Ein Weinkrimi
Die Handlung und alle Personen sind völlig frei erfunden; Ähnlichkeiten wären rein zufällig.
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Umschlag: kosa-design, Ingelheim
Das Gedicht auf S. 5 wurde entnommen:
Heinrich Bechtolsheimer, Zwischen Rhein und Donnersberg.
Erzählung aus schwerer Zeit, Alzey 1984, S. 7
Layout: Leinpfad Verlag, Ingelheim
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eISBN 978-3-945782-52-1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Selten gibt’s in unserm Dörfchen Feste;
Jährlich einmal fällt die Kirchweih’ ein.
Unsre Nachbarn sind willkommne Gäste.
Und wir lärmen wild bei gutem Wein,
Trinken in die Runde
Bis zur Morgenstunde
Froh und fröhlich gute Brüderschaft;
Tanzen lustig in gereihter Kette.
Isaak Maus
Jetzt ist es so weit.
Langsam kämpfte er sich durch die Dunkelheit. Eine solche Finsternis hatte er noch nie erlebt. Eine gute halbe Stunde musste er jetzt unterwegs sein. Vielleicht auch schon länger. Irgendwann sollten sich seine Augen doch an diese Nacht gewöhnt haben. Er fühlte sich blind. Das, was er sah, wirkte verschwommen. Unklar. Schwarz. Alles war schwarz, unterschiedlich, aber schwarz. Konturen waren nur schwer zu erkennen.
Immer hatte er Pech. Wenn er schon mal unterwegs war. Auf der Kerb.
„Verdammter Mist.“
Er war über irgendetwas gefallen. Das war schon der zweite Sturz.
„Auf diesen Feldwegen lässt jeder seinen Mist einfach liegen.“
Er spürte die Erde an seinen Handflächen. Irgendwie hatte er es doch noch geschafft sich abzustützen. Im letzten Moment. War nach vorne gefallen. Als er vorhin die kleine Böschung hinuntergerutscht war, hatte er nicht mehr schnell genug reagieren können. Er hatte sich überschlagen und danach jede Menge Dreck aus seinem Gesicht reiben müssen. Ekelhaft. Es knirschte noch immer zwischen seinen Zähnen. Die Haut in seinem Gesicht spannte. Schwerfällig erhob er sich wieder. Er war über einen Ast gestolpert. Einen dünnen langen Ast. Der hatte sich an seiner Hose verhakt, an seinem linken Bein. Er versuchte mit seinem anderen Fuß das leidige Anhängsel zu erwischen. Es abzuschütteln, damit es ihn endlich in Ruhe ließ. Wie eine Katze, die ihren eigenen Schwanz jagt. So kam er sich vor. Er merkte, dass er wankte. „Verflixt.“
Wenn sie ihn so sehen könnten. Wie würden sie sich wieder über ihn lustig machen: „Da ist er ja wieder, unser Depp.“ – „Komm, stell dich zu uns. Kriegst auch einen Schoppen. Die Mama hat dir ja doch kein Geld mitgegeben. Versäufst ja immer alles gleich.“ – „Na, willst du auch mal nach den Weibern gucken? Die haben sich extra herausgeputzt. Aber nicht für dich.“ – „Der kriegt doch eh keine ab. Der Idiot.“ – „Sobald eine Frau den anspricht, bekommt er kein Wort mehr heraus.“ – „Der Stotterer.“
Er hasste sie alle. Wenn sie so über ihn redeten. Sich lustig machten. Sie hatten ihn heute zumindest nicht herumgeschubst. Was konnte er denn dafür, dass er stotterte? Nur wenn sie dabei waren, blieb er immer hängen. Bei jedem Wort. Sie wollten nicht heraus, diese verdammten Worte. Sie verhakten sich. Irgendwo in seinem Mund. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie zu groß waren für seinen Mund. Die Öffnung. Sie hingen fest. Oben an seinen braunen Schneidezähnen. Er musste sie herausdrücken. Mit aller Gewalt presste er sie heraus. Es war so mühsam. Sie machten sich dann einen Spaß daraus, nachzufragen: „Hä, was hast du gesagt? Sag das noch einmal. Ich habe dich nicht richtig verstehen können. Zu laut hier auf dem Rummel.“
Das machten die absichtlich. Die wussten genau, wie schwer ihm das Reden fiel. Jedes einzelne Wort. Diese ganzen vielen Sätze, die man brauchte, um etwas zu erklären. Immer wieder neu anfangen.
Die sollten ihn doch mal hören, wenn keiner dabei war. Dann klappte das so gut. Die Worte stellten sich nicht länger quer. Sie fielen heraus. Das nahm ihm aber ohnehin keiner ab.
Aber er würde es ihnen zeigen! Da konnten sie sich drauf verlassen. Alles sollten sie zurückbekommen. Alles, was sie ihm angetan hatten. Sein Hass würde sie treffen. Wenn er nachts wach lag, malte er sich das aus. In der Bibel, die ihm seine Tante vor Jahren geschenkt hatte, gab es ein Bild. Das hatte ihn fasziniert. Der zornige Gott, der Blitze schickte. Das Gericht. Davor kauerten sie klein und flehend. Alle, die ihn quälten. Die sich eben noch lustig gemacht hatten über ihn.
Der alte Mossel. Wegen dem hatte er rechts nur noch vier Finger. Der hatte die Maschine in Gang gesetzt, obwohl er noch seine Finger drin hatte. Gelacht hatten sie über ihn. Als er da lag, auf dem weißen Boden. In einer großen roten Pfütze. Sein Blut war das gewesen. Seine Schmerzen. Der alte Mossel sollte winseln wie ein Hund. Vor ihm auf den Knien um Gnade flehen.
