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Werner J. Egli

aus Luzern, Schweiz, lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. Egli wurde für die Hans-Christian-Andersen-Medaille nominiert, der international höchsten Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.aravaipa.ch ist der Autor auch im Internet zu finden.

Werner J. Egli

SCHREI AUS
DER
STILLE

Roman

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eISBN 978-3-03864-228-2

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, sind ausdrücklich vorbehalten.

Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)

Umschlaggestaltung: Agentur flin

Bildnachweis: Shutterstock, Roxana Gonzalez

Realisation: Brigitta Vasella

Copyright © 2019 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Inhalt

1Der Herzschlag Amerikas

2Blut an den Schuhen

3Garbage Time

4Tote Fliegen im Netz

5Gewöhnliche Nigger

6Koehler's Laden

7Flackerndes Licht

8Im Halbdunkel

9Unabsichtliche Berührung

10Das Kind und seine Väter

11Kleine Teanna

12Das leise und das laute Sterben

13The Good, the Bad and the Ugly

14Fingerspitzengefühl

15Eine ganz normale Familie

16Die News und die Tatsachen

17Die Prophezeiung

18Kein Ausweg und kein Ende

1

Der Herzschlag Amerikas

Scotty schrak aus einem Traum, an den er sich später vergeblich zu erinnern versuchte. Hatte irgendetwas mit Hollywood zu tun und mit dem alten VHS-Videorekorder, den ihm sein Vater vor Jahren einmal geschenkt hatte und den dann seine Mutter später verhökerte, weil sie eine Lebensmittelrechnung bei Kandinski nicht mehr bezahlen konnte. Durch das Fenster fiel Neonlicht der Leuchtreklame, die bei Patterson's Deli auf der anderen Straßenseite über der Ladentür hing. Das Fensterkreuz warf einen großen Schatten gegen die Wand, an der ein Schwarzweißposter hing, mit dem Gesicht von Malcolm X drauf, und in roten großen Pinselstrich-Buchstaben der Name Malcolm X. Das Kreuz lag schräg über Malcolm X und der untere Balken zog sich in das Poster von Miss Piggy und über die Kommode mit den abgebrochenen Schubladengriffen und über einen Stuhl, auf dem Scottys Jeans und sein T-Shirt lagen, die er am Morgen anziehen wollte.

Neben der Tür lag Saul auf einer Matratze. Er schlief, hatte seine Decke über sich gezogen, sodass nicht einmal mehr sein Haarschopf herausragte.

Die Zimmertür war einen Spaltbreit offen und im Spalt stand Mona. Sie stand dort und starrte ihn aus ihren großen Augen an und das Haar ragte wild von ihrem Kopf ab und sie trug eines seiner alten T-Shirts, zerrissen wie es war, weil sie es über alles liebte. Er wusste nicht mehr, wann er es ihr gegeben hatte, vor einem halben Jahr oder so, und seither war sie nur ein kleines Stück gewachsen und so reichte es ihr immer noch bis zu den Fußknöcheln und die Ärmel bedeckten ihre Arme bis an die Finger, weil es ihr lose von den schmalen Schultern herunterhing. Sie sah aus wie ein Engel, der auf dem Flug hierher in einen Wirbelsturm geraten war.

Sie sagte nichts. Sie stand nur da und starrte ihn an und ihre Augen sagten ihm, was sie ihm nicht sagen konnte. Und dann hörte er die Geräusche, die aus einem anderen Zimmer kamen. Aus dem Schlafzimmer seiner Mutter. Er hörte die Geräusche, die er schon hundertmal gehört hatte, dieses Knarren des Bettes und das Gejammer und Gestöhne seiner Mutter und die Stimme eines Mannes, irgendeines Mannes, der nicht sein Vater war, und er konnte sich nicht mehr erinnern, wann ihn diese Geräusche das letzte Mal aufgeweckt hatten, irgendwann, als er so alt gewesen war wie jetzt seine Schwester Mona, nur hatte er damals zu niemandem gehen können.

„Komm her“, flüsterte er.

Sie kam zu ihm, er hob das Betttuch etwas an und machte ihr Platz und sie kroch zu ihm und er legte einen Arm um sie und streichelte ihr über das drahtige Haar und küsste sie.

„Ich war auf der Achterbahn“, flüsterte sie.

„Im Traum“, erwiderte er und das Rumpeln, das vom Schlafzimmer nebenan durch die Wand drang, erinnerte ihn tatsächlich an die Geräusche, die die alte Achterbahn unten am Seeufer machte.

Vier Jahre alt war Mona. Sie hatte einen anderen Vater als er, aber niemand wusste, wer ihr Vater war. Irgendeiner von denen, die in einer Nacht hergekommen waren und mit seiner Mutter geschlafen hatten. Einer von denen die wieder abhauten, wenn seine Mutter genug hatte und der Morgen graute. Einer von denen, die nicht gehen wollten, oder einer, der sich davonschlich wie ein Dieb und nie mehr zurückkehrte. Irgendeiner.

