Maddie dachte, dass sie und Logan für immer beste Freunde sein würden. Aber wenn dein Dad zum Secret Service gehört, hat das Leben andere Pläne: Ein Anschlag verändert das Leben von Maddie für immer, und sie und ihr Vater müssen fliehen, um zu überleben. Die Lösung: Eine einsame Hütte mitten im Nirgendwo. Kein Handy, kein Internet, nur die unendliche Weite Alaskas. Genug Zeit, um Logan jeden Tag einen Brief zu schreiben – ohne je eine Antwort zu erhalten. Bis ihr ehemals bester Freund nach sechs Jahren plötzlich vor ihrer Tür steht. Maddies erster Impuls: ihn umbringen. Aber als sich dann die Ereignisse überschlagen, lernt Maddie, dass man seine Vergangenheit nicht so leicht abschütteln kann …
© Shevaun Williams
Ally Carter stammt aus Oklahoma. Ihre Mutter war Lehrerin, ihr Vater Landwirt und Viehzüchter. Sie hat eine ältere Schwester. Nach dem Studium arbeitete sie ein paar Jahre in der Agrar-Industrie, bis sie sich ganz dem Schreiben zuwandte. 2005 wurde ihr erster Roman veröffentlicht. Ihre Bücher erscheinen in mehr als zwanzig Ländern und waren auf den Bestseller-Listen der New York Times, USA Today oder des Wall Street Journal. Heute lebt und arbeitet sie in Oklahoma.
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Viel Spaß beim Lesen!
Für Madeleine Elise Brock, die wahre Mad Dog
Vor sechs Jahren
Liebe Maddie,
bei uns findet morgen Abend eine Party statt. Mum hat gesagt, wenn ich möchte, darf ich jemanden einladen.
Hast du Lust zu kommen?
O JA
O NEIN
O VIELLEICHT
- Logan
Madeleine Rose Manchester hatte nicht die geringste Absicht, ins Weiße Haus einzubrechen. Aber sie kannte sieben verschiedene Wege, unbemerkt hineinzukommen, wenn sie denn gewollt hätte.
Immerhin lebte Logan noch nicht mal ein Jahr dort, und Madeleine und er hatten in der Zeit schon vier Tunnel, zwei angebliche Geheimgänge und einen Wandschrank neben der Küche gefunden, der dezent nach Käse roch und den Weg zu dem vermeintlich stillgelegten Lastenaufzug nicht annähernd so effektiv versperrte, wie alle Welt zu glauben schien.
»Charlie?«, fragte Maddie den großen, kräftigen Mann auf dem Beifahrersitz des dunklen SUV. Er drehte sich zu ihr um. Sie saß brav angeschnallt auf dem Rücksitz, obwohl allseits bekannt war, dass Seide superleicht zerknitterte und Maddie noch nie zuvor ein Seidenkleid besessen hatte.
Sie hatte sich bereits darüber beklagt, aber Charlie hatte erwidert, dass sie sich entweder anschnallen oder zu Fuß gehen konnte. Was auch keine bessere Lösung war, weil ihre schwarzen Lederschuhe nagelneu waren und auch so schon drückten – und Logan hatte gesagt, dass sie später vielleicht noch tanzen würden.
Maddie hoffte von ganzem Herzen, dass er recht hatte.
»Was gibt’s, Mad?«, fragte Charlie, während Walter unbeirrt weiterfuhr.
»Wusstest du, dass es einen kleinen Raum unter der Treppe im Ostflügel gibt, der voll mit toten Spinnen aus der Nixon-Ära ist? Glaubst du, das stimmt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmt«, sagte sie, ohne Charlies Antwort abzuwarten.
»Ich könnte Dad fragen«, fuhr sie fort. »Aber er hat damals noch nicht hier gearbeitet. Jedenfalls glaube ich das. Ich meine, ich weiß ja, dass er alt ist. Also richtig, richtig alt. Aber so alt?«
Charlie lachte, auch wenn Maddie nicht ganz klar war, was er daran lustig fand. »Ich habe keine Ahnung, Maddie, aber du solltest es genauso formulieren, wenn du ihn danach fragst.«
Das war eine echt gute Idee, beschloss Maddie. »Danke, Charlie. Das mach ich.« Sie überlegte kurz und redete dann weiter. »Wusstest du, dass man durch die Belüftungsschächte vom Büro von Logans Dad bis ins Pressezentrum krabbeln kann?«
»Nein.« Charlie schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht.«
»Doch, klar«, versicherte Maddie eifrig. »Logan hat fünf Dollar gewettet, dass ich es nicht schaffe, also hab ich es gemacht, und er hat mir fünf Ein-Dollar-Scheine gegeben statt einem Fünf-Dollar-Schein, weil da Lincoln drauf ist und er den am liebsten mag.«
»Man kommt durch die Belüftungsschächte ins Oval Office?« Charlie drehte sich zu ihr um.
»Ja. Aber ich hab mir dabei meine rosa Lieblingsleggings versaut.«
»Das solltest du deinem Vater unbedingt erzählen.«
»Dem sind meine Leggings doch egal«, meinte Maddie.
Charlie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das. Sondern … Schon gut, Mad. Ich sag’s ihm selbst.«
Als sie schließlich vor dem großen Eisentor anhielten, war Maddie so aufgeregt, dass sie mit den Füßen zappelte und dabei gegen Charlies Rückenlehne trat. Charlie reagierte nicht darauf, öffnete sein Fenster und sagte zu dem Mann mit dem Klemmbrett: »Wir haben einen VIP-Gast für den kleinen Racker.«
Der Wachmann ließ seine Augen über den Rücksitz schweifen und lächelte, als er Maddie sah. Durch die getönten Scheiben erkannte sie, dass weitere Sicherheitsleute um den Wagen herumgingen. Spürhunde schnüffelten an den Stoßstangen, doch der Wachmann hielt den Blick unverwandt auf Maddie gerichtet.