Seine Brust hob sich. Er bebte bei dem Gedanken. Genugtuung für alles. Rache. Er brüllte in die Nacht hinein. In den Himmel, der seine Sterne verschluckt hatte und den Mond auch. In die Dunkelheit.
Er erreichte die Landstraße. Glatter fester Untergrund. Jetzt waren es noch zwanzig Minuten zu laufen. Den Berg hinauf. Dann kamen irgendwann die ersten Häuser und endlich auch die ersten Straßenlaternen. Er erkannte die breiten weißen Streifen der Fahrbahn unter seinen Füßen. Genau drei Schritte, dann ebenso viele Schritte schwarzer Asphalt. Dann wieder weiß. Er zählte laut mit bei jedem Schritt: eins, zwei, drei.
„Ich bring sie um!“
Laut brüllte er das. Immer wieder.
„Ich bring sie um!“
Er nahm Anlauf und sprang bis zum nächsten weißen Strich.
„Ich kriege sie alle, alle, alle und dann bringe ich sie alle um!“
Er lachte, heiser und rau. Musste husten. Er würgte und spuckte. Hinaus damit!
Das Fahrzeug traf ihn im Rücken. Er hatte das Licht der Scheinwerfer nicht gesehen. Das Brechen seiner Rippen nahm er nur noch einen kurzen Moment als stechenden Schmerz wahr. Das Zersplittern seiner Rückenwirbel spürte er schon nicht mehr.
Die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn eine kleine Böschung hinunter.
Zwischen hohen Brennnesseln blieb er tot liegen.
Paul Kendzierski erkannte seine Stadt nicht wieder.
Seit nicht einmal einem Jahr war der gebürtige Sauerländer hier. Probleme bei seinem alten Arbeitgeber hatten ihn hierher verschlagen, mitten in die rheinhessische Provinz. Aus der Großstadt Dortmund in ein Nest von höchstens zehntausend Einwohnern. Das war ein Schock gewesen, ein Kulturschock. Es gab ja Ortschaften, die sahen mit ein paar Tausend Menschen schon nach etwas aus. Dort, wo er jetzt wohnte, in Nieder-Olm, sah eigentlich alles nach viel weniger als ein paar Tausend aus. Die zwei Kirchen und der riesige Schulkomplex, vielleicht das Gewerbegebiet am Stadtrand – das sah alles noch nach mehr aus. Der Rest kaum: kleine niedrige Häuser, ein paar Geschäfte. Mitten in der Stadt stand der tote Industriekomplex einer Fruchtsaftfirma, die längst woanders produzierte: Einfamilienhäuser bis an den hohen Zaun herangebaut. Riesige Hallen aus gelben Backsteinen. Ein in den Himmel ragender Schlot. Vor Jahrzehnten hat das wohl alles außerhalb der Stadt gelegen, die sich nun langsam herangearbeitet hatte. Das ganze Gelände war dann nach und nach mit Häusern bebaut worden.
Ein Nest eben war seine neue Heimat. Von noch kleineren Ortschaften umgeben und noch mehr Weinbergen. Vor allem an diesen Anblick hatte er sich gewöhnen müssen. Er kannte das nicht, zumindest nicht bis zu jenem Oktober, als er hierher gezogen war. Für ein paar Wochen waren diese Weinberge fast zu seinem Mittelpunkt geworden, ein Weinkeller zu seiner zweiten Heimat.
Seither war viel Zeit vergangen. Er hatte sich hier eingelebt. Wenn ihn jetzt einer fragte, würde er wahrscheinlich sogar sagen, dass er sich gut eingelebt hatte. Die Menschen hier faszinierten ihn. Sie waren auf den ersten Blick verschlossen, hielten sich von dem Fremden fern. Misstrauen glaubte er häufig zu erkennen. „Was wollen Sie denn hier?“ Und die immer wiederkehrende Frage: „Was in aller Welt hat Sie dazu bewogen, ausgerechnet hierher zu kommen?“
Es war hier doch gar nicht so schlimm.
Zumindest für dieses Wochenende hatte sich seine Stadt mächtig herausgeputzt. Seit mehreren Wochen war es das Thema auf den Fluren. Die ganze Verbandsgemeindeverwaltung schien dem Tag mit langsam anwachsender Spannung hinzufiebern. „Mir sehn uns ja donn uff dem Strooßefest. Du gehst doch aach hie, odder?“
Er hatte immer nur Nicken gesehen. Alle gingen anscheinend dorthin. Das musste der Höhepunkt des Jahres sein. Des Sommers zumindest. Etliche Sondersitzungen hatte es im Festausschuss gegeben. Als Bezirkspolizeibeamter war das eine seiner Pflichtaufgaben. Er musste die Absperrungen planen und deren Umsetzung überwachen, die Umleitungen vorbereiten und beschildern lassen.
„Kendzierski, orientieren Sie sich daran, wie das in den letzten Jahren gemacht worden ist. Das hat gut funktioniert. So machen wir das wieder. Die Pläne lasse ich Ihnen bringen. Das muss alles problemlos funktionieren. Wir präsentieren uns damit als Verwaltung. Die Menschen sollen sehen, dass wir so etwas können.“
Mit diesen Worten hatte der hauptamtliche Bürgermeister Ludwig-Otto Erbes seine Aufgaben für die kommenden Tage umrissen. „Alle schauen auf uns. Das muss reibungslos laufen.“ Erbes wirkte trotz seines Alters nervös. Nervös bei dem Gedanken an drei Tage Straßenfest.
