»Zum ersten Mal sehe ich mich komplett im Spiegel. Ich bin dünn und bucklig, meine Muskeln sind verschwunden, meine Haut ist gelb von der angeschlagenen Leber. Irgendjemandem sehe ich ähnlich. Wem denn nur? Dann fällt es mir ein: Ich sehe aus wie Mr. Burns von den Simpsons! Immerhin noch Körbchengröße C. Ihr seid die echten Survivor!«
Als Rahel erwacht, versteht sie erst mal gar nichts. Wo ist sie, warum ist es so laut hier, was sind das für Schläuche überall. Nach und nach begreift sie: Sie ist auf der Intensivstation, sie lag im Koma. Als Komödienautorin kennt sich Rahel durchaus mit schrägen Figuren und absurden Situationen aus, aber so eine Reise von der anderen Seite zurück ins Leben ist dann doch noch mal eine eigene Nummer.
Vor allem, wenn der Medikamentenentzug winkende Eichhörnchen hervorruft. Aber eins wird Rahel immer klarer: Ihr Leben ist viel zu kostbar, um es nach fremden Erwartungen auszurichten. Von jetzt an nimmt sie es selbst in die Hand.
Roman
Ullstein
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Seite 285: »Retrograde«, Text und Musik: James Blake, aus dem Album »Overgrown« von James Blake (Atlas Recordings, 2013).
Seite 355: »Hold Heart«, Text und Musik: Emiliana Torrini und Dan Carey, aus dem Album »Me and Armini« von Emiliana Torrini (Rough Trade, 2008).
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ISBN 978-3-8437-2165-3
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Für Alexander Wilde, für meine Familie &
alle auf der anderen Seite
Eine Krankenschwester wäscht einen ausgemergelten, blassen Körper, seift mit einem Waschlappen den Bauch und die Beine ein. Die Hüftknochen ragen aus dem Becken wie zwei Elchschaufeln. Daneben liegt eine dürre, adrige Hand.
Wer ist das?
Der Lappen wäscht weiter. Ich will das nicht weiter angucken und versuche, mich wegzudrehen. Ich bin so verdammt steif. Ich stütze die Hand ab. Die knochigen Finger neben dem Knochenkörper bewegen sich auch.
Noch mal. Und noch mal, dann verstehe ich: Das ist meine Hand. Ich bin das knochige Ding, das da gewaschen wird. Ich will etwas sagen, aber irgendein großer Stab steckt in meinem Hals. Kann mal jemand den Stab da rausholen?
Der Lappen ist verschwunden, anscheinend bin ich fertig gewaschen. Wie laut es hier ist, und überall piepst es elektronisch. Legt man hier Leute zum Sterben hin? Ich weine. Die Düsterkeit kommt und zieht mich weg.
Nach wirren Fieberträumen wache ich auf. Dieses ständige Gepiepse macht einen völlig irre. Schemenhaft nehme ich meine Eltern wahr und daneben meinen Bruder Juri, riesengroß und dürr. Sie lächeln mich an mit Tränen in den Augen, sie halten meine Hand. Hinter ihnen steht ein Arzt. Ich hoffe, der will mir nicht auch noch die Hand halten. Meine Haut brennt. Als ich etwas sagen will, klemmt wieder dieser komische Stab in meinem Hals. Was ist denn bloß los?
Juris braune Locken flirren vor den Deckenleuchten wie ein Heiligenschein um seinen Kopf. Er sieht mir in die Augen, fängt vorsichtig an zu reden. Dass ich auf der Intensivstation sei, sagt er, und noch ein bisschen schwach, aber ich solle mir keine Sorgen machen.
Oh Gott, irgendwas Schreckliches muss passiert sein. Hat mir jemand was amputiert? Amputation ist eine meiner Urängste, das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann. Bestimmt hat mir jemand was amputiert. Hoffentlich nur einen von den unwichtigen Fingern.
Juri scheint meine Gedanken gelesen zu haben und erklärt, dass ich unversehrt sei. Es sei alles noch dran. Und das Ding in meinem Hals sei ein Tubus, weil ich noch nicht selber atmen könne. Ich solle mir keine Sorgen machen, morgen käme der sowieso raus.
Der Arzt im Hintergrund nickt.
»Es ist nur leider so«, sagt mein Bruder, »dass dir jemand vom Personal gestern aus Versehen die Ohren abgeschnitten hat.«
Wie bitte? Warum das denn?! Aber ich höre doch was. Und dann fällt bei mir der Groschen: Er hat einen Witz gemacht!
Ich muss grinsen. So ein Schwachsinn, klar hab’ ich Ohren!
Meine Mutter schreit auf, als sie mein Lächeln sieht. Alle lachen gelöst und freuen sich wie verrückt über meine ziemlich lahme Auffassungsgabe.
Das heißt wohl, dass ich keinen Hirnschaden habe, kriege ich noch mit. Noch nie in meinem Leben war ich so müde. Ich drifte ab und gerate in eine dunkle Wohnung. Tack, tack, tack ist das einzige Geräusch in dem schmuddeligen Raum. Durch die Schlitze in einer französischen Tür kann ich sehen, dass draußen die Sonne scheint. Es riecht nach Süden, aber hier drin ist es kalt.
