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Lektorat: Fabulus Verlag


Umschlaggestaltung: Fabulus Verlag in Zusammenarbeit mit r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg

Bild: unter Verwendung eines Motivs von Arak Rattanawijittakorn, Archiv Shutterstock

Satz und Herstellung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg


Druck und Bindearbeiten: CPI books GmbH, Leck



Printed in Germany



ISBN Print: 978-3-944788-70-8

ISBN E-Book: 978-3-944788-71-5




Die Geburt der Goldenen Wabe

Später saß Meike bei Kerzenlicht am Küchentisch. Vor ihr lagen das Gezähe und ihr Geleucht. Sie säuberte alles sorgsam mit einem Lappen, ölte und reparierte, wo es nötig war. Am Geleucht tauschte sie ein Lämpchen aus.

Da bummerte es von außen gegen das gekippte Fenster. Draußen stand ein ziemlich betrunkener Wupsi-Al-Weißhaupt.

»Kommen Sie außen rum«, sagte Meike und öffnete ihm die Haustür.

Als er bei Meike am Tisch saß, klagte er:

»Ich muss Ihnen au revoir sagen, ma chère.«

»Wohin geht die Reise?«, fragte Meike im Glauben, dass er sich vielleicht eine Weile wegen der Sache auf dem Barockfest verstecken wollte.

Wupsi zeigte mit einem Daumen nach oben zur Zimmerdecke.

Meike verstand nicht.

Da schüttelte er den Kopf und strich sich mit flachen Händen über Locken und Ohren.

»Oder ins Nichts?«, seufzte er, »man ist ja aufgeklärt, nicht wahr?«

Es dauerte eine Weile, ehe Meike aus ihm herausgelockt hatte, was los war, dass er nämlich unten in den Kasematten den Hänsel Tausendschön gesehen habe und jetzt wohl bald sterben müsse. So lautete nun einmal der alte Fluch.

Plötzlich rief er: »Und das ist so ungerecht! Ich habe den Schatz ja noch nicht einmal gesehen! Noch nicht ein einziges Mal auch nur berührt!«

Meike sagte, er möge nicht so laut sein, weil die Kinder schon schliefen, und ob er ein Glas Wasser wolle.

»Nein«, sagte er, »Wasser? Nein.«

Sie schenkte sich selbst ein Glas ein und sie setzten sich beide an den Küchentisch.

Wupsi-Al-Weißhaupt weinte und wischte sich die Augen mit seinen Löckchen.

Meike zündete eine neue Tischkerze an und arbeitete einfach ruhig weiter, denn sie wusste nicht, wie sie ihn trösten sollte. Auf dem Tisch lag die »Thüringer Allgemeine«.

Im Licht der helleren Kerze sah Wupsi-Al-Weißhaupt die Titelseite. Dort prangte ein Foto mit Chelsea, dem BM Jotum, mit Bertram und Jordan in ihren Barockkostümen.

»Da ist er ja!«, schrie Wupsi auf einmal auf: »Der Hänsel. Da!«

»Pst!«, ermahnte ihn Meike, »das ist doch der Bertram, der Sohn vom BM. Kennen Sie den nicht?«

»Doch, schon. Aber die komischen Haare?«

»Perücke«, sagte Meike, »fürs Barockfest«, sie lächelte, »und da denken Sie, das ist der Hänsel … Sie sind mir aber auch ein dummer Schlumperbeutel.«

»Oh«, Wupsi lachte erleichtert, »wäre ja auch nicht gerecht. Wäre ja auch wirklich nicht gerecht.«

Er lächelte glücklich. Sein blasses Gesicht rötete sich und seine schlaffen Löckchen sprangen hoch und rollten sich wieder ein wie Keksröllchen im Vanilleeis-Becher.

»Was hätten Sie eigentlich mit dem Schatz gemacht?«, fragte Meike.

