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Das Buch

Julia Packett ist die Fröhlichkeit in Person. In London führt sie ein freies, ausgelassenes Leben, nur leise getrübt durch den einen oder anderen finanziellen Engpass. Als ihre Tochter sich nach Jahren wieder bei ihr meldet und sie um Beistand bei der Wahl ihres Ehemanns bittet, lässt Julia mit neu entflammtem Mutterherz alles stehen und liegen, um ihrer Tochter zu Hilfe zu eilen. Kaum in der Luxusvilla in der Haute-Savoie angekommen, begreift Julia jedoch, dass ihre Tochter sich in einen zur Ehe völlig ungeeigneten jungen Mann verliebt hat, denn er ist wie sie selbst, Julia: charmant, aber schwer zu domestizieren. Wie kann es Julia nur gelingen, ihrer Tochter den Verlobten auszureden, ohne ihren eigenen Status als vollkommene Lady zu gefährden? Die Anreise des vornehmen Sir William Waring kompliziert die Situation nur noch weiter. Und schon bald gerät ihr Plan, das Glück ihrer Tochter zu retten, hoffnungslos außer Kontrolle ...

Die Autorin

MARGERY SHARP, 1905 in Salesbury geboren, verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in Malta. 1914 kehrte sie nach England zurück und nahm als eine der ersten Frauen an einem Debattier-Wettbewerb in den USA teil. Die Abenteuer der Cluny Brown, einer ihrer erfolgreichsten Romane, wurde 1946 in Hollywood von Ernst Lubitsch verfilmt. Auch ihr Roman Die vollkommene Lady schaffte es in Hollywood auf die Leinwand und kam 1948 unter dem deutschen Titel Die unvollkommene Dame mit Greer Garson und Elizabeth Taylor in die Kinos. Margery Sharp starb 1991 in Aldeburgh, Suffolk.

Wibke Kuhn, geb. 1972, überträgt skandinavische, englische und italienische Romane und Sachbücher ins Deutsche. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören Stieg Larsson, Jonas Jonasson und Nell Leyshon. Sie lebt in München.

MARGERY SHARP

DIE VOLLKOMMENE

Lady

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN
VON WIBKE KUHN

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Besuchen Sie uns im Internet:
www.eisele-verlag.de


ISBN 978-3-96161-075-4


Die Originalausgabe »The Nutmeg Tree«

erschien 1937 bei Arthur Barker, London.

© 1937 Margery Sharp

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

1. KAPITEL

I

JULIA, VERHEIRATETE Mrs. Packett – wenn man höflich sein wollte: Mrs. Macdermot – lag in ihrer Wanne und sang die Marseillaise. Ihre schöne, kraftvolle Altstimme klang heute jedoch weniger volltönend als sonst, denn an diesem Sommermorgen standen im Badezimmer neben den üblichen Einrichtungsgegenständen auch noch ein lackiertes Beistelltischchen, sieben Hutschachteln, ein halbes Dinner-Service, eine kleine Standuhr, Julias sämtliche Kleider, eine Einzelbett-Matratze, fünfunddreißig sentimentale Romane, drei Koffer und die Kopie eines Hirschgemäldes von Landseer. Das übliche Badezimmerecho fiel daher weg, und wenn hin und wieder die Decke erzitterte, dann nicht wegen Julias Gesang, sondern weil die Männer von der Möbelvermietungsfirma Bayswater noch nicht fertig waren mit der Abholung der gemieteten Möbelstücke.

Auf der anderen Seite der Tür verrieten gelegentliche Schlurfgeräusche, dass die zwei wartenden Gerichtsvollzieher nicht mal einen Stuhl zum Hinsetzen hatten.

Derart belagert sang Julia. Mit jedem Atemzug sog sie den verbenenduftenden Wasserdampf ein und stieß ihn in Form einer ebenso großzügigen Bruststimme wieder aus. Das tat sie weder aus Trotz noch, um sich bei Laune zu halten, sondern weil sie es zu dieser Morgenstunde gewohnt war. Der kriegerische Ton war lediglich der kriegerischen Melodie geschuldet, und die Wahl der Melodie war einfach dem Umstand geschuldet, dass sie am Vorabend einen Brief aus Frankreich bekommen hatte.

Also sang Julia, bis in der Pause vor der Wiederholung eine müde Stimme heiser durch die Tür tönte:

»Sind Sie denn immer noch nicht fertig, Ma’am?«, fragte die Stimme.

»Nein«, sagte Julia.

