Über Lisa Appignanesi

Lisa Appignanesi wurde in Polen geboren, wuchs aber in Frankreich und Kanada auf. Sie war stellvertretende Direktorin am Londoner Institute of Contemporary Arts, bevor sie freie Autorin wurde. Neben Romanen und Kriminalromanen hat sie u.a. Bücher über Marcel Proust, Simone de Beauvoir und die Frauen Sigmund Freuds geschrieben.

Wolfgang Thon lebt als freier Übersetzer in Hamburg. Er hat viele Thriller, u. a. von Brad Meltzer, Joseph Finder und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.

Informationen zum Buch

Maria d'Este ist eine klassische Femme fatale. Die Männer umschwärmen sie und anderen Frauen erscheint sie unweigerlich als Rivalin. Maria ist ohne Vater in Paris aufgewachsen; erzogen wurde sie von einer allzu strengen Mutter, die sich jede Freude und jeden Genuss verbat. Nur Marias Schulfreundin, die schüchterne Beatrice, schien der wortkargen Mutter zu gefallen. Als in New York eine Affäre grausam endet, kehrt Maria nach Paris zurück. Sie hat sich vorgenommen eine »gute« Frau zu werden, ohne jede Affäre. In Paris beginnt sie für eine Kanzlei zu arbeiten und recherchiert Mordfälle, an denen Frauen beteiligt waren. Morden Frauen anders? Sie trifft auch ihre Schulfreundin Beatrice wieder, die Kinder hat und eine scheinbar brave Hausfrau geworden ist. Und dann begegnet Maria dem Mann, bei dem sie all ihre guten Vorsätze vergisst. Zum ersten Mal lernt Maria die wahren Abgründe der Liebe kennen …

Ein besonderes Buch über die Liebe und die Macht der Frauen.

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Lisa Appignanesi

Die andere Frau

Roman

Aus dem Englischen
von Wolfgang Thon

Inhaltsübersicht

Über Lisa Appignanesi

Informationen zum Buch

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Teil eins

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Teil zwei

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Teil drei

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Teil vier

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Teil fünf

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Impressum

Für meine Mutter Hana
und meine Tochter Katrina

»Das wahre Leben eines Menschen ist häufig das, das er nicht führt.«

Oscar Wilde

Für ihre Hilfe bei den Schlichen des Gesetzes und den Tücken Frankreichs bedanke ich mich ganz herzlich bei John Forrester, Helena Kennedy QC, Hervé Landry, Elisa und Jean Françoise Rebérioux und Roger Salloch. Überflüssig zu betonen, dass sie keinerlei Verantwortung für die Früchte tragen, die ihre Ratschläge trugen.

Teil eins

Ich hätte dieser Geschichte gern ein Happy End gegönnt. Sie wissen schon, was ich meine: Die aufgehende Morgensonne, das Paar wandert untergehakt in die Ferne, in eine vielversprechende Zukunft hinein, und die Vergangenheit ist ausgelöscht. So ist es aber nicht. Obwohl ich manchmal glaube, dass die Zukunft, in der ich jetzt lebe, genau diesem Glück entspricht. Letztlich ist es eine Frage der Perspektive. Und genau die versuche ich zu finden.

Als mir auffiel, dass die Leute alles für bare Münze nahmen, was ich sagte, wusste ich, dass ich New York verlassen musste. Die zweiten sechzig Sekunden meiner »berühmten fünfzehn Minuten« waren angebrochen. Ich hätte den ausgefallensten Unsinn von mir geben können, wie z. B.: »Heute habe ich ein Pfund Bananen gekauft«, und der Satz wäre sofort auf seine tiefere Bedeutung hin abgeklopft und als ein Schritt auf dem Weg zu einem besseren Leben angesehen worden. Dann ist noch etwas passiert, was meine Abreise dringend notwendig machte.

Als Person öffentlichen Interesses bin ich gänzlich ungeeignet. Es war purer Zufall, dass ich ins Rampenlicht gestolpert bin, denn ich gehöre nicht dorthin. Deshalb bin ich davor weggelaufen. Schnell und weit weg. Bis zu dem Ort, den man als mein Zuhause betrachten könnte.

Und dort fängt diese Geschichte an.

1. Kapitel

Paris ist ganz und gar Himmel, ein kaltes, strahlendes Blau, das die Steine weißt und in den Augen sticht. Nur die reglosen Nymphen am Brunnen der Concorde scheinen immun dagegen zu sein. Sie sitzen hier schon länger als ein Jahrhundert und beobachten das Wetter, den Verkehr, die vorüberziehenden Wolken. Ich dagegen brauche dringend meine Sonnenbrille. Aus mehr Gründen, als mir lieb ist.

Im vornehmen Dämmerlicht des Hotel Intercontinental setze ich sie wieder ab. Der Mann hinter der Rezeption hat eine tadellose Frisur und das passende Lächeln. Er spricht mich höflich an.

»Bonjour, Madame. Vous avez réservé, Madame?«

Ich nicke, nenne meinen Namen, das heißt, den Namen, der mir am Flughafen eingefallen ist, als ich von dort das Zimmer gebucht habe. »Maria d’Este.« Der Name meiner Mutter. Warum habe ich ausgerechnet ihn ausgesucht?

Ich kritzle die Buchstaben mit einem ungeübten Schnörkel ins Empfangsbuch des Hotels. Meine perfekten, karminroten Fingernägel heben sich deutlich gegen das Weiß des Papiers ab. Die Oberfläche wirkt merkwürdig elastisch.

Dann lächle ich höflich, während der Mann meinen Personalausweis überfliegt, die Diskrepanz zwischen Maria Regnier und dem Namen in seinem Empfangsbuch bemerkt und sich dann mit sichtlicher Erleichterung auf das Foto stürzt. Ich sehe fast die Phantasien, die sich hinter seiner Stirn abspielen, lüsterne Körper auf zerwühlten Laken, der aufgebrachte Ehemann oder die tobende Ehefrau an der Tür, der Scheidungsdetektiv, der das Empfangsbuch durchblättert. Und tatsächlich, ich schnappe den verstohlenen Blick auf, mit dem er den verräterischen Ehering sucht. Ich kannte nicht umsonst so viele Männer.

»Vous restez combien de nuits?« fragt er mich.

Diese Frage überrumpelt mich. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich bleiben will. Zwei, drei Nächte, vielleicht sechs oder sieben … Ich deute gebieterisch auf meine drei prallgefüllten Koffer. Die Relikte meines Lebens, in abgeschabtes Leder gestopft. »Lassen Sie die auf mein Zimmer bringen«, ordne ich an. »J’ai un rendez-vous.« Mich erwartet zwar niemand, aber ich muss hier weg, hinaus in das gleißende Blau der Straßen, und sei es nur, um zu lernen, ebenso unberührbar zu werden wie diese steinernen Nymphen.