»Sieht mir nach einem Hochrisikofaktor aus, Jungs. Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie reinlassen sollten.«
»Hey, Felix«, sagte Maddie und beugte sich zu ihm vor. »Wusstest du, dass zwei Kinder und drei Kätzchen in das Fach unter dem Schreibtisch von Logans Dad passen? Also, wenn es zahme Kätzchen sind. Mit wilden Kätzchen würde ich das eher nicht ausprobieren.«
»Nee, ich auch nicht«, antwortete Felix. Im selben Moment rief einer der Männer draußen: »Alles klar!«
Felix trat einen Schritt zurück und winkte sie durch. »Viel Spaß auf der Party!«
Logan machten Partys keinen Spaß. Für ihn waren sie nur sehr, sehr selten mit Pizza, Hüpfburgen und Eiscreme verbunden. Diese Zeiten waren vorbei. Klar, Kuchen gab es meistens schon. Aber das waren fast immer so winzige, superschicke Törtchen, und Logans Mum bedachte ihn meistens mit Dem Blick, wenn er mehr als vier davon aß. Und seit er die Premierministerin von Kanada gefragt hatte, ob sie ihr Törtchen noch essen würde, durfte er auch nicht mehr bei seinen Eltern am Tisch sitzen.
Was Logan aber gar nicht so schlimm fand.
»Ist Maddie schon hier?«, fragte er seine Mutter.
»Weiß ich nicht. Hast du schon mal unter dem Bett nachgesehen?« Logans Mum steckte grinsend den Kopf aus dem Badezimmer und blickte zu dem riesigen Himmelbett herüber, auf dem Logan lag.
»Nein. Da passen wir nicht drunter.«
»Ich frage lieber nicht, woher du das weißt«, erwiderte seine Mutter und wandte sich wieder ihrem Make-up zu.
Ihr Handy klingelte, und sie ging ran. »Ja? Ausgezeichnet. Schicken Sie sie hoch.«
»Ist Maddie …«
»Sie ist auf dem Weg nach oben«, antwortete seine Mum, und Logan sprang vom Bett, rannte hinaus auf den Flur und stürmte die breite Treppe hinunter.
Je weiter er sich von seiner Mutter entfernte, desto chaotischer wurde alles. Leute trugen gigantische Blumensträuße herum, und die Angestellten hasteten die Stufen hoch und runter – und das alles in ihren hochhackigen Schuhen.
Doch Logan hatte nur Augen für Maddie.
»Mad Dog!«, rief er ihr vom Treppenabsatz entgegen und lief auf sie zu. »Du siehst …«
»Ist mein Kleid zerknittert?«, platzte Maddie heraus, als ginge es dabei um Leben und Tod.
Er schüttelte den Kopf. »Dein … Nein. Finde ich nicht. Es …«
Logan brach ab, denn Maddies Aufmerksamkeit war bereits woanders. Er folgte ihrem Blick und verstummte. Draußen vor dem kugelsicheren Fenster landete ein Helikopter auf dem Rasen, während sich das wimmelige Chaos drinnen schlagartig legte. Die Rotorblätter des Hubschraubers kreisten noch, als eine Gruppe Männer und Frauen ausstieg und mit eingezogenen Köpfen zum Haus rannte.
Nur die beiden Männer, die als Allerletztes herauskamen, gingen vollkommen aufrecht. Sie schlenderten in Seelenruhe auf den Eingang zu, wobei sie sich lachend unterhielten.
Maddie drehte sich zu Logan um. »Dad ist zurück.«
Maddie war sich nicht sicher, ob sie damit Logans Vater meinte oder ihren eigenen. Im Grunde war es auch egal, denn es stimmte so oder so. Was sie allerdings definitiv sagen konnte, war, dass der Trubel im Haus seit der Ankunft von ihren beiden Dads gleichzeitig weniger und irgendwie auch mehr geworden war.
Da war diese Energie, die Logans Vater immer zu umgeben schien. Manche Leute blieben stehen. Einige starrten ihn unverhohlen an. Und dann gab es noch eine weitere Gruppe von Menschen, die ständig um ihn herumschwirrten und -wirbelten wie ein Bienenschwarm inmitten eines Tornados, während alle anderen eilig den Weg frei machten.
Alle, bis auf Logans Mum. Sie wirbelte nicht, sie eilte nicht und sie starrte auch nicht. Sie schritt die Treppe herab, wobei der Saum ihres roten Kleides wie eine Schleppe hinter ihr über die Stufen glitt, und ging auf ihren Mann zu.
»Du bist spät dran«, sagte sie.
»Mr President«, mischte sich eine seiner Assistentinnen ein. »Der Pressesprecher erwartet Sie bereits.«
»Er wird wohl noch warten können, bis der Präsident seiner Frau einen Begrüßungskuss gegeben, seinen Sohn umarmt und sich etwas Ordentliches angezogen hat«, erwiderte die First Lady. Wie aufs Stichwort zogen die Bienentornados weiter, in einen anderen Teil des Weißen Hauses.
»Hallo, Liebling«, begrüßte Logans Dad seine Frau und gab ihr einen Kuss. Als er sich von ihr löste, verzog sie das Gesicht und meinte: »Du müffelst.« Sie blickte zu Maddie. »Was sollen wir nur mit ihnen anstellen, Mad?«
Maddie konnte bloß den Kopf schütteln. »Jungs müffeln immer«, erklärte sie.
»Daran gewöhnst du dich, Schätzchen«, lachte Logans Mum.
Logans Dad schien das nicht zu stören. Er nahm seinen Sohn in den Arm und sagte: »Hey, Kleiner.« Dann wandte er sich an Maddie. »Kleine.«
Maddie knickste höflich. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Logans Dad.«
»Gleichfalls, Manchesters Tochter.« Der Präsident verbeugte sich. »Du gibst einen deutlich bezaubernderen Anblick ab als dein Vater, das kann ich dir sagen.«
»Vielen Dank. Mein Kleid war nicht zerknittert, als ich es angezogen habe. Die Falten sind ganz allein Charlies Schuld.«
»Ich rede mal mit Charlie«, antwortete der Präsident, während Maddies Dad versuchte, sie zu umarmen.
»Komm her, Mad.«
Sie drückte ihn kurz, machte sich dann aber naserümpfend los und sah die First Lady an. »Sie haben recht. Die stinken wirklich.«
»Ist das der Dank dafür, dass ich den Präsidenten beschütze?«, fragte Maddies Vater.
»Vor heimtückischen Hirschen? Das ist bestimmt harte Arbeit.« Die First Lady drehte sich mit einem Schmunzeln zu ihrem Mann um. »Muss ich euch beide erst daran erinnern, dass der russische Premierminister mit seiner Entourage, das gesamte Kabinett und alle sieben Zuschauer des Politiksenders C-SPAN uns in fünfundvierzig Minuten zu unserem ersten gemeinsamen Staatsdinner erwarten?«
Logans Dad warf Maddies Dad einen Blick zu. »Retten Sie mich vor ihr, Manchester.«
Doch Maddies Vater schüttelte nur den Kopf. »Tut mir leid, Mr President. Diesmal sind Sie auf sich allein gestellt.«
Erst nachdem die First Lady den Präsidenten die Treppe hinaufbugsiert hatte, spürte Maddie, wie Logan sich neben ihr rührte. Er hatte die ganze Zeit mucksmäuschenstill dagestanden, so als sei er vollauf zufrieden damit, in der Gegenwart des Präsidenten praktisch unsichtbar zu sein.
