Mythos, Geschichte, Politik
Mit 202 Abbildungen
Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch
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ISBN 978-3-280-05691-2
eISBN 978-3-280-09077-0
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
Einleitung
Zeitabschnitt 1844–1903: Privatbahnen für Privatbanken
Bundes- oder Privatbahnen? Alfred Escher setzt sich – vorerst – durch
Börsenspekulationen, Privatbahnkonzerne und der Eisenbahnkrach
Grossartige Tiefbauten der Haupt- und Nebenbahnen, sparsam erstellte Hochbauten
Die Abhängigkeit von importierten Energieressourcen
Katastrophen verhindern mit Unterhalt und Mechanik
Das Rollmaterial: von der Ausland- zur Inlandherstellung
Arbeiten für die Bahn: 110-Stunden-Wochen und monatlich anderthalb freie Tage
Immer mehr Güterverkehr, immer schnellerer Personenverkehr
Wasserwege und Strassen – die Eisenbahn im Rahmen des Gesamtverkehrs
Zeitabschnitt 1904–1963: Staatliche Bahnen für Industrie-Investitionen
Verstaatlichung, Politik und Gesetze in Kriegs- und Krisenzeiten
Verschuldung und Staatskapital für Modernisierungen
Bahnvollendungen, Infrastrukturausbau und Strassenbahn-Stilllegungen
Weltweit einzigartig: die hundertprozentige Elektrifizierung
Elektrifizierung auch der Eisenbahnsicherungstechnik
Die stärkste Lokomotive, die modernsten Wagen der Welt
Die Werktätigen im Krisen- und Kriegszustand
60 Jahre Personen- und Güterverkehr unter Bundesdominanz
Die Bahnen im Rahmen der gescheiterten Gesamtverkehrskoordination
Zeitabschnitt 1964–2023: Bahnen subventionieren die Bau- und Ausrüstungswirtschaft
Von der Expo 64 zur Bahnreform im globalen Spannungsfeld
Investitionen für eine Renaissance des Schienenverkehrs
Bahn 2000 und Alptransit: Baumilliarden für den Regional- und den Transitverkehr
Die SBB behalten ihre Kraftwerke
Teure Bahnsicherheit, unsichere Öffentlichkeit
Globalisierung der Rollmaterialindustrie, Vereinsaktivitäten für Nostalgiefahrzeuge
Kulturrevolution in den Chefetagen, Gürtel-enger-schnallen beim Personal
Zusammenschluss und Aufsplitterung des öffentlichen Verkehrs
Grenzenlose Mobilität auf Kosten der Umwelt und der Steuerzahler
Anhang
Beteiligte
Anmerkungen
Ausgewählte Quellen
Schweizer Bahnen – ein Mythos? Die vorliegende Geschichte zeigt in drei Teilen von je sechzig Jahren das Entstehen, die Höhepunkte und das Verharren des Mythos: die Finanzierung und den Bau der längsten Tunnel der Welt, die Planung der ersten Zahnradbahn, der höchsten Bergbahn und der höchsten Alpenquerung Europas, die Pionierwerke der frühen Elektrifizierung mit ihren leistungsfähigsten Kraftwerken, höchsten Staumauern und stärksten Lokomotiven der Welt. Und nun, gefördert durch die Umweltproblematik, sind die Schweizerinnen und Schweizer Weltmeister im Bahnfahren. Ein Mythos birgt auch die Gefahr, unfassbar mystisch zu werden, zur Mystifizierung zu verkommen, also zur Täuschung, zur Vorspiegelung und zur Irreführung. Solch glorifizierende Werke zur Geschichte der Schweizer Bahnen gibt es zuhauf. Um das Thema zu verankern, ist jeder Zeitabschnitt in neun Kapitel gegliedert: 1. Politik, 2. Finanzierung, 3. Bau, 4. Energie, 5. Sicherheit, 6. Rollmaterial, 7. Personal, 8. Betrieb und 9. Gesamtverkehr.
Die Verkehrsgeschichte zwischen der Eröffnung der ersten Eisenbahn auf Schweizer Boden am 15. Juni 1844 und der Verstaatlichung der Hauptbahnen in den Jahren 1901 bis 1909 ist geprägt von der Expansion und den Krisen von fünf privaten Bahnkonzernen. Sie gruppieren sich um die alten Machtzentren Basel, Zürich, St. Gallen, Bern und Luzern.
Kleinere Bahngesellschaften saugen sie auf oder sie belassen sie als Nebenbahnen. Sie schaffen weitgehende regionale Transportmonopole und übertragen die Anstossfinanzierung und die Krisenfolgen der öffentlichen Hand.
