichtsdestotrotz würde sich ein Angehöriger herbemühen müssen, um die Vollständigkeit zu bestätigen. Sofern das überhaupt möglich wäre. Er seufzte. Wenn Geld im Spiel war, und das war bei Frau Bismarck offensichtlich der Fall, konnten selbst solch vermeintliche Standardgespräche schnell zum Ärgernis werden. Aber darüber wollte sich Piwi zum jetzigen Zeitpunkt lieber keine Gedanken machen. Warum den dritten Schritt vor dem zweiten tun?

„Komm, lass uns mal das Badezimmer anschauen“, sagte er und schob den linken Ärmel seines rot-blau-weiß-karierten Holzfällerhemdes ein Stückchen hoch: gleich halb sechs. Die Zeit raste. Ganz oben auf seiner To-do-Liste stand ein Gespräch mit dem Leiter von Sankt Nicolai, einem Herrn Schmidt, und Piwi wollte besagten Herrn gern erwischen, bevor er in den Feierabend gegangen wäre, zum Golfspielen, Segeln oder was auch immer Leiter von gepflegten Seniorenresidenzen direkt an der Ostsee in ihrer Freizeit so trieben.