Er hatte sicher mehr als zwanzig davon schon mitgemacht. Als Bürgermeister. Vielleicht weitere dreißig davor. Um sich selbst zu beruhigen, hatte Erbes tief durchgeatmet. So hatte Kendzierski ihn noch nie gesehen. Erbes wirkte häufig hektisch. Das führte er auf die mangelnde Größe des Bürgermeisters zurück. Er war mit Abstand der kleinste hier im Haus, höchstens 1,60 groß. Mit dem wilden Fuchteln seiner Arme versuchte er sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das wirkte auf Kendzierski unbeholfen. Erbes hatte graue kurze Haare. Ein Seitenscheitel war angedeutet und sollte die kahler werdende Stelle auf seinem Kopf verdecken. Nur notdürftig gelang das. Erbes wirkte stämmig, aber ohne dick zu sein. Das lag sicher an der Größe. Von oben hatte ihn einfach einer auf 1,60 gedrückt. Er trug immer einen Anzug, egal wie heiß es draußen war. Und dieser rheinhessische Frühsommer war heiß. Dazu bunte Krawatten. Eine hätte Kendzierski in der vergangenen Woche fast die Zungenspitze gekostet. Erbes hatte sich vor ihm aufgebaut. Es ging um irgendein Gerüst. Ein Ortsbürgermeister hatte sich darüber beschwert. „Warum steht das so lange? Das behindert den Durchgangsverkehr.“ Erbes hatte sich eine Krawatte umgebunden. Helles Mint bildete den Hintergrund für eine Palmenlandschaft, vor der ein Kamel ruhte. Tausend und eine Nacht in Streifen geschnitten und um den Hals eines rheinhessischen Kommunalbeamten geschnürt. Kendzierski hatte zuerst geschluckt, mehrmals hintereinander. Aber es war nicht aufzuhalten gewesen. Er wollte brüllen. Konnte das mit einem beherzten Biss in seine Zunge im letzten Moment verhindern. Fester. Als Erbes sein Büro verlassen hatte, fiel er in sich zusammen. Krümmte sich vor Lachen und freute sich über den nachlassenden Schmerz.
Erbes pflegte einen Befehlston, der keinen Widerspruch duldete. „Kendzierski, fahren Sie nach Zornheim und klären Sie das.“ Im Grunde müsste er sich dagegen wehren. Erbes war genau genommen nicht sein Vorgesetzter. Er war als Bezirksbeamter der Mainzer Polizei unterstellt und hierher abgeordnet. Im „Zusammenwirken“ mit der kommunalen Leitung sollte er als Polizist hier tätig sein. So stand es zumindest in der Dienstanweisung. Die Realität war eine andere. Sein Mainzer Vorgesetzter, der Polizeipräsident, war ein Parteifreund von Erbes und hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er von diesem seine Anweisungen erhielt.
„Kendzierski, das hat sich auch bei Ihrem Vorgänger bewährt. Der Bürgermeister ist einfach näher an den Gegebenheiten vor Ort als wir hier. Arrangieren Sie sich damit.“
Er hatte sich arrangiert. Erbes wies an und ließ ihn machen. So lange es keine Probleme gab, hatte er seine Ruhe. Und das war gut so.
Sein Nieder-Olm hatte sich wirklich herausgeputzt. Er war auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz. Auf dem Weg zum Rathaus im Zentrum. An den Häusern in der Pariser Straße hingen Fähnchen. Alles wirkte sauber und aufgeräumt, frisch gefegt.
Kurz vor acht. Es war jetzt schon warm. Das würde der nächste Hitzerekord für dieses Jahr werden. Es war erst Ende Mai und schon Hochsommer. Ein weiterer Tag in einem Büro ohne Klimaanlage. Im Hinterhof würde die Luft wieder stehen. Kein Wind. Und sein Fenster ging dort hinaus. Offen oder zu machte da keinen Unterschied mehr. Ein Teil seiner Kollegen hatte schon die kleinen Zimmerventilatoren aufgestellt. Alle hatten hier ein und dasselbe Modell. Es passte auf den Schreibtisch, war grau vergittert und bewegte sich hektisch hin und her. „Die haben wir 2003 alle zusammen bestellt. Das war ein Sommer.“ Ihm reichte dieser jetzt schon. Wie sollte das erst im Juli werden?
Kleine weiße Zelte kündigten den Beginn der Festmeile an. Alles war vorbereitet. Heute Abend würde es losgehen. Das Rathaus war noch immer nicht zu sehen. Der gesamte Platz davor war zugestellt. Bunte Buden. Waffeln, Popcorn, Pommes, Currywurst. Kendzierski suchte sich einen Weg durch die engen Gassen, die man zwischen den Ständen gelassen hatte. Das hier alles voller Menschen – ihm graute davor. Diese Enge, eingeklemmt, hindurchgeschoben. Morgen Abend sollte er hier Dienst schieben. So hatte es Erbes gewollt. „Jeder muss da einen Abend ran. Wir müssen Präsenz zeigen, vor Ort sein. Das ist ein friedliches Fest, aber manchmal wird dann doch einer zu viel getrunken. Das hat man aber schnell im Griff.“
Damit hatte Erbes sich selbst aber nicht gemeint. Zumindest fehlte der Name des Bürgermeisters auf der Liste, die in Kendzierskis Fach lag. Für ihn war Samstag 20 Uhr bis Ende eingetragen. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, um sich auszumalen, dass das der schlimmste Dienst war. Samstag, Hitze, Alkohol und betrunkene Jugendliche. Keine schönen Aussichten für das Wochenende. Trotzdem: Irgendwie würde er das schon überstehen.