»Aber Sie sind doch schon anderthalb Stunden da drin!«, protestierte die Stimme.

Julia drehte den Heißwasserhahn auf. Sie konnte beinahe unendlich lang in einer Badewanne liegen, und während ihrer wiederholten Versuche abzunehmen hatte sie sich oft zwei oder drei Stunden halb gar gekocht. Doch wie man jetzt nur zu deutlich sehen konnte, hatte Julia dadurch nicht abgenommen. Im Alter von siebenunddreißig Jahren und bei einer Körpergröße von gerade mal 1,60 Meter hatte sie einen Brustumfang von 97, einen Taillenumfang von 78 und einen Hüftumfang von 104 Zentimetern. Und obwohl diese drei lebenslustigen Punkte von äußerst ansprechenden Kurven verbunden wurden, sehnte sich Julia nach einer modischen Zahnstocher-Silhouette. Sie sehnte sich danach, aber nicht konsequent genug. Ihr bequemes Fleisch weigerte sich dagegen, gefoltert zu werden. Es betrachtete Orangensaft als Appetitanreger, nicht als eigentliche Nahrung; und so lag Julia in ihrer Wolke aus Dampf, rosarot vor Hitze, und sah aus wie die oberste Göttin eines barocken Deckengemäldes.

Die Tür ratterte.

»Wenn Sie hier einbrechen«, rief Julia und drehte den Hahn zu, »werde ich Sie wegen tätlichen Angriffs anzeigen!«

Die Totenstille verriet, dass die Drohung gewirkt hatte. Man hörte, wie sich die Männer gedämpft berieten, dann nahm eine zweite Stimme, die noch müder klang als die erste, die Diskussion wieder auf.

»Es sind doch nur fünf Pfund, Ma’am«, bat die Stimme. »Wir wollen Ihnen doch gar keinen Ärger machen …«

»Dann gehen Sie«, gab Julia zurück.

»Das können wir nicht, Ma’am. Es ist unsere Pflicht. Wenn Sie uns die Sachen einfach mitnehmen lassen oder, noch besser, uns die fünf Pfund zahlen …«

»Ich habe keine fünf Pfund«, sagte Julia wahrheitsgemäß, und zum ersten Mal verfinsterte sich ihre Miene. Sie hatte nicht mal ein Pfund: Sie besaß noch genau sieben Shilling und acht Pence, und sie musste am nächsten Morgen nach Frankreich reisen. Fünf Minuten lang lag sie in der Wanne und grübelte. Sie ging der Reihe nach alle Personen durch, von denen sie sich in der Vergangenheit Geld geliehen hatte. Dann dachte sie an die, denen sie selbst etwas geliehen hatte, aber das eine war so hoffnungslos wie das andere. Mit aufrichtigem Bedauern dachte sie an den verstorbenen Mr. Macdermot. Und ganz zum Schluss dachte sie an Mr. Lewis.

»He!«, rief Julia. »Kennen Sie den Antiquitätenhändler am Ende der Straße?«

Die Gerichtsvollzieher berieten sich.

»Wir kennen da einen Pfandleiher, Ma’am. Heißt auch Lewis.«

»Das stimmt schon«, gab Julia zu, »aber Antiquitätenhändler ist er auch. Einer von Ihnen muss schnell dort hingehen und Mr. Lewis herholen. Er wird Sie bezahlen.«

Sie berieten sich abermals; aber nachdem sie zwei Stunden (im Stehen) gewartet hatten, waren sie bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen. Julia hörte, wie sich Schritte entfernten, und das Schlurfen der Füße, die vor der Tür blieben. Dann trocknete sie sich die Hände ab, steckte sich eine Zigarette an und griff auf dem Beistelltischchen nach einem Brief mit einer französischen Marke.

II

Obwohl er erst am Vorabend gekommen war, konnte sie ihn bereits auswendig.