Schienenbahnen sind seit dem späten Mittelalter auch in der Schweiz bekannt.1 Um 1800 kommen in England, Frankreich und Russland «Dampfkraftwagen» auf. 1825 weiht George Stephenson mit seiner «Locomotion» zwischen Stockton und Darlington die erste öffentliche Dampfeisenbahn ein. 1829 führt die Liverpool and Manchester Railway nach der Ausschreibung eines Wettbewerbs ein Wettrennen bei Rainhill durch, das Stephenson mit seiner Dampflok «Rocket» gewinnt.2 20 Jahre später sollte sein Sohn Robert Experte für den Bahnbau in der Schweiz sein. Bereits 1835 drängen Zürcher Unternehmer auf den Bau von Eisenbahnen. Am 11. März 1836 verlangt die kantonale Handelskammer den Zusammenschluss der projektierten Bahnen von Strassburg nach Basel und von Augsburg nach Lindau – natürlich über Zürich. Die Regierung soll mit öffentlichen Geldern eine der wichtigsten Erfindungen der neueren Zeit, die Eisenbahn, fördern, damit die Schweiz nicht zurückbleibe. Private Handelsleute rechnen sich mit ihren Eisenbahninvestitionen hohe Dividenden aus, appellieren aber an den Staat, dass «ohne die thätige Mitwirkung sämmtlicher Cantonsregierungen eine blosse Privatgesellschaft mit den sich entgegenstellenden Hindernissen nie ferotig werden könne».3 In Zürich sind die Liberal-Radikalen seit der Pariser Julirevolution von 1830 an der Macht. Sie vollenden die 1798 begonnene Privatisierung des Grundeigentums und fördern mit den Erlösen die Verkehrs- und Industriefinanzierung: Gemeinden, Kantone und Private verlieren die jährlichen Einnahmen aus Zehntenabgaben und Grundzinsen, erhalten aber die einmaligen Loskaufsummen von den Bauern. Vor allem Kleinbauern müssen sich privat verschulden und sich über Wasser halten mit Landverkäufen, mit Milchwirtschaft anstelle des Ackerbaus und als Rucksackbauern mit Fabrikarbeit. Im schweizerischen Vergleich setzen die Zürcher Liberalen mit dem Ablösungsgesetz von 1831 das kapitalistische Privateigentum besonders radikal durch. Die öffentliche Hand, bisher zu rund der Hälfte von Grundeigentumseinnahmen finanziert, führt neue Steuern ein, unter Schonung der Privatvermögen und der hohen Einkommen. Die neuen Finanzmittel ermöglichen den Ausbau eines Netzes von guten Fahrstrassen. Die allgemeine Schulpflicht kommt, Kantonsschule, Kantonsspital und die Universität werden neu eingerichtet.4
Betreffend den Eisenbahnbau bilden die Behörden wie so oft bei schwierigen Aufgaben eine Kommission. Sie beauftragen den vielseitigen österreichischen Techniker Alois Negrelli, zusammen mit den einheimischen Ingenieuren Sulzberger und Eschmann, die Strecke Bodensee—Zürich—Basel zu begehen, die Baukosten zu schätzen und eine Rentabilitätsrechnung zusammenzustellen. Der Expertenbericht vom 12. Juni 1836 hält fest, die Strecke der Limmat und dem Rhein entlang nach Basel könne günstig gebaut werden und weise wenig Gefälle auf. Für den Bahnbau Richtung Bodensee beginnen die Schwierigkeiten schon bei der Überwindung der Höhendifferenz zwischen Zürich und Oberstrass. Zudem quert die Bahn je nach Linienführung zwischen dem Bodensee und Basel sechs Kantone. Und wenn nicht bald ein einheimisches Kohlenlager ausfindig gemacht werde, müssten die Dampfwagen mit Rohstoff aus dem Elsass oder aus entfernteren Gebieten beheizt werden. Trotzdem verspricht die für den Bahnbau gegründete anonyme Aktiengesellschaft für das Teilstück Zürich—Basel eine Dividende von 12,25 Prozent. Leider zeigen die Zürcher und die benachbarten Aargauer und Thurgauer wenig Interesse: Italienische Investoren übernehmen fast die Hälfte, Deutsche gut einen Viertel. Gleichzeitig lancieren beide nunmehr getrennten Basler Halbkantone ihr Hauensteinprojekt, und die St. Galler möchten unter Auslassung von Zürich eine Ostalpenbahn.
Zwar ist das Privateigentum heilig, doch seit dem 11. März 1838 gilt im Kanton Zürich das Landenteignungsgesetz «zum Zwecke des öffentlichen Wohls», die Konzession für den Bahnbau kann erteilt werden. Doch nun wächst eine breite Opposition gegen die Liberal-Radikalen. Am Bodensee sind wegen der neuen Dampfschiffe Schiffsleute brotlos geworden. Verelendete Textilheimarbeiter und ihre Zulieferer, die Fergger, haben bereits Ende 1832 in Oberuster jene Satansfabrik niedergebrannt, in der nach Spinnmaschinen auch Webmaschinen eingerichtet worden sind.5 Und nun noch die Eisenbahn! Sie würde die Nahrungsmitteleinfuhr verbilligen und die Bauern ruinieren, den Gemeinden und Kantonen Land-, Geleit-, Weg- und Brückenzölle wegnehmen, allein im Kanton Aargau umgerechnet eine Million Franken. Ein ärztliches Gutachten beweist nach der Eröffnung der Nürnberg—Fürth-Bahn Ende 1835 wissenschaftlich, dass die Ortsveränderung mittels irgendeiner Art von Dampfmaschine die geistige Unruhe, das Delirium furiosum, hervorrufe. Zudem schwärzt das gottlose Feuerross das Korn, macht Pferde störrisch und hält Hühner vom Eierlegen und Kühe vom Milchgeben ab. Und schliesslich hat die Aktienzeichnung gezeigt, dass die Schweiz zum ökonomischen Vasallen fremder Geldtyrannen wird.6
Die Basel—Zürich-Eisenbahngesellschaft publiziert in der «Zeitschrift für das gesamte Bauwesen» ab 1837 Pläne für eine Linienführung mit weiten Kurvenradien und geringen Steigungen. Uneinig ist man sich noch über den Standort des Kopfbahnhofs in Zürich. Soll er im Talacker auf Stadtgebiet sein oder ohne Brücke über der Sihl auf Aussersihler Gemeindeboden? Die Bahngesellschaft findet über den berühmten George Stephenson einen Bahnbauingenieur: John Locke leitet mit dem einheimischen Vermesser Johann Wild das Geniekorps. Dieses sieht sich im Kanton Aargau behindert und angegriffen: Nivellierungsarbeiten werden lokal verweigert, bei Klingnau und im ganzen Siggental verschwinden nachts Vermessungspfähle und Signaltafeln.
Am 5. September 1839 kommt es zum «heiligen Kampf für Gott und das Vaterland», ausgerufen von konservativ-kirchlichen Führern. Am Landsturm auf Zürich nehmen 4000 Personen teil, die Hälfte mit Gewehren und Sensen. Beim Münsterhof schiesst das Militär, 15 Menschen sterben, ein liberal-radikaler Politiker flieht in Frauenkleidern, die Regierung löst sich auf.
Der «Züriputsch» bringt wieder die Konservativen an die Macht. John Locke reist nach England zurück. Nach einem vergeblichen Hilferuf an die konservative Regierung liquidiert sich die erste schweizerische Bahngesellschaft Ende 1841 und erstattet die schon einbezahlten Aktienanteile weitgehend zurück. Der Bahninitiator Martin Escher-Hess glaubt weiterhin, das neue Verkehrsmittel fördere die Volkswohlfahrt und die Bildung. Er erwirbt die Baupläne und kann sie dann mit Regierungsbeteiligung einer Interessengemeinschaft verkaufen.