Während ich mich auf dem Absatz herumdrehe, schenke ich ihm wieder dieses höfliche Lächeln. Meine Mutter hat es mich gelehrt, daran erinnere ich mich wieder … Dieses kurze Kräuseln der Lippen, das »Bonjour, Monsieur« und »Merci, Madame«, dieses knappe Nicken, eine kleine Neigung des Kopfes, die Andeutung einer Verbeugung, endlos wiederholt beim Metzger und beim Bäcker, in allen Geschäften und an öffentlichen Plätzen, ganz gleich, ob groß oder klein. Während meiner Kindheit hat sie mir wenigstens einmal am Tag einen Vortrag über den Wert sozialer Korrektheit gehalten.

2. Kapitel

Es ist die Stadt meiner Mutter. Mit achtzehn habe ich sie verlassen und seit vierzehn Jahren keinen Fuß mehr hinein gesetzt. Ich wollte niemals zurückkehren. Keine Erinnerungen verfolgen oder locken mich. Trotzdem bin ich jetzt hier.

Ich schlendere durch die Arkaden der Tuilerien und betrachte müßig die Auslagen der Geschäfte. Nutzloser Tand und billige Souvenirs liegen einträchtig neben teurerer Konfektionsware für den vermögenderen Touristen. An einer Säule kauert eine Frau. Um den Kopf hat sie sich einen geblümten Schal gewickelt. Die Augen hält sie geschlossen. Ob aus Müdigkeit oder Verzweiflung, weiß ich nicht. Zwischen den Falten ihres schäbigen braunen Rockes kniet ein kleines Kind. Es hat die Hände gefaltet und den Blick in den Himmel gerichtet. Es sieht aus wie das Gebet eines mittelalterlichen Bittstellers. Ich bleibe stehen.

Ich bin kein guter Mensch. Meinen Blick wende ich eher vom Elend ab, als mich damit auseinanderzusetzen. Mir wäre es lieber, alle Bettler würden in irgendein Heim geschafft, wo sie weit von mir entfernt sind, statt dass ich in den Straßen unserer westlichen Städte über sie stolpere. Aber irgend etwas in der Haltung des Kindes bringt mich dazu, in meine Tasche zu greifen und, in Ermangelung französischen Geldes, einen Zwanzig-Dollar-Schein in ihren Zinnapf zu legen.

Das Kind zuckt nicht einmal mit der Wimper. Seine Augen blicken wie erstarrt gen Himmel. Ich muss den Drang unterdrücken, es zu schütteln, seine Mutter zu wecken und sie zu beschimpfen, weil sie hier herumliegt, statt etwas aus ihrem Leben zu machen. Und aus dem ihres Kindes. Am liebsten würde ich es ihr wegnehmen, es baden und in die Schule schicken.

Rasch gehe ich weiter und biege in eine Seitenstraße ein. Ich zittere am ganzen Körper, als wäre ich in einer dunklen Seitenstraße in New York angefallen worden. Doch diese Furcht hier schmeckt anders. Sie ist subtiler, eher wie eine Vorahnung. Vielleicht habe ich meine Börse nur geöffnet, um diese abergläubische Angst zu besänftigen.

Nein, ich bin kein guter Mensch. Ich bin nicht einmal eine gute Frau. Das weiß ich, weil ich schon früh gelernt habe, was gut ist, selbst wenn ich schon lange nicht mehr darüber nachgedacht habe. Meine Mutter war meine Lehrerin und muss in ihrem Beruf sicher genausogut gewesen sein wie zu Hause. Sie war keine Heuchlerin, die Glaubenssätze herunterleierte. Was sie weitergab, lebte sie auch. Mir wurde beigebracht zu teilen, weil auch sie teilte. Es gab immer eine Schüssel Suppe, ein Stück Torte für die alte Frau gegenüber oder eine Besorgung, die erledigt werden musste. Unser freies Zimmer muss auf der Liste irgendeiner Flüchtlingsorganisation gestanden haben. Denn aus allen Ecken und Enden der Welt tauchten sporadisch Fremde auf, aus Argentinien, Chile, Afrika oder Vietnam. Sie blieben eine Woche, einen Monat oder auch zwei. Mit glasigen Augen verfolgten sie die Bemühungen meiner Mutter, ihnen die Grundlagen des Lebens in Paris zu vermitteln oder irgendwelche unverständlichen Formulare für sie auszufüllen.

Sobald ich lesen konnte, hockte ich mit ihr über unseren Etat, der, im nachhinein betrachtet, alles andere als üppig gewesen sein konnte. Daher kannte ich die Summe, die für alle möglichen Wohltätigkeitsorganisationen abgezweigt wurde. Als ich Taschengeld bekam, wurde ich aufgefordert, darüber nachzudenken, wieviel ich davon weggeben wollte. Ich wurde gefragt, vielleicht daran erinnert, aber es wurde mir niemals befohlen.

Ich hasste dieses Schenken. In meiner Phantasie lockte mich jedesmal ein buntes Spielzeug, wenn ich mir die Centimes abrang. Das freie Zimmer war größer als mein Kinderzimmer und nahm in meinem Kopf allmählich palastähnliche Ausmaße an. Ich sehnte mich fast noch mehr nach diesem Raum als nach den gerüschten Partykleidern, die in den Auslagen prangten, oder den glänzenden neuen Fahrrädern, auf denen die anderen Kinder im Jardin de Luxembourg spazierenfuhren. Meine Sachen waren alle aus zweiter Hand.

Ich bin an der Place du Palais-Royal angekommen. Fast hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Diesen Teil von Paris haben wir nur selten aufgesucht. Vielleicht habe ich genau deshalb ein Hotel in diesem Viertel gebucht. Auf den Plakaten der Comédie-Française wird für Molières L’Avare geworben. Ich bin nicht geizig. Ich bin gierig. Und als wollte ich mir beweisen, wie verschwenderisch ich jetzt bin, wie anders als das kleine Mädchen von früher, setze ich mich in eines dieser Cafés mit den burgunderfarbenen Markisen, esse Croissants und trinke Café au lait. Meine Mutter hielt nichts davon, in Cafés herumzusitzen.

Der Mantel der Erinnerung senkt sich wie von selbst auf meine Schultern. Er wiegt schwer. Ich starre die Passanten an und versuche, ihn abzuschütteln. Ich bin nicht hier, weil ich mich erinnern will, sondern um zu vergessen.

Als mir klar wurde, dass ich New York verlassen musste, war mein erstes Ziel London. Während ich meine Anteile an der Agentur verkaufte und meine Partner über die Klienten aufklärte, die sie übernehmen sollten, kreisten meine Gedanken nur um London. Schließlich begriff ich, dass ich dort zu viele Menschen kannte, und außerdem versprachen noch mehr, mich dort zu besuchen.

Steve brachte es schließlich auf den Punkt.

»Ich glaube, du willst wirklich abtauchen«, sagte er.