Meine liebe Mutter,

es ist ein seltsamer Gedanke, dass Du meine Handschrift nicht kennst. Ich schicke Dir dies über die Bank, und wenn Du nicht gerade im Ausland bist, müsstest Du diesen Brief umgehend erhalten. Könntest Du bitte herkommen und mich besuchen? Es ist zwar eine lange Reise, aber es ist schön hier, ganz oben am Rand der Haute Savoie, und wir sind noch bis Oktober hier. Aber es wäre mir am liebsten, wenn Du sofort kommen würdest (falls es Dir möglich ist). Großmutter hat Dich auch eingeladen, Du kannst bleiben, so lange Du willst. Wie Du vielleicht weißt, sind Sir William Waring und sie jetzt meine Vormunde. Die Sache ist die [an dieser Stelle wurde die kleine, säuberliche Handschrift auf einmal größer], dass ich heiraten möchte, und Großmutter will mir nicht ihr Einverständnis geben. Ich weiß, dass es in dieser Frage alle möglichen juristischen Komplikationen gibt, aber Du bist immerhin meine Mutter, und ich finde, man sollte Dich in dieser Sache auch zu Rate ziehen. Wenn Du kommen kannst, wäre der beste Weg der Zug um 23.40 Uhr von Paris nach Ambérieu, wo Dich ein Auto abholen kann. Ich hoffe sehr, dass Du es einrichten kannst.

Deine Dich liebende Tochter

SUSAN PACKETT

Dafür, dass es der Brief eines zwanzigjährigen verliebten Mädchens an seine Mutter war, war das Schreiben nicht unbedingt ausführlich zu nennen, doch Julia verstand. Aus diversen Gründen hatte sie ihre Tochter seit sechzehn Jahren nicht mehr gesehen, und die bloße Tatsache, dass diese Tochter sich ihrer jetzt erinnerte und sie um Hilfe bat, war so ausnehmend rührend, dass Julia selbst jetzt, beim zwanzigsten Durchlesen, eine Träne oder zwei in die Wanne tropfen lassen musste. Aber es waren sentimentale Tränen, keine kummervollen; beim Gedanken daran, eine Reise nach Frankreich zu unternehmen, um in Liebesdingen zu vermitteln, jubilierten ihre Lebensgeister. »NEHME ZUG DONNERSTAG ALLES LIEBE MUTTER« hatte sie zurücktelegrafiert, und erst in dem Moment war ihr ihre katastrophale finanzielle Situation wieder eingefallen. Sie hatte kein Geld, keine angemessene Garderobe, und einen Gläubiger, der gerade zur Zwangsvollstreckung schritt. Aber all das war jetzt nicht wichtig, wenn Susan sie sehen wollte. Susan wollte sie sehen, Susan war unglücklich, also würde sie zu Susan fahren …

»Aber sie wurde doch auf den Namen Suzanne getauft!«, dachte Julia plötzlich, und starrte immer noch auf die Unterschrift, als sie der grüßende Klang von Mr. Lewis’ Stimme wieder in die Gegenwart zurückholte.

»Meine liebe Julia!«, rief er. »Was hat das alles zu bedeuten, warum hast du mich holen lassen? Du willst dich doch nicht wirklich ertränken? Dieser Mann …«

»Das ist ein Gerichtsvollzieher«, rief Julia zurück. »Es sind beides Gerichtsvollzieher. Schick sie weg.«

Ein paar Augenblicke später zogen sich die schweren Schritte zurück, die leichteren kamen wieder.

»Also, Julia, was ist denn los? Diese Männer …«

»Sind sie weg?«

»Sie sind weg, und ich musste sie nicht zweimal bitten«, erwiderte Mr. Lewis. »Das sind durch und durch anständige Männer, meine Liebe, wie auch ich. Aber weiter als bis zur Treppe haben sie sich nicht zurückgezogen.«

»Können sie uns hören?«

»Sie können mich hören, falls ich um Hilfe rufe. Sie scheinen zu glauben, dass du bei dir im Bad noch mehr Sachen stehen hast als die übliche Badezimmerausstattung.«

»Habe ich auch«, sagte Julia. »Deswegen habe ich dich ja auch rufen lassen. Ich habe Sachen hier drinnen, die ich verkaufen muss – gute Sachen – und du warst immer fair zu mir, Joe, deswegen frage ich dich auch als erstes. Ich habe hier einen echten lackierten Beistelltisch, und eine neue Matratze, und eine echt antike Standuhr, und ein schönes Dinner-Service und ein Bild von einem Hirsch, ein richtiges Gemälde. Ich nehme dreißig Pfund für alles.«

»Nicht von mir. Ganz sicher nicht«, sagte Mr. Lewis.

Julia setzte sich auf, und das Wasser spritzte zu allen Seiten.

»Du bist doch ein alter Geizkragen! Also, allein der Hirsch ist das schon wert, und den wollte ich eigentlich gar nicht mitverkaufen. Ich biete dir den Tisch und die Uhr und eine neue Matratze und ein Dinner-Service, und das zu einem Spottpreis.«

»Gut, dann lass mich die Sachen eben anschauen«, sagte Mr. Lewis geduldig.

