Der Autor

Chris Carter wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang als Kriminalpsychologe für die Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Mittlerweile lebt Chris Carter als Vollzeit-Autor in London. Seine Thriller um Profiler Robert Hunter sind allesamt Bestseller.

Von Chris Carter sind in unserem Hause bereits erschienen:
One Dead (E-Book) · Der Kruzifix-Killer
Der Vollstrecker · Der Knochenbrecher
Totenkünstler · Der Totschläger
Die stille Bestie · I am Death – Der Totmacher
Death Call – Er bringt den Tod · Blutrausch – Er muss töten
Jagd auf die Bestie

Das Buch

Auf der Uni waren sie zwei der brillantesten Köpfe und beste Freunde. Robert Hunter, inzwischen Leiter der Ultra Violent Crimes Unit des LAPD, und Lucien Folter, der gefährlichste Serienkiller in der langen Geschichte des FBI. Als Hunter erfährt, dass sein früherer Freund aus dem Hochsicherheitsgefängnis entkommen ist und ihm eine Nachricht hinterlassen hat, ist er in höchster Alarmbereitschaft. Lucien, hochintelligent, dabei absolut skrupellos, will Hunter leiden sehen. Mit einem Rätsel lockt er ihn an einen Ort, wo er eine Bombe deponiert hat. Wenn es Hunter nicht gelingt, das Rätsel schnell zu lösen, wird Lucien die Bombe zünden. Es ist der Beginn eines blutigen Katz-und-Maus-Spiels.

Chris Carter

Jagd auf die Bestie

Thriller

Aus dem Englischen
von Sybille Uplegger

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage August 2019
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
© Chris Carter 2019
Published by Arrangement with Luiz Montoro
Titel der englischen Originalausgabe:
Hunting Evil (Simon & Schuster Inc.)
Umschlaggestaltung: zero-media. net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München
Autorenfoto: © Polskapresse
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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2057-1

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Widmung

Dieses Buch ist allen Leserinnen und Lesern
auf der ganzen Welt gewidmet, die mir schon
seit vielen Jahren die Treue halten.
Ihr seid wirklich unglaublich.

Ich danke euch aus tiefstem Herzen.

1

An diesem Morgen brauchte Jordan Weaver aufgrund eines liegen gebliebenen Lkw, der eine der Zufahrtsstraßen an der Route 58 blockierte, für die knapp neun Meilen von seiner Haustür bis an seinen Arbeitsplatz exakt achtundzwanzig Minuten und einunddreißig Sekunden – etwa zwölf Minuten länger als gewöhnlich. Das Abstellen des Wagens und der Fußweg zum Personaleingang kosteten ihn weitere achtzig Sekunden. Die Sicherheitskontrollen, das Einstempeln, der Gang zum Spind, um seine Tasche einzuschließen, und ein kurzer Abstecher auf die Toilette nahmen weitere acht Minuten und neunundvierzig Sekunden in Anspruch. Er holte sich noch schnell eine Tasse Kaffee in der Kantine und ging dann das letzte Stück den langen L-förmigen Gang entlang, der zu seinem Arbeitsplatz führte – das dauerte eine Minute und siebenundzwanzig Sekunden. Somit benötigte Jordan Weaver, Justizvollzugsbeamter im Krankenflügel des Lee-Hochsicherheitsgefängnisses in Virginia, alles in allem exakt vierzig Minuten und neun Sekunden, um den Arbeitstag zu beginnen, der der schlimmste Tag seines Lebens werden sollte.

Als er um die Ecke bog und sein Blick auf den Kontrollraum fiel, war seine Kehle plötzlich staubtrocken, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Der Raum, der auf allen Seiten über große, kugelsichere Glasscheiben verfügte, durfte niemals unbesetzt sein. Es mussten sich immer mindestens zwei Wachen darin aufhalten. Aber von seiner Position aus konnte Weaver keinen einzigen Kollegen im Raum entdecken. Das war besorgniserregender Fakt Nummer eins.

Besorgniserregender Fakt Nummer zwei war, dass die Panzertür zum Kontrollraum sperrangelweit offen stand, was laut Regelwerk der Haftanstalt strengstens verboten war.

Doch was Weaver schließlich einen kalten Angstschauer über den Rücken jagte und ihn dazu veranlasste, seinen Kaffee fallen zu lassen und ein stummes Stoßgebet gen Himmel zu schicken, es möge sich bei dem, was er sah, lediglich um einen schrecklichen Traum handeln, war das Blut, das innen an den Scheiben herunterlief.

»Nein, nein, nein …«

Seine Stimme wurde immer lauter, während er zum schnellsten Sprint seines Lebens ansetzte. Mit jedem Schritt schlug der große Schlüsselbund, den er am Gürtel trug, laut rasselnd gegen seine rechte Hüfte. Vier Sekunden später hatte er die Tür zum Kontrollraum erreicht, und der Albtraum wurde endgültig Realität.

Auf dem Boden des kugelsicheren Raumes lagen seine Kollegen Vargas und Bates in einer riesigen Blutlache. Ihre Köpfe waren unnatürlich verdreht, sodass man die Wunden an ihren Hälsen sehen konnte – klaffende Schnitte, die einmal quer über die Gurgel verliefen und Drosselvene, Schlagader sowie Schilddrüsenknorpel zertrennt hatten.