Der, der heute mit seiner Mutter schlief, hieß Roper. Er war seit Ewigkeiten da. Hockte Tag für Tag im Zimmer, wo der alte Fernseher stand, das Fenster mit einer schmutzigen Decke verdunkelt, und glotzte. Glotzte Baseball und aß Käse und Brot und Erdnüsschen und Hamburger und Pizza und glotzte noch mehr Baseball und rauchte und trank Bier und Cola und noch mehr Bier, manchmal nur mit einem Hemd bekleidet und seiner dreckigen Unterhose, der merkwürdig helle Speckbauch zwischen den Hemdknöpfen hervorquellend, mit seinem fettglänzenden fetten Gesicht und den geröteten Augenlidern und seinen nackten Füßen, an denen die Zehennägel wulstig und verbogen über die Zehen herausragten.

„Warum geht er nicht mehr weg?“, fragte Mona ihren Bruder immer wieder. „Warum geht er nicht mehr weg?“

„Er wird wieder weggehen“, versicherte ihr Scotty immer wieder.

Saul schüttelte den Kopf. „Der kommt immer wieder.“

„Eines Tages geht er weg und kommt nicht mehr zurück, Saul. Du wirst sehen.“

Aber er ging nicht weg. Drei Wochen vergingen. Früher war er ein Baseballspieler für einen Talentklub der Mets gewesen, der es trotz aller Vorschusslorbeeren und einer grandiosen Saison in der oberen Amateurliga nie bis zum Profi geschafft hatte. Hatte kein Glück. Kannte vielleicht nicht die richtigen Leute, vor denen er zu Kreuze kriechen konnte. War vielleicht nie ein Arschkriecher gewesen. Jetzt saß er da und glotzte Baseball. Im Zimmer, in dem der Fernseher stand, stank es wie in einem Abfallcontainer. Nach Fäulnis. Nach Schweiß. Am Boden lag alte Pizza herum, auf der sich wie Pusteln Schimmelpilz gebildet hatte. Ausgelaufene Bierflaschen. Der Teppich stank. Das Bett stank. Der Mann stank.

Manchmal verließ er die Wohnung. Dann blieb er einige Stunden fort. Und Scotty hoffte, dass er nie mehr zurückkommen würde, und je länger er nicht kam, desto größer wurde die Hoffnung, dass er nie mehr zurückkehren würde.

Und dann war er wieder da, mit einer Zwölfer-Packung Bier, vom billigsten und mit einer Stange Zigaretten, ohne Filter, einer Pizza oder einer Tüte von McDonald's.

„Wer Pizza will, soll sich bei mir melden.“

Sie stellten sich alle an und erhielten alle ein Stück Pizza von ihm. Das machte ihm Spaß. „Ihr seid meine Kinder“, sagte er und lachte höhnisch, weil sie alle drei nicht seine Kinder waren. Auf der Pizza waren Sardellen. Die pickten Scotty, Saul und Mona weg und fütterten damit den Kater, der in der Wohnung oben wohnte und der Angelino hieß.

Und manchmal gingen sie beide weg, Roper und seine Mutter. Zum Stempeln und um die Lebensmittelmarken abzuholen und den Scheck vom Sozialamt kassieren. Und dann hoffte Scotty, dass sie beide nicht mehr zurückkehren würden, aber sie kehrten immer wieder zurück und, da sie jetzt Geld hatten, meistens betrunken, und wenn seine Mutter betrunken war, war sie überhaupt nicht mehr auszuhalten, weil sie dann Streit suchte. Dann stritten sie sich stundenlang, bis er sie verprügelte oder sie ihn, und dann, wenn es endlich wieder still war, kamen die Geräusche aus dem Zimmer, das Gejammer seiner Mutter und das eklige Gestöhne und die Stimme von Roper, der Dinge sagte, die kein Mann einer Frau sagen sollte, und wenn es danach endlich wieder still war, dann fing er zu schnarchen an und er schnarchte den Rest der Nacht. Sein Schnarchen übertönte das Geräusch des Fernsehers, der am Morgen plötzlich loslegte, als wäre jeder Morgen einer, der lautstark gefeiert werden musste.

„Good morning, America! Wie geht es uns denn heute? Blendend. Alles in Butter. Der Dow Jones ist wieder auf eine Rekordhöhe angestiegen. Bald sind wir alle Millionäre. Das Wetter ist zur Zeit fabelhaft. In ungefähr zwei Minuten begrüßen wir bei uns im Studio den Modeschöpfer Lazaro Bernardino und sein Starmodel Noelina, die heute hier bei uns in der Sendung nach achtzehn Jahren Versteckspiel ihr „Outing“ macht und in aller Offenheit über sich und ihr Leben im Schatten der Magersucht spricht. Aber zuvor noch ein Wort von unserem Sponsor: CHEVROLET: cars, vans and trucks — the heart-beat of America! Bleibt also schön dran …“

„Scotty!“

Scotty saß schon auf dem Bettrand und rieb sich die Augen.

„Scotty, verdammt, mach deiner Schwester die Milch warm und dann ab in die Schule, hörst du!“

„Es ist keine Milch mehr da.“

„Keine Milch?“, fragte seine Mutter aus dem anderen Zimmer durch die Wand.

