Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-95845-994-6
1. Auflage 2019
Korrigierter Nachdruck 2020
www.mitp.de
E-Mail: mitp-verlag@sigloch.de
Telefon: +49 7953 / 7189 - 079
Telefax: +49 7953 / 7189 - 082
© 2019 mitp-Verlags GmbH & Co. KG, Frechen
Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Übersetzung der englischen Originalausgabe:
Brian Dilg: Why you like this photo
First published in Great Britain in 2018 by ILEX, a division of Octopus Publishing Group Ltd
Carmelite House, 50 Victoria Embankment, London EC4Y ODZ
Design, layout and text copyright © Octopus Publishing Group Ltd 2018
Brian Dilg asserts the moral right to be identified as the author of this work.
All rights reserved.
Übersetzung: Claudia Koch
Lektorat: Katja Völpel
Sprachkorrektorat: Petra Heubach-Erdmann
Covergestaltung: Christian Kalkert, Sandrina Dralle
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Dieses Ebook verwendet das EPUB-Format und ist optimiert für die Nutzung mit dem iBooks-Reader auf dem iPad von Apple. Bei der Verwendung von anderen Readern kann es zu Darstellungsproblemen kommen.
Der Verlag räumt Ihnen mit dem Kauf des E-Books das Recht ein, die Inhalte im Rahmen des geltenden Urheberrechts zu nutzen. Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Der Verlag schützt seine E-Books vor Missbrauch des Urheberrechts durch ein digitales Rechtemanagement. Bei Kauf im Webshop des Verlages werden die E-Books mit einem nicht sichtbaren digitalen Wasserzeichen individuell pro Nutzer signiert. Bei Kauf in anderen Ebook-Webshops erfolgt die Signatur durch die Shopbetreiber. Angaben zu diesem DRM finden Sie auf den Seiten der jeweiligen Anbieter.
Einführung
1. WIE WIR SEHEN: MENSCH VS. KAMERA
Hinschauen vs. Sehen: Das Problem mit der Erfahrung
Das mentale Modell
Blickwinkel
Dynamischer Blick vs. Statisches Bild
Brennweite & Vergrößerung
Fokus & Schärfe
Fokus & Kameras
Schärfentiefe
Experten-Kommentar Dr. Martin Rolfs, Spezialist für Sehen & Wahrnehmung
Belichtung
Dynamikbereich
Farbwahrnehmung
Bewegung & Zeit
Experten-Kommentar Dr. Donald Hoffman, Kognitionswissenschaftler
2. WIE WIR WAHRNEHMEN: DER VISUELLE REIZ
Die Bandbreite der Wahrnehmung überwinden
Position im Bild
Größe im Bild
Skalierung
Fokus
Linien, reale & implizite
Ausdruck & Gestik
Substitution
Aufmerksamkeit: Die persönliche Hierarchie
Experten-Kommentar Dr. Jay Friedenberg, Psychologe
Helligkeit & Kontrast
Tonwertkonzepte
Farbe
Motive
Überraschung & Verzögerung: Erwartungen ausnutzen
Angewandte Wahrnehmung: Meister am Werk
3. WIE WIR DENKEN: FOTOS ENTZIFFERN
Theory of Mind
Spiegeln: Kunst als Selbstporträt
Auslassung & Fantasie: Im Bild & außerhalb
Eine 3D-Welt aus 2D-Bildern konstruieren
Experten-Kommentar Julie Grahame, Kuratorin
Der Schock des Bekannten
Fluchtpunkt & Blickwinkel
Implizite Beziehungen
Viszerale Eigenschaften
Experten-Kommentar Marc Prüst, Photo Consultant & Kurator
Zeit: Geschichten konstruieren
Form als Zeichen
Kontext & Gegenüberstellung: Bedeutung ist fließend
Licht als Zeiger
Farbe als Bedeutung
Experten-Kommentar Elisabeth Biondi, Kuratorin
4. FAZIT
Schlusswort
Leseempfehlungen
Dank
Bildnachweise
Während meines Studiums bekamen wir einen Auftrag für den Kurs in Kunstgeschichte: Schreibe eine Abhandlung über ein beliebiges Bild. Ich fand dieses Porträt (gegenüber), betrachtete es genau und schrieb darüber.