»Scheiße!«

In einer Ecke, auf einem der drei Drehstühle, saß Frank Wilson, ein vierundzwanzigjähriger Pfleger mit asiatischen Wurzeln, der erst kürzlich seine Ausbildung an der Old Dominion University in Norfolk abgeschlossen hatte. Ihm war dermaßen brutal die Kehle aufgeschlitzt worden, dass ihm dabei fast der Kopf abgetrennt worden war. Im Gegensatz zu Vargas und Bates waren Wilsons Augen weit aufgerissen, und in ihnen stand das nackte Entsetzen. Aufgrund des Winkels, in dem sein Kopf abgeknickt war, sah es seltsamerweise so aus, als würde er Weaver anstarren – als flehe er ihn selbst nach seinem Tod noch um Hilfe an. Alle drei waren bis auf die Unterwäsche ausgezogen worden. Ihre Waffen fehlten.

»Um Gottes willen. Was zur Hölle ist denn hier passiert?«

Betäubt vor Entsetzen, stieg Weaver über Vargas’ reglosen Körper hinweg, um das Steuerpult mit dem roten Alarmknopf in der Mitte des Raumes zu erreichen. Als er mit der rechten Hand fest auf den Knopf schlug, ging im gesamten Komplex augenblicklich das ohrenbetäubende schrille Heulen der Sirenen los.

Auf der Krankenstation im Westflügel der Haftanstalt gab es insgesamt acht Zellen, und dem Belegungsplan nach hatte nur ein einziger Patient die Nacht auf der Station verbracht – der Häftling in Zelle Nummer eins. Sofort sprang Weavers Blick zu den blutbespritzten Monitoren oberhalb der Konsole, genauer: zum Monitor ganz links – Zelle eins.

Die Zelle war leer, die Tür stand offen.

»Scheiße!«

Weaver spürte, wie seine Knie unter ihm nachzugeben drohten. Er war seit neun Jahren Schließer auf der Krankenstation, und während der ganzen Zeit war noch nie ein Häftling ausgebrochen.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, brüllte er aus vollem Hals. »Wie konnte das passieren?«

Erneut zuckte sein Blick durch den Kontrollraum. Er hatte noch nie so viel Blut auf einmal gesehen, und obwohl er sich der Gefahren seines Jobs durchaus bewusst war, hatte er auch noch nie einen Kollegen verloren.

»SCHEISSE!«

Dann hielt Weaver urplötzlich inne. Sein Verstand hatte etwas Ungewöhnliches registriert, das ihm aus unerfindlichen Gründen bis zu diesem Moment entgangen war.

In einer halb geöffneten Schublade unmittelbar hinter dem Steuerpult blinkte ein schwaches weißes Licht.

»Was zum Teufel …?«

Weaver neigte den Kopf erst nach links, dann nach rechts. Ja, da blinkte definitiv etwas in der Schublade, allerdings konnte er nicht erkennen, was es war.

Um zur Schublade zu gelangen, musste Weaver ein weiteres Mal über den toten Vargas hinwegsteigen. Als sein rechter Fuß den Boden berührte, glitt er auf dem dicken Film Blut aus, der das Linoleum bedeckte, und verlor das Gleichgewicht. Instinktiv streckte er die Hände nach vorne aus, um sich irgendwo festzuhalten. Seine linke Hand griff ins Leere, doch seine rechte bekam den Rand der offenen Schublade zu fassen. Als er sich wieder aufzurichten versuchte, geriet sein Fuß erneut ins Rutschen, sein Griff um die Schubladenkante verstärkte sich, und er zog sie aus der Führung.

Selbst über das Heulen der Alarmsirene hinweg hörte Weaver das merkwürdige Klick, als die Schublade aufging.

Es war das letzte Geräusch, das er in seinem Leben hörte, bevor ihm die Explosion den Kopf zerriss und in eine Wolke aus Blut, Knochensplittern und Hirnmasse verwandelte.

2

Das Nationale Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen, kurz NCAVC, war eine Spezialabteilung des FBI, die 1981 ins Leben gerufen worden war und 1984 offiziell ihre Arbeit aufgenommen hatte. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, andere Strafverfolgungsbehörden bei der Aufklärung ungewöhnlicher Gewalt- oder Serienverbrechen operativ und investigativ zu unterstützen, und das sowohl innerhalb der USA als auch im Ausland.

Der Leiter des NCAVC, Adrian Kennedy, koordinierte den Großteil der Einsätze entweder vom Hauptquartier der Abteilung in Quantico, Virginia, oder von seinem Büro im obersten Stockwerk des berühmten J. Edgar Hoover Buildings im Nordwesten von Washington D. C. aus.

Doch als an diesem Morgen sein Handy klingelte, war Kennedy an keinem dieser beiden Orte. Wie es der Zufall wollte, hielt er sich in Los Angeles auf, wo er soeben eine gemeinsame Mordermittlung mit dem LAPD zum Abschluss gebracht hatte.