Zum ersten Mal in all den Jahren unserer Zusammenarbeit erwischte ich ihn dabei, dass ich ihm leid tat. Diese Emotion gestattete er sich nur selten, und ich suchte sie nie. Es war uns beiden höchst unangenehm, als wir das Gefühl erkannten.

Hastig sprach er weiter. »Chuck und ich haben uns letztes Jahr eine kleine Wohnung in Paris gekauft. Du könntest dort eine Weile bleiben. Ich gebe die Adresse nicht weiter.«

Paris. Ich kenne hier niemanden, obwohl es meine Geburtsstadt ist. Selbst meine Lippen kräuseln sich merkwürdig bei den fremden Worten, als ich den Kellner um einen weiteren Kaffee bitte. Aber das höfliche Lächeln funktioniert sofort, als hätten sie den Mechanismus verinnerlicht.

Als ich den Mantel überstreife und Geld auf den kleinen, runden Tisch lege, sehe ich mich mit dem sehnsüchtigen Blick des Kellners. Habe ich schon erzählt, dass ich groß und schlank bin, langes, kupferfarbenes Haar und graue Augen habe? Mein erster Chef in New York nannte mich gern »Rita«. Es dauerte einige Wochen, bis mir klar wurde, dass er auf Rita Hayworth anspielte. Ich verrate es lieber jetzt schon, denn mein angeblich hinreißendes Äußeres spielt eine nicht ganz unbedeutende Rolle in dieser Geschichte.

Ich flaniere durch die Galerien des Palais-Royal, dem früheren Palast des raffinierten Richelieu. Dann fällt mir ein, dass in einem dieser Geschäfte Charlotte Corday, ihres Zeichens Revolutionärin, das Messer erstand, mit dem sie Marat erdolchte; Marat, Held für einige und Henker für die anderen.

Mord hat zu viele Gesichter.

3. Kapitel

Ab meinem sechsten oder siebten Lebensjahr schickte meine Mutter mich im Sommer nach England. An der École Maternelle, der kleinen Schwesternschule, an der ich meine ersten Jahre verbrachte, gab es eine Lehrerin, die eine Schwester in Kent hatte. Diese Schwester hatte einen Jungen, der nur wenig älter war als ich, und war bereit, mich den Sommer über aufzunehmen.

Madame Pichon, die Lehrerin, brachte mich in diesem ersten Sommer selbst hinüber. Auf der Kanalfähre saß ich neben ihr an Deck und starrte auf die Küste Frankreichs, die sich allmählich entfernte, und auf die Gestalt meiner Mutter, die immer winziger wurde. Sie hatte uns bis nach Calais begleitet. Ich war unruhig, aber gleichzeitig auch merkwürdig aufgeregt. Noch nie war ich auf einem Schiff gewesen, noch nie hatten Wellen unter mir gegen Planken geschlagen. In einem Auto war ich auch nicht oft gefahren. Stephanie, die Formalitäten wie Familiennamen mit einer Handbewegung abtat, holte uns mit einem Wagen in Dover ab. Dieser viereckige Morris Minor mit seiner polierten Holzverkleidung und dem riesigen Haarknäuel von Hund im Heck schien direkt einer dieser englischen Abenteuergeschichten entsprungen zu sein, die meine Mutter mir als Vorbereitung für diese Reise vorgelesen hatte. Ich lehnte mich an den Hund, der groteskerweise Small hieß, und während wir auf den kleinen Hof zurumpelten, wurden meine Sorgen und Nöte von seinem weichen Fell, den großen, braunen Augen und der feuchten Schnauze vertrieben, die er auf meinen Schoß legte. Small ist mir weit deutlicher in Erinnerung als sein Frauchen.

Hätte meine Mutter in diesem ersten Jahr den Hof gesehen, hätte sie unwillkürlich ihre aristokratische Nase gerümpft. Meine Mutter mochte keinen Schmutz. Und davon gab es auf Millhill Farm reichlich. Außerdem auch Schlamm, Hunde- und Katzenhaare sowie Staub und Fliegen und eine wunderbar baufällige Unordnung, die von der Fülle der Blumen verstärkt wurde, die in jedem verfügbaren Topf und jeder Schüssel wucherten. In diesem ersten Sommer lernte ich all ihre Namen. Rittersporn und Stockrosen, Klematis, Schmetterlingsträucher, Iris, Lilien, Gartenwicken, Prunkwinden, Dahlien und Geranien wetteiferten mit Rosen aller Art.

Ich war hier, um zu lernen. Meine Mutter war Englischlehrerin, und die Beherrschung der englischen Sprache war eine der Kardinaltugenden. Außerdem war es die einzige, in der ich jemals zu glänzen vermochte.

Stephanie warf einen kurzen Blick in meinen penibel gepackten Koffer, zerrte Unterwäsche nebst Socken sowie den einzigen Pullover heraus und klappte den Koffer wieder zu. Dann ließ sie mich einen Moment in dem winzigen Giebelzimmerchen allein. Als sie zurückkehrte, schwenkte sie zwei verwaschene Latzhosen.

»Hier.« Sie wedelte in dieser lässigen, schlaffen Art mit ihrer Hand in meine Richtung, die mir bald so vertraut sein würde. »Die müssten dir passen.«

Nachdem wir die Hosenbeine zweimal umgeschlagen hatten, taten sie das auch. Diesen Sommer habe ich in diesen Latzhosen gelebt. Es waren Robinsons Latzhosen. Und mit ihnen gewappnet lernte ich Robinson kennen.

Er war nur eine Spur größer als ich, ein schlanker Junge mit einer Mähne, die genauso aschblond war wie das Haar seiner Mutter. Ich glaube, irgendwann während des ersten Nachmittagstees in der Küche verkündete Stephanie: »Robinson mag normalerweise keine Mädchen.«

Ich hatte längst aufgegeben, dem englischen Wortschwall zu folgen, der so anders klang als die Rede meiner Mutter, und streichelte hingebungsvoll Small. Er hatte sich mir zu Füßen gelegt. Aber das verstand ich. Als ich Robinson anblickte, war sein Gesicht puterrot.