Eisenbahnen sind keine Verkehrsträger, die an Regionsgrenzen Halt machen können. Während in der föderalistischen Schweiz die politischen und juristischen Grundlagen für den Bahnbau fehlen, fördert Frankreich das neue Verkehrsmittel zentralistisch. Seit 1832 fahren dort Dampflokomotiven, seit 1839 auch nordwestlich von Basel zwischen der Industriestadt Mulhouse und dem Textilfabrikdorf Thann. Initiantin der Strasbourg—Bâle-Bahn ist die Textilindustriellenfamilie Koechlin. Sie stammt ursprünglich aus der Ostschweiz und spielt in Basel und Mulhouse eine wichtige Rolle, später in der Basler Handelsbank, in der Chemiefabrik Geigy und in Ostfrankreich in der Maschinen- und Lokomotivfabrik SACM, die im Alstom-Konzern weiterlebt. Nach der Vollendung der Bahnlinie nach Mulhouse nimmt Nicolas Koechlin die Erweiterung seines Bahnnetzes in Angriff. Bei Kilometer 137,6 ab Strassburg bleibt der Bau allerdings 1840 an der Haltestelle Rhin bei St. Louis vor der Schweizer Grenze stecken. Die Basler Regierung sollte sich entschliessen, für die Bahn einen Durchbruch in der Stadtmauer zu bewilligen. Dieser soll mit einem Fallgitter ausgerüstet werden und nachts die Sicherheit der Stadt gewährleisten. So wird es Mitte Juni 1844, bis der erste französische Zug fast nach Basel fahren kann – zum Bahnhofprovisorium ausserhalb der Mauer. Ende 1845 ist dann das definitive Gebäude für die Aufnahme von Personen bereit, dort, wo nach dem Zusammenschluss mit der Schweizerischen Centralbahn ab 1860 das Kantonsspital entstehen kann. Koechlins Linie ermöglicht schon 1852 internationale Bahnverbindungen aus der Schweiz nach Paris, sie geht 1857 in der «Chemins de fer de l’Est» auf.7
Dass Zürich der industrialisierteste Kanton der Schweiz sei, berichtet John Bowring aus Angst vor kommender Konkurrenz bereits 1837 dem englischen Parlament: «Seit das Stadtmonopol umgestürzt ist, hat vielleicht kein Teil der Welt ein deutlicheres Bild gedeihlicheren Fabrikwesens dargewiesen.»8 Doch ab 1839 sind wieder die Konservativen an der Macht. Sie verpflichten die Volksschullehrer während sechs Jahren zur Frömmigkeit und fördern die Misswirtschaft. 1845 gelingt den Liberalradikalen die erneute Machtergreifung. Sie fordern drei Wochen später eine neue Konzession für die Eisenbahn nach Basel und haben diese einen Monat danach in den Händen. Im revolutionären Aargau scheint das Spiel leicht zu sein, gegen Basel wird es schwieriger: Erst 1833 hat sich der Kanton Baselland nicht ohne vorheriges Blutvergiessen von der alten Stadtherrschaft befreit. Dennoch gründen die Zürcher 1846 die Schweizerische Nordbahn SNB mit dem alten Ziel einer Bodensee—Basel-Verbindung. Der von Fürst Metternich beurlaubte Ingenieur Alois Negrelli arbeitet mit den von Martin Escher-Hess weitergereichten Plänen von 1839 Detailpläne für die Gleis- und Hochbauanlagen zwischen der Limmatstadt und Baden aus. Der Hauptbahnhof Zürich soll in Aussersihl entstehen, das erspart den Bau einer Brücke über die Sihl. Doch die Stadtzürcher wollen den Kopfbahnhof auf eigenem Gemeindegebiet, gerade angrenzend an die ehemaligen Schanzen. Diese sind mit den Stadttoren im Unterschied zu Basel bereits abgebrochen. Die Stadt vermacht der SNB für den Bau des Kopfbahnhofs unentgeltlich das grosse Grundstück gegen die Platzspitz-Promenade. Dort soll das Verkehrszentrum bleiben. Architekt Ferdinand Stadler entwirft auch schon eine Limmatbrücke bei Turgi. Die Vermessungspioniere Wild und Bürkli stecken eine grosszügige Trassierung aus, 23,3 Kilometer bis Baden, doppelspurig mit Gleisradien vom Anderthalbfachen der späteren Gotthardbahn und mit fünf Mal geringeren Steigungen. Über 1000 Arbeiter schütten mit Körben Dämme auf, füllen bis zu 16 Meter tiefe Gräben, bauen die Sihlbrücke und brechen den Badener Schlossbergtunnel aus.9 Doch trotz ihrer Konzessionierung verhindern die Aargauer den Weiterbau ab Baden. Die 350 innerschweizerischen Zollschranken bleiben, und zwischen Katholiken und Reformierten zeichnet sich ein Bürgerkrieg ab. Der Güterverkehr auf der Blinddarmstrecke bleibt unbedeutend. Im Jahr nach der Betriebseröffnung muss die SNB ihren Fahrplan von vier auf drei tägliche Personenzugspaare ausdünnen. Erst ab 1874 entwickelt sich die Legende von der Spanischbrötli-Bahn10: Statt Kohle, Güter und Massen von Menschen transportiere die SNB Hausboten, die von Baden knusprige spanische Brötchen nach Zürich bringen. Ob die Brötchen auf der fünf Wegstunden langen Strecke nach dreiviertelstündiger Dampfwagenfahrt wirklich warm in Zürich ankommen, kann nicht nachgewiesen werden.