»Übermorgen findet Special Agent Larry Williams’ Beisetzung statt«, sagte er, an die Detectives Robert Hunter und Carlos Garcia gewandt. Seine von Natur aus raue Stimme, durch jahrzehntelangen Zigarettenkonsum noch heiserer geworden, klang müde. »In Washington D. C. Ich wollte es Ihnen nur sagen, für den Fall, dass Sie es einrichten können zu kommen.«

»Wir nehmen uns die Zeit«, antwortete Hunter. Auch ihm hörte man die Erschöpfung an, und die Tränensäcke unter seinen Augen verrieten, wie wenig er in den letzten Tagen geschlafen hatte.

Garcia nickte bekräftigend. »Ja, wir kommen auf jeden Fall. Special Agent Williams war ein erstklassiger Agent.«

»Einer meiner besten.« In Kennedys Stimme schwang Trauer mit. »Und ein guter Freund.«

»Es war uns eine Ehre, mit ihm zusammenzuarbeiten«, sagte Hunter.

Kennedy schwieg und blickte ins Leere, als sinne er über etwas nach. Im nächsten Moment spürte er, wie das Diensthandy in seiner Sakkotasche vibrierte. Er bat die beiden Detectives mit einer flüchtigen Geste der linken Hand um Geduld, dann nahm er den Anruf entgegen.

»Adrian Kennedy«, meldete er sich. Eine Weile lauschte er, ohne etwas zu sagen. Doch schon innerhalb der ersten Sekunden trat eine deutlich sichtbare Verwirrung in seine Züge. Diese Verwirrung wurde zu Unglauben und schließlich zu blankem Entsetzen.

»Was soll das heißen, er ist weg

Diese Worte veranlassten Hunter und Garcia dazu, ihm fragend die Köpfe zuzuwenden.

»Wann ist das passiert?« Ein Hauch nervöser Furcht hatte sich in Kennedys Stimme geschlichen.

»Was ist los?« Garcia sah den Direktor stirnrunzelnd an.

Kennedy bedeutete den beiden, abzuwarten.

»Wie zum Henker kann das überhaupt sein?« Kennedy zog die Schultern hoch, und die Nervosität in seiner Stimme schlug in Zorn um. »Korrigieren Sie mich, wenn ich falschliege, aber sollte er nicht eigentlich in einem Hochsicherheitsgefängnis untergebracht sein?«

»Und wie ist es möglich, dass ein Häftling, der in einem Bundesgefängnis mit höchster Sicherheitsstufe einsitzt, einfach aus einem schwer bewachten Gebäude spaziert, ohne dass ihn jemand aufhält? Was für beschissene, nichtsnutzige Wachen arbeiten denn da?«

»Entschuldigung – er wurde wohin verlegt?« Einen Sekundenbruchteil lang ging Kennedys zornfunkelnder Blick zu Hunter, der seinen alten Freund in wachsender Besorgnis beobachtete.

»Trotzdem, die Sicherheitsvorkehrungen hätten –« Kennedy brach mitten im Satz ab. »Wie viele Wachen hat er getötet?«

Kaum hatte er die Antwort gehört, fasste er sich mit der flachen Hand an die Stirn und begann sich mit Daumen und Zeigefinger die Schläfen zu massieren.

»Eine Selbstschussanlage im Kontrollraum?« Seine Augen wurden riesengroß. »Wie kann er im Kontrollraum eine Selbstschussanlage gebaut haben? Womit denn?«

»Wie in Gottes Namen ist er an eine …?« Abermals verstummte Kennedy abrupt. Ihm schien klar geworden zu sein, dass all seine Fragen an dem, was geschehen war, nichts mehr ändern konnten. »Okay. Ich will, dass er unverzüglich landesweit zur Fahndung ausgeschrieben wird«, befahl er. »Und ich meine unverzüglich, habe ich mich klar ausgedrückt? Jede Strafverfolgungsbehörde, jede noch so winzige Polizeidienststelle im Land muss informiert werden … jede. Außerdem will ich, dass Sie das Justizministerium darüber in Kenntnis setzen, dass die Suche nach dem Flüchtigen vom United States Marshals Office und dem FBI gemeinsam durchgeführt wird, kapiert? Die Marshals werden ihn nicht im Alleingang jagen.« Kennedy rang wütend nach Luft. »Und ich will den Namen der Gefängnisleitung. Jemand wird für dieses Versagen geradestehen, darauf können Sie – was, es kommt noch mehr? Was denn noch?«

Er schwieg einige Sekunden lang.

»Moment, Moment«, unterbrach er schließlich den Anrufer. »Das müssen Sie bitte wiederholen. Atmen Sie einmal tief durch, reißen Sie sich am Riemen, und dann noch mal von vorn, aber diesmal langsam und verständlich.«

Wieder huschte Kennedys Blick zu Hunter. Inzwischen sah er regelrecht gequält aus. »Sind Sie ganz sicher?«, fragte er den Anrufer. »In Ordnung.« Er klang resigniert. »Schicken Sie mir das Bildmaterial, ich will es mit eigenen Augen sehen, und zwar umgehend, haben Sie mich verstanden?«

»Ja doch, jetzt sofort!«

Kennedy legte auf. Um nicht das Handy gegen die Wand zu schleudern, holte er tief Luft und hielt den Atem an, bis er nicht mehr konnte.