Kendzierski schob langsam die große Glastür auf und ging in das Rathaus. „Morgen.“ Mit einem Nicken grüßte er die ältere Dame, die in ihrem verglasten Empfangshäuschen saß. Warum man diesen Tresen, der im dunklen Foyer des Rathauses stand, noch zusätzlich verglast hatte, war ihm nie klar geworden. Damals, als man diesen Kasten von einem Rathaus hierhin gestellt hatte, war das wahrscheinlich in Mode gewesen. Eine andere Erklärung fand er dafür nicht. Er stieg die steinerne Treppe in den ersten Stock hinauf und bog in den langen dunklen Flur, von dem auch sein Büro abging. Als er den Schlüssel aus seiner Hosentasche herausgezogen hatte, hörte er das erste Telefonklingeln. Es kam ganz sicher von seinem Apparat. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Drei vor acht. Freitag. Er schob den Schlüsselbund wieder zurück in seine Hosentasche und machte sich auf den Weg zur Kaffeeküche.
Guten Morgen, Herr Kollege.“
„Hallo, Klara. Hast du auch einen Kaffee für mich?“
„Es sieht uns ja keiner. Dann kannst du einen haben.“
In der engen Küche stand Klara Degreif und grinste ihn an. Sie war die einzige Kollegin, mit der er dienstlich etwas mehr zu tun hatte. Sie bearbeitete die Bausachen. Ab und zu mussten sie sich abstimmen, strittige Fragen klären. In den ersten aufreibenden Wochen hier war sie zu seinem Rückhalt geworden. Ohne ihre Hilfe wäre er wahrscheinlich schon nach einem knappen Monat wieder rausgeflogen. Erste Abmahnung, zweite Abmahnung, Eintrag in die Personalakte. Das hatte Erbes damals durchblicken lassen. „Wenn Sie sich nicht endlich um Ihre Arbeit kümmern und sich weiterhin als Privatdetektiv aufspielen.“ Klara hatte nicht nur einmal für ihn gelogen. „Der Kollege Kendzierski ist bei einem Außentermin, Herr Erbes. Wir haben das durchgesprochen und er klärt es vor Ort. Der muss die Gegebenheiten in den einzelnen Gemeinden erst kennenlernen. Da müssen Sie Verständnis haben.“
„Ich will nicht, dass hier alle denken, ich würde dir auch noch den Kaffee kochen.“
Ihre grünen Augen schauten ihn herausfordernd an. Sie hatten beide Gefallen daran gefunden, sich gegenseitig zu foppen. Sie war ihm sympathisch. Er war mittlerweile bereit, sich das einzugestehen. Sie gefiel ihm irgendwie, aber nicht mehr. Diese Linie hatte er für sich gezogen. Mit ihren langen dunkelblonden Haaren, nur wenig kleiner als er. Sie war Anfang dreißig und als frische Bauingenieurin hierher gekommen, direkt von der Uni. Das Lachen war ihr trotzdem noch nicht vergangen. Sie strahlte eigentlich immer; dann sah sie noch jünger aus. Mit ihrer zierlichen Figur passte sie nicht so recht zu den Bausachen. Das hatte er bis zu einem gemeinsamen Besuch auf einer Baustelle geglaubt. Wie sollte sie sich denn gegenüber einem halben Dutzend rauer Bauarbeiter durchsetzen? Er hatte sein blaues Wunder erlebt. Kurze knappe Befehle hatte sie erteilt. Scharf. Kein Widerwort fiel. „Geht klar. Machen wir.“
„Kannst den Mund ruhig wieder zumachen. Die Jungs sind zahm wie die Lämmer.“
Er musste richtig dämlich dreingeschaut haben, wie er da gaffend zwischen den Bauarbeitern gestanden hatte.
„Hast du auch morgen Abend Dienst?“ Sie hielt ihm eine Tasse Kaffe direkt unter die Nase. Fertig, bereits mit Milch.
„Ja. Ich brenne schon darauf, mich in das Getümmel zu stürzen.“
„Ach, das ist nur halb so wild. Meistens gibt es da keine Probleme. Wir haben hier keine Schlägertrupps, die ein Dorffest aufmischen. Höchstens ein paar Halbstarke, die eigentlich in eine Ausnüchterungszelle gehören. Und manchmal erlebt man sogar richtige Sternstunden.“
Er schaute sie fragend an.
„Wenn du mal viel Zeit hast, erzähle ich dir vom letzten Einsatz.“
Sie kam einen Schritt näher und senkte ihre Stimme. Konspiratives Geflüster. Oder nur Getratsche? Er musste grinsen.
„Vor drei Jahren hatte ich auch am Samstag Dienst auf dem Straßenfest. Das war kurz nachdem ich hier angefangen hatte. Es war früh um drei. Zum Glück regnete es. Das kühlt die Gemüter und sorgt für ein frühes Ende. Es gab dann doch noch ein Gerangel. Ein paar Achtzehnjährige. Die waren alle schon so betrunken. Aber hellwach, als ein paar Gleichaltrige aus Stadecken dazukamen. Die haben gepöbelt, geschubst und dann gab’s blutige Nasen. Wir sind zu zweit dazwischen. Bis die Polizei da war, hatten wir das längst im Griff.“
Er hatte mehr erwartet, schaute gelangweilt.