»Die kannst du selbstverständlich nicht anschauen. Ich liege hier in der Badewanne.«

»Du meinst, ich soll sie blind kaufen?«

»Ganz genau«, bestätigte Julia. »Versuch dein Glück.«

Mr. Lewis überlegte. Er war die Sorte Mann, der gerne alles ganz klar und eindeutig hatte.

»Du meinst, du willst mir Sachen für dreißig Pfund verkaufen, die ich noch nicht mal gesehen habe, die wahrscheinlich fünfundzwanzig Shilling wert sind und eigentlich irgendeinem Narren gehören, der dir Kredit gegeben hat?«

»Ganz genau«, rief Julia fröhlich, »nur, dass sie eher sechzig wert sind, und ich stehe nur mit fünf in der Kreide. Was ist dein Lieblingslied?«

»An der schönen blauen Donau«, sagte Mr. Lewis.

Julia begann es zu singen.

III

Eine halbe Stunde verging. Die Männer von der Möbelverleihfirma Bayswater waren mitsamt den gemieteten Möbeln verschwunden. Ein Mann von den Gaswerken war vorbeigekommen und hatte das Gas abgestellt. Doch die Gerichtsvollzieher blieben, und auch Mr. Lewis, denn selbst durch eine verriegelte Tür triumphierte Julias Persönlichkeit. Als sie des Singens müde wurde, unterhielt sie sie mit Anekdoten aus ihrem früheren Leben am Theater, und als ihr die Anekdoten ausgingen, imitierte sie Filmstars, und das so erfolgreich, dass sie alle überrascht waren, als die Standuhr zwölf Uhr Mittag schlug.

»Ist das die echt antike Uhr?«, erkundigte sich Mr. Lewis interessiert.

»Ja«, sagte Julia, gleich wieder ganz Geschäftsfrau. »Und jetzt hör zu, Joe. Ich muss gleich morgen früh nach Frankreich. Ich brauche zehn Pfund für den Zugfahrschein hin und zurück, und einen Fünfer für diese beiden hartnäckigen Herren. Das macht fünfzehn Pfund, und ich habe keinen Lumpen mehr zum Anziehen. Sagen wir achtzehn Pfund zehn Shilling, und dann leg ich den Hirsch noch obendrauf.«

»Vierzehn«, sagte Mr. Lewis.

»Siebzehn«, sagte Julia. »Sei fair!«

»Seien Sie doch fair, Chef«, echoten die Gerichtsvollzieher – jetzt ganz entschieden auf Julias Seite.

Mr. Lewis spürte, wie er weich wurde. Ein Beistelltischchen, ein Dinner-Service, eine Matratze und eine Standuhr – da hing nun alles von der Uhr ab. Die Glocken waren gut, das hatte man gehört, und wenn die Uhr für Julias Augen antik aussah, dann würde sie wohl für die meisten Menschen ebenfalls antik aussehen. Es war sogar denkbar, dass es tatsächlich eine Antiquität war, und alte Standuhren brachten eine Menge Geld …

Julia hatte schon gewusst, was sie tat, als sie an seinen Spielerinstinkt appellierte.

»Sechzehn Pfund zehn Shilling«, sagte Mr. Lewis. »Entweder wir machen das Geschäft jetzt, oder wir lassen es.«

»Einverstanden!«, sagte Julia und stieg endlich aus der Wanne.

2. KAPITEL

I

JULIA SAH ihren zukünftigen Ehemann zum ersten Mal bei Tageslicht an einem Frühjahrsmorgen des Jahres 1916, als sie um halb elf Uhr morgens aufwachte und entdeckte, dass er immer noch neben ihr schlief. Sie wusste seinen Namen, Sylvester Packett, und dass er Oberleutnant bei den Kanonieren war. Trotz der Tatsache, dass er sechs Abende hintereinander von zwölf bis vier Uhr morgens mit ihr getanzt hatte, war das alles, was sie von ihm wusste. Er war der schweigsamste junge Mann, den sie je kennengelernt hatte; nicht mal Champagner lockerte ihm die Zunge, und sie war mit Bedauern (aber mit philosophischem Gleichmut) zu der Schlussfolgerung gekommen, dass er nur mit ihr tanzte, weil er nicht schlafen konnte. 1916 erging es vielen jungen Männern so, sie wäre kein bisschen überrascht gewesen, wenn er in der Nacht zuvor schon mit ihr mitgekommen wäre, nur um zu sehen, ob er auf diesem Wege Schlaf finden könnte … Julia mit ihren achtzehn Jahren zog diese Idee ohne Verwunderung oder Groll in Erwägung: Wie so viele andere Dinge, war das einfach so wegen Dem Krieg.