Zur selben Zeit besuchte ich ein Zeichnen-Seminar. Dort lernte ich die Prinzipien der Beobachtung kennen, aber ich war ungeduldig. Ich zeichnete mehr, als dass ich hinschaute, so überraschte es kaum, dass meine Zeichnungen sehr ungenau waren. Meine eigene Unfähigkeit in diesem Bereich machte mich besonders neugierig darauf, wie der Maler zu solch einem realen Ergebnis gekommen war.
In jenem Jahr geschahen zwei für mich unvergessliche Dinge: Nachdem ich das Gemälde ca. 90 Minuten studiert hatte, ging ich – ich hatte alles gesehen. Der Tag war wunderschön und ich kannte den Weg gut. Trotzdem passierte an diesem Nachmittag etwas Merkwürdiges: Überall erkannte ich neue Farben, Formen und Bewegungen. Als wäre in meinem Kopf ein Schalter umgelegt worden. Alles sah toll aus – brillant, lebendig, scharf, hyper-real. Erstaunlich.
Ungefähr zur selben Zeit quälte ich mich wie gewohnt beim Zeichnen. Unser Lehrer hatte ein Stillleben aufgebaut und ich bekam die Proportionen nicht hin.
Mein Lehrer kam zum mir. Er band meinen Stift an ein Stöckchen, ca. 30 cm lang. »Zeichne«, befahl er. Ich versuchte es – und beschwerte mich sofort, dass ich den Stift unmöglich so kontrollieren könne. »Genau«, entgegnete er und ging fort. Diese exakten Striche hatten meine gesamte Aufmerksamkeit gefordert.
NIEMAND ERKENNT EINE BLUME WIRKLICH – SIE IST SO KLEIN, DAS BRAUCHT ZEIT, UND WIR HABEN KEINE ZEIT. ERKENNEN BRAUCHT ZEIT, SO WIE FREUNDE ZU HABEN, ZEIT BRAUCHT.
WERNER HEISENBERG
SEHEN IST AUCH ÜBERSEHEN – VOR ALLEM ANGESICHTS DESSEN, WAS WIR BEREITS WISSEN. ES GIBT ZU VIEL ZU SEHEN, ALS DASS MAN ALLES ERKENNEN KÖNNTE.
Am Ende dieser Sitzung schauten wir uns gegenseitig unsere Werke an. Alle versammelten sich vor einer Staffelei – vor meiner. Ich machte mich schon darauf gefasst, wieder als schlechtes Beispiel herhalten zu müssen. Nach einer langen Stille sagte jemand: »Wie hast du das hinbekommen?«
Es war äußerst genau.
Ich war verblüfft. Ich war viel zu beschäftigt, um zu merken, was mir gelungen war. Warum sorgte die Tatsache, dass ich schwerer zeichnen konnte, für meine erste wirklich gute Zeichnung?
Diese Geschichten unterstützen die These dieses Buches: Zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir glauben zu sehen, ist ein großer Unterschied. Die Evolution hat uns auf Überleben getrimmt. Überleben heißt aber auch Effizienz. Und Effizienz bedeutet zu verarbeiten, was unglaublich schnell passiert.
Jede Erfahrung trägt zu einem riesigen Katalog von Verhalten und Konsequenzen bei: Tiger haben Streifen, lauern im Schatten und können uns gegen den Wind riechen. Fahrer halten sich nicht unbedingt an die Verkehrsregeln, verlass dich also nicht darauf, dass sie anhalten, wenn du den Zebrastreifen betrittst.
Unser Geist aktualisiert ständig dieses einzigartige mentale Weltmodell. Wir können nur auf wenige Erfahrungen gleichzeitig zurückgreifen. Und wir kompensieren diese Überlastung, indem wir Erfahrungen mit Erwartungen vergleichen. Sehen ist also auch übersehen – vor allem angesichts dessen, was wir bereits wissen. Es gibt zu viel zu sehen, als dass man alles erkennen könnte.
In Wahrheit hilft uns unser Überlebensdrang, indem wir von unerwarteten Bildern schockiert sind. Vielleicht glauben wir, die Dinge genauer zu sehen als andere.