Meine Finger hämmern unaufhörlich auf der Tastatur eines Computers. Ich muss das Drehbuch fertig schreiben, unbedingt. Hinter mir höre ich ein kratzendes Geräusch und kurz darauf ein kehliges Lachen. Ich weiß, ich darf nicht hinsehen, sonst passiert etwas Schreckliches. Um Gottes willen nicht umdrehen! Dann wieder das höhnische, nach Aufmerksamkeit heischende Lachen. Ich nehme all meinen Mut zusammen und drehe mich mit einem Ruck nach hinten um.
In einem kleinen Käfig hockt ein verfilztes, mit schorfigen Krusten übersätes Wesen. Bei seinem Anblick läuft es mir kalt den Rücken herunter. Wer ist das?
Ein stechender Schmerz in meinem Hals holt mich zurück. Irgendwas brennt auf meiner Haut, als würde jemand Zigaretten auf mir ausdrücken, falls sich das so anfühlt.
Ich blinzele und sehe eine Frau in Weiß mit langem blonden Haar. Möglichkeit eins: Das ist eine Ärztin. Möglichkeit zwei: Ich bin endlich im Himmel, und ein Engel ist mir erschienen.
Ich höre Juri reden: »Gleich hast du’s geschafft, nur noch ganz kurz … Du bist tapfer, Schwesterchen.«
Ein Schmerz wie von Feuer. Juri neben mir streichelt meine Hand.
Tja, wohl doch nicht im Himmel, also Möglichkeit eins.
Die Ärztin, aka kein Engel, jammert: »Ich komme so schlecht an der Sehne vorbei, es flutscht immer weg.«
Das klingt für meine Begriffe nicht gut. Und wieder spüre ich den Feuerschmerz. Mein Bruder redet mit warmer Stimme auf mich ein. Gleich habe ich’s geschafft.
»Was denn eigentlich?« Ich höre mich lallen wie ein Vollalki.
Die Ärztin erklärt knapp, dass ich einen Zugang an den Hals genäht bekomme. Offenbar ohne Betäubung, sonst würde es nicht so verdammt wehtun. Was zum Teufel ist überhaupt ein Zugang? Immer wenn ich mich versuche zu konzentrieren, zersplittern meine Gedanken in tausend Teile.
»Die gute Nachricht ist aber, dass der blöde Tubus raus ist«, versucht mein Bruder mich aufzumuntern. Ich habe keine Ahnung, wovon er redet.
Als die Ärztin fort ist, bettele ich Juri mit meiner Besoffski-Stimme an, mich nach Hause mitzunehmen. »Olli kann dir doch helfen? Ich will hier weg, ich muss mein Drehbuch fertigschreiben. Die warten doch alle auf mich!«
Mein Bruder lächelt mich lieb an. Ich bin anscheinend nicht in Berlin, wo ich wohne, sondern in der Stadt meiner Eltern. Wir wollten zusammen Weihnachten feiern. Um das Drehbuch soll ich mir jetzt keine Sorgen machen, das ist fertig und wird schon gedreht. Trotzdem, er versteht, dass ich hier bald rauswill.
Unbeirrt lalle ich weiter. Er soll mich gleich mitnehmen, damit ich mich auf das Sofa meiner Eltern kuscheln kann. »Mama kocht mir Suppe und päppelt mich auf. Dann feiern wir schön Weihnachten, so wie wir es bestimmt wollten, mit Plätzchen und Braten und Knödeln, und alles wird gut.«
Mir fällt noch was ein: »Ich habe so viele Geschenke für euch alle. Kannst du die vielleicht einpacken? Das hab’ ich nicht mehr geschafft. Und zu Hause in Berlin ist Olli dann da und hilft mir. Vielleicht kann ich das Drehbuch ja auch im Liegen zu Ende schreiben?« Ich glaube, ich lalle immer noch. Meine Zunge wiegt mindestens zehn Kilo. Ich schaue zu meinem Bruder hoch.
Jetzt sieht er plötzlich sehr traurig aus.
Leicht panisch beharre ich darauf, dass er mich hochhievt, damit ich schon mal packen kann.
Juri hat Tränen in den Augen, glaube ich. Er atmet tief aus und erklärt mir, dass ich erst mal zu Kräften kommen müsse. Es habe mich ganz schön erwischt.
»Ich will aber nach Hause!« Eben waren wir uns doch einig, dass ich hier wegmuss. »Juri, bitte. Oder ruf Olli an. Olli kann …« Vor lauter Verzweiflung fange ich an zu weinen. Irgendein Gerät piepst wieder.
Juri setzt sich sofort zu mir ans Bett. Er sieht mich ernst an und verspricht, mich noch heute Nacht hier wegzuholen. Er habe einen ganz tollen Plan, aber der funktioniere nur im Dunkeln: »Ich gehe jetzt los, Nachtsichtgeräte besorgen und den Grundriss. Wir seilen uns von der Hauswand ab. Ruh du dich aus, du musst nachher fit sein, okay?«
Gott sei Dank. Ich frage sicherheitshalber, ob er mich eventuell Huckepack nehmen könne, nur falls ich nicht den ganzen Weg schaffe. Und können wir ein paar Infusionen klauen, so für die erste Zeit?