Die Eidgenossenschaft hat nun über 50 Jahre Krisen, Kriege und Bürgerkriege mit ausländischer Einmischung hinter sich. Tausende sind an Hunger und Unterernährung gestorben. Erstaunlich sind dabei die Blüte der Fabrikindustrie in den Flusstälern der Nordschweiz und das Gedeihen der Uhrenindustrie im Jura. Sie machen die liberalen und radikalen Kräfte mächtig. Sie sind der Katalysator für den Bahnbau. Die Bewegung für die Reform der Eidgenossenschaft hat zwei Flügel: die Liberalen – der Flügel des alten Besitz- und Bildungsbürgertums – setzen auf Freiheit und Selbstregulierung; das Recht des Volks ist auf die Wahl von Vertretern durch die Wahlberechtigten beschränkt, staatliche Regulierung ist verpönt. Die Radikalen hingegen stützen sich auf das französische Verfassungsrecht von 1793. Sie fordern Volkssouveränität und Demokratie mit direkter und geheimer Wahl der Parlamentarier durch alle erwachsenen Männer; in einzelnen Kantonen sind vom Wahlrecht nicht nur alle Frauen, sondern infolge des Censuswahlrechts auch über die Hälfte der Männer ausgeschlossen. Volksbildung und Wohlfahrt gehören ebenso zum Programm wie die Trennung von Kirche und Staat. Dieses Programm setzen die «Radicaux» 1845 bis 1846 in den Kantonen Bern, Waadt und Genf durch, dort mit Hilfe eines Aufstands. Ihre Medien sind neben Zeitungen die Vereine, von denen es 1850 5000 gibt und 1900 bereits 30000.11 Mit dieser Basis und mit den elitären Gesellschaften der Liberalen wollen sie den handlungsunfähigen Staatenbund der Tagsatzung in einen modernen Bundesstaat umwandeln. Die Gegner der Reformer sehen ihre Basis in den Nachbarländern Österreich und Frankreich und in der katholischen Kirche. Die Auseinandersetzung eskaliert zum Konfessionskrieg. Die Zentralschweiz mit Luzern an der Spitze beruft Jesuiten für die Priesterausbildung, die Radikalen schicken bewaffnete Freischarenzüge gegen Luzern; die Aargauer heben alle Klöster auf. Die Zentralschweizer gründen, gefördert von Österreich, mit Fribourg und dem Wallis den katholischen Sonderbund, die reformierten Reformer fordern dessen Auflösung. Die Sonderbündler mobilisieren 80000 Männer, die Tagsatzung mit ihrem General Dufour 100000. Im Tessin fängt er österreichischen Nachschub ab. Nach 26 Tagen müssen die Sonderbündler im November 1847 kapitulieren. Es hat an der Front um die 100 Tote und 500 Verletzte gegeben, zu Tode gekommene Zivilisten sind nicht erfasst. Liberale und Radikale ergreifen ihre Chance und tagen mit den unterlegenen Tagsatzungskantonen ab dem 17. Februar 1848 in der Verfassungskommission. Fünf Tage später bricht in Paris die Revolution aus. Sie fegt den «Bürgerkönig» und letzten Bourbon Louis-Philippe vom Thron und breitet sich wie ein Steppenbrand über Europa aus. In dieser Atempause erarbeitet die Kommission in nur acht Wochen die neue Bundesverfassung und setzt sie mit einer mehrheitlichen Zustimmung im September 1848 in Kraft. Ein siebenköpfiger Bundesrat, ein Ständerat mit Vertretung aller Kantone und die proportional nach der jeweiligen Bevölkerungszahl gewählten Nationalräte bestimmen nun auf Bundesebene die Politik der öffentlichen Hand.
In der Bundesverfassung sind das Recht zur Errichtung öffentlicher Werke im nationalen Interesse und zu den dazu notwendigen Enteignungen festgeschrieben. 1849 beauftragen der Stände- und der Nationalrat den Bundesrat, mit neutralen Experten den Plan eines schweizerischen Eisenbahnnetzes auszuarbeiten. Die Connection zu Robert Stephenson funktioniert noch, er kommt mit Henry Swinburne in die Schweiz. Ratsherr Carl Geigy aus Basel und Ingenieur Jakob Melchior Ziegler aus Winterthur erarbeiten das finanzielle Gutachten. Beide warnen 1850 vor unbeschränkter Konkurrenz im Bahnbau. Sie bestätigen das Bodensee—Zürich—Basel-Projekt, führen es allerdings über Olten und über den Hauenstein. Dort sind schiefe Ebenen mit Drahtseilaufzügen vorgesehen. Von Olten führen Linien nach Luzern, Bern, Thun und unter Nutzung der Schifffahrt auf den Jurafuss-Seen nach Genf. Sollte mit ausländischer Hilfe eine Alpenbahn zu Stande kommen, dann vom Bodensee über den Lukmanier nach Locarno und Chiasso.12
Doch nun wirft der 32 Jahre junge Alfred Escher alle Entwürfe für einen planmässigen Bahnbau in der Schweiz über den Haufen. Schon in den 1840er-Jahren hat er als Studentenführer der liberalen Zürcher Zofingia und als Agitator in der «Akademischen Mittwochsgesellschaft» in der väterlichen Villa einen eigenen Kreis von Anhängern in der «Donnerstagsgesellschaft» gepflegt. Seine ersten politischen Ziele sind erreicht: Der Sturz der konservativen Zürcher Regierung und die «Vernichtung der ultramontanen katholischen Sonderbündler». Aufgewachsen mit Dienstpersonal und erzogen von Privatlehrern in der 1831 vollendeten Villa Belvoir, führt Alfred Escher seinen Familienzweig zum abschliessenden Höhepunkt. 1849 wird er, 29-jährig, liberaler Nachfolger des radikalen Nationalratspräsidenten Steiger und in Zürich Bürgermeister, was später dem Regierungsratspräsidenten entspricht.13 Er gründet die Industrieschule und tritt kämpferisch für ein nationales Hochschul-, Zoll-, Münz-, Post- und Telegrafenwesen ein. In der Eisenbahnpolitik jedoch macht er eine Kehrtwende. «Das Jahrhundert gehört den Advokaten», schreibt Stendhal im 1839 erschienen Buch «Die Kartause von Parma». Alfred Escher hat den richtigen Berufsweg gewählt. Als Jurist erarbeitet er sich in jedem Gebiet redegewandte Kompetenz, wenn es ihm notwendig erscheint, Macht zu gewinnen. Um Escher scharen sich Männer der hohen Finanz und Industrie, dann auch solche, die in dieser Interessengemeinschaft die Chancen eigenen Vorwärtskommens erblicken, Professoren, Literaten und Zeitungsschreiber: so charakterisiert der konservative Luzerner Jurist Philipp Anton von Segesser den Senkrechtstarter aus Zürich. In der Eisenbahnfrage unterliegt Escher vorerst, als die Mehrheit der 1849 gegründeten nationalrätlichen Eisenbahnkommission dem geplanten Bahnbau nach dem Entwurf von Stephenson und Swinburne zustimmt. Doch dann bündelt Escher die Kräfte seiner Anhänger, auch in den Medien. In der entscheidenden Nationalratssitzung zum Eisenbahngesetz vom 8. Juli 1852 obsiegt Eschers Minoritätsentwurf: «Der Bau und Betrieb von Eisenbahnen im Gebiete der Eidgenossenschaft bleibt den Kantonen, beziehungsweise der Privattätigkeit überlassen.»14 Vorgegeben sind lediglich unter anderem der Bau in der Normalspur von 1435 Millimetern, Tarifabgleiche und Privilegien für Post- und Militärtransporte.