Dann erkundigte sich ihr Vater: »Wie geht’s, Racker?«, und Logans Augen wurden ganz groß.
»Hat mein Dad echt einen Hirsch getötet?«
»Nein.« Maddies Vater ging in die Hocke, um mit Logan auf Augenhöhe zu sein. »Dein Vater, ein Senator aus Kentucky und ich saßen sieben Stunden lang im Wald auf einem Baum und haben gehofft, einen Hirsch zu töten.«
»Aber keinen gesehen?«, fragte Logan.
»Doch.« Maddies Dad schüttelte langsam den Kopf. »Gesehen schon.«
Logans Augen wurden noch größer. »Und mein Dad hat nicht auf ihn geschossen?«
»Nein.« Maddies Vater klang, als würde er seine Worte sorgfältig abwägen. »Dein Dad war mehr daran interessiert, die Stimme dieses Senators aus Kentucky zu bekommen.«
Logan wirkte verwirrt. »Aber Sie haben doch eine Waffe. Warum haben Sie dann nicht abgedrückt?«
Diese Frage schien Maddies Vater zu gefallen. Er beugte sich ein bisschen vor. »Weil ich meine Waffe niemals nur zum Spaß benutze.«
»Sondern weil Sie müssen«, erwiderte Logan.
Maddies Vater nickte. »Und was ist wichtiger, als zu schießen, Racker?«
Logan dachte kurz nach. »Dafür zu sorgen, dass man es nicht muss?«
Maddies Dad strubbelte ihm durchs Haar. »Ganz genau.«
Dann versuchte er erneut, Maddie zu umarmen. Maddie schob ihn weg, obwohl ihr Kleid sowieso schon ganz zerknittert war. »Du stinkst echt, Dad.«
»Okay, Mad Dog. Ich gebe auf. Dann gehe ich jetzt duschen.« Er lief zur Treppe, drehte sich aber noch mal um. »Und was habt ihr zwei in den nächsten einundvierzig Minuten vor?«
Maddie und Logan wechselten einen Blick und zuckten beinahe gleichzeitig mit den Schultern.
»Meinetwegen«, sagte Maddies Dad. »Ich will es gar nicht wissen. Bleibt einfach im Haus und kommt niemandem in die Quere. Hier geht’s ganz schön drunter und drüber.«
Er war fast schon im Untergeschoss angekommen, als die beiden wie aus einem Mund antworteten: »Wissen wir!«
Maddie war daran gewöhnt, mehr oder weniger unsichtbar zu sein. Logan hingegen hatte in den vergangenen ein, zwei Jahren so oft im Rampenlicht gestanden, dass es für ihn eindeutig ein neues, wenn auch offenbar nicht ganz unwillkommenes Gefühl war, unbehelligt durch das Chaos zu laufen, das um sie herum tobte.
Türen knallten und Handys klingelten, aber niemand schien den Präsidentensohn und seine Freundin zu bemerken – nicht mal, als Logan »Hier drin« sagte und einen Code in das Tastenfeld neben einer Tür tippte, die Maddie noch nie aufgefallen war. Mit einem Klicken ging die Tür auf, und er zog Maddie in einen Flur, in dem vollkommene Stille herrschte.
»Besser«, meinte er und lächelte.
»Dürfen wir überhaupt hier sein?«
Logan zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich nicht. Aber wenn sie das echt nicht wollen würden, hätten sie besser aufpassen sollen, als sie neulich den Code eingetippt haben, während ich danebenstand.«
Maddie fand das einen exzellenten Einwand. Alle wussten, dass Logan wirklich gut darin war, sich Dinge zu merken. Und zwar alle möglichen Sachen: Telefonnummern, Zugangscodes und den Ort, an dem das Weiße Haus seine Schokolade aufbewahrte.
Wie Maddie festgestellt hatte, verfügte das Weiße Haus über einen Vorrat ganz ausgezeichneter Schokolade. Darüber dachte sie gerade nach, als sie sich in einem langen, leeren Korridor wiederfanden, der vom Frachteingang zur Küche führte. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinanderher, bis sie an eine Gabelung kamen und Maddie spürte, dass es langsam Zeit wurde, umzukehren. Ihr Dad und Logans Eltern würden sicher bald anfangen, nach ihnen zu suchen.
Gerade als sie Logan packen und zurück ins lärmende Gewimmel schleifen wollte, kamen drei Männer auf sie zu. Sie schoben im Eiltempo einen großen Wagen durch den Gang, ohne auf die beiden zehnjährigen Kinder zu achten, die ihnen im Weg standen.
Gut erzogen, wie er war, sagte Logan: »Entschuldigung.«
Der Job von Maddies Dad hing allerdings nicht davon ab, dass sie nett zu Fremden war, deswegen zischte sie hörbar »So was Unhöfliches!«, als die Männer an ihnen vorbeiliefen.
Einen Moment lang standen Logan und sie etwas verdattert im Flur. Dann wurde Maddie klar, dass ihr etwas an den Männern komisch vorkam. »Dürfen die überhaupt hier sein?«, fragte sie.
Logan schnitt eine Grimasse. »Das sind russische Sicherheitsleute. Die russische Delegation isst nur, was ihre eigenen Köche für sie zubereitet haben. Die Sachen sind extra dafür angeliefert und rund um die Uhr bewacht worden. Mit Waffen und allem Drum und Dran.«
Maddie verzog das Gesicht. »Das fände ich ganz schön doof. Stell dir mal vor, du kriegst dein Essen immer kalt, weil jemand versuchen könnte, dich zu töten.«
Sie wollte sich noch weiter darüber auslassen, doch in dem Moment steckte Logan ganz plötzlich die Hand in seine Hosentasche, murmelte hastig »Für dich!«, und streckte ihr eine kleine blaue Schachtel hin.
»Was ist das?«, wollte Maddie wissen.
»Ein Geschenk«, antwortete Logan. »Von mir.«
»Du hast mir ein Geschenk besorgt? Warum?«
Logan sah aus, als wollte er die Augen verdrehen, tat es jedoch nicht. »Weil du meine Freundin bist.«
»Hast du allen deinen Freunden was gekauft?«, fragte sie.