„Keine Milch.“

„Pulvermilch?“

„Auch nicht.“

„Scheiße!“

Danach kam nichts mehr. Scotty suchte in der Küche herum, fand Milchpulver in einer Dose, machte in einer schmutzigen Pfanne mit angebrannter Milch zwei Tassen Wasser warm, rührte die Pulvermilch hinein, holte Mona aus dem Bett, kämmte sich, während sie sich die Zähne putzte, gab ihr die Milch zu trinken und ein Randstück von einer alten Pizza, an dem noch ein bisschen Käse und Tomatensoße hing, aß selbst nichts, weil er am Morgen nichts essen konnte, bevor er richtig wach war.

„Geh zu Tante Melanie und warte, bis ich dich abhole!“

„Wann darf ich mit in die Schule kommen?“

„Wenn du älter bist.“

„Ich weiß. Aber das dauert so lange.“

„Geh jetzt.“

„Kommst du mich abholen?“

„Ja.“

„Sicher?“

„Geh jetzt!“

„Tschüs, Scotty.“

„Tschüs, Mona Lisa.“

Wie immer ihr merkwürdigstes Lächeln lächelnd, wenn er sie Mona Lisa nannte, wollte sie hinausgehen, aber da hörten sie Roper aufstehen, und so schnell Mona konnte, rannte sie in die Schlafkammer, die eigentlich ein Teil der Küche war und höchstwahrscheinlich früher einmal als Vorratskammer gedient hatte. Scotty schickte sich an seine Sporttasche zu holen, in der er alles aufbewahrte, was er in der Schule brauchte, aber da kam Roper schon aus dem Zimmer, stellte sich im Flur auf, so dick, dass Scotty nicht an ihm vorbeigekommen wäre. Er war nur mit seiner dreckigen Boxerunterhose bekleidet, die vorne weit offen stand, und er kratzte sich zwischen den Beinen und am Bauch und gähnte und ging auf die Toilette. Scotty warf schnell einen Blick in das Schlafzimmer, in dem seine Mutter im Bett lag. Er konnte nur ihren nackten linken Arm sehen und ihr krauses Haar mit weißen Fuseln vom Bettlaken drin und er wollte zu ihr gehen und ihr einen Kuss geben und ihr Guten Morgen sagen, aber er starrte nur zu ihr hinüber und erinnerte sich an den einzigen Tag in seinem Leben, an dem sie einmal aufgewacht war und sich aufgesetzt hatte.

„Komm her, Scotty“, hatte sie gesagt und ihre Hand ausgestreckt und er war zu ihr gegangen und unter die Bettdecke geschlüpft und hatte sich fest an sie gedrückt.

„Solltest du verdammt nicht längst in der Schule sein?“, sagte Roper, als er aus dem Klo kam.

„Fuck you!“, sagte Scotty.

Ropers Augen veränderten sich. Blitzten auf. Er hörte auf sich zu kratzen, kam auf Scotty zu.

„Was hast du da eben gesagt?“, fragte er.

„Fuck you!“

Roper knallte ihm eine mit seiner großen dreckigen Faust und Scotty flog durch den Flur und knallte gegen die Wand bei der Eingangstür.

„Fuck you!“, stieß er noch einmal hervor.

„Du kleiner Bastard, ich bring dich um wie eine stinkende Ratte!“

„Roper! Wenn dem Jungen was passiert, kriegst du es mit mir zu tun!“

„Der Junge ist eine stinkende Ratte!“

„Er ist mein Sohn, verdammt! Komm ins Bett, du alter Bock!“

Mona begann zu schreien. Das machte Roper rasend. Er schlug Scotty mit der Faust auf den Kopf. Scotty ging in die Knie. Da trat Roper ihm in den Bauch. Zweimal. Mit seinem nackten Fuß und den dicken Zehennägeln. Scotty kotzte die Milch, die er getrunken hatte und versuchte sich klein zu machen, kauerte sich hin und zog den Kopf zwischen die Arme, aber Roper schlug ihn mit der Faust und trat ihn und dann kam endlich Scottys Mutter aus dem Schlafzimmer und sie fiel Roper in den Arm.

„Hör auf, Roper!“

Er lachte und schlug nach ihr und er traf sie und sie taumelte rückwärts durch den Flur und er folgte ihr und fragte sie, was sie denn tun wolle, um ihn aufzuhalten.

„Ich mach euch alle kalt!“, triumphierte er und er schlug auf sie ein, bis sie am Boden lag, und sie verhöhnte ihn und nannte ihn einen Schwächling, der sich an Frauen und Kindern vergreifen würde.

„Hau ab, Roper! Ich will dich nicht mehr sehen, verstehst du! Hau ab, bevor ich die Bullen rufe und ihnen alles sage, was du mir erzählt hast!“

Er schlug auf sie ein, bis sie sich nicht mehr wehren oder schützen konnte. Und als sie am Boden lag, ging er ins Schlafzimmer. Es war jetzt still in der Wohnung. Niemand atmete. Bis Roper mit dem Gewehr zurückkam. Er sah überhaupt nicht mehr aus wie ein Mensch, sondern eher wie ein Wesen, das seinem eigenen Grab entstiegen war.

„Ich bring mich um!“, sagte er. „Ich bring mich um!“

„Nein, Roper!“, schrie seine Mutter. „Bitte, lass mich nicht allein!“

Roper blieb stehen. Seine Augen glühten.