Die Antwort versuche ich noch mitzubekommen, aber keine Chance. Ich dämmere weg.
Als ich aufwache, bin ich allein. Es ist unfassbar laut hier auf dieser Intensivstation. Es gibt keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, unaufhörlich piepsen alle möglichen Geräte vor sich hin. Hier und da hört man jemanden vor Schmerzen stöhnen oder schreien. Sehen kann ich niemanden, weil mein Bett mit weißen Vorhängen umzäunt ist. Es wäre ein super Set-up für einen Stanley-Kubrick-Film oder irgendeine Quälvariante von »Big Brother«.
Ich bin wirr im Kopf und fühle mich fiebrig. Meine Haut ist so empfindlich. Ich würde so gerne wieder einschlafen, aber es geht nicht. Alles tut mir weh und umdrehen ist nicht, wegen der vielen Schläuche. Ich gucke an mir herunter.
Wirklich verdammt viele Schläuche. Ein paar führen unter mein Krankenhaushemd. Ich traue mich aber nicht nachzusehen, wohin genau. Am Hals sind welche mit kleinen Plastikventilen vorne dran, das hat mir vorhin die Ärztin erklärt. Immer wieder, wenn ich hinunterlinse, falle ich Idiot kurz darauf rein und freue mich, dass ich tolle neue Rastazöpfe mit Perlen habe.
Immer wieder drifte ich in erschreckend reale Albträume ab. So müssen sich Verrückte fühlen. Ich merke, dass ich anfange, Unsinn vor mich hin zu brabbeln, wie »bitte verlass mich nicht« zu irgendeinem Pfleger, aber ich kann es nicht verhindern. Danach schäme ich mich.
Vorhin, gestern oder wann auch immer, war ich mir ganz sicher, dass jemand mit einer Waffe direkt hinter der Trennwand steht. Ich war der festen Überzeugung, die Klinik sei evakuiert worden, aber mich hatte man vergessen. Stundenlang muss ich, starr vor Angst, so dagelegen haben. Ich flüsterte immer wieder: »Bitte schießen Sie nicht! Ich bin auf Ihrer Seite!« Wieder und wieder flüsterte ich das als Mantra für mich und den imaginären Mann mit der Pistole, was niemand bemerkte, weil niemand bei mir war und ich mich auch nicht bewegen konnte. Ich krieg’ gerade mal so einen Finger hoch, wenn ich es schaffe, mich zu konzentrieren. Mein Körper fühlt sich an, als hätte mich ein sehr schlechter Schreiner aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt und irgendwann mittendrin keinen Bock mehr gehabt.
Ich wünschte, ich könnte wieder einschlafen, aber das Fieber quält mich, und es ist so laut hier.
Neben mir Stöhnen. Einer bettelt nach Schmerzmitteln. Er bekommt aber nichts mehr, weil er anscheinend schon einiges intus hat, wie der Pfleger ihm erklärt.
Auf der anderen Seite stirbt jemand. Ich kann durch den Vorhangschlitz nur die Schuhe seiner Besucherin sehen. Sie weint und flüstert unablässig: »Papa, bitte, bleib bei uns, wir brauchen dich doch! Deine Enkelin braucht dich. Bitte, gib nicht auf, Papa.«
Keine Antwort.
Sie sagt es wieder und wieder, aber nie kommt eine Antwort.
Ich hoffe, dass er einfach nur auch einen Tubus im Hals hat. Jedes Mal, wenn ich kurz einschlafe und wieder aufwache: die flehende Stimme der Tochter, mit der ich fühle, ob ich will oder nicht. Nur für den Fall, dass Telepathie funktioniert, schicke ich all meine hoffnungsvollen Gedanken rüber.
Er scheint ein guter Vater zu sein, so wie seine Tochter um ihn kämpft.
Am nächsten Morgen sehe ich durch den Schlitz, dass das Bett neben meinem abgezogen wird. Keine Spur mehr von der Tochter und ihrem Vater. Zum ersten Mal finde ich es leise hier. Ein Kloß steckt mir im Hals. Tod im weißen Viereck. Danach wird die Bettwäsche gewaschen, gemangelt, und dann stirbt der Nächste drauf.
Ich muss an meinen eigenen Vater denken und daran, wie er mir gezeigt hat, wie man mit dem neuen Schweizer Messer eine Holzflöte schnitzt. Mir fällt der Tag ein, als ich meine ersten Schulhefte kaufen durfte und ein Kassierer mir falsch rausgab, der dann so tat, als hätte ich gelogen.
Noch nie zuvor hatte ich meinen Vater wütend gesehen. Er nahm mich an der Hand und marschierte durch das Kaufhaus, grenzenlos empört, dass jemand sein Kind der Lüge bezichtigte. Er machte so lange Ärger, bis der Geschäftsführer kam, mir die Differenz von einer Mark fünfzig aus seinem Portemonnaie übergab und sich entschuldigte. Spätestens da war mir klar, dass mein Vater nie zulassen würde, dass jemand mir wehtut. Wie es ihm wohl jetzt geht, wo ich seit Neuestem ein behindertes Knochengerippe bin?