Trotz des gleißenden Neonlichts im Korridor schien sich Logans Miene zu verfinstern.
»Du bist meine einzige Freundin«, sagte er leise, und Maddie bohrte nicht weiter nach.
Langsam griff sie nach dem Päckchen. Ehrfürchtig zog sie an der kleinen weißen Schleife und öffnete die Schachtel. Im nächsten Moment blitzte vor ihr etwas Goldenes auf.
»Wie das glänzt«, staunte sie.
»Es ist ein Armband. Gefällt es dir?«
»Ich liebe es.«
Logan half ihr, das Armband anzulegen, und Maddie drehte ihr Handgelenk hin und her, sodass die zierlichen Anhänger und das filigrane Kettchen im Licht funkelten.
»Es ist ein bisschen zu groß«, erklärte er. »Aber ich wollte, dass du es auch noch tragen kannst, wenn du älter bist.«
»Ich werde es nie wieder abnehmen«, beteuerte sie und meinte das so ernst wie noch nie etwas in ihrem Leben.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Logan wandte den Blick ab, als würden Maddie und ihr glänzendes goldenes Armband so hell strahlen wie die Sonne. Er blinzelte und sagte: »Also, ich schätze, wir sollten dann wohl mal …«
»Was macht ihr zwei denn hier unten?« Er wurde von der Stimme der First Lady unterbrochen, die durch den gefliesten Korridor hallte.
Maddie fuhr herum. »Wir versuchen, niemandem in die Quere zu kommen«, verkündete sie. Sie war sehr stolz darauf, dass ihr so schnell eine passende Antwort eingefallen war. Und außerdem, so fand Maddie, war es höchste Zeit, dass die Erwachsenen ihre Diskretion endlich angemessen zur Kenntnis nahmen.
»Das ist ein guter Plan«, antwortete Logans Mum. »Da draußen geht es zu wie im Affenhaus.«
»Mum, müssen Maddie und ich da wirklich hingehen? Können wir nicht einfach drüben im Wohnbereich fernsehen oder so was?«
Der Blick, mit dem die First Lady Logan bedachte, wirkte traurig, so als wünschte sie sich, sie könnte ihrem Sohn einen ganz normalen Abend in einem ganz normalen Zuhause ermöglichen. Aber Logan würde nie ein gewöhnliches Leben führen, und sie brachte es nicht über sich, ihn deswegen zu belügen.
»Natürlich könntet ihr fernsehen«, sagte sie. »Aber ich fürchte, der heutige Abend ist für deinen Vater sehr wichtig. Unser Verhältnis zu Russland ist gerade ein bisschen … angespannt. Und er findet, wenn du und ich mitgehen, sieht das Ganze mehr nach einem Familientreffen aus und nicht so sehr nach einer großen politischen Angelegenheit. Verstehst du das?«
Logan nickte finster. »Ja. Klar.« Dann schaute er seine Mutter an, als würde er sie gerade zum ersten Mal wahrnehmen. »Was machst du hier unten? Warst du auf der Suche nach uns?«
»Nein.« Sie strich die Haarsträhne auf seinem Kopf glatt, die immer störrisch zu Berge stand. »Die Küche hat angerufen. Es scheint ein Problem zu geben, auch wenn mir nicht ganz klar ist, wie ausgerechnet ich da helfen soll. Schönes Armband, Maddie.«
Maddie errötete, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. »Ich mag Ihr Kleid.«
»Ich auch. Vor allem, weil es das kann.« Die First Lady fing an, sich zu drehen, und der rote Stoff bauschte sich um sie herum auf wie eine luftige Wolke.
»Das fliegt ja richtig!« Maddie hätte am liebsten geklatscht.
»Ich weiß!«, rief Logans Mum und klang dabei selbst fast wie ein zehnjähriges Mädchen.
Logan sah aus, als würde er Mädchen niemals verstehen, verzichtete jedoch auf eine Bemerkung.
»Na, dann gehe ich mal besser nachsehen, was die von mir wollen, damit der Abend endlich losgehen kann. Lauft schon mal vor, ihr zwei. Wir fangen bald an.«
»Jawohl, Ma’am«, sagte Maddie, und dann war die First Lady weg, und sie waren wieder allein.
Im Lauf des vergangenen Jahres waren sie bestimmt schon tausend Mal nur zu zweit gewesen, aber als Maddie sich bewegte, klimperte ihr Armband, und plötzlich fühlte sich dieses allein irgendwie ganz anders an als all die Male davor.
»Tja …«, sagte Logan und sah sie an.
»Tja …«, erwiderte Maddie. Was sollte sie auch sonst tun?
Er hielt ihr seinen Arm hin. »Wollen wir, die Dame?«
Maddie knickste etwas wackelig und hakte sich bei ihm unter. »Aber gerne doch, der Herr.«
Schweigend und würdevoll schritten sie Arm in Arm auf die eleganteste Party des Landes zu, als wären sie schon lange keine Kinder mehr.
Diesmal hörten sie die drei Männer, bevor sie sie sahen. Der große Wagen rollte klappernd und quietschend über den Fliesenboden, sodass Maddie und Logan rechtzeitig beiseitespringen konnten. Wie es schien, war »Rücksicht« in Russland ein Fremdwort, denn die Männer preschten mitten durch den Gang, ohne nach links und rechts zu sehen. Logan und Maddie drückten sich platt gegen die Wand. Maddie spürte, wie die Kälte der Fliesen durch den hauchzarten Stoff ihres Kleides drang.
Die Männer unterhielten sich lautstark und schnell auf Russisch. Maddie verstand kein Wort, aber irgendetwas daran löste das Bedürfnis bei ihr aus, sich ganz eng an Logan zu schmiegen, auch wenn sie selbst nicht so genau wusste, warum.
Zwei der Russen wirkten noch ziemlich jung, vielleicht Anfang oder Mitte Zwanzig. Sie hatten kurzes dunkles Haar und trugen teure Anzüge mit geschmacklosen Krawatten. Einer der beiden zeigte auf die Tür, die noch kilometerweit entfernt zu sein schien, wobei Maddie kurz ein Tattoo an seinem Handgelenk aufblitzen sah: einen seltsamen zweiköpfigen Vogel, der von einem Wolf gefressen wurde.
Ihr erster Gedanke war, dass sie beim besten Willen nicht verstand, warum jemand so etwas Hässliches für immer auf der Haut haben wollte.