Dieses Buch wird Sie eines Besseren belehren. Ich hoffe, ich verändere Ihre Welt, ob Sie ein Fotograf sind oder einfach nur Fotos lieben.
1 | WIE WIR SEHEN MENSCH VS. KAMERA |
Erinnern Sie sich an die Geschichte von meinem Durchbruch beim Zeichnen? Wie konnte die beschränkte Kontrolle über den Stift zu meiner ersten wirklich akkuraten Zeichnung führen? Die plötzliche Veränderung legt nahe, dass es nichts mit Talent oder göttlicher Eingebung zu tun hatte, sondern dass ich bereits vorher exakt sehen und zeichnen konnte. Das Problem war die Erfahrung an sich. (Und meine Ungeduld half auch nicht wirklich.)
Vor mir lagen Blechdosen, Fäden und Kästen. Ich war zwar noch nicht wirklich alt, aber ich kannte diese Objekte: Blechdosen sind zylindrisch und glänzen. Wenn er langgezogen wird, ist ein Faden gerade. Kästen sind rechteckig. Was gibt es da also zu sehen?!
Der hier geschilderte Denkprozess beschreibt den Teil Ihres Gehirns, der Ihren Wachzustand dominiert. Er hat keine Geduld für feine Farben oder farbliche und räumliche Verhältnisse.
Zum Glück ist dieser Bereich dominant. Wenn etwas vom Himmel fällt, wollen Sie, dass Ihr Gehirn dessen Weg, die Geschwindigkeit und mögliche Fluchtwege in Betracht zieht und sich nicht daran freut, wie schön dieser Gegenstand in der Sonne glänzt.
Als mein weiser Lehrer es für mich so schwierig machte, den Stift zu kontrollieren, konnte der Teil von mir nicht mehr weitermachen, der einfache Symbole basierend auf Erfahrungen zeichnete. Ich konnte diese Zeichen physisch nicht mehr zu Papier bringen. Ich konnte nur hinschauen, sehr langsam zeichnen und meine Zeichnung mit dem vergleichen, was ich sah.
Das Problem mit bestehenden Erfahrungen war, dass wir im Alltag einfach keine Zeit oder Notwendigkeit haben, Formen, Licht und Farben im Detail zu untersuchen. Darum wusste ich eigentlich auch nichts über die Szene, die ich da direkt vor mir hatte. Das konnte ich aber nur lernen, indem ich mir die Zeit zum Sehen nahm.
WAS WIR BEOBACHTEN, IST NICHT DIE NATUR AN SICH, SONDERN DIE NATUR, WIE WIR SIE HINTERFRAGEN.
WERNER HEISENBERG
Die Erfahrung errichtet ein mentales Modell von der Welt. Neue Informationen werden damit verglichen, um Dinge zu erkennen und die Zukunft vorherzusagen. Wenn etwas den Erwartungen widerspricht, bemerkt dies das Gehirn und gerät durcheinander. Dieses Beispiel gibt Ihnen die Möglichkeit, herauszufinden, wie sehr Ihr mentales Modell darauf beharrt, dass die Welt erwartungskonform sein muss, und wie es eine unerwartete Wendung fehlinterpretiert.
So halten uns raffinierte, feste mentale Modelle von der Welt am Leben und erlauben uns, all die tollen Dinge zu tun, die der Mensch zu tun in der Lage ist: Höchstleistungen im Sport zu erringen, zum Beispiel. In der Kunst (und beim Entwickeln neuer Ideen) kann uns die Erfahrung jedoch auch behindern. Wenn wir nur das wahrnehmen, was unseren Erwartungen entspricht, sehen wir nicht wirklich. Wir filtern nur.
Skeptisch? Suchen Sie im Internet nach Videos zum Thema »Selektive Aufmerksamkeit« und beobachten Sie, wie Ihr Gehirn abschweift.
Wir sehen uns ständig so vielen Reizen gegenüber, dass wir davon nur einen Bruchteil verarbeiten können. Wenn ich Sie überzeugen kann, nur viel weniger zu sehen, als tatsächlich da ist, verändert das Ihre gesamte Erfahrung. Eine reiche, übersehene Welt erscheint.