„Ich bring mich um!“, sagte er noch einmal ziemlich leise. Und dann brüllte er. „Ich bring mich um! Ich bring mich um!“

Scottys Mutter schrie, als wollte er nicht sich, sondern sie umbringen.

„Lass ihn doch!“, rief Scotty. „Lass ihn doch, Mom!“

Von oben schlug die Alte mit ihrem Stock auf den Fußboden.

Roper trat die Küchentür ein und setzte sich in der Küche auf einen Schemel. Dort blieb er sitzen, mit dem Gewehr in den Händen und stierte vor sich hin wie einer, der keinen Ausweg mehr sah.

Scottys Mutter kroch in die Küche. Jemand hämmerte gegen die Tür.

„Scotty, bist du da drin?“, rief der Mann von nebenan.

Scotty gab ihm keine Antwort.

„Scotty, ich hab die Bullen angerufen. Die sind gleich da!“ Scotty stand auf und ging zu seiner Mutter, die zusammengekrümmt in der Küche lag.

„Ich bring mich um“, murmelte Roper.

Scotty gab ihm keine Antwort. Er half seiner Mutter auf und zog sie mit sich ins Schlafzimmer. Seine Mutter begann wieder zu schreien.

„Dann tus doch, Roper!“, schrie sie hysterisch. „Worauf wartest du? Bring dich endlich um, verdammt!“

2

Blut an den Schuhen

„Scotty“, sagte Mrs. Fahey, „was ist passiert?“

Er wandte sich von ihr ab, sodass sie ihm nicht in die Augen sehen konnte.

„Nichts“, sagte er.

Sie blickte die anderen an.

„Weiß von euch jemand, was geschehen ist?“

Niemand antwortete ihr. Einige wichen ihrem Blick aus. Andere starrten sie gleichgültig an. Ein paar blickten woanders hin. Aus dem schmutzigen Fenster hinaus auf den Schulhof, hinüber zur dunkelroten Backsteinmauer der Turnhalle mit den vergitterten Fenstern und dem alten, grün oxidierten Kupferdach, auf dem einige Tauben saßen und ihr Gefieder putzten.

„Scotty, wenn du willst, darfst du Dr. Bishop in ihrem Büro aufsuchen. Ich bin sicher, dass sie dir helfen kann.“

Scotty blieb bei der Tür stehen. Er hätte sie nur öffnen und hinausgehen müssen, aber er stand dort auf dem Linoleumboden mit den Punkten, als hätte er Wurzeln geschlagen. Der Wand zugedreht. Niemand konnte ihm in die Augen schauen, auch seine ihn anstarrenden Mitschüler und Mitschülerinnen nicht. Niemand konnte den Schmerz sehen und den Zorn und niemand konnte den Schrei hören, der tief aus seinem Innern kam und in seiner Kehle stecken blieb, als wäre sie ihm zugeschnürt worden.

Und die Tränen, die ihm in den Augen brannten, unsichtbar für all die anderen, weil er nicht mehr weinen konnte.

„Wenn du mir irgendetwas sagen willst, Scotty, wir können zusammen rausgehen“, versuchte Mrs. Fahey noch einmal. „Die Klasse weiß, was sie zu tun hat.“ Sie blickte ihre Schüler und Schülerinnen an. „Nicht wahr, ihr wisst, was ihr zu tun habt?“

„Er soll mit seinem Geflenne aufhören oder nach Hause gehen“, sagte Alan Chandler von weit hinten, während er ohne einmal aufzublicken mit dem Kuli auf seinem linken Unterarm herumkritzelte.

„Soll ich Dr. Bishop rufen, Scotty?“

Jetzt schüttelte er den Kopf. Ohne ein Wort zu sagen ging er zu seinem Pult und setzte sich auf den Stuhl. Er hatte seine Schultasche nicht bei sich und trug nur ein schmutziges T-Shirt voller Blutflecken und eine abgetragene Bluejeans, die ihm viel zu groß war. Sein Gesicht war verschwollen und voller Blutergüsse. Die Augen leer, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Er war anderthalb Stunden zu spät zur Schule gekommen und hätte sich eigentlich zuerst bei der Schulleitung melden müssen. Jetzt saß er da und blickte Mrs. Fahey an, blickte sie direkt an und durch sie hindurch, und die Bilder, die er noch immer vor Augen hatte, brannten sich tief in seine Seele ein. Er hörte Mrs. Fahey von einem amerikanischen Schriftsteller reden, der schon vor mehr als hundert Jahren gestorben war, hörte jemanden fragen, warum es denn so wichtig sei, in vorsintflutlichen Büchern zu lesen, in denen doch überhaupt nichts drinstand, mit dem man heutzutage etwas hätte anfangen können, Gewalt zum Beispiel, und Sex und solche Sachen.

Scotty hörte die Worte, aber sein Kopf nahm sie nicht auf. Er hörte nur Roper schreien, dass er sich umbringen würde. Er hörte seine Mutter schreien und seine kleine Schwester Mona ganz leise wimmern, die sich in der Küchenkammer eingesperrt hatte, und er hörte seinen kleinen Bruder Saul, der auf seinem Bett hockte und sich in die Handknöchel biss, er hörte das Geschrei von Mrs. Harris von der oberen Wohnung und das Poltern an der Tür, die Roper verriegelt hatte, und die Stimme von Jack Lee, der nebenan wohnte und jetzt durch die verriegelte Tür brüllte, dass die Bullen schon unterwegs seien.