Das im ersten schweizerischen Eisenbahngesetz verankerte Laissez-faire sollte zum ruinösen Kampf zwischen kantonal konzessionierten, privat geführten Unternehmen ausarten. In einem Land, dessen Grösse einem mittleren deutschen Bundesland entspricht, bleibt der Landesregierung für 20 Jahre das Recht für koordinierendes Eingreifen versagt. Der 1852 geschaffene juristische Rahmen fördert zwar endlich den Bahnbau, er führt aber zu regionalen Monopolen und nicht zu einem Wettbewerb, der den Schienentransport verbilligt. Privat finanziert sind die Privatbahnen auch nur zum Teil, überall und gerade auch für Alfred Escher muss die öffentliche Hand Garantien oder Subventionen sicherstellen, besonders für die Gotthardbahn. Die vorerst fünf regionalen Monopole behindern sich an den Schnittstellen gegenseitig, indem sie Güter umladen lassen, statt fremde Wagen zu befördern, indem sie Abkürzungsstrecken bauen lassen, um günstigere Tarife anbieten zu können, indem sie Konzessionen für Konkurrenzstrecken hintertreiben oder indem sie Einführungen von technischen Neuerungen mit juristischen Mitteln verhindern.
Alfred Escher profiliert sich in diesen Auseinandersetzungen als instinktsicherer Machtpolitiker wie auch als lernwilliger Netzwerker. In sein Netz fängt er mittels Ämtern und Stellen auch Oppositionelle wie den radikalliberalen Schriftsteller Gottfried Keller oder den als Kommunisten verschrienen Johann Jakob Treichler. Escher und seinen Mitstreitern gelingt es vorerst, die bestehende «Schweizerische Nordbahn» Zürich—Baden mit der «Bodenseebahn» Zürich—Romanshorn zur Nordostbahn NOB zu fusionieren. Zürich erhält so ab Mitte 1856 als zweite Schweizer Stadt eine internationale Schienenverbindung – vorausgesetzt, dass die Güter in Romanshorn und dem württembergischen Friedrichshafen auf Schiffe umgeladen werden.15
Gut 15 Monate später nimmt die NOB auch die «Rheinfallbahn» Zürich—Schaffhausen mit Anschluss an die Badische Bahn in den Konzern auf. Sie beherrscht schliesslich den wichtigsten schweizerischen Verkehr von Deutschland ab Basel und Schaffhausen bis Luzern und Glarus. Den letzten Konkurrenten, die «Schweizerische Nationalbahn» SNB mit Sitz in Winterthur, treibt die NOB bis 1880 in den Konkurs und übernimmt die Konkursmasse zu 12,4 Prozent der Bau- und Betriebsmittelausgaben. Die NOB verfügt schliesslich – inklusive Bözbergbahnbeteiligung – über ein Schienennetz von 771 Kilometern. Sie bildet bis zum Zusammenschluss der Berner und der Westschweizer Bahnen den grössten Bahnkonzern des Landes.
In Basel setzen sich am 5. Oktober 1852, kurz nach der Festsetzung des Eisenbahngesetzes, Wirtschaftsvertreter zusammen, angeführt von Ratsherr Carl Geigy. Der Farbstoffindustrielle hat 1850 Stephenson und Swinburne in wirtschaftlichen Fragen beraten. Da nun anstelle des Bundesrats die Kantone Eisenbahnprojekte bewilligen müssen, nutzt Geigy seinen Ruf und Einfluss und gewinnt die beiden Basler Halbkantone sowie die Kantone Aargau und Luzern für den Bau einer «Schweizerischen Centralbahn» SCB Basel—Olten—Luzern. Mit ihm als erstem Präsidenten und ab 1856 als Direktor und dem Engländer Thomas Brassey als Generalunternehmer gelingt der Durchbruch des ersten langen Gebirgstunnels der Schweiz am Hauenstein. Das Streckennetz erschliesst von Frankreich her den Jurafuss, die Zentralschweiz und Bern. Es ist inklusive der Beteiligung an der Aargauischen Südbahn 390 Kilometer lang. Eine von Alfred Escher angeregte Fusion mit der NOB kommt nicht zu Stande, beide Konzerne streben über verschiedene Zufahrtslinien der Transitroute über den Gotthard zu.
Auf St. Galler und Pariser Initiativen gehen die «Vereinigten Schweizer Bahnen» VSB zurück. Wie der Gesellschaftsname verrät, besteht das ursprüngliche Ziel dieses ostschweizerischen Konzerns darin, die Schweizer Bahnen gemäss der Strategie der Gebrüder Rothschild zu vereinigen. 1857 gelingt der Zusammenschluss der Sankt Gallerbahn mit der Glatttalbahn. Die VSB beginnen sofort mit dem Bau der Rheintalbahn Richtung Chur und Lukmanier. Doch nach dem Entscheid, die Alpentransversale über den Gotthard zu bauen, stagnieren die VSB. Sie betreiben Ende des 19. Jahrhunderts ein Regionalnetz vom Rheintal rund um die Voralpen bis ins Zürcher Oberland. Es ist inklusive Toggenburgbahn knapp 300 Kilometer lang. Die nie vollendete Ostalpenbahn aber bleibt eine Hypothek der Sankt Galler, ihnen fehlt lange Zeit die internationale Transitachse, die schliesslich mit dem Bau der Arlbergbahn eine andere als die ursprünglich vorgesehene Richtung nimmt.16
Im Berner und im Westschweizer Einflussgebiet schliessen sich die Bahnen erst spät zum Bahnkonzern «Jura—Simplon» JS zusammen. Alfred Eschers fast gleichaltriger Gegenspieler Jakob Stämpfli ist wie jener Jurist und Vollblutpolitiker, jedoch auf radikaler Seite. Er favorisiert ein staatlich geplantes und gebautes Eisenbahnnetz. Ihm bleibt nach dem Erlass des Eisenbahngesetzes 1852 nichts anderes übrig, als sich statt im nationalen nun im kantonalen Rahmen für den Bahnbau einzusetzen.