Eine Gestalt nähert sich mit hörbar entschlossenen Schritten. Ich bete, dass es nicht die blonde Ärztin mit der Nähnadel ist.
Sie ist es nicht, sondern Juri, mein Bruder. Er erzählt mir, dass unsere Eltern gestern lange da waren.
Ich kann mich nicht erinnern, ich bin so unfassbar lahm im Kopf. Das liegt vielleicht an dem Tropf, aus dem irgendwas Blassgelbes in meinen Hals läuft. Ich sollte eventuell mal fragen, womit die mich hier vollpumpen.
Juri zuckt mit den Schultern. »Freu dich doch, völlig legal und ohne Dealer bekommst du den besten Stoff. Ich kann dir zumindest sagen, dass es etwas Gutes ist. Du siehst schon so viel besser aus. Das ist doch jetzt wichtig.«
Und schon ist mein Interesse erloschen. Er hat recht. Im Gegensatz zu meinem ehemaligen Bettnachbarn lebe ich, und darum geht es. Der Medikamentenwahn hat immerhin auch seine guten Seiten. Ich kneife die Augen zu und sehe ein putziges Eichhörnchen, das mir zuwinkt wie in einem Disneyfilm. Wie süß! Wie ist denn das hierhergekommen? Ich würde es gerne streicheln. Moment mal, kann das überhaupt sein?
Ich frage meinen Bruder, ob er sieht, was ich sehe.
Ein zweifelnder Blick.
Jetzt führt das Eichhörnchen einen kleinen Tanz auf. Ich sehe jubelnde kleine Fäuste.
Juri lacht über meine Empörung, aber er muss mich leider enttäuschen in puncto Nager: »Das sind wohl die Nachwirkungen der letzten Wochen.«
Ich verstehe nicht. Ich bin doch erst gestern mit dem Nierenstein hergekommen.
Als ich den Schrecken in seinem Gesicht sehe, wird mir schlecht. Irgendein Gerät fängt grell an zu piepen. Eine Schwester schießt herein und sagt, ich solle mich beruhigen. Entschlossen drückt sie mir die Sauerstoffmaske auf Mund und Nase. Panik liegt in der Luft, und ich bin Darth Vader.
Juri entschuldigt sich immer wieder. Es tue ihm so leid, sagt er, er habe sich vertan. Der Nierenstein, natürlich. Gestern.
Das verwirrt mich noch mehr. Wie kann man sich denn mit so was vertun? Ich fange an zu weinen, neben mir der verzweifelte Juri. Irgendwann schlafe ich ein.
Diesmal wartet wieder das blutig zerkratzte Wesen auf mich. Aus seinem Käfig heraus stochert es mit einer langen spitzen Nadel nach mir. Es will in mein Herz. Daneben steht eine höhnisch lachende Blondine, die mir bekannt vorkommt, und feuert das Monster an.
Ich kann mich vor Schreck nicht bewegen. Das Monster kommt aus seinem Käfig – es steigt einfach zwischen den Stäben durch! – und hockt sich auf meine Brust. Ich schnappe panisch nach Luft.
Schweißgebadet wache ich auf. Die Atemmaske darf ich auch nachts nicht absetzen, dabei kommt es mir vor, als würde ich darunter ersticken. Ich habe das sichere Gefühl, dass jemand neben meinem Bett steht und mich ansieht. Da ist ein kalter Hauch an meinem Bein. Es ist jemand hier.
Was sagt man noch mal über Geister? Man darf ihnen keine Angst zeigen. Vielleicht ist es jemand, der sich von diesem Ort verabschieden will. Oder will er mich holen?
Mir ist unsagbar kalt. »Geh bitte weg«, flüstere ich unter meiner Darth-Vader-Maske. Und: »Du kannst mich nicht mitnehmen. Hau ab.«
Hau ab, hau ab, hau ab. Das mache ich so lange, bis ich wegnicke. Als ich aufwache, bin ich allein.
Nein, nicht ganz. Zur hektischen Melodie der Piepsgeräte schreit jemand »Hilfe« und dann, wütend, »Polizei«. Ich scheine einen neuen Nachbarn zu haben. Es riecht sogar durch meine Atemmaske hindurch nach Urin und Erbrochenem. Ich höre, wie sich zwei Krankenschwestern nebenan im Flüsterton darüber streiten, wer den anscheinend betrunkenen und vor Dreck starrenden Mann waschen muss.
Da fällt mir ein: Auch ich habe mich seit der Einlieferung nicht mehr gewaschen. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wann das war.
Eine fröhliche Schwester steckt ihren Kopf durch die Vorhänge und strahlt mich an. Sie möchte wissen, ob »die kleine Micky Maus« schon wieder wach ist. Ich schätze mal, das bin wohl ich. Ich versuche ein Grinsen und verkünde: »Micky Maus ist topfit und bereit, und wer bist du? Goofy?«
Nein, sie heißt Schwester Manuela. Das tut gut, wenn man von einem so sonnigen Gemüt betüddelt wird. Sie kommt mit einem Tablett an mein Bett und verkündet feierlich, dass ich jetzt, wo der Ernährungsschlauch raus ist, das erste Mal essen darf.