„Ich habe die Bullen gerufen, verdammt!“, brüllte er. „Liz, halt ihn auf, verdammt! Die Bullen sind gleich da!“

Roper trat gegen die Tür. „Fuck you, du Hurensohn! Ich mach dich kalt und ich mach die Scheißbullen kalt!“

„Fuck you, Roper!“, brüllte Jack Lee.

Da trat Roper die Tür ein und stürzte auf den Hausflur hinaus und die Knarre in seiner Hand ging los und Scotty sah, wie Jack Lee vor der Tür zusammensackte, als hätte er plötzlich keine Knochen mehr im Leib und keine Glieder, sackte einfach zusammen und blieb zusammengekrümmt und irgendwie verdreht auf dem rissigen Betonboden liegen und Roper stieg über ihn hinweg und lief die Treppe hinauf. Unten kamen die Bullen herein, zwei oder drei, schlichen sich mit schussbereiten Revolvern die Treppe hoch, sahen Scotty in der Wohnungstür stehen, die Roper herausgetreten hatte, sahen den leblosen Mann auf dem Zementboden, das Blut, das sich zu einer Lache ausbreitete und die Risse entlang zur obersten Stufe hin floss, hörten Scottys Schwester schreien und seine Mutter rufen, dass sie nichts mehr sehen würde, und die Bullen schrien Scotty an, er solle die Hände hochheben.

„Heb deine verdammten Hände in die Luft, Kid!“, schrien sie ihn an. „Los, heb die Hände hoch und stell dich gegen die Wand!“

Scotty achtete nicht auf die Polizisten. Er kauerte sich nieder und berührte Jack Lees Gesicht, das plötzlich ziemlich angeschwollen war.

„Steh auf, Jack!“, flüsterte er. „Steh auf, verdammt!“

Jack Lee röchelte. Blut kam aus seinem Mund und aus seiner Nase und lief ihm über den Hals. Sein Brustkorb hob und senkte sich und hob sich wieder.

Scotty bemerkte den Bullen nicht, der sich ihm von der Treppe her näherte. Der Schatten des Bullen fiel über ihn. Oben schrie die Alte von der oberen Wohnung. Schrie wie am Spieß. Ein Fußtritt traf Scotty am Kopf. Er fiel zur Seite, prallte mit dem Kopf hart auf dem Zementboden auf. Der Bulle kniete über ihm, drehte ihm zuerst einen Arm auf den Rücken und dann den anderen. Handschellen klickten, und als Scotty das Gewicht des Bullen nicht mehr spürte und sich umdrehte, traf ihn ein Schlag ins Gesicht.

„Bleib unten und rühr dich nicht, Arschloch!“, schrie ihn einer der Polizisten an. Er stand an die Wand gelehnt und zielte mit einem Revolver, den er mit beiden Händen festhielt, auf ihn. Hielt ihn in Schach, bereit, ihn zu töten, wenn er sich bewegte.

Scotty blieb am Boden liegen. Ein paar Bullen drangen in die Wohnung ein und andere liefen die Treppe hoch. Oben schrie die Alte immer noch.

„Er ist in meiner Wohnung!“, schrie sie. „Mit meinem kleinen Engel!“

„Wer ist Ihr kleiner Engel, Ma'am?“, hörte Scotty einen der Polizisten lärmen.

„Meine arme kleine Katze! Ihr müsst sie befreien, bevor er ihr etwas antut.“

„Wie heißt der Mann?“

„Ich habe keinen Mann, aber …“

„Der Mann, der mit der Scheißkatze in Ihrer Wohnung ist, Ma'am!“

„Das ist der von unten! Roper! Er hat bestimmt die Frau halb totgeprügelt, so wie es sich angehört hat.“

„Seine Waffe?“

„Seine Waffe?“

„Ja. Er muss eine Waffe bei sich haben, oder?“

„Ein Gewehr.“

„Sind Sie sicher?“

„Eine 25er Automatik!“, rief Scotty den Treppenflur hinauf. „Er will sich umbringen.“

Von unten kamen noch mehr Bullen, ein paar ohne Uniform. Sanitäter mit einer Faltbahre und mit einer Transfusionsflasche und ein Arzt mit einem Koffer. Der Arzt kümmerte sich um Jack Lee. Blickte zu Scotty hinüber.

„Was ist mit dir, Kid?“, fragte er.

„Nichts“, sagte Scotty.

Der Notfallarzt schnitt Jack Lee das blutdurchtränkte Unterhemd auf und zerrte es ihm vom Leib. Eine Sanitäterin hielt ihm die Transfusionsflasche hin. Der Arzt öffnete seine Tasche.

„Gottverdammt, weshalb trägt denn dieser Bursche Handschellen?“, rief er aus, ohne den Bullen anzusehen, der Scotty in Schach hielt.

„Weil man diesen Ratten hier in ihrem eigenen Nest nicht trauen kann!“, gab der Bulle trocken zurück.

Der Arzt band Jack Lee den Arm ab und steckte die Transfusionsnadel am Ende eines Schlauches in eine Vene.