Fotografieren ist, als stimmten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Frequenzen ein, von denen Sie vorher nichts wussten, und als fänden Sie heraus, dass es im Radio unendlich viele Sender gibt. Wenn Sie üben, Gesten zu sehen und einzuordnen, ebenso Farbverhältnisse, Formen, Motive, Licht und Schatten, erweitern Sie nicht nur Ihre Wahrnehmung, sondern auch Ihre Fähigkeit, eine Geschichte für ein Publikum zu konstruieren. Dasselbe gilt für Sie als Betrachter.
Unsere Augen liefern uns ein Kompositbild – zwei Bilder, die ein Gesichtsfeld von ca. 180º ergeben. Dabei ist es nicht so groß wie bei Fischen, aber es reicht aus, um den Tiger zu sehen, der sich im Dschungel versteckt. Wenn Sie die Arme seitlich ausstrecken und geradeaus schauen, erkennen Sie Ihre Hände noch immer, wenn auch undeutlich. Das menschliche periphere Sehen ist darauf ausgerichtet, Bewegungen wahrzunehmen – es ist wichtiger zu erkennen, ob etwas unsere Aufmerksamkeit verdient, als genau zu wissen, wie es aussieht. Schauen Sie auf das X in der Mitte der Buchstaben unten auf der Seite. Wie viele Buchstaben erkennen Sie noch, ohne die Augen zu bewegen? Die meisten Menschen sehen zwei oder drei Buchstaben neben dem X scharf. Tatsächlich erkennen wir ca. 1 bis 2 % unseres Gesichtsfeldes scharf. Zwar ist der Augenhintergrund mit Fotorezeptoren ausgestattet, die meisten sind jedoch auf einen kleinen Bereich konzentriert, die Fovea. Nur wenn wir etwas direkt anschauen, sehen wir Details scharf.
A W R E B N P X Q Z T O S L M
Mit wenigen Ausnahmen verfügen Kameras über ein Objektiv. Sie »sehen« relativ gleichmäßig scharf über das gesamte Gesichtsfeld, das jedoch viel enger ist als das des Menschen, bezieht man das periphere Sehen mit ein.
Nur das Fischaugen-Objektiv entspricht unserem 180º-Gesichtsfeld, die damit aufgenommenen Bilder kommen jedoch dem menschlichen Sehen keineswegs nahe.
Außerdem können wir nicht zoomen! Während wir dazu umherlaufen müssen, verfügen die meisten Kameras über einen Bereich an Brennweiten. Weitwinkel-Objektive sehen meist 75–84º, ein 300-mm-Tele hat jedoch nur 8º Gesichtsfeld. Mit zunehmender Brennweite wird der Blickwinkel enger und das Motiv größer.
Angesichts der Tatsache, dass wir nur 1 bis 2 % unseres Gesichtsfelds scharf sehen, wie bekommen wir ein klares Bild von unserer Umgebung? Im Unterschied zu einer Kamera schauen wir nicht nur einmal hin; wir sehen uns um. Unsere Augen springen in schnellen Bewegungen, den sogenannten Sakkaden.
Sakkaden ereignen sich mehrmals pro Sekunde. Unsere Augen springen auf einen neuen Punkt, der unsere Aufmerksamkeit erregt. Aber selbst dann driftet unser Blick weiterhin und vollführt kleinere Bewegungen, die sogenannten Mikro-Sakkaden.
Wir haben einen dynamischen Blick, nicht die fixierte Perspektive einer Kamera. Dieser Ansatz ist nicht auf die Augenbewegung beschränkt, er wird von der Bewegung des Kopfes und unserer Mobilität begleitet. Außerdem schauen wir immerzu. Unsere Sehfähigkeit ist so stark von der Bewegung abhängig, dass das Bild verblasst, je stärker wir unsere Bewegung einschränken.
Wir sehen nie eine gesamte Szene auf einmal. Unser Blick und unsere bewusste Wahrnehmung ändern sich ständig, und wir aktualisieren unsere Sicht konstant. Kameras hingegen »schauen« einmal hin und zeichnen die gesamte Szene in einem einzigen statischen Bild auf.