»Was ist los, Adrian?«, fragte Hunter beunruhigt.

Keine Reaktion.

»Adrian«, sagte Hunter erneut. »Was zum Teufel ist hier los?«

Kennedys Blick, als er Hunter endlich ansah, wirkte hohl und weggetreten, doch Hunter bemerkte auch noch etwas anderes in seiner Miene. Etwas, das er nicht identifizieren konnte.

»Er ist weg, Robert«, stieß Kennedy nach einer scheinbaren Ewigkeit hervor. »Er ist geflohen. Er ist einfach aus dem Hochsicherheitsgefängnis rausspaziert, vollkommen unbehelligt. Er hat drei Wachen und zwei Pfleger auf der Krankenstation getötet.«

»Wer ist geflohen?«, fragte Garcia verständnislos. »Doch nicht der Killer, den wir gerade geschnappt haben?« Er sah Hunter kopfschüttelnd an. »Der sitzt doch noch in U-Haft … Obwohl er nach seinem Prozess sicher in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt wird.«

»Nein, es ist nicht der, den Sie gerade geschnappt haben«, antwortete Kennedy.

»Über wen reden wir dann hier?«, fragte Garcia mit Nachdruck.

Kennedy und Hunter wechselten einen Blick. Da war immer noch dieser seltsame Ausdruck im Gesicht des Direktors. Sekunden zuvor hatte Hunter nicht gewusst, was er bedeutete, doch jetzt erkannte er ihn. Es war Bedauern. Es tut mir so leid, sagte dieser Ausdruck.

Hunter spürte, wie sich in seinem Magen ein gähnender Abgrund auftat. Er musste gar nicht fragen, um wen es ging. Er wusste genau, welchen Namen Kennedy jeden Moment nennen würde.

Garcia hingegen hatte immer noch keine Ahnung, von wem der Direktor des NCAVC sprach, und verfolgte ratlos die stumme Kommunikation zwischen Kennedy und seinem Partner.

»Wer ist denn jetzt geflohen?«, wiederholte er ungehalten.

»Lucien«, gestand Kennedy.

Hunter schloss die Augen und atmete wie unter Schmerzen ein.

»Lucien?«, fragte Garcia, während sein Blick zwischen Hunter und Kennedy hin und her sprang. »Wer ist Lucien?«

Hunter machte die Augen wieder auf, sagte aber nichts.

Stattdessen war es Direktor Kennedy, der Garcia aufklärte.

»Lucien Folter.«

Den Namen laut auszusprechen bewirkte eine Veränderung in ihm. Auf einmal war er wie gelähmt vor Schock.

Garcia hatte Hunter noch nie so gesehen wie in diesem Moment. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er schwören können, dass sein Partner regelrecht verängstigt wirkte.

»Wer zum Teufel ist Lucien Folter?«

3

Detective Robert Hunter war als Einzelkind in Compton, einem sozialen Brennpunktbezirk im Süden von Los Angeles, aufgewachsen. Seine Eltern waren einfache Arbeiter. Als er sieben Jahre alt war, starb seine Mutter an Krebs, und sein nunmehr alleinerziehender Vater musste fast rund um die Uhr schuften, um sich selbst und seinen Sohn durchzubringen – einen Sohn, dessen Gehirn Informationen wesentlich schneller zu verarbeiten schien als die Gehirne normaler Menschen.

Es hatte sich schon früh gezeigt, dass Hunter kein Durchschnittskind war. Die Schule stellte für ihn nie eine Herausforderung dar, im Gegenteil, er war permanent frustriert und unterfordert. In der sechsten Klasse eignete er sich den Stoff des gesamten Schuljahres innerhalb von zwei Monaten selbstständig an, und nur um sich im Unterricht nicht zu Tode zu langweilen, nahm er sich danach gleich auch noch den Stoff der siebten, achten und neunten Klasse vor. Das blieb natürlich nicht unbemerkt. Der Schulleiter wurde auf ihn aufmerksam, und nach einem Gespräch mit Hunters Vater setzte er sich mit der Mirman School, einer am Mulholland Drive im Nordwesten von Los Angeles gelegenen Spezialschule für Hochbegabte, in Verbindung. Nach zahlreichen diagnostischen Tests bekam Hunter dort einen Platz in der achten Klasse angeboten. Er war zu dem Zeitpunkt noch keine zwölf Jahre alt.

Mit vierzehn hatte Hunter bereits das komplette schulinterne Curriculum in Englisch, Geschichte, Biologie, Mathematik und Chemie durchgenommen. Die eigentlich vier Jahre dauernde Highschool schaffte er in der Hälfte der Zeit, sodass er im Alter von fünfzehn Jahren als einer der Jahrgangsbesten seine Abschlussprüfungen ablegen konnte. Mit Empfehlungen sämtlicher Lehrkräfte ausgestattet, begann Hunter als Jungstudent ein Psychologiestudium an der Stanford University, die zu jenem Zeitpunkt über die beste psychologische Fakultät des Landes verfügte.