Ich habe gar nicht mitbekommen, dass der gezogen wurde. Sie erklärt mir, dass ich da wohl wieder weggedämmert war. Aha. Na, dann mal her mit dem Festmahl!
Das Festmahl besteht allerdings nur aus einem Becher Joghurt. Man reiche mir also einen Löffel! Ich bekomme erklärt, dass ich den noch nicht halten könne. Das macht mich etwas wütend. »Natürlich kann ich so einen Minilöffel halten!«
Die Schwester seufzt und legt meine Finger um den Griff. Dann lässt sie los, und es macht klack. Der verdammte Löffel ist mir einfach aus der Hand gefallen. Beschämt will ich es noch mal probieren und schneide auch beim nächsten Versuch nicht wesentlich besser ab. Krass, falls ich sterben sollte, könnte ich noch nicht mal den Löffel abgeben, sagt mein albernes Ich.
Micky Maus wird also gefüttert. Schwester Manuela führt einen Löffel an meine Lippen, und mein Schreck über den Misserfolg von eben weicht großer Begeisterung. Jede einzelne Portion lasse ich mir auf der Zunge zergehen und stöhne auf vor Wohlbehagen. Mit Sicherheit habe ich niemals etwas derart Köstliches gegessen! Welch eine Delikatesse, welch Wunderwerk der Joghurtklöppelkunst!
Ich verlange, das Etikett zu sehen, und muss sofort lachen. Schwester Manuela lacht herzhaft mit. Ich esse gerade den gewöhnlichsten Schrottjoghurt aller Zeiten. Mindestens einen goldenen Becher hatte ich erwartet oder eine Sonderedition mit hierzulande unbekannten exotischen Früchten. Schwester Manuela erklärt mir, dass das immer so ist, wenn man wieder feste Nahrung bekommt. Man würde auch einen Abspülschwamm ungeheuer köstlich finden.
Ich witzele herum, wie überaus geehrt ich mich fühle, dass man mir nach dieser kleinen Routine-Operation sogar die Mühe des Selberessens ersparen wollte. Wie leicht man hier eine Magensonde bekommt, wundert mich tatsächlich. Schwester Manuela wird plötzlich ganz ernst und weist mich darauf hin, dass sie dazu nichts sagen darf, ich aber bei der nächsten Visite mit meinem Arzt sprechen könne. »Den kennen Sie ja schon.«
Nein, ich kenne hier niemanden. Aber da irre ich mich wohl. Anscheinend habe ich sogar schon mit ihm gesprochen. Das ist wirklich unheimlich. Zu allem Überfluss sehe ich hinter Schwester Manuela schon wieder das lustige Eichhörnchen.
Diesmal winke ich nicht zurück.
Als ich wieder zu mir komme, stehen da meine Eltern und mein Bruder. Sie kommen gerade von zu Hause, dem Ort meiner Kindheit, mit unseren vielen Familienfotos an der Wand und dem gemütlichen Sofa. Da mein Vater ein Gegner der Wegwerfgesellschaft ist, werden bei uns fast nie Fotos weggeworfen und auch ziemlich viele aufgehängt, die besser hätten verbrannt werden sollen. Mein Bruder, mein Vater und ich haben auf fast allen Bildern nach allen Seiten abstehendes dunkles Borstenhaar und darunter dünne Körper mit überlangen Armen. Am schlimmsten sind die Bilder, auf denen Juri und ich in Partnerschottenkaros, Partnerlatzhosen oder schreiend bunte selbst gestrickte Ganzkörperspielanzüge gesteckt wurden. Diese Paarsache war, während Juri und ich im Kleinkindalter waren, ein ausgeprägter Spleen meiner Mutter, der permanente Entzückungsschreie auslöste, wo auch immer wir gemeinsam auftauchten, als hätte sie selbst nicht schon genug Aufmerksamkeit erregt.
Sie besitzt eine hervorstechende Vorliebe für Kleidung mit dem gewissen Pep, was sie zwar elegant wirken lässt, jedoch immer mit einem Schuss verrückte Kunstlehrerin. Sie ist genau wie wir dünn und wendig wie ein Frettchen und trägt statt der Borsten geschätzte zehn Kilo rote Locken auf dem Kopf. Zu meinen schrecklichsten Kindheitserinnerungen gehören ihr lila Fellhut und der bodenlange rote Ledermantel, mit denen sie mich immer im Kindergarten abholte. Ich versteckte mich so lange hinter meiner Aschenbrödelgarderobe, bis ich gefunden und vor allen anderen Kindern abgeküsst wurde, als wäre ich aus dem Dritten Weltkrieg heimgekehrt. Meine Mutter liebt eben das Drama, alles andere langweilt sie entsetzlich.