„Kompresse!“, verlangte er.

Einer von den Sanitätern reichte ihm einen Verband. Ein anderer Sanitäter half dem Arzt, den Oberkörper von Jack Lee aufzurichten. Dann legten sie ihm einen Kompressenverband um, der die Blutungen aus dem Ein- und aus dem Ausschussloch stoppen sollte. Der Arzt machte seine Tasche zu.

„Ab mit ihm!“, sagte er und stand auf. „Was ist mit dem Jungen?“, fragte er den Bullen.

„Keine Ahnung“, sagte der Bulle. „Der war da, als wir kamen.“

Der Arzt wandte sich Scotty zu.

„Sorry“, sagte er.

Scotty hörte, wie im oberen Stock einer der Bullen den Namen Ropers brüllte.

„Roper! Sei vernünftig! Mach die Tür auf und komm ohne deine Waffe und mit erhobenen Händen heraus!“

Keine Antwort. Nur die Alte schrie am Laufmeter.

„Bring die Alte weg!“

„Mein kleiner Engel!“, schrie die Alte.

Bullen in beinahe schwarzen Kampfanzügen kamen die Treppe herauf. Uniformierte Bullen zerrten und schubsten die Alte die Treppe herunter. Als sie Scotty neben der Blutlache liegen sah, versuchte sie sich loszureißen.

„Der ist wie seine Mutter!“, brüllte sie. „Ein verfluchter Hurensohn ist er und ein Herumtreiber!“

Scotty sah die Alte von unten. Zum ersten Mal sah er sie von unten und sie sah übermächtig aus, mit den grässlich bunten Kleidern, in die sie ihren fetten Leib gezwängt hatte, und den rot lackierten Fingernägeln.

Die Polizisten schoben sie weiter die Treppe hinunter. Oben hämmerte jemand gegen die Wohnungstür.

„Roper, du hast nur eine Chance, wenn du verdammt noch mal rauskommst! Die Frau unten ist okay. Die Kinder auch und der, den du niedergeschossen hast, der wird auch überleben! Komm raus! Wir nehmen dich mit aufs Revier. Keine Bange, es ist ja kein Trip, den du zum ersten Mal machst!“

„Haut ab, ihr verdammten Bullen!“

„Das geht leider nicht, Roper!“, sagte jetzt eine ruhige Stimme. „Ich bin Captain Smith von der Stadtpolizei. Wir kennen uns schon. Das letzte Mal habe ich dich im O'Malleys verhaftet. Erinnerst du dich noch? Das war vor etwa einem halben Jahr.“

Scotty hörte Roper etwas sagen, verstand aber die Worte nicht, weil unten die Alte schrie und irgendwelche Stimmen aus verschiedenen Funkradios der Bullen kamen und draußen Polizeisirenen heulten.

Der Arzt kam aus Scottys Wohnung.

„Seine Mutter hat nach ihm gefragt“, sagte er zu dem Bullen, der Scotty in Schach hielt. „Er muss in die Schule.“

„Es ist neun, verdammt“, sagte der Bulle. „Der käme zwei Stunden zu spät.“

„Er hat mit dieser Sache nicht das Geringste zu tun“, sagte der Arzt. „Dieser Roper, mit dem er nicht verwandt ist, hat auf seine Mutter eingedroschen und danach gedroht, sich selbst umzubringen.“

„Reden Sie mit dem Captain!“

Der Arzt ging die Treppe hoch. Nach einer Minute kam er mit einem Bullen zurück, der Zivil trug.

„Captain Smith“, sagte der Bulle, an Scotty gewandt. „Was ist hier geschehen?“

Scotty schwieg.

„Du willst es mir nicht sagen, Kid?“

Scotty machte die Augen zu.

„Wo ist dein Vater, Junge?“

„Der Junge hat damit nichts zu tun“, sagte der Arzt.

„Nehmen Sie ihm die Handschellen ab und lassen Sie ihn zu seiner Mutter“, sagte Captain Smith.

Der Bulle gehorchte. Scotty stand auf. Er hatte Blut am T-Shirt und am linken Arm.

„Scotty!“, hörte er seine Mutter rufen. Er ging in die Wohnung. Seine Mutter lag auf dem zerschlissenen Sofa im Schlafzimmer, mit einem nassen Handtuch über dem Gesicht. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie wusste, dass er hereingekommen war. „Scotty, mein Junge, komm zu mir.“

Scotty sah sich nach seiner Schwester um. Sie war aus der Kammer gekommen und kauerte jetzt beim Fenster am Boden, den Kopf zwischen ihren Händen. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Saul saß in einem alten Korbstuhl und aß von den Erdnüssen, die überall im Schlafzimmer verstreut lagen. Er starrte Scotty ganz verstört an.

Scotty drehte sich um und wollte aus der Wohnung laufen, aber der Arzt stand ihm im Weg.

„Wo willst du hin, Junge?“

„In die Schule“, sagte Scotty.