Obwohl er ein durchaus gut aussehender junger Mann war, schenkten seine Kommilitoninnen ihm keinerlei Beachtung – er war viel zu jung, zu dünn und zu merkwürdig angezogen. Er hatte weder den Körperbau noch das Talent für sportliche Aktivitäten und zog es ohnehin vor, seine freie Zeit in der Bibliothek zu verbringen, wo er mit unglaublicher Geschwindigkeit Bücher zu einer Vielzahl von Themen verschlang. Das war auch die Zeit, in der er sein Interesse für die Kriminologie entdeckte, insbesondere für die Gedankenwelt von Individuen, die man gemeinhin als »böse« bezeichnet.

Das Studium selbst bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, er erzielte auch weiterhin kontinuierlich Bestnoten. Allerdings war er recht schnell die Schikanen seiner älteren Mitstudenten leid, die ihn gewohnheitsmäßig herumschubsten und als »Zahnstocher« verhöhnten. Dem Ratschlag eines Freundes folgend, beschloss er irgendwann, einen Vertrag in einem Fitnessstudio abzuschließen und sich zum Kampfsporttraining anzumelden. Das Training war hart und brachte ihn oft bis an den Rand der Erschöpfung, aber er arbeitete mit dem Fleiß und der Ernsthaftigkeit eines professionellen Bodybuilders an seiner Form, und die Ergebnisse waren nicht zu übersehen. Nach einem Jahr war aus dem »Zahnstocher« ein muskulöser Athlet geworden, und bereits nach zwei Jahren erlangte er seinen schwarzen Gürtel in Karate. Das Mobbing hörte auf, und plötzlich sahen ihn auch die Studentinnen mit anderen Augen.

Mit neunzehn Jahren machte Hunter seinen Abschluss in Psychologie – summa cum laude –, und mit dreiundzwanzig wurde ihm der Doktortitel in Kriminal- und Biopsychologie verliehen. Einem seiner Professoren war es zu verdanken, dass seine Dissertation mit dem Titel »Psychologische Deutungsansätze krimineller Verhaltensmuster« zur Pflichtlektüre an der FBI-Akademie in Quantico, Virginia, wurde.

Doch nur vierzehn Tage später brach für Hunter abermals die Welt zusammen – zum zweiten Mal nach dem Tod seiner Mutter.

Sein Vater, der zu jener Zeit als Sicherheitsmann in einer Filiale der Bank of America am Avalon Boulevard arbeitete, wurde während eines Banküberfalls in die Brust geschossen. Er wurde umgehend operiert – ein Eingriff, der mehrere Stunden dauerte –, fiel danach jedoch ins Koma. Man konnte nichts mehr tun als warten und hoffen.

Also wartete Hunter. Er wachte am Bett seines Vaters und sah zu, wie dieser mit jedem Tag ein Stück mehr aus dem Leben zu schwinden schien, bis er zwölf Wochen später schließlich verstarb.

Diese zwölf Wochen hatten Hunter nachhaltig verändert. Er kannte nur noch einen Gedanken: Rache. Die Polizei hatte ihm mitgeteilt, dass man die mutmaßlichen Bankräuber nicht gefasst habe. Er musste fürchten, dass der Mörder seines Vaters niemals seine gerechte Strafe erhalten würde. Er kam sich vollkommen ohnmächtig vor, und dieses Gefühl der Ohnmacht erfüllte ihn mit einem unbändigen Zorn. Nach der Beerdigung seines Vaters fasste er einen Entschluss: Es war nicht genug, lediglich die Psyche von Kriminellen zu erforschen. Es würde niemals genug sein. Er wollte sie eigenhändig jagen.

Also ging er zur Polizei und erklomm dort in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit die Karriereleiter. Er war der jüngste Officer, der beim LAPD jemals den Rang eines Detectives erreichte, und sofort nach seiner Ernennung teilte man ihn dem Morddezernat I zu, einer Abteilung innerhalb des Raub- und Morddezernats, die für Serienmorde und andere Gewaltverbrechen zuständig war, die stark im Fokus der Öffentlichkeit standen und deren Aufklärung spezielles Fachwissen erforderte.

Überhaupt schien Los Angeles, verglichen mit anderen Metropolen der Welt, in einer völlig anderen Liga zu spielen, was Tötungsdelikte anging. Aus unerfindlichen Gründen erwies sich die Stadt als wahrer Tummelplatz für gefährliche Psychopathen, und das wiederum hatte den Bürgermeister von Los Angeles und das LAPD dazu veranlasst, innerhalb des Morddezernats I eine kleine, aber feine Eliteeinheit ins Leben zu rufen, die sich ausschließlich mit Mordfällen befasste, bei denen ein ungewöhnlich hohes Maß an Gewalt oder Sadismus im Spiel war. Intern wurden solche Fälle als ultra violent, kurz UV, eingestuft. Hunter war der Kopf der UV-Einheit, und als solcher hatte er mehr Grausamkeiten gesehen als jeder andere Kollege im LAPD. Ihn brachte so gut wie nichts mehr aus der Fassung.

Und genau deshalb war Garcia so verwirrt.

»Wer zum Teufel ist Lucien Folter?«, fragte er noch einmal.

Die anderen mieden seinen Blick.