»Aber er hat versprochen, in deinem Fall eine Ausnahme zu machen«, fuhr Stephanie fort. »Da Small dich anscheinend mag, dürfte es ihm leichter fallen.«

Robinson schob nachdrücklich den Stuhl zurück und murmelte etwas Unverständliches, bevor er mir ein eindeutiges ›Komm mit‹ zuwinkte. Mir war nie erlaubt worden, vor den Erwachsenen vom Tisch aufzustehen oder es ohne ausdrückliche Aufforderung zu tun. Also blickte ich zögernd Stephanie an, die anscheinend nichts daran fand. Sie lächelte nur.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal während der ersten beiden Wochen auf Millhill Farm zu Robinson sagte, ich wäre lieber ein Hund als ein Mädchen. Doch bald spielte das keine Rolle mehr. Robinson und ich waren Freunde geworden, ohne es zu merken. Es lag an den Feldern, durch die wir rannten oder in denen wir herumkrochen, während wir uns als unerschrockene Entdecker in einem feindlichen Land fühlten. Und an dem kleinen Wald, in dem wir von Baum zu Baum hüpften, in ihnen herumkletterten und von ihnen herunterfielen, während wir endlos Verstecken spielten. In dem Fluss, der sich hinter der Farm entlangschlängelte, lernte ich herumzupaddeln und mit einem alten Stock zu fischen. Manchmal ließen wir Blätterboote schwimmen, Piratenschiffe, welche die königliche Flotte angriffen. Wir rannten flussabwärts, um zu sehen, wessen Boot als erstes ans Ufer stieß. Regnete es, kletterten wir in der Scheune herum, sprangen ins stachlige Heu und heckten komplizierte Fallen für den anderen aus. Oder wir lagen einfach da, die Augen fest geschlossen, Small zwischen uns, und versuchten, das Muhen einer besonderen Kuh zu erkennen.

Natürlich fehlte auch das Pferd nicht. Es war eine braune Mähre mit einem gewaltigen Hintern, die faul und unwillig um ein Feld trottete, während wir auf ihrem Rücken hockten. Sie muss Robinson den Namen eingegeben haben, den er mir anhängte: »Mähri.« Das war ich. Und »Mähri« sollte ich auch die folgenden Sommer bleiben.

Manchmal radelten zwei Freunde von Robinson vom Nachbarhof herüber. Die beiden Jungs waren ein bisschen älter als er. Wenn sie kamen, ließ Robinson mich augenblicklich links liegen und tat, als existierte ich nicht. Ich weiß nicht, ob ich mir damals den schelmischen Ausdruck auf seinem Gesicht nur eingebildet habe. Jedenfalls blieb ich mir selbst überlassen, flocht Ketten aus Gänseblümchen oder ersann komplizierte Strukturen aus Zweigen und Steinen im Wald. Ich baute Fallen und schmiedete teuflische Pläne, die darin gipfelten, dass die Jungs hilflos in einer tiefen Schlangengrube hockten oder zu ertrinken drohten und ich sie retten könnte, wenn ich nur wollte. Die beiden anderen Jungen habe ich immer verrotten oder ersaufen lassen, langsam und qualvoll. Und erst im allerletzten Moment habe ich einen ewig dankbaren Robinson gerettet.

Waren die Jungen dann wieder weg, kehrte Robinson zu mir zurück. Ich tat so, als bemerke ich ihn nicht, und spielte weiter. Er trat von einem Fuß auf den anderen oder knurrte und machte sich immer deutlicher bemerkbar. Dann sagte ich, dass ich vollkommen glücklich allein sei und mit niemandem spielen wolle. Daraufhin ging er weg und kam mit immer verlockenderen Vorschlägen zurück. Er bettelte förmlich, bis ich schließlich herablassend nachgab und wieder mit ihm spielte. Am Ende des Sommers durfte ich schließlich bei den Jungs mitmachen. Aber manchmal schloss Robinson mich absichtlich aus. Heute glaube ich, dass er es nur tat, damit wir unsere ritualisierten kleinen Machtspielchen fortsetzen konnten.

Ein Leben so frei von Erwachsenen kannte ich nicht. Wir sahen Stephanie zu den Mahlzeiten, fütterten die Hühner mit ihr oder pflückten Beeren. Einmal in der Woche stiegen wir alle in den Morris Minor und fuhren mit ihr zu einem Einkaufsbummel in die Stadt. Manchmal halfen wir auch Chris und den anderen Männern bei irgendwelchen merkwürdigen Arbeiten. Abgesehen davon lebten wir in unserer eigenen Welt.

4. Kapitel

Chris war Robinsons Vater. Er war ein stämmiger Mann mit einem groben Gesicht, großen Händen und Schmutzrändern unter den Fingernägeln. Er redete nicht viel. Beim Abendessen fragte er uns, was wir den Tag über gemacht hatten, und beim Frühstück erkundigte er sich nach unseren Plänen. Am besten erinnere ich noch seine Hände. Manchmal zerzauste er mir zur Begrüßung das Haar oder hob mich auf Mähre, als wöge ich nicht mehr als ein Gänseblümchenkranz. Und an seinen Geruch erinnere ich mich. Er roch nach Heu und Wind, süß und salzig gleichzeitig.

Chris war der erste Vater, den ich erlebte. Zu Hause in Paris gab es keinen Vater. Sicher, ich hatte natürlich auch mal einen, das hatte meine Mutter mir erzählt, aber ich erinnerte mich überhaupt nicht an ihn, weshalb ich wohl seine Abwesenheit nicht als Verlust empfand. Erst nach dem Sommer in England wurde ich mir dieses Mangels bewusst.

Meine Mutter holte mich in ihrer üblichen weißen Bluse und dem ordentlichen blauen Rock von der Farm ab. Obwohl mir ihre kritischen Blicke peinlich bewusst waren, schien sie von Stephanie und Chris wirklich angetan zu sein. Die erste Trennung verlief sehr tränenreich. Robinson schenkte mir sogar vier seiner besten Murmeln, darunter eine große, glänzend blaue und ein Katzenauge, das schillerte, wenn es rollte. Man verabredete, dass ich nächsten Sommer zurückkommen würde, diesmal allerdings mit eigenen Latzhosen.

Am Vorabend meines ersten Schultages stellte ich meine Mutter zur Rede. Wir saßen in meinem Zimmer mit dem schmalen Bett, dem kleinen Tisch und dem Bild von George Sands Geburtsort Nohant. Meine Mutter legte meine Schulkleidung zurecht und packte meine Bücher in meinen Lederranzen, als ich sie fragte.

»Was ist mit meinem Vater passiert?«

Sie sah mich einen Moment ruhig an. In ihrem Gesicht regte sich nichts außer einem beinahe unmerklichen Zucken der Mundwinkel. Dann schob sie mich in die Küche, setzte Milch auf, fragte mich, ob ich Honig dazu haben wollte, und goss den Trank in eine der großen Frühstücksschüsseln. Sie setzte sich hin und blickte mir erst dann in die Augen.

»Dein Vater hat uns verlassen«, antwortete sie. Sie lächelte, aber es wirkte irgendwie nicht richtig, und an der Art, wie sie nervös die Dinge auf dem Tisch hin und her schob, merkte ich, dass das noch nicht die ganze Geschichte war.

»Du meinst, er ist gestorben.« Sie glaubte wohl, ich wüsste nichts vom Tod. Erwachsene machen immer so ein geheimnisvolles Gewese darum. Vielleicht hatte sie ja Angst, es mir zu sagen. Aber in England hatte ich viele tote Mäuse in den Feldern gesehen und beobachtet, wie Small mit ihnen spielte und sie mit der Pfote hin und her schob.