»Armer Junge!«, flüsterte Julia, denn sie wurde schnell sentimental und weinte jedes Mal, wenn sie eine Liste von gefallenen Soldaten sah. Der junge Mann rührte sich im Schlaf, seufzte und schlief wieder weiter. Er hatte noch vier Tage Heimaturlaub, und wenn er nur bei ihr blieb – dachte Julia – würde er jede Nacht so schlafen …

Sylvester Packet blieb. Er hatte eigentlich zu seiner Familie in Suffolk runterfahren wollen, aber in Suffolk konnte er nicht schlafen, und bei Julia konnte er es. Es war bedauerlich, aber das war eben Der Krieg.

Julia weinte, als er ging. Ihre Zuneigung war uneigennützig gewesen – sie lehnte alle Geschenke ab, bis auf eine Anstecknadel mit seinem Regimentsabzeichen. Doch ihre Zuneigung war auch vorübergehender Natur, und wäre da nicht ein peinlicher, unerwarteter Umstand eingetreten, hätte sie nie mehr an ihn gedacht.

II

Anfang August fiel Julia nach einer fünfstündigen Probe für Pretty Louise in Ohnmacht. Nachdem sie mithilfe ihrer Freundinnen wieder zu sich gekommen war und sie den Rat eines Fachmanns eingeholt hatte, ging sie nach Hause und schrieb an Sylvester.

Jede Erpressung lag ihr fern. In ihrem Brief stand einfach, dass sie ein Baby bekommen würde und mit Sicherheit wüsste, dass es seines war, und sie wäre ihm sehr zu Dank verpflichtet, wenn er ihr aushelfen könnte, aber wenn nicht, sollte er sich auch keine Sorgen machen. »Alles Liebe und beste Grüße, Julia.« Die Antwort darauf versetzte ihr den größten Schock ihres Lebens.

Er kam nach Hause und heiratete sie.

Das Ganze geschah während eines achtundvierzigstündigen Fronturlaubs, und Julia hatte in ihrem ganzen Leben noch keine unangenehmeren zwei Tage erlebt. Zunächst war ihre Stimmung – die sowieso nie sonderlich tief sackte – vor Erleichterung und Dankbarkeit in die Höhe geschnellt, doch es gelang ihm, sie wieder zu dämpfen. Er war zwar nicht mehr schweigsam, doch er war todlangweilig. Stundenlang erzählte er ihr von einem öde klingenden Ort in Suffolk – einem uralten Haus namens Barton, in einem alten Garten, in einem Dorf, das fünfzehn Kilometer vom nächsten Bahnhof entfernt lag, wo seine Familie offenbar seit Hunderten von Jahren gelebt hatte, ohne Auto oder Telefon. Er hätte sie sogar dorthin mitgenommen, hätten sie mehr Zeit gehabt. Julia, die einerseits froh war, diesem Besuch zu entgehen, ihn aber auch unbedingt trösten wollte, stellte einen Besuch bei seinem nächsten Heimaturlaub in Aussicht. Da fing er plötzlich an, an seinem Daumen herumzuknabbern, und wechselte das Thema. Er benahm sich tatsächlich so, als würde ihn die Zukunft nichts mehr angehen. Er kaufte sich nicht mal mehr neue Hemden. Julia bestand darauf, dass sie ins Ritz essen gingen und eine Musikkomödie besuchten, um ihn aufzumuntern, aber auch diese Bemühungen blieben erfolglos.

Und wenn schon dieser Abend misslungen war, so war die Hochzeitsnacht der totale Reinfall.

Julia verbrachte sie nämlich allein. Ihr Ehemann saß die ganze Nacht am Schreibtisch und schrieb einen Brief. Er war an seine Familie adressiert, aber nicht direkt: Die Bank hatte Anweisungen, den Brief zum rechten Zeitpunkt weiterzuleiten, erklärte er. Als dieser Brief gelesen wurde, stellte man fest, dass er detaillierte Anweisungen für die Erziehung seines ungeborenen Kindes enthielt, von dem er durchwegs als »dem Jungen« sprach. Der Junge sollte auf Barton zur Welt kommen und den Namen Henry Sylvester erhalten. Bis zum Alter von neun Jahren sollte er auf Barton bleiben, dann auf eine vorbereitende Schule für Winchester gehen. Nach dem Abschluss in Winchester sollte er sich zwischen der Armee und einem Medizinstudium entscheiden, und dann entweder auf die Militärakademie in Sandhurst oder nach Cambridge gehen. Wenn er unentschlossen sei, solle er sich für die Armee entscheiden. »Doch unter gar keinen Umständen«, so schrieb sein Vater unerwartet kategorisch, »soll er Militärarzt werden.«