»Robert!« Garcia klang wie ein genervter Vater, der sein Kind zur Ordnung rief. »Wer zum Teufel ist Lucien Folter?«

»Kurz gesagt …«

Obwohl Hunter sich endlich dazu durchgerungen hatte, seinem Partner in die Augen zu sehen, kam die Antwort von Kennedy. Sein Tonfall war noch unheilverkündender als zuvor.

»Lucien Folter ist …«

Garcia drehte sich zu Kennedy um.

»… das Böse in Menschengestalt.«

4

Zu dem Zeitpunkt, als Direktor Kennedy die Nachricht von Lucien Folters Flucht aus dem Gefängnis erhielt, hatte dieser bereits die Grenze zwischen Virginia und Tennessee überquert und näherte sich mit hoher Geschwindigkeit der Stadt Knoxville. Sein Ziel, wenigstens fürs Erste, war eine kleine Holzhütte im abgelegenen Marschland des südlichen Louisiana. Doch ihm war klar, dass er vorsichtig sein musste. Einfach kopflos immer weiterzufahren war so ziemlich das Dümmste, was er tun konnte. Der Alarm im Lee-Hochsicherheitsgefängnis war längst ausgelöst worden. FBI und Justizministerium waren über seinen Ausbruch in Kenntnis gesetzt, vermutlich hatte man auch bereits das United States Marshals Office mobilisiert. Sein Fahndungsfoto war höchstwahrscheinlich noch nicht in den Morgennachrichten gezeigt worden, dafür war es noch zu früh, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Eilmeldungen zu seiner Flucht gesendet wurden, und spätestens zur Mittagszeit wäre sein Konterfei im ganzen Land zu sehen. Bevor er an irgendetwas anderes denken konnte, musste er zunächst sein Aussehen verändern, und dafür benötigte er einige Dinge, die sich in einer Stadt von der Größe Knoxvilles leicht besorgen ließen.

Doch eins nach dem anderen. Bevor er Knoxville erreichte, musste er zunächst einmal den silbernen Chevrolet Colorado loswerden, den er gerade fuhr. Der Pick-up-Truck gehörte dem Gefängniswärter Manuel Vargas, dessen Kleider und Autoschlüssel Lucien bei seiner Flucht aus dem Krankenflügel an sich genommen hatte. Sobald der Alarm ausgelöst worden war, würde man schnell dahinterkommen, dass Lucien in einem der Privatfahrzeuge der Wachen geflohen sein musste. Höchstwahrscheinlich lief die Fahndung nach dem Colorado bereits. Jeder Cop im ganzen Land würde nach dem Wagen Ausschau halten. Er musste ihn gegen einen anderen austauschen, und zwar so schnell wie möglich.

Während er noch darüber nachdachte, wie sich das am besten bewerkstelligen ließe, hatte das Schicksal ein Einsehen mit ihm. Auf der rechten Seite des Highways, etwa zweihundert Meter voraus, kam ein Rastplatz in Sicht, auf dem ein einzelnes Auto parkte – ein noch relativ neuer mitternachtsschwarzer Audi A6. Die ideale Gelegenheit.

»Aber hallo«, sagte Lucien und richtete sich in seinem Sitz auf. Er drosselte das Tempo und lenkte den Truck auf den Rastplatz. Als er sich dem parkenden Auto näherte, sah er, dass eine Frau darin saß und telefonierte. Kein Beifahrer, keine Kinder auf der Rückbank.

»Perfekt.«

Lucien parkte vier Stellplätze entfernt und sah sich rasch um – nur zur Sicherheit, falls es doch einen Beifahrer gab, der sich zum Pinkeln in die Büsche geschlagen hatte. Als er niemanden entdeckte, lächelte er. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Frau im Audi zu. Sie musste etwa vierzig Jahre alt sein und hatte ein Profil, das man fast als schön hätte bezeichnen können – wäre das Kinn nicht ein wenig zu spitz und die Nase ein wenig zu rund gewesen. Sie hatte schwarze Haare, einen gepflegten Kurzhaarschnitt und trug eine leichte braune Lederjacke. Sämtliche Fenster ihres Wagens waren geschlossen.

Um keinen Verdacht zu erregen, stieg Lucien aus und tat so, als wolle er die Reifen auf der Fahrerseite überprüfen. Die nächsten zwanzig Sekunden lang beobachtete er die Frau unauffällig aus der Distanz. Weil ihre Hand mit dem Telefon im Weg war, konnte er ihren Mund nicht sehen, aber ihre Miene, die Bewegung ihrer Augenbrauen und die Art, wie sie gestikulierte, suggerierten, dass sie mit jemandem stritt.

Lucien umrundete den Truck, um sich nun auch die Reifen auf der Beifahrerseite vorzunehmen, während er die ganze Zeit wachsam Ausschau hielt, ob sich auch kein weiteres Fahrzeug dem Rastplatz näherte. Er hatte Glück. Als er wenig später den Blick wieder auf den Audi richtete, stellte er fest, dass die Frau aufgelegt hatte. Sie saß nach vorn gebeugt, den Kopf am Lenkrad, die Augen geschlossen. Offensichtlich hatte der Streit kein gutes Ende genommen.

Das war seine Chance.

Lucien wischte sich die Hände ab, prüfte sein Spiegelbild in einem Fenster des Trucks und ging dann zögerlich auf den Audi zu.