»Ihren Teil hätten Sie bekommen«, erläuterte Wupsi, »und der Scheffe seinen und die Kinder ihren. Aber meinen Anteil an der Beute hätte ich dem Museum geschenkt. So ein Schatz gehört nicht einem allein. Den müssen alle sehen dürfen. Der gehört ins Museum.«

»Sind Sie verrückt? Damit hätten Sie uns alle verraten.«

»Neinnein, keine Sorge. Ich hätte den Schatz anonym übergeben. Das hab ich mir genau überlegt. Das wäre so gelaufen: Mein Anteil vom Schatz kommt in ein Schließfach im Bahnhof. Der Schließfachschlüssel liegt in einem weißen Umschlag und den Umschlag stecke ich nachts in den Briefkasten vom Schlossmuseum. Ganz einfach. Dem Schlüssel sieht man an, dass er zum Bahnhof gehört. Und nach ein paar Tagen hätte ich dann zufällig im Radio gehört oder in der Zeitung gelesen, dass so ein Schatz aufgetaucht ist, von dem jetzt aber niemand genau weiß, was das für ein Schatz ist. Und dann hätte ich dem Museum meine Mitarbeit als ehemaliger Archivar im Geheimen Schlossarchiv angeboten. Vielleicht hätte ich sogar ein ganzes eigenes Buch über den Schatz und den Hänsel geschrieben. Und wenn dann der Schatz ausgestellt würde, dann wäre ich mit meiner Jahreskarte jeden Tag ins Museum und hätte immer gewusst: Das ist unser Schatz. Ich hätte bloß so von weitem zugehört, wie die Besucher den Schatz bewundern und was sie darüber sagen und hätte gewusst: Den haben Ihre Zwillinge, Sie, der Scheffe, Monsieur Forkel und ich entdeckt. Das hätte mir nichts ausgemacht, dass nur ich das weiß. Ich wäre trotzdem immer glücklich und stolz vor der Vitrine gewesen.«

»So?«, Meike dachte nach, »hm, eigentlich haben Sie recht. Das wäre schön. So ein Schatz im Museum. Alle sehen ihn und nur wir wissen Bescheid. Ich hätt’s auch so gemacht!«

Um 22:25 Uhr kam Forkel direkt von seinem Dienst im Kaufland. Er hängte seine Uniformjacke über den Stuhl und spendierte ihnen ein paar Getränke, deren MHD gestern abgelaufen war.

Er sagte: »Also Mick, hör mal, ich hab mir überlegt, so schlecht verdiene ich auch nicht. Wenn du mal wieder einen Mann suchst, hier sitzt einer.«

Meike lachte und versprach darüber nachzudenken.

Nun klopfte auch noch der BM Jotum ans Fenster. Er brachte ihr einen Strauß Blumen. Um jeden Stiel war ein dünner Draht gewickelt; in jeder einzelnen Blüte steckte das Ende vom Draht, damit die Blume ja den Kopf nicht hängen ließ. Meike bedankte sich zurückhaltend. Der BM grüßte Forkel und Wupsi, blieb aber verlegen am Tisch stehen, während Meike vorsichtig die Drähte aus den Blumen zog und sie ins Wasser stellte.

»Kommen Sie mal bitte, Frau Faust«, bat er Meike und sie begleitete ihn vor die Tür in den Hausflur, wo er leise mit ihr allein sprechen konnte.

Erst entschuldigte er sich, dass er um halb elf Uhr nachts noch geklopft habe, aber seit dem Barockfest könne er nicht mehr schlafen und müsse immerzu an sie denken.

Dann sagte er, dass sie sich wegen der Tür, in die Jordan ein Spinnennetz getreten hatte, keine Gedanken mehr machen sollte. Er könnte doch der Mutter von Kindern, die ihn womöglich vor dem Tod oder Schlimmerem gerettet hätten, nichts nachtragen. Sie möge die ganze Geschichte vergessen und es wäre sehr freundlich von ihr, wenn weder Jordan noch Chelsea von seiner »Auffindesituation« öffentlich etwas erzählen würden. Das hätten sie bis jetzt nicht gemacht, dafür wäre er sehr dankbar und sie, die Mutter, habe in ihm einen Freund auf ewig.