Mein Vater ist stolz auf ihre Extravaganz und fühlt sich wohl in der Rolle ihres sich in britischer Zurückhaltung übenden Gefolges. Irgendwann in den Siebzigern hat er seinen persönlichen Look, bestehend aus einer braunen Cordhose plus schwarzem Rolli, gefunden und dem Wechsel der Mode trotzend stetig beibehalten. Never change a winning team. Zusammen sehen sie aus wie Komparsen in einer alten ZDF-Krimiserie, wobei meine Mutter in manchen Looks tendenziell die Prostituierte, die im Hintergrund auf dem Polizeirevier verhört wird, hätte sein können.
Was meine Eltern aber vor allem ausmacht, ist, dass sie warme Augen haben, aus denen sie mich jetzt mit einer Mischung aus betont optimistischer Grundhaltung und darunter liegender Traurigkeit ansehen. Mir fällt ein, dass wir es zu Hause gar nicht mehr geschafft haben, den Weihnachtsbaum fertig zu schmücken. Ich erinnere mich, dass mir die Glaskugeln aus der Hand gefallen sind, als die Schmerzen kamen. Auch mein Lieblingsbaumschmuck, das kleine gelbe New Yorker Taxi, war auf den Boden geknallt und zerschellt.
Ich versuche, es zu verhindern, aber schon rollen Tränen über meine Wangen. Meine Augen brennen, als wären sie der Anstrengung des Weinens nicht mehr gewachsen. Nicht mal das geht hier ohne Schmerzen. Jämmerlich heule ich meinen Eltern entgegen: »Bitte nehmt mich mit!« Und dann: »Ich will Heiligabend doch wieder zu Hause sein!«
Ich schaue in betretene Gesichter. Meine Mutter fährt sich über die Augen. Dann streichelt sie mir den Kopf und ist voll des Lobes über den erfolgreich gegessenen Joghurt. Schwester Manuela habe geschwärmt von meinem Appetit.
Das interessiert mich aber nicht. Ich verliere mich in einem endlosen Wortschwall über den Mann, der neben mir gestorben ist, über die Angst vor dem Monster in meinen Träumen und vor dem Arzt, der mir wehtun will.
»Bitte nehmt mich mit, ich werde euch nie wieder um etwas bitten, das verspreche ich!« Die Verzweiflung kommt mit aller Macht aus mir heraus. »Bitte, Mama«, flehe ich, »hast du kein Mitleid? Der Tod steht neben meinem Bett! Alle sterben hier!«
Meiner Mutter schießen die Tränen in die Augen. Sie dreht sich sofort weg, damit ich es nicht sehe. Wo bleibt das Drama? Ich kenne meine Mutter so nicht, so still und schwer.
Mein Vater knetet hilflos meine Füße und versucht, beruhigend auf mich einzureden. Er erzählt mir eine auf lustig getrimmte Geschichte von meinem Bruder Juri, der anscheinend nur nicht zueinanderpassende Schuhe nach Deutschland mitgenommen hat, und das, wo Juri doch immer penibel auf sein Aussehen achtet. Seine Stimme klingt heiser.
Juri lacht künstlich und stimmt in die Schuhgeschichte ein, indem er ergänzend hinzufügt, dass er sogar sein Haargel vergessen habe. Das müsse man sich mal vorstellen.
Ich rege mich trotz des beinahe überzeugenden Schauspiels immer mehr auf, der Rotz läuft neben den Sauerstoffschläuchen heraus. Überall sind diese verdammten Schläuche. Ich will sie abreißen. Da packt mein Bruder meine Hände.
»Hör auf, bitte, sonst müssen sie dich wieder festbinden.«
Sofort kommt mir ein Erinnerungsfetzen in den Kopf: wie ich mich hin und her werfe, aus Angst vor dem unheimlichen Wesen, das auf meiner Brust sitzt und mir die Luft abdrückt. Ich muss weg, aber ich kann meine Arme nicht bewegen, ich winde mich, aber es geht nicht. Dann verstehe ich: Ich bin ans Bett geschnallt.
Ich lasse schlagartig ab. Das soll nicht noch mal passieren.
Juri sieht mich liebevoll an: »Du Dussel, wenn du hier so ein Theater machst, merken die doch, dass wir dich heimlich mitnehmen wollen.«
Wirklich? Oh Gott, bin ich erleichtert! Ich versuche, noch etwas zu sagen, aber mein Bruder bedeutet mir zuzuhören und rückt die Atemschläuche zurecht.
»Pass auf, Rahel.« Es geht um unseren Plan. Er beugt sich zu mir und flüstert, dass er schon ein Fluchtfahrzeug bereitgestellt habe. »Wir werden durch die Luftschächte kriechen müssen.« Dafür müsse er heute Nacht mit meinem Vater zusammen die gesamte Belüftung abstellen, dann sei alles ein Kinderspiel. Meine Mutter würde mit laufendem Motor draußen auf uns warten.
»Und Olli?«
Auch Olli. Bis es so weit sei, solle ich aber genügend essen und mich ausruhen, damit ich die Kriecherei überstehe. Ich frage mich, wo Olli die ganze Zeit bleibt. Ist ihm etwa auch etwas passiert? Das würden sie mir doch erzählen. Nein, er kommt bald, und alle holen mich hier raus.