„Aber das Dollste kommt erst noch. Ich habe einen der Jungs heimgebracht. Dem hatten sie die Nase ganz schön blutig gehauen. Und einen Schneidezahn gekürzt. Den wollten wir nicht einfach so alleine gehen lassen. Er war auch nicht wirklich dazu in der Lage. Ich klingelte an der Tür, kurz vor Sonnenaufgang, den verdreckten Jungen im Arm. Der hing mehr an mir, als er stand. Es dauerte eine Weile und dann stand er mir gegenüber, im hellblauen Schlafanzug. Die grauen Haare standen ihm zu Berge.“
Kendzierski blickte fragend.
„Na: er“, flüsterte sie. Er verstand nichts. Es war zu früh oder sie sprach in Rätseln.
„Wer: er?“
„Du hast so eine lange Leitung, Kendzierski. Erbes machte mir die Tür auf. Das war sein Sohn, den ich da betrunken und vermöbelt abgeliefert habe. Mann, war das peinlich.“
Kendzierski nahm seine Kaffeetasse und machte sich auf den Weg in sein Büro. Das konnte ja heiter werden morgen. Und dann noch das Wetter! In den letzten vierzehn Tagen hatte es keine kühle Nacht und keinen Tropfen Regen gegeben.
Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn, rannen seinen dicken, fleischigen Nacken hinunter. Schon nach ein paar Minuten Fußmarsch hatten sich große Flecken unter seinen Armen gebildet. Alles klebte. Das leichte Hemd hing wie ein Sack an ihm, an seinem massigen Körper. Langsam schob er sich vorwärts, den ausgefahrenen Feldweg entlang. Um ihn herum nur grüne Weinberge. Sein Schäferhund, wegen dem er sich bei diesen Temperaturen aus seinem kühlen Haus gequält hatte, war weit vorgerannt. Dem schien diese verdammte Hitze nichts auszumachen. Heute Abend würde er mit ihm erst rausgehen, wenn es abgekühlt hatte. Im Dunkeln. Das war ja so nicht auszuhalten. Aber wahrscheinlich war es dann noch genauso heiß. Die letzte Nacht hatte er vor Hitze kaum einschlafen können. Das Wetter setzte ihm zu. Diese Temperaturen! Er war froh, dass er nicht mehr zur Arbeit musste. Sie hatten ihn weggeschickt. Reorganisation der Betriebsabläufe. Wir danken Ihnen für Ihre langjährige Treue zu unserem Unternehmen, müssen Ihnen aber leider mitteilen …
Die Abfindung war o.k. gewesen. Jetzt hetzten ihn seine Frau und dieser idiotische Köter. „Du musst noch mit dem Hund gehen. Der scheißt uns sonst noch ins Haus. Bewegung schadet dir nicht, du sitzt ohnehin den ganzen Tag nur rum.“ Also raus mit ihm.
Zwischen den Rebzeilen ging es bergab. Das lief von selbst. Nachher bergauf und zurück ins Dorf würde es dafür umso beschwerlicher werden. Blöder Köter. Sein Sohn hatte ihn angeschleppt und sich dann nicht mehr um das Vieh gekümmert. Jetzt war er ausgezogen und hatte ihn dagelassen. In der kleinen Wohnung ist doch kein Platz für so ein großes Tier.
Heute Abend würde er das Auto nehmen. Im Dunkeln sah ihn keiner, wenn er durch die Weinberge fuhr und der Köter hinterherrennen musste. Dann bekommt der reichlich Bewegung. Bis zum Umfallen. Mit heraushängender Zunge. Er musste heiser lachen. Der Gedanke gefiel ihm.
Das raue Kläffen des Hundes riss ihn aus seinen Gedanken. Wo war das Vieh? Es klang nach einiger Entfernung. Tiefes Knurren und wieder Bellen. Er beschleunigte seinen massigen Körper. Über einhundertdreißig Kilogramm bewegten sich jetzt in der engen Rebgasse unaufhaltsam den Hang hinunter. Der Lärm kam aus den verwilderten Hecken, die sich ganz unten an die Weinberge anschlossen. Ein etwa zehn Meter breiter Streifen Gesträuch bildete den Übergang zur Landstraße, die die Weinberge zerschnitt. Es war mehr ein Dickicht aus unterschiedlich hohen Büschen, die bis fast an die Straße standen. Es folgte dann nur noch eine von hohem Gras bewachsene Böschung, die die wenigen Meter hinauf zum Asphalt führte. Der verdammte Köter musste in den Büschen verschwunden sein. Das heisere Bellen verriet ihn.
„Komm her!“ Das war nicht laut genug gewesen. Er war außer Atem, als er unten ankam. Das Brüllen war mühsam. Nichts regte sich. Wenn das Vieh hinter irgendetwas her war, gehorchte es nie. Gestern hatte es ein Karnickel gejagt. Einfach hinterher. Er hatte sich die Lunge aus dem Leib geschrien und war ihm nachgelaufen, so schnell es ging. Der Hund war weg gewesen. Unter den Rebzeilen hindurch und nicht mehr zu sehen. Sollte er sich doch von einem wild gewordenen Jäger abknallen lassen. Streunende Hunde wurden abgeschossen. Das hatte er irgendwo mal gehört. Dann hätte er zumindest ein Problem weniger. Am Ende würde es dafür aber noch eine Strafe geben. Ein paar hundert Euro, weil dieses Vieh nicht gehorchte. Nein, danke.
„Rocco, hierher! Du Mistvieh, komm endlich.“ Er hasste diesen Köter. Der sollte was erleben. „Wo bist du?“
Er hatte keine Lust, sich auch noch durch diese Hecken zu quälen. Das war alles so ineinander gewuchert. Eine grüne Wand, durch die nichts zu erkennen war. Dahinter bellte er weiter. Knurrte. Der zerrte an irgendetwas. Es stank hier an der Hecke. Das war ihm erst jetzt aufgefallen. Wahrscheinlich hatte er die ganze Zeit hektisch durch den Mund geatmet. Ekelhaft war der Gestank, der in der drückenden Hitze hing. Da verweste etwas. Dieser Sauhund. Der hing bestimmt an einem totgefahrenen Fuchs oder Reh.
