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Das 1907 eingeweihte Theodor-Fontane-Denkmal in Neuruppin, der Geburtsstadt des Dichters, zeigt diesen in entspannter Pose: Locker zurückgelehnt sitzt er auf einer steinernen Bank und blickt in die Ferne. Der »Erkältungsgeneigte«, wie Fontane sich 1895 beschrieb, hat Hut, Spazierstock und sein »anderthalb Hand breites Cache-nez« beiseitegelegt, den Schal, den er nicht nur an kalten Tagen »wie ein Visir vorm Gesicht« trug (so berichtete er 1859 an den Freund Wilhelm Wolfsohn). Das Denkmal ist im Kontext des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden nur Fürstlichkeiten und aristokratische Feldherren mit Standbildern geehrt, dann entstand – im Zeichen des bürgerlichen Zeitalters – die Fülle von Denkmälern nicht-adliger Philosophen, Dichter, Komponisten, Wissenschaftler usw. (Jeder Stadt ihren Schiller!)
Diese geistige, meist bürgerliche Elite darf zwar nicht ›hoch zu Ross‹ auf ihre Mitbürger hinabsehen, aber sie steht fast immer aufrecht und stolz auf ihrem Sockel. Ganz anders Fontane. Seine Haltung hat nichts Heldenhaftes, und das entspricht dem Bild, das wir traditionellerweise von ihm haben. Er gilt vielen als Gemütsmensch, dem alles Heroische und Spannungsreiche fremd war. Er stand angeblich heiter über den Misslichkeiten des Lebens. Aber dieses Bild greift zu kurz, denn in Wirklichkeit litt Fontane über Jahrzehnte unter seinen Misserfolgen, unter drückenden Sorgen, tragischen Erlebnissen, »Demüthigungen und Unterschätzungen«, wie er seiner Tochter im Mai 1889 eingestand. Die Erfolglosigkeit seiner Bücher erbitterte ihn. »Es fällt alles in den Brunnen«, klagte er seiner Frau gegenüber, »ich würde, wenn ich es könnte, [das Schreiben] morgen aufgeben.«
»Es fällt alles in den Brunnen« –
»ich würde, wenn ich es könnte, [das Schreiben] morgen aufgeben.«
Die Überschrift dieses ersten Kapitels, »(Das ist) ein weites Feld« ist das resignierende Credo des toleranten märkischen Adligen von Briest in Fontanes wohl berühmtestem Roman Effi Briest. Es ist zum geflügelten Wort und zum meistzitierten Satz Fontanes geworden. Aber es lässt sich leicht auch auf den Autor selbst und auf sein Œuvre beziehen: Fontane ist ein weites Feld.
Und dieses Feld ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch erheblich weiter geworden – heute ist Fontane auf dem Gipfel seines Ansehens und seiner Popularität. Seine Zeitgenossen sahen in dem Schriftsteller noch eher einen regionalen märkischen und preußischen Autor, denn sie lasen vor allem seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg und kannten insbesondere einige seiner schnell populär gewordenen Balladen. In seinem letzten Lebensjahrzehnt galt Fontane als anspruchsvoller, aber wenig populärer Romancier. Der ganze Fontane ist ein Produkt der Nachwelt. »Ein weites Feld« – das lässt sich auf viele Aspekte seines Lebens und Werks beziehen:
auf die verschiedenen beruflichen Tätigkeiten, die Fontane im Lauf seines Lebens ausübte,
auf den Umfang seines Gesamtwerks, das aus den unterschiedlichsten Genres besteht,
auf die variierende künstlerische Qualität seines Œuvres – dessen Bandbreite von Kitsch und Mittelmäßigem bis zu subtilster Symbolik und unübertroffen leichten Dialogen reicht.
Ebenso weit ist über viele Jahrzehnte auch das Feld der Widersprüche und Umschwünge in Fontanes weltanschaulicher und politischer Orientierung.
Ein weites Feld ist zudem die verwirrende Publikationsgeschichte.