Ihr zweiter Gedanke galt den Muskeln in Logans Arm, die sich plötzlich ziemlich angespannt anfühlten. Ihre Hand tat weh, als er sie dadurch in seiner Ellbeuge einklemmte. Er schien es nicht mal zu merken.
Als die Männer vorbeiliefen, spürte Maddie einen Luftzug, der wie eine leichte Brise hinter ihnen herwehte. Plötzlich hielt einer der Männer – der mit dem Tattoo – kurz inne. Er sah Logan direkt ins Gesicht und erkannte ihn ganz offensichtlich wieder. Er schien über etwas nachzudenken. Die anderen Männer riefen ihm etwas zu, und er setzte sich wieder in Bewegung, ließ Logan dabei aber nicht aus den Augen.
Er sagte etwas auf Russisch.
Und dann zwinkerte er ihm zu.
Doch es war kein spielerisches Zwinkern, denn es hatte absolut nichts Freundliches an sich. In diesem Moment begriff Maddies Kopf, was ihr Bauch schon beim ersten Anblick der scheußlichen Krawatten vermutet hatte: Diese Männer gehörten nicht zum russischen Geheimdienst. Das war so klar wie Kloßbrühe.
Aber wer waren sie dann? Und warum waren sie hier?
Plötzlich hatte Maddie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Logan …«, setzte sie an, brach jedoch ab, als sie seinem Blick folgte.
Die Russen waren schon ein ganzes Stück entfernt und liefen zügig auf den Frachteingang zu. Der Wagen, den sie vor sich herschoben, wirkte deutlich schwerer als bei ihrer Ankunft.
Aber wenn sie das Essen für die russische Delegation gebracht hatten, müsste der Wagen auf dem Rückweg dann nicht leichter sein?
Und dann sah sie es: ein Stückchen feinen roten Stoffs, das aus der Tür des Wagens hervorlugte und im Luftzug flatterte.
»Logan?«, keuchte sie entsetzt.
Maddie spürte, wie er sich neben ihr regte. Er wühlte in seiner Hosentasche, während sie sich losmachte. Sie wollte hinter den Männern herlaufen, sie jagen und einfangen und …
Beißen. Maddie konnte ganz hervorragend beißen.
Doch Logan hielt sie mit einer Hand fest. In der anderen hatte er den kleinen Notfallknopf, den er immer bei sich tragen musste.
Er drückte ihn, und dann tat sich erst mal gar nichts. Im nächsten Moment hörte Maddie die Stimme ihres Vaters.
»Da seid ihr ja!«, sagte ihr Dad lachend. Er trug seinen schwarzen Anzug, und seine Haare waren noch nass von der Dusche. Er war so groß und stark und gut aussehend. Und glücklich. Ihr Vater war glücklich.
Dann blieb er stehen, griff nach dem Knopf in seinem Ohr, und mit einem Schlag war alles anders.
»Was ist los?«, fragte er Logan, der am ganzen Körper zitterte.
In der Ferne war noch das Klappern des Wagens zu hören, als die Russen an Tempo zulegten und die Flucht ergriffen.
»Meine Mum. Sie haben …«
Sirenen heulten los. Von einer Sekunde auf die andere war Maddies Dad kampfbereit und zog seine Waffe. Maddie hatte seine Pistole schon eine Million Mal gesehen, doch noch nie so wie jetzt – sie wirkte wie eine Verlängerung von ihm, wie ein kalter, tödlicher Körperteil.
»Ihr zwei. Versteckt euch!«, brüllte ihr Dad ihnen zu, bevor er losrannte.
Und dann eröffneten die Russen das Feuer.
Maddie verstand, was der Job ihres Vaters war. Tatsächlich war es davor auch schon der Job ihres Großvaters gewesen. Wie sich herausstellte, entstammte sie einer langen Linie von Menschen, die auf Schüsse zurannten und Kugeln für andere abfingen.
Sie hatte nur nie begriffen, warum.
Doch dann steckte Logans Mum plötzlich in einem Servierwagen, und Maddies Dad ging hinter einem hohen Stapel eingeschweißter Plastikflaschen in Deckung und feuerte seine Waffe ab, mit der sie ihn noch nie zuvor hatte schießen sehen.
Das alles dauerte vielleicht eine Sekunde, auch wenn es genauso gut ein ganzes Jahr hätte sein können.
»Daddy!«, schrie Maddie, obwohl ihr klar war, dass sie ihn nicht ablenken, ihm nicht in die Quere kommen durfte.
»Maddie!« Sie spürte Logans Hand auf ihrem Arm. Sie hörte, wie er ihren Namen rief. Aber ihr Vater rannte immer noch auf die um sich schießenden Russen zu, und das fühlte sich so dermaßen falsch an, dass sie einen Augenblick lang nichts anderes tun konnte als dazustehen. Und zu warten.
Im gesamten Weißen Haus schrillten die Alarmsirenen. Maddie wusste, dass Logans Notfallknopf über einen GPS-Tracker verfügte, sodass die Männer vom Secret Service bald hier sein würden. Wahrscheinlich gingen sie bereits vor den Türen in Stellung und verriegelten die Ausgänge.
Währenddessen war der Präsident vermutlich auf dem Weg in seinen unterirdischen Schutzbunker. Doch Maddie stand immer noch in diesem Korridor und beobachtete, wie ihr Vater rannte. Wie er schoss. Wie er fiel.
Einen der Russen hatte es erwischt. Maddie konnte ihn am Ende des Ganges liegen sehen. Der Boden war blutverschmiert.
Maddie hielt es nicht länger aus. »Daddy!«, schrie sie erneut. Sie wollte zu ihm, aber Logan hielt sie eisern fest.
Ihr neues Armband schnitt in ihr Handgelenk, als Logan sie hinter sich her in einen Türrahmen zog, wo sie zumindest ein wenig geschützt waren. Eigentlich hätte sie davonlaufen müssen – sie hätte den Präsidentensohn in Sicherheit bringen müssen, weg von alledem. Aber Maddie konnte den Blick nicht von ihrem Vater losreißen.
Er hatte sich aufgerappelt und humpelte schießend weiter. Am Ende des Ganges ging eine Tür auf. Helles Licht ergoss sich in den Korridor, als weitere Sicherheitsbeamte hereinstürmten und die Angreifer unter Beschuss nahmen.
Auch hinter sich hörte Maddie das Stampfen schwerer Stiefel. Der Secret Service war endlich eingetroffen. Die Russen waren umzingelt.