„Verdammte Scheiße, jetzt komm endlich hierher!“
Klatschnass stand er da. Schwerfällig bückte er sich nach einem faustgroßen Stein, der vor seinen Füßen lag. Der wollte es ja nicht anders, und er würde ganz bestimmt nicht da hineingehen, um ihn rauszuzerren. Mit aller Wucht schleuderte er den Stein in die Richtung, aus der das Bellen kam. Dumpf war der Aufprall zu hören. Ein spitzes Jaulen verriet ihm, dass er getroffen hatte. Der Schäferhund schoss aus dem Gebüsch hervor. Das panische Winseln erfüllte ihn mit Genugtuung. Das kam davon. Der Hund drückte sich an ihn. Der suchte Schutz. Irgendwie waren diese Viecher doch ziemlich dumm. Langsam drehte er sich weg. Das war jetzt genug gewesen. Genug für ihn. Er wollte einfach nur noch raus aus dieser Hitze. Nach Hause in den Schatten. Seine Frau war jetzt weg, putzen, und er konnte sich in aller Ruhe einen Schoppen gönnen. Einen Schoppen ohne das Gemecker.
„Du trinkst auch jeden Tag früher. Demnächst fängst du wohl schon nach dem Frühstück an.“
Der Gestank wurde nicht weniger. Saß das so fest in seiner Nase? Er blickte auf seinen Hund hinunter, der jetzt neben ihm her trottete. Der Rücken des Tieres war verdreckt. In dem braunen Fell hingen dunkle Klumpen fest, Dutzende. Er musste sich nur wenig nach unten beugen, um festzustellen, dass es der Hund war, der so widerlich stank. Der hatte sich auch noch darin gewälzt. In was auch immer. Dieses elende Mistvieh. Am liebsten hätte er ihm jetzt einen Tritt gegeben.
Der süßliche Verwesungsgeruch hielt ihn davon ab.
Kendzierski hatte sich fest vorgenommen, den ganzen Samstag nicht an seinen Abendeinsatz zu denken. Der würde schon nervig genug werden. Also musste er sich nicht auch noch seine Freizeit damit ruinieren. Obwohl er so viele Jahre in Dortmund, in einer Großstadt, gelebt hatte, hatte er sich nie mit Menschenansammlungen anfreunden können. Er schob dies immer auf seine Kindheit im Sauerland: die Ruhe der Abgeschiedenheit. Die schlimmste Zeit begann für ihn in Dortmund mit dem ersten Advent. Mit diesem Datum legte er pünktlich in jedem Jahr seinen täglichen Arbeitsbeginn um eine Stunde nach vorne. Um nämlich zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen, musste er den Weihnachtsmarkt überqueren. Es war einer der größten im ganzen Ruhrgebiet. Zumindest wurde er so angepriesen und war auch so bevölkert. Am Morgen war das kein Problem. Um kurz vor sieben herrschte zwischen den Ständen noch Totenstille. Er kam schnell durch. Das Grauen erwartete ihn am Nachmittag auf dem Weg nach Hause zu seiner Wohnung. Verstopft waren alle möglichen Umwege. Menschen überall. Alle im Vorweihnachtstempo. Spazierstehen. Er brauchte dann für den sonst zehnminütigen Fußmarsch über eine Stunde. Das hatte ihn dazu bewogen, einfach eine Stunde früher anzufangen. Wenn alles gut ging und keiner mehr um kurz vor vier in sein Büro geschneit kam, war er vor dem großen Ansturm zwischen den unzähligen Buden hindurch und zu Hause.
Heute Abend war da nichts zu machen. Mit heftigen Schauern, Orkanböen oder Schneefall war Ende Mai kaum zu rechnen. Er hatte diese Hoffnung schon Anfang der Woche begraben. Die Wettervorhersage prophezeite Sonne, nichts als Sonne. Er musste ins Gedränge. Wenigstens war Klara mit dabei. Ein Hoffnungsschimmer immerhin.
Schwerfällig erhob sich Kendzierski und verließ sein Bett in Richtung Badezimmer. Es war kurz nach acht. Er wollte es an diesem Samstag schaffen, eine Runde durch die Luft zu drehen, bevor die Hitze wieder alles lähmte. Sein erster Frühsommer in Rheinhessen setzte ihm jetzt schon richtig zu. Er musste an eine alte Fernsehwerbung denken. Einer der täglichen Wettervorhersager. Im Hintergrund eine Deutschlandkarte. Mehrere große strahlende Sonnen im Südwesten. Da wo viele Sonnen scheinen, da wächst auch guter Wein. Von der Sonne verwöhnt. Mit einer Sonne war er jetzt schon mehr als bedient. Die Werbung irgendeiner Winzergenossenschaft oder etwas ähnlichem. Er konnte sich nicht mehr so richtig erinnern. Damals hatte er sich aus Wein noch nichts gemacht. Da wohnte er noch in einer reinen Biergegend. Wein tranken da höchstens mal Frauen. Und zuckersüß musste der sein. Limo ohne Kohlensäure, dafür mit Alkohol.