»Nein, er ist nicht tot.« Sie hielt inne. »Er hat uns nur verlassen, als du etwa zwei Jahre alt warst.«

»Du meinst, er war ein schlechter Mensch«, sagte ich. Unvorstellbar, dass Chris Robinson und Stephanie verließ!

»Nein, ein schlechter Mensch war er nicht. Er war ein guter Mensch.« Sie verschränkte ihre Hände fest vor sich. Sie wollte offensichtlich nicht weiterreden, aber sie würde es tun. Meine Mutter war immer fair.

»Warum hat er uns verlassen?« fragte ich hartnäckig weiter. »Hat er uns gehasst?«

»Nein. Er hat uns geliebt, sehr sogar. Dich ganz besonders.« Sie lächelte, aber diesmal misslang es ihr noch gründlicher.

»Warum ist er dann gegangen?«

»Er hatte das Gefühl, er müsste es tun. Und er hatte recht.«

Ich mochte kaum glauben, dass sie den letzten Satz wirklich ernst meinte. »Wolltest du denn, dass er geht?«

»Ja.« Ihre Stimme bebte ein wenig, deswegen wiederholte sie das Wort entschlossener.

»Wohin ist er gegangen?«

»In den Fernen Osten.«

Das war so vage, dass ich mir nicht vorstellen konnte, was sie meinte, aber meine nächste Frage war mir so wichtig, dass ich einfach weitermachte.

»Kommt er zurück und besucht uns?«

Da strich sie mir über das Haar. Es war eine seltene Geste, die sie für die Gelegenheiten reserviert hatte, wenn ich krank war. Ich wusste, was sie sagen würde, bevor sie die Worte aussprach. »Ich glaube nicht. Es ist sehr weit weg.« Anscheinend sah ich aus, als müsste ich gleich losheulen, denn sie sprach hastig weiter. »Ich versuche es dir besser zu erklären, wenn du älter bist.«

Ich weiß nicht, warum ich diese erste Szene deutlicher erinnere als die anderen, aber es ist so. Ich muss meiner Mutter zugestehen, dass sie Wort hielt, und es mir in den folgenden Jahren immer wieder erklärte, wenn ich fragte. Allmählich bekam ich heraus, dass mein Vater Arzt war und im Krieg im Widerstand gekämpft hatte. Danach wollte er auch weiterhin gute, nützliche Dinge tun. Bekannte fragten ihn, ob er nach Vietnam gehen wollte, wo er aufgewachsen war, um dort im Hôpital Gall, dem französischen Krankenhaus, zu arbeiten. Meine Mutter wollte nicht mitgehen, weil es zu gefährlich für mich war. Außerdem fand ihr Leben hier in Paris statt. Da er nicht bleiben konnte, trennten sie sich. Immer wieder sagte sie, dass er das Recht dazu gehabt hatte, und jedesmal presste sie bei diesen Worten ihre Lippen fest zusammen.

Sie fing an, mir Geschichten über ihn zu erzählen, kleine Geschichten, zum Beispiel, wie gern er segelte, und dass er einmal ein Boot gehabt hatte, wie sehr er Kohl verabscheute und wie gut er Windeln wechseln konnte. Aber auch Bedeutsameres: Zum Beispiel, dass er für seine Arbeit ausgezeichnet worden war und dass er sich auf Verbrennungen und Hauttransplantationen spezialisiert hatte.

Nur: Je mehr Gutes sie mir über ihn erzählte, desto weniger glaubte ich ihr und desto mehr verabscheute ich ihn. Ich fand, er hatte etwas Unverzeihliches getan, und ihre Geschichten sollten das nur verschleiern, damit wir ihm verzeihen konnten. Vermutlich konnte sie ihm in ihrem Innersten ebenfalls nicht vergeben und verabscheute ihn mit einer beinahe unkontrollierbaren Leidenschaft. Warum sonst passten ihre Lippen und ihre Augen so wenig zusammen, wenn sie über ihn redete?

Als ich älter wurde und anfing, ihn zu kritisieren, verteidigte meine Mutter ihn unnachgiebig. Was ich auch sagte, sie stand immer auf seiner Seite. Fast wie ein brillanter Anwalt, der fürstlich dafür bezahlt wird, seinen Klienten weiß zu waschen. Insgeheim bewunderte ich sie für ihre Unnachgiebigkeit, aber ich suchte etwas anderes. Wahrscheinlich die Wahrheit.

Nachdem ich das Wort »Scheidung« gelernt hatte, fragte ich sie eines Abends beiläufig, ob sie geschieden war und vielleicht wieder heiraten wollte. Wir machten gerade den Abwasch, sie trocknete ab, und ich spülte. Ich sehe noch, wie ihr ein Glas aus der Hand glitt. Als ich wagte, ihr ins Gesicht zu blicken, wirkte es wie eingefroren. Erst als sie die Scherben zusammenkehrte, antwortete sie mir. Ihre Stimme klang ruhig, wenn auch vielleicht etwas gepresst. Sie erwiderte, sie wäre schon zu alt, um wieder zu heiraten.

Rückblickend denke ich, dass sie wohl immer auf die Rückkehr meines Vaters gehofft hat. Sie war schon nicht mehr ganz jung, als sie ihn kennenlernte, und die knapp sechs Jahre, die sie zusammenlebten, prägten sie offenbar für ihr ganzes Leben. Als ich mit der Fragerei begann, muss sie Ende Dreißig gewesen sein. Sie war eine schlanke, hübsche Frau mit dichtem Haar, das sie zu einem Zopf zusammenrollte. Manchmal durfte ich es bürsten, dann wunderte ich mich über die weiße Strähne, die an ihrer Stirn begann und sich auffällig durch das glatte, schwarze Haar wand.

Sie hat mir niemals von Briefen erzählt, die sie vielleicht in all den Jahren von meinem Vater erhalten hatte. Aber sie las alle Nachrichten über Vietnam, vielleicht in der Hoffnung, auf seinen Namen zu stoßen. Während des langen Krieges gehörte sie zahllosen Komitees an, die sich für Frieden in Vietnam einsetzten …

Sie blieb eine Frau, die nur einem Mann gehörte. Ganz anders als ihre Tochter. Ob aus Liebe oder aus Hass weiß ich bis heute nicht.

5. Kapitel

Von meinem Hotel Intercontinental aus erkunde ich die Stadt. Außer mit Kellnern und dem Hotelpersonal am Empfang spreche ich mit niemandem. Jeden Tag unternehme ich einen Ausflug in ein anderes Arrondissement. Ist mein Ziel zu weit entfernt, benutze ich auch die Metro. Ich tauche aus ihrem Kokon auf und wandere ziellos durch die Straßen, ohne mich in Museen oder Gallerien zu flüchten. Ich habe keine Pläne, bis auf den, alle Viertel abzugehen. Ich betrachte die Fassaden, verliere mich auf Märkten oder sitze in Cafés und verfolge das endlose Spektakel auf den Straßen.