Fünf Jahre später liegt der Bericht über ein bernisches Eisenbahnwesen vor. Zu spät, um den Baslern die Stirne bieten zu können. Diese haben bereits 1853 eine Linie über Burgdorf bis Thun konzessionieren lassen. Nun suchen die Berner eine Route für eine zweite schweizerische Haupttransversale vom Jura auf «Abwegen» durch das Emmental und das noch dünner besiedelte Entlebuch Richtung Luzern und Zürich. Finanziert mit einem Extrakredit der Berner Regierung eröffnet diese «Ost—West-Bahn» OWB am Ufer des Bielersees 1860 ihr erstes Teilstück. Ein halbes Jahr später ist die Gesellschaft zahlungsunfähig. Umgerechnet 250 Millionen Franken sind bereits im Abschnitt Bern—Langnau verbaut. Die OWB erhält im Volksmund den Übernamen «Oh weh»-Bahn.
Doch dank Stämpflis Omnipotenz wird die OWB am Tage ihrer Liquidation gleich Phönix aus der Asche zur «Bernischen Staatsbahn» BSB. Sie übernimmt die Konkursmasse der OWB zu einem Fünftel der Baukosten. Mit weiteren Staatsmitteln schafft die BSB immerhin noch die Anschlüsse an die Basler Centralbahn in Zollikofen und Gümligen, weit entfernt davon, eine zweite schweizerische Transversale anbieten zu können. Die Fortsetzung Richtung Zürich wird erst Jahre später, 1875, von der «Bern—Luzern-Bahn» BLB vollendet. Ab Luzern übernehmen die Zürcher das Zepter. Den Bernern bleiben trotz weiteren Berner Steuergeldzuschüssen nur Schulden und Kostenüberschreitungen; 1876 wird der Konkurs verhängt. Der Kanton Bern übernimmt die BLB zum halben Baupreis. 1884 entsteht durch Fusion die «Jura—Bern—Luzern-Bahn», die 1890 mit den Westschweizer Bahnen in der «Jura—Simplon-Bahn» JS aufgeht. Das Streckennetz von 937 Kilometern umfasst auch die meterspurige Brünigbahn, die bereits früh mit internationalen Anschlüssen realisierten Jurabahnen und die Verbindungen vom Wallis über Genf nach Paris und Lyon zum Mittelmeer.17 Die JS bringt zwar noch den Simplon-Vertrag zustande, kann diesen längsten Tunnel der Welt aber nicht mehr zur Privatbahnzeit vollenden.
In Konkurrenz vor allem zur NOB entsteht das Projekt für eine «Schweizerische Nationalbahn» SNB. Das Ziel ist der Bau einer ersten zusammenhängenden Bahn zwischen dem Boden- und dem Genfersee mit Ästen nach Basel, Singen, Zürich und Aarau. Die regionalen Transportmonopole der Privatbahnkonzerne St. Gallens, Zürichs und Basels sollen gebrochen werden. Politisch basiert dieses Projekt auf der Opposition der Winterthurer Demokraten und der Berner Radikalen gegen die Liberalen. Sie nutzen die Unzufriedenheit der Öffentlichkeit nicht nur mit den Privatbahnkonzernen, sondern ganz speziell mit Alfred Escher als Eisenbahnkönig. Die 1864 ausbrechende Wirtschaftskrise verschärft die Situation. 1867 verlangen die Winterthurer Demokraten auf Landsgemeinden vorerst eine kantonale Verfassungsrevision, danach auch eine eidgenössische. Ihr spezielles Ziel ist die Ablösung des Eisenbahngesetzes von 1852 durch eine Regelung, welche die Bewilligung für den Bau neuer Bahnlinien von den Kantonen auf den Bund überträgt und auch Schmalspurbahnen zulässt. Das neue Eisenbahngesetz tritt 1872 in Kraft. Im Kanton Zürich übernehmen die Demokraten die Macht, sie lassen das Nationalbahnprojekt sofort so weit wie möglich konzessionieren. Die Ostsektion führt von den deutschen Städten Konstanz und Singen nach Winterthur. Neben dem Rheinviadukt bei Hemishofen erstellt die SNB die zweitlängste Eisenbrücke der Schweiz über die Thur bei Ossingen und präsentiert sie 1876 stolz bei der Weltausstellung in Philadelphia. Die Westsektion hätte über Zürich in die Westschweiz führen sollen. Schon im Gründerjahr beantragt die SNB bei der Bundesversammlung den Bau eines Kopfbahnhofs in Zürich. Die bestehenden Bahnkonzerne reagieren, indem sie ihre Linien mit alten Prioritätsrechten konzessionieren lassen, um der SNB den Weg abzuschneiden. Allen voran unternimmt die Nordostbahn alles, um das Nationalbahnprojekt durch Juristereien, technische und wirtschaftliche Schikanen zu verunmöglichen. Als die Strecke bis Zofingen auf 157 Kilometer Länge gebaut ist, kollabiert die SNB infolge laufender Projektänderungen und sehr schlechter Betriebsergebnisse.18 Am 20. Februar 1878 wird die Zwangsliquidation verfügt.
Die hauptsächlich mit Steuergeldern finanzierte SNB geht mit allen Bauten und dem Rollmaterial zum erwähnten Achtel aller Investitionskosten an die feindliche NOB. Für Winterthur und viele nunmehr schwer verschuldete Gemeinden entlang der SNB beginnt eine oft jahrzehntelange Depression. Die Demokraten verlieren ihre Kantonsrats- und Regierungsmehrheit wieder an die Liberalen. Aber auch die alten Privatbahnkonzerne haben überinvestiert, sie erwirtschaften statt Renditen Verluste, die Aktienkurse fallen auf einen Tiefststand.