Er stellte sich unter die Dusche und ließ lauwarmes Wasser über seinen weißen Körper laufen. Obwohl er jede sportliche Betätigung mied, fühlte er sich eigentlich einigermaßen fit. Sein Beruf als Bezirkspolizeibeamter verschaffte ihm einige Bewegung. Zumindest mehr als den meisten Bürohockern hier in seiner näheren Umgebung. Auf Dauer würde er aber wohl an ein wenig mehr Sport kaum vorbeikommen, wenn er nicht alle paar Jahre auch die Hosengröße steigern wollte. Es nervte ihn, dass er jeden zweiten Tag beim Duschen seinen Bauchansatz mit prüfenden Blicken abmaß. Dieser befand sich eindeutig in einem stetigen Wachstumsprozess. Er hatte sich immer über die Männer amüsiert, die eine pralle runde Kugel vor sich herschoben, die ihnen den freien Blick auf die eigenen Schuhe versperrte. Ihr Gang glich im Endzustand dem Watscheln einer Schwangeren kurz vor der Niederkunft. So wollte er nicht herumlaufen. Selbstzufrieden schnaufend, mit Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe.
Er trocknete sich notdürftig ab. Bei diesen Temperaturen taten die auf seinem Rücken verbliebenen Wassertropfen wohltuend gut. Kühlten ein wenig nach. Mit wenigen Bürstenstrichen hatte er seine dunkelblonde Haare, die durch das Abtrocknen in alle Richtungen standen, wieder gerade gelegt. Er hatte dünne Haare, schon immer gehabt. Es waren in den letzten beiden Jahren ein paar weniger geworden. Ein Grund zur Beunruhigung bestand aber noch nicht. Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihm, dass er auf die Rasur getrost verzichten konnte. Er war vorerst nicht im Dienst. Die kurzen Stoppeln störten heute niemanden. Für heute Abend war es vielleicht ganz gut, unrasiert zu sein. Als Security-Mann des Bürgermeisters beim Straßenfest sollte er möglichst verwegen aussehen. Kendzierski versuchte angestrengt, grimmig in den Spiegel zu blicken. Er hatte leider keine schwarze Bomberjacke. Mit seinen 38 Jahren war er wahrscheinlich 20 Jahre älter als die meisten Halbstarken heute Abend, das musste reichen.
Im Hinausgehen griff er nach seinem Handy und dem Portemonnaie. Er wollte sich auf dem Rückweg von der kleinen Runde frische Brötchen und eine Zeitung mitbringen. Der Nachmittag war lang genug.
In dem weißen Flur hatte sich die Wärme des gestrigen Tages erbarmungslos gestaut. Hier sorgte keiner für Durchzug in der Nacht. Das war zwar ein Mehrfamilienhaus mit sechs Wohnungen, aber kaum einen anderen hatte er bisher zu Gesicht bekommen. Ab und zu verrieten gedämpfte Geräusche, dass er nicht alleine hier hauste. Ein älterer Mann, über 70, war ihm mal im Trainingsanzug begegnet. Das war aber schon zwei Wochen her.
Haben Sie sich denn in Ihrer Nachbarschaft schon bekannt gemacht? Erbes hatte ihn das im vergangenen Oktober nach ein paar Tagen, die er hier wohnte, gefragt. Kendzierski hatte darauf nichts antworten können, aber sein Blick musste so voller Fragezeichen gewesen sein, dass ihn sein Chef nie wieder nach seinen Nachbarn fragte. Auf der Karl-Sieben-Straße ging er in Richtung Felder. Das war der unbestreitbare Vorteil von Nieder-Olm. Man brauchte von keiner Stelle aus mehr als zehn Minuten, um die Häuser hinter sich zu lassen und in die Natur zu gelangen. Mittlerweile wusste er das zu schätzen. Er lief langsam an Einfamilienhäusern vorbei. Dann an einer langen Reihe Häuser, eigentlich ein einziges Haus. Nicht so sehr die vielen Türen, vielmehr die unterschiedlich gestalteten kleinen Vorgärten verrieten, dass es hier eine größere Zahl getrennter Einheiten geben musste. Kendzierski überquerte eine Straße. Mächtige Bodenwellen auf der Fahrbahn sollten auch den letzten Autofahrer darauf aufmerksam machen, dass hier Tausende Schüler täglich die Straße überquerten. Auf ihrem Weg zu einer der Schulen, die sich an das Wohngebiet anschlossen.
Heute aber lag das alles ruhig da. Die Bushaltestellen, der große Parkplatz, der in einen Schulhof überging. Der graue Bau und die roten Klinker eines zweiten verschachtelten Gebäudes. Es waren verschiedene Schulen. Für ein paar Tausend Schüler, die aus den umliegenden Landgemeinden täglich hierherkamen. Das hatte ihm Erbes erklärt: Mir sinn Schulzentrum, Herr Kendsiäke. Bedeutungsschwer hatte er dabei genickt. Eine alte Frau mit einer rollenden Gehhilfe überquerte den Schulhof. Schleichende Schritte.