Sie verstand, was er meinte, weil Jordan ihr erzählt hatte, dass der BM geschlottert und geschluchzt hatte wie ein Kleiner. Jordan, Chelsea und Bertram hatten das witzig gefunden, aber da hatte sie den dreien eine Moralpredigt gehalten, dass es unfair wäre, über jemanden zu lachen, der am Boden liegt und Angst hat.

Kaum war der BM gegangen, da klopfte es wieder. Es pochte mächtig an die Wohnungstür. Meike öffnete. Diesmal war es Wolli. Wolli von Wolli’s Gockelgrill.

Sie grüßte alle und übergab Meike als Gastgeschenk noch eine Ausgabe der Zeitung mit ihren Kindern auf dem Titelblatt.

»Vor dem Haus bin ich gerade dem BM Jotum begegnet«, sagte Wolli.

»Ja, der hat mir Blumen gebracht, denk dir mal«, erklärte Meike.

Nun fragte Wolli, ob Meike nicht ausnahmsweise ihre Kinder noch einmal wecken würde, ihr zuliebe.

»Nein«, sagte Meike, »die sollen ruhig schlafen. Setz dich doch. Du hast den Grill verkauft, hör ich?«

»Weißt du, ich hatte die Gockel satt«, sagte Wolli, »ich mache eine Umschulung. Zum Konditor.«

»Lecker!«, schrie Jordan, stürzte in das Zimmer und umarmte Wolli.

Er hatte noch gar nicht geschlafen, sondern unter der Bettdecke mit Hilfe seines Geleuchts Comics gelesen, bis er Wollis Stimme hörte.

Nun trat auch eine verschlafene Chelsea in den Raum. Sie war wieder aufgewacht, als sie Wollis energisches Klopfen an der Tür gehört hatte.

Chelsea schmiegte sich an ihre Mami, sagte: »Hallo Wupsi, hallo Herr Forkel«, und dann drehte sie sich zu Wolli, sah ihr fest in die Augen und sagte: »Hallo Scheffe!«

Lange Zeit war es stumm am Tisch.

Wolli lächelte. Sie lächelte Chelsea an und sagte: »Ich weiß, dass du mich erkannt hast trotz der Maske.«

»Ja. Weil du geheult hast.«

»Ich hab nicht geheult. Ich weine nie.«

»Doch, in einem Auge hat es geglitzert.«

»Ich hab aber nicht geweint.«

»Die Tränen haben in einem Auge geglitzert, nur in einem. Ein Auge hat geglitzert«, Chelsea grinste. Weder Jordan, noch Wupsi, noch Forkel, noch ihre Mami kapierten. Nur Wolli.

Wolli sagte: »Ja. Das Glasauge. Das Glasauge hat im Licht geglitzert. Das Glasauge aus Lauscha.« »Und das andere nicht«, erklärte Chelsea nun allen, »daran hab ich sie erkannt. Sie ist der Scheffe.«

Wolli saß lächelnd da, während die anderen sie nun mit Fragen bestürmten.

Warum? Warum hasste Wolli die flundrische Königin? Wegen der Singvögel oder der Lady Yolanda oder der Kunst?

Sie fragten durcheinander, bis Wolli mit der flachen Hand auf den Tisch schlug und protestierte: »Doch nicht die flundrische Königin! Die nie im Leben! Ich wollte den BM und ich hab ihn dran gekriegt. Der sollte sich einmal im Leben auch fühlen, wie ich mich seit dem Krankenhaus fühle. Einmal im Leben sollte er wissen, was es heißt, ein Unglückskind zu sein.«

Forkel sagte: »Wir haben ihn aber nicht ins Rad gehängt. Da kam deine Nachricht vorher: Brecht ab! und so.«

»Darüber war ich froh!«, dröhnte Meike.