Mit der Übernahme der Zürich—Zug—Luzern-Bahn aus der Konkursmasse der OWB ändert Alfred Escher seine Alpenbahnstrategie: der Gotthard und nicht mehr der Lukmanier ist nun sein Ziel. Auch international hat sich die Situation verändert. Im Süden ist 1859–1861 das Königreich Italien entstanden, im Norden mit dem Sieg über Frankreich 1871 das deutsche Kaiserreich. Alfred Escher bemüht sich erfolgreich, die Schweiz aus diesen Konflikten herauszuhalten. Er nutzt die neue Konstellation und beruft bereits 1869 die internationale Gotthardkonferenz ein. Ende 1871 entsteht als fünfter schweizerischer Bahnkonzern die Gesellschaft der «Gotthardbahn» GB. Doch die Baukosten werden unrealistisch tief eingeschätzt. Die Überschreitungen können auch nach zwei exorbitanten Rücktrittsentschädigungen für die Oberingenieure Robert Gerwig und Wilhelm Hellwag nicht eingedämmt werden. Die Umprojektierung – steilere Rampenstrecken, engere Kurven und nur einspuriger Ausbau – bedarf dennoch einer Zusatzfinanzierung. Zahlen sollen das Private, Deutschland, Italien und die Schweiz – und dies mitten in der 1877 ausgebrochenen Eisenbahnkrise. Die Zürcher Stimmbürger lehnen die Nachfinanzierung ihres Anteils aus Steuergeldern ab. Ausschlaggebend sind dieses Mal nicht Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Freisinnigen, sondern solche innerhalb des freisinnigen Lagers, vor allem zwischen den zwei einstigen Busenfreunden: Bundesrat Emil Welti und Alfred Escher. Der Eisenbahnkrach beendet Eschers Glanzjahre; er tritt in den 1870er-Jahren aus der operativen Leitung der drei wichtigsten von ihm aufgebauten Firmen zurück: aus der GB, aus der NOB und aus deren Hausbank, der Schweizerischen Kreditanstalt. Dennoch zieht der nimmermüde, aber oft kranke Macher und Machthaber die Fäden weiterhin. Kein anderer Schweizer hat die Machtfülle von Alfred Escher je wieder erreicht. Sein nach Ernst Gagliardi19 wichtigster Biograph, Joseph Jung, fasst sein Leben in drei Worten zusammen: Aufstieg, Macht und Tragik.20 1882 stirbt Alfred Escher mit rund verfünffachtem Vermögen, jedoch aufgebraucht und ausgebrannt, unter anderem an Furunkeln – wie ein Jahr später in London der verarmte Karl Marx. Einen Heldentod bei einer Baustellenbesichtigung im Gotthardtunnel hingegen findet Louis Favre, der 1872 in der Ausschreibungskonkurrenz einen zeitlich nicht erfüllbaren Vertrag mit ruinösen Konventionalstrafen für den Fall von Bauverzögerungen unterschrieben hatte. Der Rückstand kann auch durch Einsatz neuester Sprengtechnik mittels Dynamit und trotz miserabler Arbeitsbedingungen nicht wettgemacht werden. Am Gotthard sprengt sich Helvetia mit verbundenen Augen 15 Kilometer lang durch Granit, Gneis, und Sedimente, der deutsche Kaiser hält ihre Hand. Die zehn statt der versprochenen acht Jahre Bauzeit entwickeln sich zur finanziellen, politischen und menschlichen Katastrophe.
Die Gotthardbahn gerät 1877 mit allen anderen schweizerischen Privatbahnen in die Krise. Der Aktienkurs stürzt bei der Gotthardbahn von maximal 652 auf 104 Franken ab. Der Bau allein des Gotthardtunnels fordert 319 Menschleben, nicht eingerechnet die ungezählten nach Hause geschickten und dort an Tuberkulose und Hakenwürmern verstorbenen Kranken.21
1882 wird der durchgehende Verkehr auf der Gotthardbahn aufgenommen.22 Der private, stark von Deutschland und Italien finanzierte Gotthardbahnkonzern betreibt schliesslich ein Netz von 273 Kilometern Länge. Die Gesamtkosten betragen – ohne Zufahrtslinien – 230 Millionen Franken, was in dieser Zeit mehr als dem 15-fachen der jährlichen Einnahmen des Bundes entspricht.
Die Aussicht auf Gründergewinne und hohe Kapitalrendite ist die Triebfeder des Privatbahnbaus. Doch die Möglichkeit, immer mehr Wertpapiere zu emittieren, geht noch nicht ins Unendliche.
Sowohl die führenden Kreise aus Zürich als auch diejenigen von St. Gallen klopfen an die Türen des grössten Eisenbahn-Investors, des Bankhauses Rothschild. Fünf Söhne des jüdischen Bankengründers betreiben das Stammhaus in Frankfurt und Filialen in Wien, London, Neapel und Paris, die Diamantenminen de Beer und – bis heute – die Weingüter Mouton und Lafitte. Zum Imperium der Gebrüder Rothschild in Paris gehören die Eisenbahngesellschaften «du Nord», «Paris—Lyon—Méditerranée», «Lyon—Genf», grosse Anteile an den österreichischen und oberitalienischen Eisenbahnen. Selbst in Sizilien, Spanien und Russland beteiligen sich die Rothschilds massgebend am Eisenbahnbau. Aber 1852 fehlen noch die Verbindungen in Zentraleuropa. Noch vor den Sankt Gallern tritt Alfred Escher in Verbindung mit den Rothschilds und bietet ihnen mit der Nordostbahn-Beteiligung nichts weniger als «das beste unserer schweizerischen Geschäfte» an. Die Rothschilds steigen gemeinsam mit dem Genfer Bankhaus Bartolony ein, verlangen zwei Fünftel der Verwaltungsratssitze in der Nordostbahn und die Fusion mit den anderen geplanten schweizerischen Eisenbahnen zu einem einzigen Konzern. Zudem wird die Emission weiterer Aktien von der Zustimmung der Rothschilds abhängig gemacht. Daran hält sich Escher jedoch nicht. Er vermacht weitere Aktienpakete dem Feind der Rothschilds: Isaac Péreire, ehemaliger Makler bei Rothschild. Sein boomendes Bankgeschäft kontrolliert 1853 zusammen mit Oppenheimers Darmstädter Bank die Eisenbahngesellschaften «du Midi», «de l’Ouest», «de l’Est», Grand Central und Schifffahrtsgesellschaften. Péreires «Crédit mobilier» macht der NOB ein Angebot mit weniger Bedingungen bezüglich der Einflussnahme als die Rothschilds. So kommt es denn zum Prozess der Rothschilds gegen die Nordostbahn. Der Eisenbahnkrieg vergifte und spalte je länger desto mehr auch die Freisinnige Partei, bemerkt ein zeitgenössischer Kritiker Eschers, «und im Hintergrund lauern gleich unheimlichen Gespenstern die fremden Geldmächte, die man um der Eisenbahn willen ins Land gerufen hat».