Die Straße endete hier. Ein befestigter Feldweg führte weiter. Kendzierski atmete durch. Er musste über sich selbst grinsen. Es hatte nicht mal ein halbes Jahr gedauert, um hier heimisch zu werden. Er sog die kühle Luft tief ein. Das Getreide stand kniehoch. Gleichmäßig starr nach oben gereckt. Ohne eine Bewegung. Kein Windzug. Die warmen Wochen hatten es nach oben schießen lassen. Anfangs bejubelt nach dem kühlen Winter und dem vielen Regen im Frühjahr. Mittlerweile war das Klagen nicht mehr zu überhören. Die Trockenheit macht alles wieder kaputt. Wenn es nicht bald mal wieder regnet. Aber ein richtiger Regen. Der Unterschied war ihm in der vergangenen Woche von einem Kollegen erklärt worden: „Rischdischer Ree iss longsommer Ree iwwer viele Schdunne.“ Der andere hatte – um dem Nachdruck zu verleihen – immer wieder mit dem Kopf genickt. Da verbat sich jede weitere Frage. Kendzierski akzeptierte das, auch wenn er es nicht wirklich verstanden hatte. Der andere hatte die Unterhaltung mit einem kurzen Satz beendet: „Sie sinn nedd aus de Landwirtschaft.“
Kendzierski kam durch eine kleine Unterführung. Alter Beton und rostige Stahlträger hielten alles. Es schien ein alter Bahndamm zu sein. Mindestens zweimal pro Woche lief er hier durch bei einem seiner Spaziergänge, die er brauchte, um abzuschalten. Die Unterführung war wie ein offenes Tor zur Stille. Dahinter gab es nur Felder, soweit das Auge reichte. Ansammlungen von Bäumen in der Ferne verrieten einzelne Gehöfte, versteckt hinter Sträuchern, eingewachsen über Jahre. Auf den Höhenzügen waren Windräder zu erkennen, die sich gleichmäßig langsam drehten. Eines stand. Die ersten Sonnenstrahlen wirkten wohltuend. Ruhe.
Kendzierski bog nach rechts in einen unbefestigten Feldweg ein. Über weiches Gras ging es weiter. Links neben dem Weg verlief ein Graben. Die Böschungen waren frisch gemäht. Das sah alles so aufgeräumt aus, gepflegt. Englischer Rasen für das Abwasser. Rechts am Weg begann ein riesiges Obstfeld. In langen Reihen standen die Kirschbäume. Die leuchtenden weißen Blüten hatten ihn im April beeindruckt. Alles war noch grau gewesen, im Winterschlaf und dann dieses wogende Blütenmeer und der süßliche Duft.
Der Lärm. Er schreckte auf. Zuckte zusammen. Er hatte nichts gehört. Es hupte. Ein riesiger Traktor kam auf ihn zugerast. Er fühlte sich wie das Kaninchen. Fixiert vom durchdringenden Blick der Schlange. Starre. Weg hier. Sein Blick löste sich von den Scheinwerfern, die ihn anblitzten. Hinter dem spiegelnden Glas der Kabine erkannte er fuchtelnde Arme. Er sprang zur Seite, zwischen die Bäume. Der rote Traktor raste vorbei, ohne sein Tempo zu verlangsamen. Kendzierski blickte ihm nach. Aufgewirbelter, trockener warmer Staub hüllte ihn ein. Er spürte seinen pochenden Herzschlag. Verdammt, der hätte ihn über den Haufen gefahren. Dieser Idiot! Vorne am Traktor hing ein Gestänge. Deutlich war der nach oben ragende metallene Arm zu erkennen. In der Sonne blitzten die scharfen Messer eines Bö- schungsmähers. Kendzierski erkannte das Nummernschild. Das war ein Arbeitsgerät der Verbandsgemeinde, seines Arbeitgebers! Am Samstag? Was mähte der denn am Samstag hier? Na, der konnte am Montag was erleben!
Die Lust aufs Laufen war ihm vergangen. Der Staub klebte an den großen nassen Flecken fest, die sich unter seinen Armen gebildet hatten. Sein Mund war trocken. Nur langsam beruhigte sich auch sein Puls. Seine rechte Hand zitterte. Den würde er zur Schnecke machen. Er kehrte um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. So ein beschissener Samstag! So konnte er nicht einmal zum Bäcker gehen.
Zu Hause riss er missmutig die Notfallreserve auf. Ein Paket strahlend helles Toastbrot, das er für Ausnahmesituationen in dem kleinen Eisfach seines Kühlschranks geparkt hatte. Klappernd fielen ihm die harten Scheiben entgegen. Er versenkte zwei davon in seinem Toaster und stellte sich einen Kaffee auf. Eine Zeitung hatte er nicht besorgt, alles wegen dieses Traktors. Schnell schlüpfte er in seine ausgetretenen Birkenstock, die ihm als Hausschuhe dienten, und eilte die Treppen zu den Briefkästen hinunter. Das hatte er doch richtig in Erinnerung. Seine Miene hellte sich langsam auf. Einer der Briefkästen quoll über. Familie Siebinger mit Chiara und Kevin-Justin war wohl im Urlaub oder ausgezogen. Egal. Er schaute sich kurz um, unterdrückte für einen kleinen Moment das aufflammende schlechte Gewissen des Bezirkspolizisten und zog die schwere Samstagsausgabe aus dem Schlitz. Die fragile Konstruktion verzieh ihm diesen Eingriff nicht. Mit einem dumpfen Geräusch schlugen weitere zwei Pfund Tageszeitung auf den Fliesen auf. Donnerstag und Freitag. Mit Stellenanzeigen und Immobilienbeilage. Mist. Hektisch raffte Kendzierski alles zusammen und sprang mit seinem Bündel die Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Schnaufend drückte er die Tür hinter sich zu. Er taugte nicht zum Kleinkriminellen.
Die ersten beiden Toastscheiben wanderten in den Abfall. Schwarz gestreift. Wie immer. Trotz Stufe drei und Auftaufunktion. Die nächsten wurden besser. Unter Aufsicht. Er mischte sich einen Kaffee mit reichlich Milch, belegte die beiden Scheiben mit Aufschnitt und setzte sich zu seiner Beute, die auf dem kleinen Küchentisch lag. Ärger in der Bundesregierung. Erdbeben in China. Mit dem ersten Schluck Kaffee spürte er auch die Entspannung. Jetzt war endlich Samstag.