Und ein weites Feld waren auch die historischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und literarischen Veränderungen im 19. Jahrhundert, dessen größten Teil Fontane durchlebte: Er begleitete die Entwicklung vom Deutschen Bund zum Deutschen Reich und den Epochenwandel von der Romantik über den Realismus zum Naturalismus kommentierend oder mitwirkend.
Als Fontane 1819 geboren wurde, war Napoleon bereits gestürzt und der Wiener Kongress hatte das, was heute Deutschland ist, als Flickenteppich von fast vierzig Staaten hinterlassen; als er 1898 starb, war Deutschland mit dem bedenklich risikofreudigen Kaiser Wilhelm II. an der Spitze neben Großbritannien zum mächtigsten Staat Europas aufgestiegen. Als Fontane 1819 geboren wurde, veröffentlichte Goethe seinen West-östlichen Divan; als er 1898 starb, hatte er als Theaterkritiker Gerhart Hauptmanns frühe Stücke rezensiert.
Ist das ein zu weites Feld für ein Buch von nur 100 Seiten? »Ja und Nein« – um eine gern gebrauchte Formel Fontanes zu benutzten: Wenn man Fontanes riesiges Werk und die achtzig Jahre seines Lebens erschöpfend darstellen wollte – dann ja. Das wäre ein monumentales Unterfangen, denn man weiß über Fontane mehr als über fast jeden anderen Autor des 19. Jahrhunderts. Wenn man sich aber auf das Wichtigste, auf das Lesenswerte, vor allem auf die Romane konzentriert – dann nein. Genau das also ist die Absicht dieses Bandes: Ein Fontane für Leser! Und dabei sollen in ein paar »Kosthäppchen, die den Appetit anregen«, wie der Autor es 1858 so hübsch formulierte, Fontane selbst und einige seiner Zeitgenossen zu Wort kommen.
Es wurde häufig aus Briefen Fontanes zitiert (auch die meisten Kapitelüberschriften entstammen Briefen) – verschiedene Ausgaben liegen zu Grunde:
Zuerst ist die verdienstvolle fünfbändige Briefedition, erschienen in den Jahren 1976 bis 1994 im Hanser Verlag, zu nennen.
Daneben habe ich die zwei Bände Theodor Fontane. Der Dichter über sein Werk benutzt (dtv-Taschenbuch-Ausgabe von 1977).
Die Briefe an Georg Friedlaender werden zitiert nach einer 1994 vom Insel Verlag publizierten Ausgabe,
und die Briefe an Emilie Fontane nach einer dreibändigen Ausgabe des Ehebriefwechsels, erschienen 1998 im Aufbau Verlag.
Den ersten überlieferten Eindruck des jungen Fontane vermittelt uns Richard Kersting, Apothekerkollege Fontanes in Dresden. Er äußerte im September 1843 in einem Brief an seine Mutter über den 23-Jährigen:
[Fontane] ist höchst liebenswürdig durch seine offene, stets gleichbleibende, sanfte Freundlichkeit, hat einigen Witz und einen großen Hang zur poetischen Schwärmerei.
Und an seinen Bruder schrieb Kersting im darauffolgenden Frühjahr:
Fontane ist ein prächtiger Kerl, der mit seinem scharfen Verstand, hellen Geist und glühender Phantasie weit über mir steht, er liebt auch das Schöne und strebt nach dem Guten, aber sonst ein kurioser Kauz. Um Wissenschaft kümmert er sich gar nicht, Charakter habe ich noch nicht viel bemerkt, und daher sind seine Grundsätze schwankend, ohne inneren Halt. […] Von Natur sehr sanft und gutmütig, kommen da bisweilen sehr jugendlich aussehende Widersprüche zum Vorschein, wie überhaupt sein geistiger Habitus viel Schönes, Edles, aber auch noch manches Unreife zeigt. Eitelkeit ist seine Hauptschwäche. […] Fontane gibt auch zu, daß er eitel ist und daß Eitelkeit nicht eben etwas Großartiges sei, aber ganz verdammt er sie doch nicht. Er meint, sie sei ein guter Sporn, der schon manch edles Produkt aus den gern ruhenden Geistern getrieben habe.