Aye, aye, Sir. Ich bin selig. Sie verstehen mich! Nur noch ein Tag hier auf dem Todesstern. Das schaffe ich locker.
Als ich wieder aufwache, stehen circa zehn Ärzte vor mir und starren mich an. Meine Eltern und mein Bruder sitzen an meinem Bett. Ich erinnere mich, dass wir eben noch so ein tröstliches Gespräch hatten. Worum ging es noch mal?
Sosehr ich mich bemühe, es fällt mir nicht ein. Die Gaffer sind allerdings auch etwas irritierend beim Nachdenken.
Erst mal freundlich lächeln. Das kann nicht schaden.
Der mittlere ältere Arzt scheint wohl der Chef zu sein, da niemand etwas sagt außer ihm. Er möchte wissen, wie ich heiße.
»Wissen Sie das denn nicht?«, wundere ich mich.
Alle lachen. Tja, willkommen in der großen Rahel-Show.
Meine Mutter erklärt mir, dass der Arzt es von mir hören möchte. Außerdem möchten sie wissen, ob ich weiß, wo ich bin.
Ah, ich verstehe, auch die Profis halten mich für komplett durchgeballert. Gut, das können sie haben. Ich antworte: »Mein Name ist Elisabeth, die Dritte, ich bin Mitglied der englischen Königsfamilie und fühle mich sehr wohl hier in Ihrem heimeligen Schloss.«
Dieser Lacher bleibt aus. Nur mein Bruder schüttelt grinsend den Kopf. Der Hauptarzt macht sich eine Notiz in seiner Akte.
Okay, Schluss mit der Show. »Ich heiße Rahel Wald, und ich befinde mich hier in der Uniklinik. Ich hatte Nierenkoliken, glaube ich, und einen Stein, der jetzt hoffentlich raus ist.«
Nein, ist er nicht.
Aha? Ich bin verwundert. Wozu dann das ganze Drama hier?
Der Hauptarzt und meine Eltern tauschen Blicke. Offenbar haben sie noch etwas für mich in petto.
»Du brauchst keine Angst haben, wir sind bei dir.« Meine Mutter hat schon wieder Tränen in den Augen, aber das heißt eigentlich nichts. Sie heult ja schon bei der Merci-Werbung und drei Sekunden später lacht sie wieder und macht einen Witz. Mir ist lediglich ein Rätsel, was ihre neuerdings an den Tag gelegte Zurückhaltung bedeuten soll.
»Erst mal freuen wir uns, dass Sie noch leben, Frau Wald, und dass Sie so vergnügt sind. Pünktlich zu Silvester haben Sie die Augen wieder aufgeschlagen. Wir haben alle sehr gekämpft.«
Ich entgegne blöde: »Die Freude ist ganz auf meiner Seite.« Und schon schnäuzt sich meine Mutter. Näher kann man nicht am Wasser gebaut sein. Jetzt sehe ich aber, dass außerdem sowohl mein Bruder als auch mein Vater relativ heulig aussehen.
»Das können Sie nicht wissen, aber hier auf Station heißen Sie Schneewittchen … weil Sie wieder aufgewacht sind.«
Micky Maus, Schneewittchen, was denn noch? Kriege ich jetzt meinen Pinocchio-Eisbecher?
Das sage ich nicht, denn der Hauptarzt, der passenderweise Dr. Held heißt, erklärt mir, dass ich nach der Nierenstein-OP eine Blutvergiftung hatte. Der Stein hatte sich derart verkeilt, dass er einen Nierenstau verursachte. Als die Erreger schließlich in mein Blut gelangten, fielen nach und nach alle Organe aus. Sepsis mit Multiorganversagen nennt man das. Es ging alles so rasend schnell, dass der Stein erst mal nur auf eine Schiene gelegt werden konnte. Doch die Vergiftung war ohnehin zu weit fortgeschritten. Um mich am Leben zu halten, mussten sie mich in ein künstliches Koma versetzen.
Mein Bruder zeigt mir ein Handyfoto, auf dem ich wirklich schneeweiß wie Schneewittchen, die Arme ausgestreckt wie der junge Erlöser, mit tausend Schläuchen und Kanülen dekoriert, im Krankenbett liege.
Im Koma wurde mein Zustand zusehends schlechter, und die verabreichten Antibiotika schlugen nicht an. Eine Woche in der Hölle.
Jetzt schluchzt meine Mutter laut auf und durchlöchert mit ihrem wilden Zeigefinger die Luft, als wäre dort irgendein ungerechter Gott, den sie zur Rechenschaft ziehen könnte: »Ich werde die Worte nicht vergessen, der feine Kollege von ihm, von unserem Heldendoktor hier, hat gesagt, wir sollen deine Beerdigung planen! Dabei lagst du da. Mein armes Baby!« Jetzt landet ihr Zeigefinger auf meinem Arzt. »Dieser Mann ist ein Held! Vor diesem kleinen tapferen Mann knien wir alle nieder, denn er hat als Einziger außer uns an dein Überleben geglaubt!«
Das scheint Dr. Held doch etwas unangenehm zu sein, er hebt beschwichtigend die Hände, da meine Mutter mit voller Absicht die Zimmerlautstärke überschreitet. »Das ist wirklich zu viel der Ehre, Frau Wald.«
»Doch, Rahel, hör ihm nicht zu, er ist der Beste hier, mit Abstand!«, sagt sie, weil sie es so meint und damit sie das letzte Wort hat.