Aber ein Tier ist immer dann am gefährlichsten, wenn es in der Falle sitzt.
Von den drei Russen war inzwischen nur noch einer übrig. Einen kurzen Augenblick lang war er nichts als eine dunkle Silhouette, die sich vor dem gleißenden Licht abzeichnete. Er zeigte keine Regung, als er die Waffe hob und auf Maddies Vater zielte.
Dann erschien ein Lächeln auf seinen Lippen, und die Pistole schwenkte wie von einem Magneten gezogen zur Seite, dorthin, wo Maddie und Logan sich zusammendrängten.
Der Mann rief etwas auf Russisch. Die Worte hallten vom Boden und den gefliesten Wänden wider. Maddie verstand kein Wort, aber sie wusste trotzdem, was er meinte: Dass das hier noch nicht vorbei war. Dass er für eine gerechte Sache kämpfte. Dass irgendwann die gesamte Menschheit seinen Namen kennen – und fürchten – würde.
Eine Sekunde lang schien die Welt stillzustehen. Dann drückte er den Abzug, während Maddies Vater sich gleichzeitig zwischen ihn und Logan und Maddie warf.
Und im selben Augenblick ebenfalls abdrückte.
Im ersten Moment stand der Russe mit offenem Mund da, als könne er nicht fassen, dass es tatsächlich jemand gewagt hatte, sich ihm in den Weg zu stellen. Auf ihn zu schießen. Und damit seinen Plan zu vereiteln, der ihn zu genau dieser Zeit an genau diesen Ort gebracht hatte.
Sein Blick wanderte zu seiner Brust hinab, dorthin, wo Blut hinter der hässlichen Krawatte hervorquoll. Er sank auf die Knie, fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr.
»Racker!«, schrie jemand, und Maddie hatte das Gefühl, dass sich die ganze Welt um sie herum verschob, während die restlichen Geheimdienstleute ausschwärmten und sie schützend umstellten.
»Die First Lady!« Die Stimme ihres Vaters klang schwach, als wäre er kurz vorm Einschlafen. Trotzdem schleppte er sich auf den Servierwagen zu. Als Maddie die Blutspur sah, die er dabei hinter sich herzog, gab es für sie kein Halten mehr.
Gerade als sie sich losriss, hörte sie Charlie hinter sich brüllen: »Maddie, du und Logan rührt euch nicht vom Fleck!«
Die Sicherheitsbeamten waren jetzt überall. Sie bildeten eine menschliche Mauer zwischen Maddie und Logan auf der einen Seite und den Männern, die reglos am Boden lagen, auf der anderen. Maddie wusste, dass Charlie sie bloß schützen wollte. Er versuchte, sie von dem Blut und dem Tod und all den anderen Dingen, die ein zehnjähriges Kind nicht sehen sollte, fernzuhalten, doch in ihrer Verzweiflung krabbelte Maddie einfach zwischen den Beinen der Männer hindurch. Sie wollte zu ihrem Vater, der so schrecklich still dalag.
Alles war voller Blut.
Sie würde ihr Kleid ruinieren.
Aber das war ihr egal. Sie krabbelte weiter, schneller und schneller. Als einer der Sicherheitsbeamten sie packte und zurückziehen wollte, schlug sie wie wild um sich.
Zwei Beamte des Secret Service befreiten die First Lady aus dem Stahlbehälter auf dem Servierwagen. Ihr Körper war schlaff und ihr Gesicht leichenblass.
Nichts war mehr, wie es sein sollte. Alles war verkehrt, so, so verkehrt, und Maddie musste es wieder in Ordnung bringen.
»Lasst mich los!«, schrie sie die Männer und Frauen um sich herum an. »Lasst mich …«
»Mad Dog?«, hörte sie Logans Stimme hinter sich. Sie klang zu leise, zu schwach – und deswegen drehte sie sich um.
»Da ist was auf meinem Anzug«, sagte er und sah auf den roten Fleck auf seinem weißen Hemd hinab, der rasch größer wurde. »Ich hab versprochen, ihn nicht dreckig zu machen«, hauchte er, bevor er auf dem Boden aufschlug.
Aus der Feder von Madeleine Rose Manchester
Lieber Logan,
das hier nennt man einen Brief. Es ist ein bisschen wie eine E-Mail, nur dass man Papier benutzt und ihn mit der normalen Post verschickt (wie Rechnungen). Deine Mum hat mir dieses Papier geschenkt. Ist es nicht hübsch? Man nennt es Briefpapier, und sie meinte, ich soll dir darauf schreiben, weil mein Dad sagt, dass wir bald abreisen müssen.
Er verrät nicht, warum. Aber wir gehen trotzdem. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass das Telefon nicht mehr stillsteht, seit er aus dem Krankenhaus raus ist. Ich glaube, er möchte nicht gerne berühmt sein oder so was. „Der Mann, der die First Lady gerettet hat!“
Jetzt möchte er nur noch der Mann sein, der nicht mehr zu erreichen ist, und deswegen werden wir auch kein Handy mehr haben. Oder Internet. Dad glaubt, dass das gut für mich ist.
Ich glaube, es wird ganz schön einsam.
Aber du kannst mir gerne schreiben, hat er gesagt! Briefe schreiben können wir uns immer.
Also … schreibst du mir?
Deine (beste) Freundin
Maddie
Alaska
Sechs Jahre später
Wie sich zeigte, war der entscheidende Punkt beim Axtwerfen nicht das Handgelenk, wie alle immer behaupteten. Klar, ein bisschen lag es schon am Handgelenk. Aber eben auch an den Schultern. Und den Hüften. Doch vor allem lag es am Kopf, dachte Madeleine Rose Manchester, als sie ihre zweitliebste Axt aus dem Stamm des großen Baumes zog, der ihrer Hütte am nächsten stand.
Sie trainierte nicht mehr mit ihrer Lieblingsaxt. Nein. Die lag nicht mehr so gut in der Hand, seit sie den Griff im vergangenen Winter mit Strasssteinchen verziert hatte.
Ihr Dad wäre vermutlich wütend auf sie gewesen, wenn er es denn bemerkt hätte. Hatte er aber nicht. Für einen Mann, dessen Überleben einmal von seiner Fähigkeit abhängig gewesen war, Dinge zu bemerken, hatte ebendiese Fähigkeit in den letzten sechs Jahren unerfreulich stark abgenommen.
Oder vielleicht, dachte Maddie, bemerkte er auch nur sie nicht mehr. Sie zog die Axt aus dem Baum und ging zehn Schritte zurück.