Der Arzt gab ihm den Weg frei und Scotty verließ die Wohnung, ging langsam die Treppe hinunter und hinaus. Draußen hatten die Bullen breite gelbe Plastikbänder aufgespannt mit denen sie versuchten die Schaulustigen zurückzuhalten. Scotty bückte sich unter dem gelben Absperrband hindurch und bahnte sich einen Weg durch die Menge, und als er sie hinter sich hatte, begann er die Straße hinunterzulaufen. Er lief ein Stück und dann setzte er sich auf eine Mauer. Tief in ihm herrschte ein furchtbares Chaos, dem er nicht zu entrinnen vermochte, auch wenn er ihm davonlief. Sie holten ihn immer wieder ein, die grässlichen Bilder und das Gebrüll und die Schläge und alles, was er zutiefst verabscheute. Manchmal nahm er sich vor, nie im Leben selbst die Faust zu machen oder auch nur ein Schimpfwort zu gebrauchen. Aber das klappte nicht. Manchmal fielen ihm keine Worte ein, wenn er dringend eines gebraucht hätte. Dann sagte er das, was sie alle sagten. Fuck! Das Wort, das man immer dort einsetzen konnte, wo einem kein anderes einfiel. Er hasste es. Er hasste sein Leben und alles, was damit zusammenhing, aber er hatte keine Ahnung, wie er es ändern könnte, und im Moment hätte er nur gern gewusst, ob Roper noch lebte oder ob er sich endlich umgebracht hatte.

Als Scotty sich etwas beruhigt hatte und wieder zu Atem gekommen war, machte er sich weiter auf den Weg zur Schule. Er beeilte sich, denn er war mehr als anderthalb Stunden zu spät, und als er endlich das Klassenzimmer betrat, blickten alle auf ihn. Er ging zu seinem Pult und setzte sich.

Da saß er und blickte durch die Lehrerin hindurch und er hörte Stimmen und vernahm Worte, die er noch nie gehört hatte. Worte aus dem Buch eines amerikanischen Schriftstellers, der schon vor mehr als hundert Jahren gestorben war. Und dann hörte er Alan Chandlers Stimme.

„Du hast Blut an deinen Schuhen, Scotty“, flüsterte ihm Alan von hinten zu. „Hast du deine Mutter umgelegt oder was?“

Scotty gab ihm keine Antwort. Er drehte sich nur um, holte aus und schlug Alan Chandler die Faust mitten ins Gesicht.

3

Garbage Time

„Scotty, du bist dir sicher im Klaren darüber, dass wir etwas unternehmen müssen“, sagte Dr. Bishop und nahm ihre Brille ab. Sie hatte klare blaue Augen, mit denen sie Scotty direkt anblickte. „Vielleicht willst du mal den Anfang machen und mir erzählen, was bei dir zu Hause passiert ist.“

Scotty starrte vor sich auf den Boden. Seine neuen Basketballschuhe waren fast nicht sauber zu kriegen, weil die weißen Lederteile das Blut von Jack Lee aufgesogen hatten. Stundenlang hatte er sie geputzt. Jetzt sah nur noch er, wo die Flecken einmal gewesen waren.

„Willst du dich nicht setzen, Scotty?“

Scotty schüttelte den Kopf.

„Deine Klassenlehrerin, Mrs. Fahey, hat mir gesagt, dass du einer ihrer besten Schüler bist.“

Scotty schwieg. Dr. Bishop machte einige Notizen auf einem losen Blatt Papier, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag.

„Scotty, du weißt, dass ich dir helfen könnte, nicht wahr? Ich bin von dieser Schule als Beraterin angestellt worden, Schülern zu helfen, die irgendwelche Probleme haben, mit denen sie nicht fertig werden.“

Scotty begann sich im Büro von Dr. Bishop umzusehen. Der kleine Raum war spartanisch und kalt eingerichtet. Ein Schreibtisch und ein Stuhl dahinter, auf dem Dr. Bishop saß. Auf dem Schreibtisch standen ein paar Ordner aus blauem und gelbem Plastik. Scotty selbst stand neben einem Lehnstuhl an einem kleinen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. An einer Wand hing das Bild des amerikanischen Präsidenten. An der anderen Wand befand sich ein Milchglasfenster, durch das blasses Licht sickerte. Eine Lampe hing von der Decke. Dr. Bishop hatte sie angemacht, als Scotty hereingekommen war.

„Scotty, Missis Fahey erzählte mir, dass du deinen Mitschülern gegenüber noch nie gewalttätig geworden bist und dass es sich bei Alan Chandler eigentlich um einen Freund von dir handelt, mit dem du dich auch in der Freizeit herumtreibst.“

Hinter dem Schreibtisch hing ein Monatskalender an der Wand. März war es. Blühende Obstbäume in einem Tal. Scottys Mutter hatte irgendwann im März Geburtstag. Am sechsten. Oder am achten.

„Scotty, ich kann dir nur helfen, wenn du dich mir mitteilst“, sagte Dr. Bishop. „Das ist die Voraussetzung, wenn wir gemeinsam etwas erreichen wollen. Du musst lernen über alles zu reden und nichts in dich hineinzufressen, verstehst du, dann gelingt es uns vielleicht, deine Probleme zu lösen.“

Scotty fiel ein, dass er drei Tage nicht mehr bei seinem Großvater im Altenheim gewesen war. Drei Tage waren keine Zeit für einen Jungen wie ihn. Aber für seinen Großvater musste es eine Ewigkeit sein, drei Tage zu warten, in diesem kleinen düsteren Zimmer und in dem alten Korbstuhl beim Fenster, durch das er eine graue Mauer sehen konnte und ein paar Äste eines Baumes und auf einem der Äste, immer auf demselben, manchmal einen kleinen Sperling.