Am ersten Tag bin ich auf den Eiffelturm gestiegen und habe Stunden damit verbracht, herauszufinden, wo der eine Bezirk anfängt und der nächste beginnt. Dann habe ich mich durch das linke Ufer gearbeitet und mit einem Paris begonnen, von dessen Existenz ich bis jetzt nicht einmal etwas wusste. Vorbei am Quai de Grenelle zu einer neuen Stadt, die aussieht wie ein geschmackvolleres Chicago mit ihren modernen Gebäuden aus Glas und Stahl, einem kleinen Park mit Brunnen und versteckten Gärten, von denen jeder unter einem bestimmten Thema angelegt wurde. Am Samstag bin ich ins siebte Arrondissement gegangen, über die eleganten Straßen hinter der Nationalversammlung. Hier ist das Leben versteckt, spielt sich hinter makellosen Wänden ab. Man erhascht nur einen kurzen Eindruck, wenn die schweren Tore einen Blick auf die prächtigen Höfe gewähren oder wenn man zufällig auf den Boulevard St Germain stößt.

Für die vertrauteren Straßen des sechsten Arrondissements bin ich noch nicht bereit. Ich ändere die Richtung, wandere die Champs Elysées entlang und weiter nach Norden. Dort stoße ich auf die Blumenstände an der Place des Ternes und gelange schließlich in den Parc Monceau. Ich sitze auf einer Bank, beobachte die kahlen Bäume und lausche den Kindern, die nach ihren Kindermädchen rufen.

Erst allmählich und mit einer leichten Gänsehaut traue ich mich auf die Straßen, die ich besser kenne. Wie ein Raubvogel umkreise ich die Orte der Erinnerung, bevor ich es wage, mich hinunterzustürzen.

Am fünften Tag entscheide ich mich, im Speisesaal des Hotels zu frühstücken. Ich sitze kaum am Fenster zu dem überdachten Hinterhof, als eine Stimme meinen Namen ruft. Ihre unter einem Pelz begrabene Besitzerin steht eine Sekunde später vor mir.

»Maria Regnier, das ist ja unglaublich! Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?«

Bevor ich antworten kann, wuchtet Sarah Martin ihre füllige Gestalt auf den freien Stuhl an meinem Tisch und weist einem sichtlich verlegenen Jungen den anderen zu. »Wie phantastisch, Sie ausgerechnet hier zu treffen«, schwärmt Sarah. Bevor ich »Hallo« sagen kann, rattert sie schon ihre Bestellung herunter: Ein großes Frühstück mit Kaffee und dazu zwei Spiegeleier, Schinken, bitte sehr knusprig, für den Jungen, den sie gleichzeitig strahlend als ihren Sohn William vorstellt.

William schneidet eine Grimasse, während Sarah redet. Sie redet unaufhörlich. Sie spricht sogar, während sie isst. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass sie eine Gourmetjournalistin ist. Allerdings ist Sarah auch eine großartige Journalistin; ihre Kolumne im New York Magazin kann den Ruf eines Restaurants schneller festigen oder ruinieren, als ich in mein Zimmer komme. Was ich jetzt am liebsten tun würde. Natürlich geht das nicht. Also bleibe ich sitzen und höre zu, während Sarah mir ausführlich alles berichtet, was sie und William in den letzten Tagen getan und gegessen haben.

Ich habe Sarah kennengelernt, als meine Agentur die Werbung für ihr erstes Buch übernahm. Erwähnte ich schon, dass ich als PR-Agentin in den »Vereinigten Staaten der Werbung« arbeite? Nichols, Regnier & Peele Associates. Ja, die Firma trägt sogar meinen Namen, wenn auch erst an zweiter Stelle. Ich bin Partnerin, das heißt, ich war es, bis ich die Firma verlassen habe. Ich inszeniere Ereignisse oder Images für Leute oder für Firmen, die das brauchen, und verführe die Medien dazu, ausführlich darüber zu berichten.

Bei Sarah war das nicht schwierig. Sie hatte die Hälfte der Strecke selbst geschafft. Wir haben nur eine kleine Party für sie arrangiert, damit wir die Klatsch- und Tratschtanten einladen konnten, und drei ihrer Lieblingsküchenchefs gebeten, sich besondere Gerichte für sie auszudenken. Dem Wunsch kamen sie liebend gern nach. Eine schlankere und theatralisch frisierte Sarah erriet mit verbundenen Augen Zutaten und entsprechende Köche – unter donnerndem Applaus. Ereignis und Buch tauchten in zahlreichen Kolumnen auf, und die großartige kleine Plaudertasche Sarah in ebensovielen Talkshows. Ihr Werk verkaufte sich außergewöhnlich gut.

»Sie leisten uns doch heute abend Gesellschaft, Maria? Wir speisen in diesem kleinen Restaurant in der Nähe von Notre Dame. La Petite Table heißt es. Soll phantastisch sein. Wir fänden es doch toll, wenn Maria mitkäme, nicht wahr, William?«

William mustert mich ziemlich skeptisch, bevor er wieder auf seinen Teller starrt und so etwas wie eine Zustimmung murmelt.

Ich winde mich mit einer angeblichen Verabredung heraus, sehe auf die Uhr und springe auf, bevor Sarah weitere Nachforschungen anstellen kann.

»Ich muss gehen, Darling, tut mir leid.« Ich lüge, ohne rot zu werden.

»Dann vielleicht morgen abend?« Sarah kauft mir alles ab, und als ich verlegen zögere, strahlt sie. »Ah, verstehe, noch eine Verabredung.« Ihre Miene schwankt zwischen biestig und mitleidig. »Das tut Ihnen sicherlich gut«, sagt sie schließlich, und ich kann plötzlich ihre Gedanken lesen. Ich bin gut in meinem Job, einige halten mich sogar für die Beste, und ich könnte ihr vielleicht irgendwann von Nutzen sein. Immerhin kenne ich viele Leute. Sarah wirft mir einen tröstenden Blick zu.

Mit einem flüchtigen Winken verabschiede ich mich. Menschen, die mich bemitleiden, ertrage ich nicht.

Auf dem Zimmer stopfe ich die Kleidungsstücke in die Koffer und rufe die Nummer an, die Steve mir gegeben hat. Während ich darauf warte, dass jemand abhebt, bricht mir der kalte Schweiß aus. Als ich endlich die Stimme höre, kriege ich vor Erleichterung weiche Knie und muss mich aufs Bett setzen.