Das waren die groben Richtlinien. Es wurde auch Vorsorge für ein Pony getroffen – »das ausgetauscht werden muss, sobald der Junge zu groß dafür geworden ist; nichts ist schlimmer für ein Kind, als wenn es merkt, wie seine Füße am Boden schleifen« – und für Crickettraining in den Sommerferien. Mit zwölf Jahren sollte der Junge das alte Einsteigergewehr seines Vaters bekommen, mit achtzehn seine Purdey 12: Sein Großvater würde ihm beibringen, wie er mit ihnen umzugehen hatte. All das und noch viel mehr war bedacht und gründlich überlegt zu Papier gebracht worden, mit Korrekturen, Einfügungen und mehreren Abschriften. Denn dieses lange, detaillierte und umfangreiche Dokument enthielt weit mehr als sein offizielles Testament, nämlich den letzten Willen von Sylvester Packett.

In einem kurzen Nachtrag stand dort:

Ich habe es nie jemand verraten, aber in der alten Pumpe am hinteren Ende des Obstgartens nistet meistens eine Meise. Außerdem hat im alten Weißdorn in der Ecke vom großen Acker ein Dompfaff sein Nest. Richtet ihm aus, dass man beim Ausblasen der Eier unbedingt langsam vorgehen muss. Und natürlich darf man nie mehr als ein Ei herausnehmen.

Dein dich liebender Vater

SYLVESTER PACKETT

Zwei Monate später fiel er in Ypres, und das Kind, das in Barton zur Welt kam, war ein Mädchen.

III

Sie wurde auf den Namen Suzanne Sylvester getauft. Der erste Name wurde von Julia ausgewählt, weil er sowohl patriotisch (da französisch) als auch hübsch war; und die Packetts ließen ihr ihren Willen. Sie waren unglaublich gut zu ihr. Als Mutter ihres Enkelkindes (trotz des falschen Geschlechts) nahmen sie sie mit offenen Armen auf. Voller Zuneigung und ohne viel zu hinterfragen wurde sie als Tochter des Hauses aufgenommen. Sie wünschten sich nur, dass sie und das Kind dort blieben und glücklich waren.

Und Julia versuchte es auch. Neunzehn Monate lang kümmerte sich die brave und sittsame junge Mrs. Packett wie eine Marionette um die Blumen, machte Besuche, ging in die Kirche und spielte mit dem Baby, wann immer die Kinderschwester es ihr erlaubte. Abend für Abend saß diese Marionette mit ihren Schwiegereltern am Esstisch, jeden Abend spielte sie danach eine Stunde lang leichte klassische Stücke auf dem Klavier im Salon. Bei den gediegenen Festen, wie sie die Nachbarschaft veranstaltete, spielte sie dieselben Stücke auf den Klavieren ihrer Gastgeber. Alle ihre Abendkleider waren hochgeschlossen, und zwei von ihnen hatten sogar lange Ärmel.

So sah die Marionette aus, die Julia in ihrer Dankbarkeit zusammengebastelt hatte, und die Dankbarkeit zog auch die Fäden. Die echte Julia saß im Zimmer der jungen Mrs. Packett und weinte vor Langeweile, doch selbst ihre Tränen wurden, wenn man sie entdeckte, nur für ein weiteres Zeichen für das treue, zärtliche Herz dieser Marionette gehalten. Julias Herz war tatsächlich zärtlich: Am schlimmsten empfand sie in ihrer Langeweile, dass ihr jemand fehlte, den sie hätte lieben können. Sie hatte natürlich ihr Kind und liebte es sehr, aber mit »jemand« meinte Julia einen Mann. Einen Mann zu lieben, lag in ihrer Natur: Nur musste der Mann auch am Leben sein und da sein und sie zurückküssen können. Die Liebe an einer Erinnerung festzumachen – selbst an der Erinnerung eines Ehemannes – lag Julia überhaupt nicht …

Man musste es ihr wirklich zugutehalten, dass sie es unter diesen Umständen ein Jahr und sieben Monate aushielt, bevor sie all ihre Bemühungen aufgab und zu ihrer leichtsinnigen Lebensführung zurückkehrte.