„Wann hast du das letzte Mal geweint, Scotty?“

Scotty hob seinen Kopf und kniff die Augen etwas zusammen.

Dr. Bishop lächelte. „Ja, du hast richtig gehört, Scotty. Ich habe dich gefragt, wann du das letzte Mal geweint hast. Richtig geweint, meine ich. Aus Trauer. Oder aus Schmerz.“

Scotty blickte sie nur an. „Siehst du, das ist es, was ich meine. Du musst lernen deine Gefühle zu zeigen. Das ist ganz wichtig, Scotty. Menschen, die ihre Gefühle nicht zeigen, werden auch mit ihren Problemen nicht fertig. Und du hast Probleme, Scotty. Du bist einem Freund gegenüber gewalttätig geworden und hast Alan Chandler mit der Faust zwei Schneidezähne eingeschlagen. Alans Mutter wollte zuerst, dass wir den Vorfall der Polizei melden, aber Mrs. Fahey meinte, dass dich die Geschehnisse bei dir zu Hause aus der Bahn geworfen haben und dass man dir eine Chance geben sollte. Sie hat sich auch bei der Schulleitung für dich eingesetzt, sonst hätte man dich von der Schule suspendiert.“

Dr. Bishop hatte ein leichtes Makeup aufgelegt. Sie war ziemlich mager und hatte fahlblondes Haar, und sie trug einen graublauen Pulli mit einer glitzernden Brosche am Kragen. „Hallo, Scotty!“, sagte sie und lachte. „Bist du noch bei mir?“ Scotty nickte. „Nun, das ist immerhin etwas, Scotty. Wenn ich weiß, dass du dir helfen lassen willst, werde ich nicht locker lassen, bis wir gemeinsam mit deinem Problem fertig geworden sind.“

Dr. Bishop erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. Sie trug eine dunkle Hose und braune Schuhe und Scotty konnte ihr Parfüm riechen. Sie setzte sich auf den kleinen Tisch und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Bestimmt würdest du mir gern sagen, was bei dir zu Hause los ist, aber du traust dich nicht, stimmts?“

Scotty senkte den Kopf.

„Du sagst dir, was soll ich denn dieser alten Kuh alles erzählen, stimmts? Jaja, ich weiß es, Scotty, es wäre ein Leichtes, mir irgendeine Geschichte zu erzählen, aber ich glaube nicht, dass ich sie dir abkaufen würde. Ich bin Psychotherapeutin, Scotty. Das ist mein Beruf. Meine Arbeit ist es, jungen Menschen wie dir eine Tür zu öffnen, von deren Existenz sie nichts gewusst haben. Eine Tür in ein anderes Leben. Aber du denkst, wenn du mir sagst, was dich bedrückt, wirst du schwach, nicht wahr, Scotty? Und du willst stark sein. Wie dein Vater.“

„Mein Vater ist nicht stark, mein Vater ist schwul!“

„So? Und dein Großvater?“

„Der war stark.“

„Ein Held, unbeugsam wie eine Eiche.“

„So ungefähr.“

„Hat er dir erzählt?“

„Ja.“

„Und hast du ihn einmal gefragt, was ihn das gekostet hat, Scotty? Unbeugsam wie eine Eiche zu sein, meine ich. Nie die wahren Gefühle zu zeigen. Nie Angst zu zeigen. Furcht. Trauer. Liebe. Sich immer und in jeder Situation so unnatürlich zu verhalten, das zehrt an der Kraft eines Jungen. Da geht viel Energie verloren, die für anderes eingesetzt werden könnte. Außerdem ist es ein gefährliches Gebot, Scotty, unter dessen Belastung schon viele Jungen wie du zusammengebrochen sind.“

Scotty schwieg.

„Denk nur an Quinton Burlap, Scotty. Der hat doch offenbar vor Selbstbewusstsein auch nur so gestrotzt und niemand hätte vermutet, dass er ein ganz verzweifelter junger Mann war, der sich selbst nicht mehr ausstehen konnte. Kühn wollte er sein. Immer cool. Besser als alle anderen. Unerschütterlich. Bis zum Tag, als er durchdrehte, und an diesen Tag erinnern sich wohl alle von uns, nicht wahr?“

„Er hat noch Alan angerufen“, sagte Scotty, seinen eigenen Gedanken nachhängend. „Hat ihm gesagt, dass er heute Schlagzeilen machen wird.“

„Und die hat er gekriegt, nicht wahr?“

Scotty nickte und sah Dr. Bishop direkt an. „Ja.“

Dr. Bishop blickte in seine Augen. Studierte, was in ihm war und was er ihr nicht preisgeben wollte.

„Der Freund deiner Mutter und deine Mutter streiten sich häufig, stimmts?“

Scotty wich ihrem Blick aus, betrachtete erneut seine Schuhe, sah die Flecken, wo keine mehr waren.

„Wie lange hast du denn deinen Vater nicht mehr gesehen, Scotty?“