Er war eins fünfundachtzig groß und musste sich ein Stück herunterbeugen, damit die Frau sein Gesicht sehen konnte.

»Ma’am? Entschuldigung?«

Lucien war ein begnadeter Imitator. Er konnte auf Kommando jede beliebige Stimmfarbe, jeden Dialekt, jeden Sprachduktus nachahmen. Jetzt hatte er sich für eine tiefe, samtige, beinahe hypnotische Stimme mit einem lupenreinen Tennessee-Akzent entschieden.

Die Frau rührte sich nicht und schlug auch die Augen nicht auf. Lucien fiel ihr linker Ringfinger auf – der schmale Streifen hellerer Haut dort, wo einmal ein Ring gesessen hatte.

Keine Antwort.

»Ma’am?«, sagte Lucien erneut und klopfte mit dem Knöchel vorsichtig gegen die Scheibe.

Die Frau fuhr zusammen. Ihre Schultern zuckten, sie schnappte nach Luft und fuhr unelegant in die Höhe. Erschrocken drehte sie den Kopf nach links und sah Lucien aus tränenfeuchten blauen Augen an.

»Ist alles in Ordnung, Ma’am?«, fragte er in besorgtem Ton und mit ebensolcher Miene.

»Was?«, fragte die Frau verwirrt, ohne die Scheibe herunterzulassen. Sie wirkte verärgert, weil ein Fremder sie gestört hatte.

»Es tut mir sehr leid«, entschuldigte sich Lucien höflich. »Ich möchte mich wirklich nicht einmischen, aber ich habe gesehen, wie Sie mit dem Kopf am Lenkrad dagesessen haben, und jetzt fällt mir auf, dass Sie geweint haben. Ich wollte mich bloß vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie vielleicht ein Glas Wasser?«

Die Frau musterte den Fremden an ihrem Autofenster eine Zeit lang schweigend. Er war zweifellos ein attraktiver Mann – groß, muskulös, mit hohen Wangenknochen, vollen Lippen und einem markanten Kinn. Seine dunkelbraunen Augen wirkten freundlich und hatten einen klaren, scharfen Blick, den sie automatisch mit Intelligenz und Erfahrung assoziierte. Seine dunkelbraunen Haare reichten ihm bis über die Ohren, sein Bart war dicht, aber gepflegt.

Der Blick der Frau wanderte von Luciens Gesicht weiter zu seinen Kleidern. Er trug eine dunkelblaue, leicht militärisch anmutende Uniform. Am rechten Ärmel des Oberteils war eine Art Wappen aufgenäht, allerdings konnte sie nicht erkennen, was für eins. Oberhalb seiner Brusttasche befand sich ein weiterer Aufnäher. M. Vargas stand darauf. Um die Hüfte trug er einen dicken schwarzen Ledergürtel.

»Sind Sie ein Cop?« Die Frau war immer noch verwirrt und argwöhnisch.

Lucien sah seine Chance gekommen, sie zum Herunterlassen der Scheibe zu bewegen. Er zeigte auf sein Ohr und schüttelte leicht den Kopf, als könne er sie aufgrund des geschlossenen Autofensters und des Verkehrslärms vom Highway nicht richtig hören.

»Tut mir leid, wie war das?«, sagte er.

Es funktionierte – wenigstens teilweise, denn die Frau ließ die Scheibe bis knapp zur Hälfte herunter, ehe sie ihre Frage wiederholte.

Lucien lächelte scheu. »Nein, nicht direkt, Ma’am.« Dann drehte er sich zur Seite, sodass sie das Logo an seiner rechten Schulter sehen konnte. »Ich bin Wärter in einem Bundesgefängnis. Ich arbeite in der Lee-Justizvollzugsanstalt. Meine Schicht ist gerade zu Ende.« Er gab ihr keine Gelegenheit, etwas zu erwidern. »Wieso? Benötigen Sie die Hilfe der Polizei, Ma’am? Haben Sie deswegen hier angehalten? Wenn Sie möchten, kann ich die Kollegen von meinem Truck aus per Funk verständigen. Dann sind sie viel schneller hier, als wenn Sie sie anrufen.«

Luciens fürsorgliche, anteilnehmende Art führte dazu, dass die Frau allmählich Zutrauen zu ihm fasste.

»Nein«, antwortete sie, »ich brauche keine Polizei, danke.« Plötzlich klang sie bedrückt. »Ich habe nur angehalten, um ein Telefonat zu führen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ein ziemlich unangenehmes. Und ich konnte schlecht gleichzeitig fahren, reden und … heulen.«

Lucien schenkte der Frau ein weiteres kleines Lächeln, hauptsächlich als Belohnung dafür, dass sie trotz ihres Kummers ihren Sinn für Humor nicht verloren hatte.

»Das tut mir wirklich leid, Ma’am. Kann ich denn sonst irgendwas für Sie tun? Möchten Sie etwas Wasser trinken? Oder vielleicht einen Schokoriegel? Manchmal hilft Zucker. Ich habe welche in meinem Truck.« Er zeigte mit dem Daumen über seine rechte Schulter.