IV

Diese leichtsinnige Lebensführung beinhaltete zunächst eine Statistenrolle in einer Komödie, von der Julia durch eine Freundin gehört hatte, die einen Freund hatte, der einen Mann in der damals ums Überleben kämpfenden britischen Filmindustrie kannte. Sie traf diese Freundin bei Selfridge’s, bei einem ihrer seltenen Ausflüge in die Stadt; sie begegneten sich zufällig (in der Strumpfabteilung), aber nachdem sie zusammen Tee getrunken und sich über die alten Zeiten unterhalten und zu Abend gegessen hatten und ins Bodega gegangen waren, um sich mit dem Freund zu treffen, und dann ins Café Royal weitergezogen waren, um wiederum dessen Freund zu treffen, hatte Julia ihren letzten Zug verpasst. Sie übernachtete in der Wohnung der Freundin und fand es herrlich, auf dem Sofa in einem Bademantel zu schlafen, der nach Theaterschminke roch, und diese Nacht und dieser Geruch besiegelten ihre Zukunft. Am nächsten Morgen eröffnete sie ihren Schwiegereltern, dass sie wieder in die Stadt ziehen würde.

»Aber – was wird mit Susan?«, fragte Mrs. Packett rasch.

Julia zögerte. Der Brief ihres Ehemanns, der jetzt in Mrs. Packetts Schmuckkästchen verschlossen war, war in der Annahme geschrieben worden, dass das Kind ein Junge werden würde, aber es galt immer noch als eine Art Evangelium. Der alte Henry Packett beschäftigte sich vorwiegend mit Ponys, vor allem Shetlandponys, so wie die Anforderungen des Cambridger Frauencolleges Girton seine Frau beschäftigten.

»Das Kind muss natürlich hier bleiben«, sprach Henry Packett seine Gedanken aus.

»Wenn Julia die Trennung ertragen kann …«, begann seine Frau etwas taktvoller.

Julia spürte, dass sie es ertragen konnte. Diese neunzehn Monate ihres Daseins als junge Mrs. Packett hatten ihren ganzen Vorrat an mütterlicher Zuneigung aufgebraucht; und ihr war auch bewusst, dass das Leben in Barton für ein kleines Kind viel besser war als das Leben in der Stadt, auf das sie sich freute. Sie hatte noch keine festen Pläne, doch sie hoffte und vertraute darauf, dass es ganz bestimmt unangemessen für ein Kind sein würde.

»Tja … wenn sie euch nicht zu sehr zur Last fällt …«

»Zur Last!«, rief Mrs. Packett fröhlich. »Ist das hier denn nicht ihr Zuhause? Genauso wie deines, meine Liebe, wann immer du herkommen willst.«

Danach verlief alles reibungslos. Sie missbilligten, sie bedauerten, aber sie waren unerschütterlich gut zu ihr. Ihr Patriotismus hatte es Julia nicht gestattet, ihre Kriegerwitwenpension zu beziehen, sie hatte in Barton wie eine Tochter gelebt, mit dem Kleidergeld einer Tochter, und das wurde nun auf dreihundert Pfund im Jahr aufgestockt. Julia, die seltsame Gewissensbisse verspürte, hielt den Betrag für zu hoch, doch die Packetts bestanden darauf. Anscheinend schätzten sie Julias Fähigkeiten, sich selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen, nicht sonderlich hoch ein, und die Witwe ihres Sohnes konnte unmöglich von weniger leben. Das war der Erbanteil, den musste sie nehmen, und wenn sie wollte, durfte sie jederzeit zurückkommen und das Haus ihrer Schwiegereltern als das ihre betrachten.

V

Im nächsten Jahr kam sie fünf Mal nach Hause. Im Jahr danach fuhr sie zum Geburtstag ihrer Tochter hinunter, blieb aber nicht über Nacht. An den darauffolgenden Geburtstagen schrieb sie nur noch. Doch als Susan neun war, hatte Julia eine plötzliche Anwandlung von Mütterlichkeit und lud das Kind für eine Woche Sightseeing in die Stadt ein. Die Gelegenheit war gut, denn Mr. Macdermot, dessen Wohnung Julia bis dahin geteilt hatte, war ans Krankenbett seiner Ehefrau nach Menton gerufen worden – doch Susan kam nicht, und als Antwort auf ihre Einladung erhielt Julia einen denkwürdigen Gegenvorschlag.