»Ich auch«, nickte Wupsi.

Forkel knurrte: »Ich hätt’s gebracht. Aber war deine Entscheidung. Warum sollte er jetzt nicht nass werden?«

»Ach«, seufzte Wolli, »er hat mir dann doch leid getan. Eine andere hätte es durchgezogen, aber ich wollte das dann auf einmal nicht mehr. Ich bin ich, hab ich gemerkt.«

»Und jetzt?«, fragte Meike.

Wolli sagte: »Jetzt? Ist es gut. Damit ist es gut. Es ist vergeben und ich fange nochmal von vorne an. Ich drehe am Rad. Ich ändere einfach nochmal mein Leben und lerne Konditor. Übrigens werde ich die älteste Konditor-Auszubildende in ganz Thüringen sein. Und nun«, und sie legte eine volle Plastiktüte auf den Tisch, »kommt endlich euer Lohn.«

Sie nahm einige Bündel von Hunderteuroscheinen aus der Plastiktüte und legte sie auf den Tisch. Sie zählte sie ab, legte 4000 Euro vor Wupsi-Al-Weißhaupt, 5000 vor Meike, 1000 Euro vor Forkel und Jordan und Chelsea bekamen je ein handgeschriebenes Papier, auf dem stand: »Persönlicher, nicht übertragbarer Verzehrgutschein für einhundert Torten in meiner irgendwann zu gründenden Konditorei.«

Jordan und Chelsea bedankten sich. Forkel steckte das Geld sofort weg. Meike und Wupsi aber ließen es auf dem Tisch liegen.

»Das ist vom Verkauf des Gockelgrills, stimmt’s?«, fragte Meike, »das ist sehr viel Geld.«

Wolli nickte. Sie sagte: »Glaub mir, ich war seit Jahren nicht so glücklich wie gestern. Und Glück wächst nicht auf Bäumen. Jetzt erzählt mal«, und sie wandte sich an Chelsea und Jordan,»war er eingeschüchtert?«

»Seine Haare standen hoch. Und er redete erst ganz zitterig«, sagte Chelsea.

»Er war völlig fertig«, sagte Jordan mit einem raschen Blick zu seiner Mami, »ich sag’s aber auch nur dir. Nicht der Zeitung, das ist unfair.«

»Wenn einer liegt und Angst hat«, auch Chelsea sah rasch zu ihrer Mami, die streng blickte.

»Danke«, sagte Wolli lächelnd, »danke, das tut mir gut. Bei mir ist das Geheimnis sicher.«

»Schön für Sie«, sagte Wupsi-Al-Weißhaupt traurig, »schön für euch alle. Werdet glücklich mit der Konditorei und allem.«

Wolli fragte: »Was denn? Sie sind traurig, Herr Al-Weißhaupt? Gönnen Sie mir den kleinen Triumph nicht? Freuen Sie sich nicht über das Geld?«

»Ehrlich gesagt, nein«, sagte Wupsi-Al-Weißhaupt ernst, »ich bin mit dieser ganzen Geschichte nicht zufrieden. Mir wär der Schatz des Hänsel Tausendschön tausendmal lieber gewesen.«

»Schätze gibt es viele«, brummte Forkel, »aber so ein Glasauge rächt sich nur einmal im Leben.«

Das tröstete Wupsi-Al-Weißhaupt aber nicht. Er schaute stumm auf seine Hände, die vom Steineschaufeln immer noch schwarz waren.

Weil er glaubte, dass sein Ende nahe war, hatte er sich im Unterschied zu den anderen nicht gewaschen. Er roch nicht nur nach dem alten Schweiß der Arbeit in den Kasematten, sondern auch nach Bier und Schnaps.

Plötzlich sagte Jordan: »Steht eigentlich irgendwo, dass der Hänsel den Schatz überhaupt in die Burg mitgebracht hat?«

Wupsi dachte einige Zeit nach und sagte: »Nein. Darüber berichten die alten Bücher nichts, nur, dass die Engel ihm den Ort verraten haben.«

»Steht irgendwo, dass jemand den Schatz gesehen hat außer den Engeln?«, bohrte Jordan weiter nach.