Zwanzig.
Dreißig.
Sie atmete tief ein und sog die kühle, feuchte Luft in ihre Lunge. Die Schatten waren lang, der Wald war still und der Winter nicht mehr fern.
Sie musste Holz holen. Die Kettensäge schärfen. Jemand musste aufs Dach klettern, um die fehlenden Schindeln zu ersetzen und die Solarpaneele wieder aufzustellen, die der Sturm letzte Woche umgeweht hatte.
Außerdem wartete noch ein ganzer Berg Hausaufgaben auf sie, die ihr Vater mitnehmen würde, wenn er das nächste Mal nach Juneau flog.
Vielleicht konnte sie ihn überreden, dass er ihr noch dreißig oder vierzig Bücher aus der Bibliothek mitbrachte. In den letzten beiden Jahren hatte es zwar nicht allzu viel geschneit, aber die Sonne würde bald hinter einer Wolke verschwinden und erst an Ostern wieder hervorkommen. Und wenn das passierte, wollte Maddie vorbereitet sein.
Maddie war immer auf alles vorbereitet.
Sie trat noch ein paar Schritte zurück, ließ die Axt in ihrer Hand kreisen und hob den Arm.
Dann warf sie.
Die Schneide bohrte sich so tief in den Stamm, dass die meisten Mädchen sie nicht mal mehr hätten rausziehen können. Aber Maddie würde nie wie die meisten Mädchen sein, dachte sie, als sie die Axt aus dem Baum riss. Vielleicht sollte sie die Distanz noch etwas vergrößern? Oder es mal mit links versuchen?
In dem Moment hörte sie es: ein entferntes Brummen, ein mechanisches Surren, das die Stille durchbrach. Maddie drehte sich um und sah zu, wie der kleine rote Punkt am weiten blauen Himmel größer und größer wurde.
Als der Punkt mitten auf dem See landete und auf die Hütte zuglitt, musste Maddie unwillkürlich an einen anderen Tag zurückdenken. An eine andere Landung.
Eine andere Welt.
»Dad ist zurück«, sagte sie, aber in der Wildnis um sie herum war niemand, der es hörte.
»Mad Dog!«, rief Michael Manchester aus dem Flugzeug, kaum dass er den Motor ausgestellt hatte.
Er war immer noch groß. Immer noch stark. Irgendwie noch athletischer. Damals in Washington hatte Maddies Vater Stunden mit Box-, Lauf- und Krafttraining verbracht. Er hatte Selbstverteidigungskurse gegeben, und der Präsident, der früher einmal als Athlet an den Olympischen Spielen teilgenommen hatte, war sein Sparringspartner gewesen.
Doch der Mann, der aus dem Flugzeug sprang, das auf dem Wasser trieb und sachte auf den Wellen tanzte, bewegte sich nicht mehr wie der Mann in Washington.
Das konnte mit dem kaputten Bein ihres Vaters zusammenhängen. Vielleicht auch mit der Schulterverletzung und den drei Operationen, denen er sich deswegen hatte unterziehen müssen. Aber Maddie wusste, dass es Alaska war, das ihren Vater verändert hatte. Maddie war nicht blöd. Sie wusste, dass Alaska jeden veränderte.
»Hey, Kleines! Hat es geregnet, als ich weg war?«
»Klar hat es geregnet«, antwortete sie. »Es regnet immer.«
»Gut.« Er legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. »Ich stinke.«
»Ist mir aufgefallen.« Maddie versuchte sich loszumachen, doch ihr Vater lachte und drückte sie noch fester.
»Wenn die Fässer voll sind, wärme ich etwas von dem Wasser auf und nehme ein Bad. Wie geht es dir, Kleines?«
Als sie zur Veranda der kleinen Hütte kamen, hielten sie beide inne, um ihre Stiefel auszuziehen. Es war ein Luxus, das draußen tun zu können. Bald würde es dafür zu kalt sein, aber bis dahin wollte Maddie den Dreck so lange aus dem Haus halten, wie sie konnte.
Auch wenn Haus nicht ganz das richtige Wort war.
Sie folgte ihrem Vater in den zentralen Raum, in dem ein Holzofen und ein wackeliger Tisch mit vier Stühlen standen. Vor dem Durchgang zur Küche war ein Duschvorhang befestigt, und weiter hinten hingen noch ein paar schwere Stoffbahnen, mit denen sie einen Teil des Raums abteilen konnten, wenn sie ein Bad nehmen wollten. Dafür mussten sie allerdings erst mal die Wanne von der Veranda hinter dem Haus holen und Wasser auf dem Ofen erhitzen.
In Washington hatte Maddie ein Badezimmer ganz für sich allein gehabt. Mit einem rosafarbenen Duschvorhang und Handtüchern, die so weich waren, dass sie diese niemals für etwas so Banales wie Händeabtrocknen benutzt hätte. Hier gab es eine Wanne, mangelnde Privatsphäre und, wenn sie Glück hatte, vier Fässer mit nichtgefrorenem Regenwasser. Dieses andere, schicke Badezimmer – dieses andere Leben – fühlte sich mittlerweile an wie ein längst verblasster Traum.
Im Wohnzimmer gab es einen Lehnstuhl, eine Couch und drei Lampen, die funktionierten, wenn im Sommer die Sonne schien oder im Winter der Wind wehte. Maddie war dankbar für das Licht, denn Licht bedeutete, dass sie lesen konnte. Es hatte auch mal bedeutet, dass sie schreiben konnte, aber das war lange her. Damals, als es noch jemanden gab, mit dem sich Maddie hätte austauschen können. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken.
»Raus damit, wie geht’s dir, Kleines?«, erkundigte sich ihr Vater erneut. Er machte sich daran, seinen Rucksack auszupacken, darunter auch die Sachen, um die sie ihn gebeten hatte.
»Gut«, antwortete sie kurz angebunden.
Einen Moment lang herrschte vollkommene Stille, dann fing ihr Vater an zu lachen.
»Was ist?«, fragte Maddie.
Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Es ist nur … Ich glaube, jetzt ist es endlich passiert.«
»Was?«
Ihr Vater sah sie an, doch sie konnte nicht erkennen, ob er glücklich oder traurig war. »Dir sind die Worte ausgegangen.« Er holte die geliehenen Bücher aus dem Rucksack und stapelte sie auf dem einzigen Tisch, den sie besaßen. »Ich wusste, dass das irgendwann passieren würde, wenn man bedenkt, mit welchem Tempo du sie als Kind verschwendet hast.«
Maddie wusste nicht genau, warum, aber irgendetwas tat bei dem Gedanken daran weh. »Ich bin immer noch ein Kind.«
»Was hast du gesagt, Mäuschen?« Er drehte sich zu ihr um.