6. Kapitel

Die Wohnung liegt im fünften Stock eines Hauses an der Rue d’Oudinot, einer unauffälligen kleinen Straße im Siebten Arrondissement. Das Appartement selbst ist bemerkenswert. Ein langer, in einem blassen Ockerton gehaltener Raum macht den größten Teil der Wohnung aus. Die rechte Wand wird von fünf Schiebefenstern durchbrochen, von denen man einen Blick auf einen wunderschönen Garten hat. Rasen, ein Baum, den ich erst identifizieren kann, wenn seine kahlen Äste Blätter bekommen, und ein ovaler Brunnen. Gobelinbezogene Stühle bilden kleine Enklaven in dem Raum. Die zentrale Stelle markiert der Kamin. Über seinem Sims schweben rechts und links zwei plumpe Putten, die Kerzenständer halten. In einer Ecke des Raumes schließt sich eine kleine, wohl ausgestattete Küche an. Auf der anderen Seite mündet eine polierte Leiter in eine Galerie mit einem Schreibtisch und einem Diwan. Am anderen Ende der Wohnung liegt das Schlafzimmer mit einem zierlichen Himmelbett.

Ich bin verzaubert. Steve und Chuck haben eine Sammlung von Bildern und Figuren zusammengetragen, die überrascht und den Blick fesselt. Ein filigranes Gesims eines gotischen Bauwerks steht neben einer dorischen Halbsäule an einem der Fenster. Über dem Kaminsims hängt ein kleines, wunderbar gemaltes Ölbild, das nur die Waden und Füße einer Frau in Ledersandalen zeigt. Sie geht graziös, aber zielstrebig durch eine offensichtlich antike Landschaft.

Eigentlich möchte ich das Buchregal inspizieren, aber meine Blicke kehren immer wieder zu diesen leicht beschuhten Füßen zurück. Wohin gehen sie? Ich mache es mir auf einem der geschwungenen Stühle bequem und starre das Bild an, bis die Dämmerung mich aus meiner Träumerei schreckt. Ich habe keine Ahnung, wohin der Tag verschwunden ist, aber ich fühle mich merkwürdig ruhig. Ich wüsste keinen Grund, der mich zwingen könnte, dieses Zimmer jemals wieder zu verlassen.

Was ich drei Tage später allerdings doch tue. Ich bin kühn. Und ich weiß genau, wohin ich gehe. In das Viertel, das ich bisher gemieden habe.

Ich spaziere an der Seine entlang, vorbei an Notre Dame und über die Pont de la Tournelle auf die Ile St-Louis. Weder bleibe ich stehen, um mir das Wunder der Strebebögen anzusehen, noch stöbere ich in den kleinen Läden, die über die ganze Insel verteilt sind. Ich fürchte, dass ich meinen Mut verliere, wenn ich eine Pause mache. Rasch überquere ich den Pont Marie, gehe am Quai des Célestins vorbei und biege in die Rue St-Paul ein.

Als ich ankomme, hole ich tief Luft. Das ist das Terrain meiner Kindheit. Hier wurde ich geboren. Nach der Brücke, die ich vor ein paar Momenten überquert habe, wurde ich benannt. Meine Mutter überquerte sie täglich und liebte die Abgeklärtheit ihrer Steine, ihre unregelmäßigen Bögen, die Buketts aus gemeißelten Zitronen. Aber nicht die Jungfrau Maria ist meine Namensvetterin, sondern der Hauptbrückenbauer Henris Quatres, ein gewisser Christophe Marie. Maries Brücke brauchte lange, bis sie endlich vollendet war. Der Grundstein wurde erst gelegt, als Henri Quatre bereits seinem Mörder begegnet war und eine andere Marie, diesmal die überraschend geschäftstüchtige Marie de’ Medici, Witwe Henris, designierte Regentin und meine zweite Namensvetterin, begann, sich um die wuchernden Wohnblocks von Paris zu kümmern. Selbst dann dauerte es noch sechsundzwanzig geschichtsträchtige Jahre, sie fertigzustellen. Vielleicht sollte ich mich ja von meiner Brücke ermutigen lassen. Sie hat zwar nur langsam ihr Ziel erreicht, seitdem jedoch unerschütterlich die Jahrhunderte überdauert.

Ich biege um die Ecke in die schmale Rue de Lions-St.-Paul ein und bleibe vor Nummer elf stehen. Es ist das Haus meiner Mutter, in dem ich meine ersten achtzehn Jahre verbracht habe. Ich stoße die große, mit Nägeln beschlagene Tür auf und betrete den gepflasterten Innenhof. Das Klappern meiner Absätze ist in der Stille besonders gut zu hören und beschwört Erinnerungen herauf. Am anderen Ende des Hofs spielt ein kleines Mädchen lustlos Seilhüpfen. Das könnte ich sein. Hier habe ich ebenfalls gespielt. Ich stelle mir die Tochter von Madame de Sévigné vor, eine weitere Marie, wie meine Mutter mir stets erklärte, die hier ebenfalls Seilspringen spielte, allerdings mehr als drei Jahrhunderte früher. Die Tochter wurde hier geboren und errang durch die geschwätzigen Briefe ihrer Mutter Unsterblichkeit. Mit sechs verlor die kleine Marie ihren Vater, und Madame la mère wurde mit sechsundzwanzig zu einer sehr fröhlichen Witwe.

Ich blicke zu den oberen Fenstern hinauf und frage mich, wie die Wohnung jetzt wohl aussieht. Als wir dort wohnten, waren die alten Dachbalken im Wohnzimmer teilweise noch freigelegt. An einem war ein uralter Haken befestigt, und ich stellte mir immer vor, dass sich eine arme Seele daran erhängt hatte, statt sich von der Guillotine köpfen zu lassen. Von diesem etwas düsteren Wohnzimmer gingen drei Räume ab. Einer, das Schlafzimmer meiner Mutter, schmiegte sich in den niedrigen Dachboden, den man nur über eine wacklige steile Treppe erreichte.

Bei dem Gedanken an den Boden überlief es mich kalt. Ich erinnere mich an Olivier, aber ich möchte eigentlich nicht an ihn denken. Deswegen bin ich nicht hier. Doch plötzlich steht er vor mir, fast greifbar, mit seiner massigen Gestalt. Ich verlasse den Hinterhof und gehe unwillkürlich schneller. Trotz der Menschenmenge ist er immer noch bei mir, als ich die Rue St. Antoine erreiche. Und als ich mich in dem Eckcafé auf einen Stuhl fallen lasse, nimmt er neben mir Platz.