Die späteren Zeugnisse sind, wie nicht anders zu erwarten, zahlreicher. Hier eine Auswahl:
Max Müller, später Professor für vergleichende Philologie in Oxford, war zusammen mit Fontane 1842 in Leipzig Mitglied der Herwegh-Gesellschaft. Er erinnerte sich 1898 in seinen Memoiren:
Während meiner Zeit in Leipzig […] gehörte ich sogar einer literarischen Gesellschaft an und ich erinnere mich an […] Theodor Fontane, [er] lebt noch und ist einer der bekanntesten und beliebtesten Romanciers seiner Zeit. Er war eine charmante Persönlichkeit, ein Mann von großen Gaben, voller geistiger Lebhaftigkeit und unerschöpflicher guter Laune. Er begann sein Leben in einer Apotheke und hatte in seiner Jugend viel durchzumachen, was ihn vielleicht daran gehindert hat, seine volle Größe und Kraft zu erreichen. Er wäre wo möglich ein zweiter Heine geworden, aber viele Jahre harter Arbeit und hoffnungsloser Plackerei ließen ihn nicht den Höhenflug gewinnen, zu dem seine jungen Flügel ihn berechtigten.
Der Schriftsteller und langjährige Freund Paul Heyse schilderte seinen Eindruck bei der ersten Begegnung mit Fontane im ›Tunnel über der Spree‹ 1844 in einem sicher etwas verklärenden Gedicht zum 70. Geburtstag des Freundes 1889:
Da ging die Tür, und in die Halle
Mit schwebendem Gang wie ein junger Gott
Trat ein Verspäteter, frei und flott,
Grüßt in die Runde mit Feuerblick,
Warf in den Nacken das Haupt zurück,
Reichte diesem und dem die Hand
Und musterte mich jungen Fant
Ein bißchen gnädig von oben herab,
Daß es einen Stich ins Herz mir gab.
Doch: Der ist ein Dichter! wußt’ ich sofort.
Bernhard von Lepel, damals Fontanes engster Freund, charakterisierte ihn wiederholt in seinen Briefen an ihn. 1849 erwähnte er dessen »feuriges Auge und […] dunkles fantastisch ungeordnetes Haar«. Und zehn Jahre später schrieb er:
Du bist, was der Reiter einen Durchgänger nennt. Es ist auch nicht zu läugnen, daß Du von Deinem Temperament Vortheile hast, die ruhigeren Naturen abgehn. Ich meine namentlich die Sicherheit Deines Auftretens, die Ueberzeugung, von der Du tief durchdrungen bist, u. die Leidenschaftlichkeit, mit der Du sie mitzutheilen pflegst. Es spukt da etwas Französisches in Deinem Blut, […]. Indeß hat es auch schon Nachtheile gebracht. Sowohl bei Deinen Arbeiten, namentlich wo Du den Politiker herauskehrst, als auch im Verkehr mit Anderen.
Der Architekt Richard Lucae begleitete Fontane 1863 auf einer märkischen Wanderung. Später amüsierte er sich über diesen gemeinsamen Ausflug:
Fontane war übrigens zum Totlachen komisch. Von jedem alten Stein wollte er womöglich einen ganzen Roman ablesen (u. that es meist auch), u. ich sollte ihm von jedem Schnörkel womöglich Tag und Stunde seiner Geburt bestimmen. […] Der Eifer, der unsern alten Nöhl [Fontanes Spitzname] für seine Arbeit beseelt, ist wirklich rührend.
Der Jurist und Romancier historischer Romane Felix Dahn erinnerte sich an Fontane als an einen
Mann in der Vollblüte der Jahre, hoch aufgeschossen, so hoch und schlank, daß Brust und Schulter fast zu schmal geraten aussahen; ein bleiches langgezogenes Gesicht mit blitzenden, dunkelblauen Augen war umflutet von einer Fülle seidenweichen schwarzen Haares. Die ganze Gestalt so geschmeidig und so vornehm wie die eines englischen Knight of Percy Relics.