Mein Vater tätschelt ihr schließlich beruhigend den Rücken. »Genug, Charlotte, das ist jetzt zu viel für sie.«
Ich starre Dr. Held, der wohl tatsächlich ein Held ist, fassungslos an. Er hat ein rundes Gesicht und unter seinen freundlichen Augen tiefe zartblaue Ringe, die direkt in ein paar hellbraune Bartstoppeln übergehen. Wahrscheinlich bekommt er bei seinem Lebensretterjob nicht viel Schlaf, ganz im Gegensatz zu mir.
Neun Tage war ich Schneewittchen, bis sie die Betäubungsmittel reduzierten, um mich zurückzuholen. Weitere zehn Tage lag ich zwischen Wachen und Träumen, ein sogenannter kalter Entzug, da ich in der Zwischenzeit von den Mitteln abhängig geworden sei. Jetzt seien die Drogen langsam raus und mein Körper komme wieder zu Kräften. Ich würde neu laufen lernen müssen, weil meine Muskeln im Koma verkümmert seien. Eine ziemlich heftige Lungenentzündung habe ich wohl auch. Und das Herz sei angegriffen.
Damit will ich mich jetzt nicht beschäftigen. Hauptsache, ich bin erst mal wieder da. Es muss kein Loch für mich gegraben werden.
»Dieses Bett ist unser Glücksplatz. Vor Ihnen lag eine schwerkranke junge Frau hier, die ebenfalls überlebt hat, und das war gar nicht so wahrscheinlich. Letzten Monat konnte sie wieder nach Hause zu ihrer Familie. Mit den Patienten, die länger hier sind, passiert uns das nicht so oft«, sagt Dr. Held noch.
»Hilfe« und »Polizei« tönt mein Nachbar wieder hinter dem Vorhang.
Und da begreife ich: »Ich habe Weihnachten verschlafen?« Jetzt laufen mir die Tränen übers Gesicht.
»Ja«, sagt mein Vater, »aber Silvester, als du aufgewacht bist, haben wir ein paar Raketen für dich abgeschossen. Das hätte dir gefallen.«
Bestimmt. Ich liebe Feuerwerk. Bevor Dr. Held zum nächsten Patienten muss, frage ich ihn noch, wo mein Bewusstsein denn war, die ganze Zeit. Oder meine Seele oder wie man das auch immer nennen soll.
»In Bezug auf die Seele«, sagt er, »sind wir Mediziner leider genauso dumm wie alle anderen.«
Als ich in die Gesichter meiner Eltern blicke, bereue ich die Frage sofort. Sie haben sich nach dem ganzen Mist wirklich eine Pause verdient.
Ich lasse mir von Juri noch mal das Foto von mir im Koma zeigen und witzele, dass es bestimmt auch mal ganz angenehm für alle war, mich ohne Widerworte zu erleben.
Mein Bruder grinst und sagt: »Es war die schönste Zeit in meinem Leben.«
Dann sind alle weg, nur mein Nachbar verlangt weiter nach der Polizei. Ich versuche, ihn zu trösten und rufe ab und zu: »Keine Angst, die Bullen sind auf dem Weg.«
Das scheint ihn zu beruhigen, denn danach ist es immer lange still, so still, wie es hier eben sein kann mit dem ganzen Gepiepe und Gestöhne.
Ich fühle mich, als hätte mich ein Vierzigtonner überfahren. Es ist schwer zu begreifen, dass ich schon drei Wochen hier liegen soll, eine gute Woche Koma und dann zwei Wochen Aufwachzeit mit kaltem Entzug. Unaufhörlich summt dieses Lied in meinem Kopf, der alte Smiths-Song »Girlfriend in a Coma«. Immer und immer wieder spult sich der Text ab: Girlfriend in a coma, I know I know, it’s serious …
Wie ging es noch mal weiter? Als ich das Lied damals in meinem Jugendzimmer wieder und wieder abspielte, hätte ich nie gedacht, dass der Song einmal zu meinem werden könnte. Schon die Verwandlung von Nerd zu Girlfriend erschien mir vollkommen unwahrscheinlich, aber »Girlfriend in a Coma« lag und liegt außerhalb meiner Vorstellungsmöglichkeiten. Es ist genauso unwirklich wie mein Leben in Berlin.
Früher bin ich einfach so, nichtsahnend, meine Straße entlanggelaufen. Im Rückblick eine Szene wie bei »Aktenzeichen XY«: Das ist Rahel W. aus Berlin, an einem gewöhnlichen Montagmorgen. Sie schwingt die Laptoptasche über die Schulter und hat wieder einmal vergessen, wo sie ihr Auto geparkt hat. Rahel W. ahnt noch nichts …
Diese Zeiten sind vorbei. Ich bin die verrückte Komafrau, die Frau mit dem Schicksal. Tut mir leid, Leute, ich lebe jetzt auf der anderen Seite.