Escher stellt sich dem Problem, indem er zur Finanzierung seiner Eisenbahnpläne eine eigene Kreditbank aufbaut. Mit seinen NOB-Direktoren Fierz und Rüttimann und dem Schweizer Konsul in Leipzig, dem Kontaktmann zur Allgemeinen deutschen Kreditanstalt, Hirzel, bildet er 1856 den Ausschuss für die Gründung der «Schweizerischen Kreditanstalt» SKA. Die deutsche Kreditanstalt beteiligt sich mit 50 Prozent am Gründungskapital und erhält zwei von 15 Verwaltungssitzen. Die Aussicht auf riesige Gründergewinne, wie sie durch Péreires Kreditanstalt bekannt geworden sind, lockt fast alles verfügbare Kapital in der Schweiz zusammen. Statt drei Millionen Franken werden 218 Millionen gezeichnet. Dank dieser 72-fachen Überzeichnung können die Bauarbeiten an der Bodenseebahn forciert und zusätzliche Investitionen in die Doppelspur Baden—Zürich—Wallisellen gemacht werden. Die Hausbank der NOB entwickelt sich zur grössten Schweizer Bank, zur «Crédit Suisse» CS. Die St. Galler aber bleiben in Abhängigkeit von den Gebrüdern Rothschild, die Basler finden in der Region genügend eigenes Kapital und die Berner machen mit ihrem Staatsbahnkonzept zwei Mal Konkurs. Das will nicht heissen, dass die vermeintlich reinen Privatbahnkonzerne nicht auch die öffentliche Hand für ihre Risiken belangen.
Der Eisenbahnbau benötigt ein nie dagewesenes Mass an Kapital. In der Schweiz verschlingen die Bahninvestitionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen dominierenden Teil aller Anlageinvestitionen. In den Jahren des höchsten Eisenbahnfiebers, also 1857 und 1875, übertreffen sie alle Investitionen für den Häuser-, den Strassen- und den Wasserbau. Hinzu kommt ein Teil der Kosten für Maschinenimporte, die ebenso der Industrie wie den Bahnen dienen. Allerdings unterliegen die Eisenbahninvestitionen noch grösseren Schwankungen als die übrigen Bauinvestitionen. Nach dem ersten Bahnbauboom fallen sie auf unter 5 Prozent des Spekulationsjahres von 1857, mit entsprechenden Folgen für die Arbeitsplätze. Ähnlich sieht das Verhältnis für die Zeit nach 1875 aus.23
Was bewegt Banken, Klein- und Grosskapitalisten zu solch unausgewogenen Einsätzen? Die im 19. Jahrhundert entstehenden Kreditbanken führen die Handelbarkeit aller Arten von Schulden ein, die anonymen Aktiengesellschaften wenden sich vom Prinzip der persönlichen Haftung ab; sie kreieren Wertpapiere, die beim Wertzerfall zu Nonvaleurs werden.24 Dem versucht der Bundesstaat 1851 entgegenzuwirken, indem er sich das Recht auf Ausstellung von «Gutscheinen für die Auszahlung von Münzen» zuspricht. Doch trotz der Einführung einer einzigen nationalen Notenbank im Jahre 1874 und schliesslich der Gründung der Nationalbank verliert diese gegenüber den Geschäftsbanken 90 Prozent dieses Monopols, sie kontrolliert lediglich noch 10 Prozent der umlaufenden Geldmenge.
Das für den Bahnbau notwendige Kapital wird angelockt mit dem Versprechen auf Dividenden und vor allem auf Kurssteigerungen von Aktien und Obligationen: Für die Finanzierung der geplanten Bahnbauten werden die Wertpapiere bewusst unter dem Nennwert und voraussichtlichen Kurswert angepriesen, zum Beispiel zu 80 Prozent. So verwandeln sich 80 einbezahlte Millionen über Nacht in 100 Millionen. Der Gründergewinn von 20 Millionen kommt nicht dem Bahnbau zu Gute, sondern den Verwaltern und Einlegern der Banken oder direkt den Grosskapitalisten. Diese nutzen ihr Vermögen für die Machtsteigerung, indem sie im Falle des Bahnbaus in der Schweiz Einsitz in die Direktions- und Verwaltungsgremien nehmen, um ihre Gewinne sichern zu können. Mittels Prioritäts- und Stammaktien hebeln sie die Aktionärsdemokratie aus. Ihre politische Einflussnahme sorgt für Steuererleichterungen, staatliche Subventionen und Garantien für ihre abzuschöpfenden Gewinne: Bereits 1861 fehlen den Privatbahnen die Erträge zur Deckung der Zinsen; sie nehmen neues Kapital auf und decken damit die Zinsen und zahlen Dividenden aus. Für 1876 stellt der Bund fest, dass ausser der Vitznau—Rigi-Bahn keine einzige Bahn rentiere. Am Jahreswechsel darauf kommt es zum Börsenkrach.
Die auf kurzsichtige Gewinnmaximierung ausgerichteten Mechanismen dieser Spielart des Liberalismus führen zur Aushöhlung der Substanz ganzer Konzerne. Bereits 1858 gibt es massive Krisenerscheinungen, 1867, im Jahr der Liquidation von Isaac Péreires Crédit Mobilier, verschärfen sie sich, um schliesslich 1877 zum Kollaps durch Börsensturz zu führen. Auch die Nordostbahn hat zur Steigerung ihres Shareholder Values Mittel aus dem Baubudget für defizitäre Betriebsbereiche abgezweigt, den Unterhalt vernachlässigt und ihre Direktoren und Verwaltungsräte fürstlich entschädigt. Beim Zusammenbruch der Eisenbahnspekulation sinkt der Kurs der Nordostbahnaktie von 670 Franken im Jahre 1871 auf 53 Franken im Jahre 1879. Derjenige der VSB sinkt sogar auf 37 Franken. Nach Karl Bürkli belastet der Wertpapierverlust der Schweizer Bahnen, dividiert durch die Einwohnerzahl, die Schweizer stärker als die Reparationen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg 1871 an Deutschland zahlen muss: «Dieses Landesunglück kann kaum mit einem verlorenen Krieg verglichen werden, namentlich für den Kanton Zürich, der so stark betheiligt ist.»25 Bürkli lanciert 1878 die Volksinitiative für die Eisenbahnverstaatlichung. Zwar ohne Erfolg; immerhin wird festgeschrieben, dass im Falle eines «Rückkaufs» keine übertriebenen Abgeltungen zu entschädigen sind.