Die Packetts waren bereit, so schrieben sie, die komplette Verantwortung für das Kind zu übernehmen, und sie später zu ihrer Erbin zu machen, wenn Julia ihrerseits auf alle rechtlichen Ansprüche verzichtete. Sollte sie das tun, konnte sie Susan selbstverständlich sehen, wann immer sie wollte, entweder in Barton oder an einem anderen Ort, den die Großeltern ausgesucht hatten, sie konnte das Kind jedoch nicht ohne ihre Erlaubnis alleine wegholen. Diese letzte bittere Pille wurde versüßt von der warmen Einladung Mrs. Packetts, doch sofort hinunterzukommen und einen Monat zu bleiben.

Julia dachte eingehend über beide Vorschläge nach, akzeptierte den ersten und lehnte den zweiten ab. Sie war nur zu froh, die Zukunft ihrer Tochter so vollkommen und reibungslos gesichert zu wissen, aber sie wollte keine Entsagungsszene. Außerdem beteiligte sie sich auf eine vornehme, schirmherrinnenähnliche Art an einer neuen Schauspielgruppe, die von einem ihrer Theaterfreunde geleitet wurde. Sie würde bald zu Besuch kommen, erklärte sie den Packetts, aber jetzt im Moment nicht.

Zwei Monate später hörte sie wieder von ihnen. Nachdem sie diesen Zeitraum anstandshalber abgewartet hatten, schickten ihr die Packetts eine einmalige Zahlung von siebentausend Pfund in Regierungsanleihen, anstelle ihres monatlichen Taschengelds. Diese überraschende Großzügigkeit interpretierte Julia ohne Groll als Ausdruck des Wunsches, sie endgültig loszuwerden, doch da hatte sie nur zum Teil recht. Es sollte auch Mrs. Packetts Gewissen beruhigen. »Mit ein wenig eigenem Geld«, sagte Mrs. Packett (die ganz offen altmodische Ansichten vertrat), »wird sie sich einen Ehemann angeln können.«

Julia angelte sich keinen Ehemann, sondern wurde Managerin der Theatergruppe. Sie inszenierte zwei Stücke innerhalb von sechs Monaten, und als das zweite abgesetzt wurde, waren von ihren siebentausend Pfund noch genau neunzehn Pfund sechs Shilling übrig.

VI

Der Tod von Mr. Macdermot ungefähr drei Jahre später brachte Julia daher in eine sehr prekäre Situation. Sie war einunddreißig, zu alt (und auch zu mollig), um wieder auf die Bühne zurückzugehen; sie hatte sich an gewisse Annehmlichkeiten, um nicht zu sagen an Luxus gewöhnt, und sie hatte keinerlei Ausbildung für irgendeinen respektablen Beruf, der ihr Geld eingebracht hätte. Doch sie kam zurecht. Sie war sehr vielseitig. Sie bekam immer noch einige kleine Nebenjobs, zum Beispiel war sie einmal (in einer Nachtclub-Szene) die Dame, die in den Brunnen fiel. Hier und da präsentierte sie als Mannequin Modelle für fülligere Figuren. Ihr fröhliches Lächeln warb für ein neues Backpulver und ein Tonikum für Frauen über vierzig. Außerdem lieh sie sich natürlich Geld von den Gentlemen, mit denen sie befreundet war, und das waren nicht gerade wenige. Manchmal nahm sie auch das Angebot ihrer Gastfreundschaft an. Das einzige, was Julia nie in den Sinn kam, war eine Rückkehr nach Barton zu den Packetts.

Der Kontakt zu ihnen war für immer abgeschnitten. Mit aufrichtiger Bescheidenheit betrachtete sie sich gründlich und musste anerkennen, dass sie nicht gut genug für sie war. Und ganz bestimmt nicht gut genug für eine Tochter, die (wie Mrs. Packett einmal berichtet hatte) in Wycombe Abbey zur Schule ging und Reitstunden hatte und deren beste Freundin die Tochter eines Lords war …

Also schloss Julia gedanklich mit der Sache ab und vergaß monatelang (da sie immer schwer beschäftigt und immer knapp bei Kasse war), dass sie überhaupt eine Tochter hatte.

Erst als Susan in Schwierigkeiten war, erwachten Julias Mutterinstinkte auf einmal wieder zum Leben, aber das geschah nicht ohne Hintergedanken. Die unmittelbare Wirkung dieser Instinkte bestand darin, dass sie zwei Gerichtsvollzieher beschämte und Mr. Lewis übers Ohr haute.