Wupsi antwortete: »Gesehen? Nein, nein, ich glaube nicht … nein, ich erinnere mich nicht, das irgendwo gelesen zu haben.«

Jordan wurde ganz aufgeregt: »Aber, dann hat er ihn doch vielleicht gar nicht ausgegraben, dann ist der Schatz noch in diesem Nachbarsgarten.«

»Du meinst, in Sundhausen? Dass er ihn gar nicht –? Hm.«

»Und wenn es der Garten von Omi und Opi ist?«, rief Chelsea.

»Das ließe sich vielleicht prüfen«, sagte Wupsi nachdenklich.

»Sag mal«, wandte sich Meike an Forkel, »was kostet eigentlich so ein Metalldetektor? Das kann doch nicht die Welt kosten.«

Und da sagte Forkel auf einmal: »Ich Doofdrummel. Ich Warzenarsch.«

Alle schauten ihn überrascht an.

Forkel setzte sich aufrecht, als ob er einen Stock verschluckt hätte. Er holte die Schuldenlisten aus seiner Hosentasche, die er Wupsi und Meike hatte unterschreiben lassen, zerriss und zerknüllte sie und schluckte die Papierfetzen einfach hinunter.

Jetzt starrten ihn alle an wie einen Verrückten.

Bloß Jordan fand nichts dabei, Papier zu essen. Er wusste, wie es schmeckte, weil er einmal Papier gegessen hatte, nachdem ihm der Zahnarzt verboten hatte, Brot zu essen, und zwar sechs Stunden lang.

»Mahlzeit«, sagte Jordan.

Und Forkel lächelte ihn zum ersten Mal an, bevor er einen großen Schluck Wasser trank.

»Mein Forkel«, rief Chelsea, sprang auf und umarmte ihn kurz.

Auch sie lächelte er an und dann schob er seine eintausend Euro in die Mitte des Tisches und sagte: »Das sollte für einen Metalldetektor reichen. Ich meine, wenn ihr einen so geizigen Hund wie mich dabei haben wollt.«

Nach einer Weile schob Meike ihre fünftausend Euro dazu.

Wolli sah sie verwundert an und fragte: »Was ist mit deinen Schulden? Wer zahlt die Tür?«

»Hat sich erledigt«, sagte Meike, »der BM hat gesagt: ›Ist alles gut‹. Ganz verändert, der Mann.«

Wolli lächelte.

Wupsi-Al-Weißhaupt fragte: »Könnt ihr einen verstaubten Ex-Archivar gebrauchen?«

Meike und Forkel nickten.

Und auch Wupsi schob sein Geld in die Mitte.

Da nahm Jordan seinen Tortengutschein und legte ihn auch in die Mitte. Alle schauten zu Chelsea. Nun sahen sie, was Chelsea auf ihren Gutschein gekritzelt hatte. Es war eine Bienenwabe.

»Schaut mal«, erklärte sie und schob den Schein in die Tischmitte, »das sind unsere Namen. Ich, Jordan, Mami, Wolli, Wupsi und Forkel. Das gibt eine Wabe.«

Chelsea hatte die Namen gleichmäßig auf der Seite verteilt und mit Strichen verbunden. Es war ein Sechseck entstanden, das aussah wie eine Bienenwabe.

»Wie wäre es mit ›Die Goldsucher-Wabe‹?«, fragte Jordan.

»Nein«, sagte Chelsea, »wir nennen sie ›Die Wabe Tausendschön‹. Oder: ›Die Goldene Wabe‹.«

Ihre Mutter wiederholte versonnen: »›Die Goldene Wabe Tausendschön‹. Wie im Märchen.«

»Ist mir zu romantisch«, sagte Forkel, »Goldene Wabe reicht.«

»Was Wabe?«, fragte Wupsi, während Jordan sagte: »Na, unsere Bande. Die braucht doch einen Namen!« »Darf Lenja mitmachen?«, wollte Chelsea wissen.