Und zu guter Letzt soll Gerhart Hauptmann zu Wort kommen, der, rund vierzig Jahre jünger als Fontane, in den 1890er Jahren bei diesem zum Dinner eingeladen war:
Die Unterhaltung bei Tische war eine prickelnde. Der alte Herr liebte eine gewisse Pikanterie, […]. Gewagteste Zweideutigkeiten indes – hier trat die französische Abkunft des Dichters zutage – gingen unter in dem bezaubernden Fluß seiner meist übermütigen Konversation.
Als Henri Théodore Fontane am 30. Dezember 1819 in Neuruppin geboren wurde, lebte die hugenottische Familie schon seit mehreren Generationen in der Mark Brandenburg, hielt aber das Bewusstsein ihrer Herkunft aus Südfrankreich wach. Fontane nannte sich einen »Märker, aber noch mehr Gascogner« und gestand 1888 seiner Frau: »Wie stolz und glücklich bin ich, dass ›meiner Ahnen Wiege‹ in Languedoc, ja sogar in der Gascogne gestanden hat.« Noch als alter Mann sprach er von seiner »eigensten südfranzösischen Natur« und von der »Wonne, einem höhren Culturvolk […] anzugehören«. Sein Vater, »ein großer, stattlicher Gascogner« (Meine Kinderjahre), wuchs noch in einer französischsprachigen Familie auf, Theodor selbst aber beherrschte die Sprache nur noch unvollkommen. Sein jüngster Sohn berichtete nach dem Tod des Vaters, man pflegte den Familiennamen »nach wie vor mit französischem Anklang, das heißt mit Nasallaut und stummem e auszusprechen – jedoch mit Betonung auf der ersten Silbe und nur ›an Sonn- und Feiertagen‹«. In Schach von Wuthenow hat Fontane den halb-assimilierten Hugenotten mit Tante Marguerite, »einer echten Koloniefranzösin«, ein karikierendes Denkmal gesetzt: Sie war
eine alte Dame, die das damalige, sich fast ausschließlich im Dativ bewegende Berlinisch mit geprüntem Munde sprach, das ü dem i vorzog, entweder »Kürschen« aß, oder in die »Kürche« ging, und ihre Rede […] mit französischen Einschiebseln und Anredefloskeln garnierte.
Aber das Französische in Fontane bezog sich nicht auf seine nationale Identität, sondern nur auf seine Persönlichkeit, auf seine »angeborne Artigkeit« und auf »Leichtigkeit, Grazie, Humor«, die er in der deutschen Literatur vermisste: »Das romantisch Phantastische […] bildet meine eigenste südfranzösische Natur.« Seiner nationalen Identität nach empfand Fontane sich als Preuße. Mit Ausnahme weniger Jahre verbrachte er sein Leben in der Mark Brandenburg, ja er entwickelte sich zu einem der ›preußischsten‹ Autoren – auch wenn er dabei im Lauf seines Lebens zwischen demonstrativer Anpassung und kritischer Distanz schwankte.
Über 65 Jahre lebte Fontane in Berlin. Seine Kindheit aber verbrachte er in dem »spießbürgerlichen« Neuruppin und in dem »poetischen« Swinemünde. Sein Vater betrieb dort jeweils die Apotheke. Doch mit der Familie ging es langsam finanziell bergab, denn »die Spielpassion« des leichtsinnigen Vaters und »die Schenk- und Gebepassion« der strengeren Mutter (Meine Kinderjahre) untergruben die familiären Finanzen, und so landete man schließlich in der Apotheke des Oderbruch-Dorfes Letschin. Fontanes charakterlich sehr unterschiedliche Eltern trennten sich 1850. Ihr ältester Sohn Theodor – später wurden noch vier Geschwister geboren – nannte sich in einem Brief an Theodor Storm rückblickend einen »mittelmäßigen Schüler«. »Ohne Vermögen«, schrieb er spät im Leben, »ohne Familienanhang, ohne Schulung und Wissen, ohne robuste Gesundheit, bin ich ins Leben getreten, mit nichts ausgerüstet als einem poetischen Talent und einer schlecht sitzenden Hose. (Auf dem Knie immer Beutel.)« In Meine Kinderjahre