Als meine Mutter starb, war ich siebzehn. Ich war gerade in die Classe Terminale im Lyzeum gekommen, dieses anstrengende letzte Jahr, in dem ich mein Abitur machen würde. Überflüssig zu erwähnen, dass ich Sprachen studierte. Mein Englisch war so fließend, dass meine Lehrer glaubten, ich wäre gelangweilt, und mich mit zusätzlichen Arbeiten überhäuften. Spanisch war da schon etwas schwieriger. Aber meine Probleme hatten nichts mit der Schule zu tun. Der Tod meiner Mutter hatte mich in tiefste Verwirrung gestürzt. Ich wusste nicht, wie ich zur Bank gehen sollte, ganz zu schweigen davon, wie ich Strom oder Telefon bezahlen konnte. Meine Mutter besaß kaum Ersparnisse, und es konnte Monate dauern, bis ich aus ihrer Pension schlau werden würde. Noch wichtiger war, dass ich dem Gesetz nach keine Erwachsene war und keinen Vormund hatte. Also drohte mir der Status eines Staatsmündels, was bedeutete, der erbarmungslosen Gnade einer blinden Bürokratie ausgeliefert zu sein.

Olivier bewahrte mich davor. Er tauchte aus der großen Menge von Trauergästen bei der Beerdigung auf. Meine Mutter hatte zwar viele Kollegen, aber keinen Vertrauten, den ich hätte ausmachen können. Er legte mir sanft den Arm um die Schultern, bevor er mich umdrehte und mich zwang, ihm direkt in die Augen zu sehen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich kümmere mich um alles.«

Ich war nur zu gern bereit, ihm mein Vertrauen zu schenken.

Olivier Boucciault war Leiter der historischen Abteilung an dem Lyzeum, an dem meine Mutter unterrichtet hatte. Ich war ihm einige Male begegnet, aber er war kein häufiger Besucher bei uns. Das Leben meiner Mutter drehte sich um ihre Arbeit und ihre Komitees. Zu Hause waren wir, abgesehen von den Durchreisenden, die wir aufnahmen, und den üblichen Besuchen meiner Schulkameradinnen meistens allein. Eine feste kleine Zwei-Personen-Einheit. Am Wochenende gingen wir ins Kino, ins Theater oder ins Museum. Manchmal zusammen mit anderen Freunden. Sehr selten lud sie zum Abendessen ein. Bei einer solchen Gelegenheit habe ich wohl auch Olivier kennengelernt.

Ich hatte ihm niemals besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er war einfach nur eine dieser vagen Existenzen, die zu der Welt meiner Mutter gehörten. Damals muss er um die vierzig gewesen sein, noch gerade in der Blüte seiner Jahre, ein Mann mit einem breiten Kinn, blondem schütterem Haar und einem Gesicht, das man eher einem Boxer denn einem Lehrer zugetraut hätte.

Jedenfalls brachte Olivier mich von der Beerdigung nach Hause und setzte dabei seine Fragen fort. Was wollte ich? Lieber bei einer Familie wohnen oder hierbleiben, wenigstens bis das Jahr vorbei war? Hatte ich Angst davor, auf mich allein gestellt zu sein? Sollte jemand bei mir wohnen, ein Untermieter oder eine Haushälterin vielleicht? Konnte ich meine Schulausbildung weitermachen? Wußte ich, wie man einkauft? Wie man die Wäsche wäscht? Hatte ich Alpträume? Er war sehr sachlich, etwas grob und dabei merkwürdig tröstend.

Seit dem Tod meiner Mutter war ich nur in die Wohnung zurückgekommen, um meine Kleidung zu wechseln. Bis dahin hatte ich bei einer Freundin und ihrer Familie übernachtet, aber das war nur eine Übergangslösung. Am Ende dieses ersten Abends mit Olivier war mir klar, dass ich in der Wohnung meiner Mutter bleiben wollte. Hier kannte ich alle Nachbarn, und sie waren nett. Außerdem fühlte ich mich hier sicher. Es war schließlich mein einziges Heim. Aber war das auch möglich?

Olivier arrangierte es. Er verhandelte mit Behörden, Vermietern und den Bankiers. Er sprach mit der Putzfrau meiner Mutter und verabredete mit ihr, dass sie zweimal in der Woche kommen und auch Lebensmittel einkaufen sollte. Er organisierte eine Sammlung am Lyzeum meiner Mutter, damit ich etwas Geld zur Verfügung hatte, bis die Pension meiner Mutter und die restliche Hinterlassenschaft geklärt waren. Er besuchte mich zwei bis dreimal pro Woche, sprach mit mir über die Schule und das Leben und rief mich jeden Tag an.

Etwa zwei Monate nach dem Tod meiner Mutter kam Olivier mit einem großen Paket an, das in Geschenkpapier eingewickelt war.

»Mach es auf«, sagte er und ließ sich auf das Sofa fallen. Ich fühlte, wie er mich beobachtete, während ich vorsichtig das Paket auspackte, damit das glänzende Papier nicht zerriss.

Es kamen zwei Kleider zum Vorschein. Eine braun-weiß karierte Kombination aus leichter Wolle und eine andere in tiefem Flaschengrün.

»Ich dachte, dir würde vielleicht etwas Neues für Weihnachten gefallen.« Olivier lächelte. »Deine Garderobe ist offensichtlich nicht besonders reichhaltig.« Er hüstelte. »Probiere die Kleider an.«

Es stimmte, dass ich nicht viel anzuziehen hatte. Ich hatte zwei Jeans, ein paar Pullover und dann die Kleidung, die meine Mutter ausgesucht hatte. Irgendwelche ordentliche Röcke und weiße Blusen, die ich immer wieder waschen musste. Meine Mutter war immer sparsam und achtlos gewesen, was Kleidung anging. Ihrer Meinung nach diente sie dazu, den Körper zu verhüllen, nicht, ihn zur Schau zu stellen. Das karierte Kleid, das ich als erstes anzog, war das genaue Gegenteil, soviel sah ich sofort. Es hatte eine spitz zulaufende Form, ein eng anliegendes Oberteil mit winzigen Knöpfen in der Mitte, die bis zu meinem Hals hinaufreichten. Ich wagte kaum, in den kleinen Spiegel über meiner Kommode zu blicken. Außerdem konnte ich sowieso nur meinen Kopf und Schultern darin sehen. Und meine alltäglichen Stiefel kamen mir plötzlich unpassend vor, aber ich bin trotzdem in ihnen zu Olivier gegangen und habe mich ihm präsentiert.

Er betrachtete mich einen Moment kritisch, trat dann neben mich und zog mir den Reif aus dem Haar, den ich immer noch wie ein kleines Mädchen trug. Obwohl mein Haar länger geworden war, weil meine Mutter es jetzt nicht mehr auf Schulterlänge schnitt.

»So.« Er betrachtete mich erneut von der Seite, fuhr mir dann mit den Fingern durchs Haar und strich es auf die andere Seite.

Ich weiß nicht, ob ich mir damals darüber klargeworden bin, dass er mich in diesem Moment das erste Mal berührte, abgesehen einmal von dem Händedruck auf der Beerdigung. Aber er räusperte sich merkwürdig, und das folgende Schweigen war merkwürdig gespannt und währte zu lange. Um es zu überspielen, strich er über meine Wange. »Pas mal«, sagte er. »Nicht schlecht. Du bist richtig hübsch.«