»Und Bertram?«, fragte Jordan.

»Nein«, beschied Forkel kurz und knapp, »die müssen erst mal beweisen, dass sie ein Geheimnis bewahren können. So wie ihr. Ihr habt uns weder im Fernsehen noch in der Zeitung verraten. Ich kenne nicht viele, die das geschafft hätten.«

»Das stimmt«, sagte Wupsi, »das habt ihr großartig gemacht.«

»Euch würde ich sogar mein gesundes Auge anvertrauen«, sagte Wolli.

Ihre Mutter lächelte sie an.

Chelsea und Jordan wurde vor Stolz ganz warm.

Wolli, die weder Geld noch Gutscheine in die Mitte des Tisches legen konnte, streckte ihre Hand aus. Und feierlich reichten sich nun alle über den Geldscheinen und den Gutscheinen die Hände.

So wurde im Kerzenlicht die Goldene Wabe geboren.

Und die Goldene Wabe saß noch lange zusammen. Sie hörten Wupsi-Al-Weißhaupt zu, der nun allen erzählte, was er Chelsea und Jordan unten in den Kasematten schon von den vielen Möglichkeiten erzählt hatte, in Gotha und außenrum Schätze zu finden. Er sprach von den goldenen Knöpfen der Schweden, der französischen Kriegskasse, der alten Zollstation, den vergrabenen Geldtöpfen aus dem Dreißigjährigen Krieg, den Gallensteinen Martin Luthers, den Fußlappen Napoleons und dem verschollenen Liebesbrief Voltaires.

Aber am liebsten sprach er nach wie vor vom Schatz des Hänsel Tausendschön.

Die Zwillinge hörten das alles gerne ein zweites Mal.

Keiner schickte sie ins Bett, denn es war egal, ob sie am nächsten Tag bis zum Nachmittag schliefen.

In dieser Nacht war alles egal.

Es war egal, dass du jahrelang eine Rache geplant und dann im letzten Augenblick entschieden hast, sie nicht mehr nötig zu haben.

Es war egal, ob du Geld hattest oder nicht.

Es war egal, dass deine Mami seit Jahren arbeitslos war und ob du mit einem Plastikball Fußball spielen musstest oder einen Lederball und Stollenschuhe besaßest.

Es war egal, ob du irgendwo eine Tür eingetreten hattest oder immer alles richtig machtest.

Es war egal, ob du in den Ferien verreisen konntest oder in Gotha bleiben musstest.

Es war egal, ob du einen Fernseher, ein Auto, einen Kühlschrank und einen richtigen Herd hattest oder eben das alles nicht.

Das alles war egal, so lange du Freunde hattest und so lange du der besten, geheimsten Schatzsucherbande angehörtest, die es jemals in Gotha, Thüringen, Deutschland, Europa und der Welt gegeben hatte.

So lange es die Goldene Wabe für dich und für deine Freunde gab, war alles andere egal.


Ende


Dank


Dieses Buch wäre nie entstanden, wenn mich die Stadt Gotha nicht im Jahre 2014 als Kurd-Lasswitz-Stipendiatin beherbergt hätte. Meinen herzlichen Dank für die wundervollen Monate in Gotha.



Über die Autorin


Sonja Ruf wuchs in einem kleinen Dorf im Nordschwarzwald auf und wohnt nach Jahren in Frankfurt am Main, Leipzig und der Rhön heute in Saarbrücken. Wenn sie nicht gerade schreibt, und das tut sie meistens, arbeitet sie als Erzieherin im Sozialpädagogischen Bereich einer städtischen Ganztagsgrundschule.

Umgeben von 153 originellen, schwungvollen, witzigen, wilden, großstädtischen Kindern – wie sollte sie sich da nicht inspirieren lassen?