Die Frau ließ die Scheibe vollständig herunter und musterte Lucien aufs Neue. Dieser wusste, dass er so gut wie gewonnen hatte. Sie betrachtete ihn nicht länger als Bedrohung. Warum auch? Er war attraktiv, höflich und konnte sich gut ausdrücken. Er hatte sich um ihr Wohlergehen gesorgt. Er arbeitete als Justizvollzugsbeamter in einem Bundesgefängnis, also gewissermaßen für die Regierung der Vereinigten Staaten. Und er hatte ihr angeboten, die Polizei zu rufen.

Die Frau zog die Augenbrauen hoch. »Im Moment könnte ich was Stärkeres als Wasser vertragen.«

Wieder schmunzelte Lucien. »Verstehe. Leider habe ich außer Wasser nichts dabei …« Er hielt inne und kratzte sich am Kinn. »Ich kann Ihnen höchstens eine Zigarette anbieten.«

Lucien rauchte nicht mehr, hatte im Handschuhfach des Trucks jedoch mehrere Zigarettenschachteln gefunden.

»Ich habe vor drei Jahren aufgehört«, sagte die Frau, während sie den Kopf zur Seite neigte. Etwas Nachdenkliches trat in ihre Züge. »Aber wissen Sie was? Scheiß drauf. Ich habe das nur gemacht, um diesem miesen, hinterhältigen Scheißkerl einen Gefallen zu tun.« Sie zuckte mit den Schultern. »Der kann mich mal.« Ihr Blick kehrte zu Lucien zurück. »Eine Zigarette wäre jetzt wirklich ein Traum.«

»Klar doch. Warten Sie kurz.«

Lucien machte kehrt und ging das kurze Stück zum Colorado zurück. Als er ins Handschuhfach griff, hörte er, wie die Tür des Audis geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er verkniff sich ein Lächeln. Als er sich umdrehte, lehnte die Frau an der Fahrertür und blickte in die Landschaft hinaus. Lucien trat zu ihr, wickelte die Zigarettenschachtel aus, schüttelte eine Zigarette heraus und bot sie der Frau an.

»Danke«, sagte sie und steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen.

Lucien nahm sich selbst ebenfalls eine heraus, ehe er beide anzündete. Ihre natürlich zuerst.

Als die Frau ihren ersten langen, melancholischen Zug nahm, schloss sie die Augen und legte auf beinahe sinnliche Weise den Kopf in den Nacken. Ihre Gesichtszüge entspannten sich vor Genuss – ein Genuss, den sie sich all die Jahre versagt hatte.

»O mein Gott«, seufzte sie und starrte ungläubig auf die Zigarette zwischen ihren Fingern. »Das tut sooo gut.«

Lucien zog ebenfalls an seiner Zigarette, sagte jedoch nichts. Stattdessen musterte er sie ein wenig eingehender.

Die Frau war etwa eins fünfundsechzig groß und kurvig. Ihre Nägel waren professionell gemacht, die Schuhe stammten eindeutig aus einem Designerladen. An ihrem rechten Handgelenk prangte eine dreitausend Dollar teure Omega Constellation.

Er warf einen Blick in Richtung Highway. Noch immer machte kein Auto Anstalten, auf den Rastplatz einzubiegen. Trotzdem: Es war ein gefährliches Spiel, sein Glück weiter herauszufordern – ein Spiel, auf das er sich keinesfalls einlassen würde.

»Wem sagen Sie das?«, gab er zurück und schlenderte nach vorne zur Motorhaube des Audis. »Ich habe schon mehrmals versucht, es mir abzugewöhnen, aber ich fange immer wieder an. Irgendwann sterben wir sowieso, nicht wahr? Da kann man sich genauso gut ein bisschen Vergnügen gönnen.«

»Darauf rauche ich eine«, sagte die Frau und nahm noch einen Zug, ehe sie sich zu Lucien gesellte.

Genau das hatte er gewollt. Jetzt bot der Audi ihm einen optimalen Sichtschutz zur Straße.

Die Frau lehnte sich gegen die Motorhaube.

»Ich bin übrigens Alicia«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. »Alicia Campbell.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Alicia Campbell«, sagte Lucien, während er ihre Hand schüttelte. »Ich bin Lucien. Lucien Folter.«

Alicia runzelte die Stirn.

»Lucien Folter?«, fragte sie verständnislos, während sie mit dem Kinn auf das Namensschild an seinem Hemd deutete. »Wer ist denn dann Mr Vargas?«

Lucien schloss ganz kurz die Augen, als suche er etwas in seinem Innern. Als er sie wieder öffnete, war er schlagartig verändert.

Seine Stimme war jetzt so heiter und gelassen wie die eines Gurus, und von dem Tennessee-Akzent fehlte jede Spur. Er sah Alicia an, und was sie in seinen Augen wahrnahm, ließ sie vor Angst erschauern.

»Ach, der?«, sagte Lucien. »Zerbrechen Sie sich wegen dem nicht den Kopf. Der braucht seine Uniform nicht mehr. Nie wieder.« Er zwinkerte ihr zu, während sein Griff um ihre Hand fester wurde – so fest, dass sie sich nicht mehr daraus befreien konnte. »So wie Sie bald Ihr Auto nicht mehr brauchen werden … nie wieder.«