Maddie schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Ihr Vater sah aus, als wüsste er, dass es besser war, nicht weiterzufragen.
Er zog ein halbes Dutzend Zeitungen aus dem Rucksack und warf sie auf den Bücherstapel. Auf einer der Titelseiten entdeckte sie eine Schlagzeile, in der es um irgendeine Auslandsreise des Präsidenten ging. Kurz überlegte Maddie, ob ihr Vater wohl neidisch auf die Männer und Frauen war, die ihn begleiten würden. Aber das war unwahrscheinlich. Wenn ihr Vater weiterhin Wert auf so ein Leben gelegt hätte, würden sie es jetzt führen.
Maddie war die Einzige, die nie eine Wahl gehabt hatte.
Am Anfang hatte sie ihren Dad mit Fragen gelöchert: Warum waren sie aus Washington weggezogen? Wann würden sie zurückkehren? Die Antworten, die sie darauf erhielt, ergaben allerdings wenig Sinn. Maddie bezweifelte zum Beispiel stark, dass sie hatten verschwinden müssen, weil sich Miss America in ihren Vater verliebt hatte und keine Ruhe geben würde, bis er sie zu Maddies Stiefmutter machte.
Irgendwann waren dann auch die verrückten Erklärungen ausgeblieben, und sie hatte einfach gar keine mehr bekommen – also hatte Maddie aufgehört, danach zu fragen. Das hier war ihr Zuhause. Ihr Leben. Und alles, was davor gewesen war, war nichts als ein komplizierter, detailreicher Traum.
»Hast du irgendwelche Briefe, die ich beim nächsten Mal mitnehmen soll?«, erkundigte er sich.
Manchmal kam es ihr vor, als könne er ihre Gedanken lesen. In solchen Momenten war Maddie froh, dass sie in einer kleinen Hütte in einem großen Wald lebte. Denn wenn die Bären ihre Gedanken lesen konnten, behielten sie es wenigstens für sich.
»Hast du mir irgendwelche Briefe mitgebracht?«, wollte sie wissen.
Ihr Vater schüttelte den Kopf.
»Da hast du deine Antwort.«
Lieber Logan,
Dad hat gesagt, wir würden in unserem eigenen Haus wohnen.
Das war GELOGEN.
Er nennt es Holzhaus, aber eigentlich ist es bloß eine Hütte. Immerhin habe ich mein eigenes Zimmer. Na gut, genau genommen habe ich eine Ecke im Wohnzimmer, wo Dad mir so eine Art Hochbett gebaut hat. Es gibt eine kleine Lampe und einen Vorhang, den ich zuziehen kann, wenn ich mal allein sein will, und es gehört nur mir. Wenn ich es nicht gerade mit der Tierwelt hier teilen muss. (Manche Leute behaupten, Eichhörnchen seien süß und kuschlig. Sind sie nicht. Betrachte das als Warnung!)
Tut mir leid, dass ich auf nichts antworte, was du geschrieben hast, aber deine Briefe sind noch nicht angekommen. Bestimmt sind sie noch in der Post.
Ich hoffe, sie sind in der Post.
Maddie
Alexandria, Virginia
Logan konnte die Musik nicht hören. Sie war bloß ein dumpfes Dröhnen, das in seinem Kopf vibrierte, bis er nur noch schreien wollte. Im Grunde hätte er das auch tun können. Es hätte sowieso niemand mitbekommen. Und selbst wenn, wäre es den Leuten wohl egal gewesen.
In der Enge des Gedränges war er so gut wie anonym. So gut wie, aber nicht ganz.
Er war ein bisschen größer als der Durchschnitt, und seine Haare waren ein bisschen dunkler. Nur zwei Prozent der Bevölkerung hatten grüne Augen. Doch das, was Logan am deutlichsten von den anderen unterschied, war sein Schatten.
Während er sich durch die Menge auf der Tanzfläche schob, konnte er die Anwesenheit des großen Mannes spüren, der ihm auf Schritt und Tritt folgte. Ein kleiner Teil von Logan wollte sich am liebsten in einem winzigen Loch verkriechen. Zumindest bis die Wahl vorüber war und Amerika einen neuen Präsidenten oder eine neue Präsidentin vorzeigen konnte. Vielleicht hatte er oder sie ja auch einen verkorksten Sohn, wenn Logan Glück hatte. Aber das war schon sehr, sehr lange nicht mehr der Fall gewesen.
Der Lärmpegel sank um ein, zwei Dezibel, als er sich aus dem Wohnzimmer in den Flur hinauszwängte und von dort in die Küche lief, wo die Partie bereits in vollem Gang war.
»Na, wenn das nicht der Präsidentensohn und sein Schatten sind!«, bemerkte die Person, die Logan auf der ganzen Welt am allerwenigsten ausstehen konnte, keine zwei Sekunden, nachdem er durch die Schwingtür getreten war.
Hier drin war das Licht ein bisschen heller und die Musik ein bisschen leiser. Zum ersten Mal war Logan wieder in der Lage, seine eigenen Gedanken zu hören.
»Du solltest aussteigen, Dempsey«, erwiderte er beiläufig.
»Was?«, fragte dieser verdattert.
Logan ließ den Blick über die bunten Chips und umgedrehten Karten auf dem Tisch schweifen.
»Du solltest aussteigen«, wiederholte er. »Solange du noch führst.«
Dempsey sah aus, als wollte er aufstehen und Logan zu einem handlichen Kartenhaus zusammenfalten, was er vielleicht auch versucht hätte, wäre da nicht Logans ewiger Schatten gewesen.
»Was weißt du schon?«
Logan zögerte keine Sekunde. »Ich weiß, dass du für deine Straße eine Königin brauchst, was bedeutet, dass deine Chancen selbst im besten Fall bei gerade mal acht Prozent liegen würden. Tatsächlich liegen sie sogar noch weit drunter, weil Peterson da drüben schon eine auf der Hand hat.«
Jetzt stand Dempsey doch auf. »Verarschst du uns oder was?«
»Nein.« Logan schüttelte den Kopf. »Ich gucke einfach nur genau hin.«
Logan sah immer genau hin. Egal, worum es ging. Immerhin konnten fünf Zentimeter roter Stoff den Unterschied