Seit 15 Jahren leitet sie außerdem Kurse in Kreativem Schreiben für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an.

Sonja Ruf war schon als Kind eine Erzählerin.

Noch bevor sie schreiben konnte, erzählte sie Schwestern und Freundinnen Fantasiegeschichten. Mit acht Jahren begann sie, Tagebuch zu führen, und als sie elf war, schrieb sie ins Tagebuch: »Ich möchte Schriftstellerin werden.«

Das erste Buch veröffentlichte sie mit 23 Jahren. Dieses Jugendsachbuch (»Kein Herbst ohne Blätter«, zusammen mit Tillmann Stottele) stand 1991 auf der Auswahlliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Es folgten zehn Bücher für Erwachsene. »Erste Lieben« (2010) richtet sich an junge Erwachsene.

»Mallows oder Katzengrütze« ist Sonja Rufs erster Kinderroman. Ein zweiter, ebenfalls für Kinder ab 8 Jahren, ist in Vorbereitung.


15 Euro und 87 Cent

Die Sommerferien fingen damit an, dass die Ferien gestrichen wurden.

Als die Zwillinge am letzten Schultag nach Hause kamen, war ihre Mutter nicht da. Stattdessen fanden sie auf dem Küchentisch einen Brief.

Darin stand:


»Liebe Chelsea, lieber Jordan,

wir fliegen nicht zur Oma. Ich hab die Tickets zurückgegeben. Ich mach dir keinen Vorwurf, Jordan, passiert ist passiert. Das war die schlechte Nachricht. Es gibt auch eine gute Nachricht und die könnte euch umhauen: Ich hab wieder Arbeit! In der Südsee! Ihr müsst eine Woche ohne mich zurechtkommen, aber dafür bring ich mächtig Geld mit. Benehmt euch also und streitet nicht so viel. Ich mach dir keinen Vorwurf, Jordan, bloß gibt der BM Jotum nicht das Fitzelchen einer Zündschnur nach. Von wegen, der Bertram wär dein Freund! Ihr werdet den Fernseher nicht vermissen, meine Knöpfchen, und wisst ihr auch warum? Weil sowieso der Strom abgestellt wird. Kerzen findet ihr in der untersten Schublade im Bad. Wenn ihr nachts die Kerzen brennen lasst, kriegt ihr Ärger. Ich küss euch.

Mami.«


Chelsea, die den Brief rascher gelesen hatte als ihr Bruder, richtete sich auf und schaute Jordan böse an. Chelsea sah oft beleidigt oder wütend aus, sie lächelte selten und es gab auch nur wenige Menschen, denen sie traute. Jetzt sah sie ihren Zwillingsbruder an wie den ärgsten Feind. Sie äffte die dröhnende Stimme ihrer Mutter nach: »Ich mach dir keinen Vorwurf, Jordan!«, ging in ihr Zimmer und knallte die Tür.

Jordan blieb zurück.

Klar war er an allem schuld! Dabei hatte Bertram mindestens genauso viel Schuld, dass er diese blöde Tür zertreten hatte. Es war eine Tür aus Spezialglas, die so teuer war, dass sie deswegen die Stromrechnung nicht bezahlen konnten.

Dass die Reise gestrichen war, machte Jordan nichts aus. Er hatte seine Sachen noch nicht gepackt und blieb auch lieber in Gotha. In Banjul bei der Oma war es heiß und langweilig.

Hier konnte er immer noch zu den anderen Großeltern, konnte im verbotenen See am Friedhof schwimmen, auf dem Seeberg in den alten Bunkern rumklettern und eine Menge Sachen machen, die mehr Spaß brachten, als in Gambia rohe Kartoffeln und Zwiebeln in einem Mörser zu zerstampfen oder wegen der Haie das Schwimmen verboten zu kriegen.

Da fiel ihm auf, dass seine Mami unten auf dem Brief einen kleinen Pfeil gemalt hatte. Das bedeutete: »Dreh mich um!«

Jordan drehte das Blatt um und las: