Simone Dorra erblickte 1963 in Wuppertal das Licht der Welt und ist seit 1983 in Baden-Württemberg zu Hause. Die gelernte Buchhändlerin arbeitete zunächst in einem Stuttgarter Verlag und gestaltete dann als Sprecherin und Journalistin Radioprogramme für den Privatrundfunk. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Welzheim, wo sie heute als Lokaljournalistin für die örtliche Tageszeitung arbeitet.
www.simonedorra.de
Ingrid Zellner wurde 1962 in Dachau geboren. Nach ihrem Theaterwissenschafts-, Literatur- und Geschichtsstudium in München war sie am Stadttheater Hildesheim und zwölf Jahre an der Bayerischen Staatsoper München Dramaturgin. Heute lebt sie als Übersetzerin (Schwedisch) und Schriftstellerin, Regisseurin und Theaterschauspielerin wieder in Dachau. Sie hat bereits Romane, ein Kinderbuch, Kurzgeschichten und Theaterstücke veröffentlicht.
www.ingrid-zellner.de
1. Auflage 2019
© 2019 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung und Satz:
César Satz & Grafik GmbH, Köln.
Coverfoto: © Sayan Puangkham – Shutterstock.
Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.
Druck: CPI Books, Leck.
Printed in Germany.
ISBN 978-3-8425-2190-2
eISBN 978-3-8425-2315-9
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Die Tote unter der Brücke
Der Mann mit der Katze
Ein rätselhafter Kollege
Ein Kommissar unter Verdacht
Aus dem Gleichgewicht
Alleingänge
Begegnungen am Bodensee
Verbündete auf Zeit
Donnerwetter
Klinkenputzen
Sackgassen
Familiendinner in Little India
Waterloo
Gardinenpredigt
Amtshilfe
Schüsse in der Dunkelheit
Gedankenspiele
Ölzweige
Vorstöße
Überraschende Erkenntnisse
Schlag und Stich
Silberstreif
Sprung ins kalte Wasser
Glossar
Danksagung
Es war nach der dritten durchwachten Nacht in Folge, als er sich schließlich zähneknirschend eingestand, dass er sich zu früh gefreut hatte.
Die Adresse stimmte, da gab es keinen Zweifel. In der Reihe der Klingelschilder neben der Haustür war ihm das, nach dem er gesucht hatte, sofort ins Auge gestochen. Aber der Mann, der zu diesem Nachnamen gehörte, hatte seitdem das Haus weder verlassen noch betreten, und hinter den Fenstern im zweiten Stock rechts war es die ganze Zeit über dunkel geblieben. Offensichtlich war der Bastard ausgeflogen.
Und damit seiner Rache entgangen. Merde.
Er lehnte sich in dem durchgesessenen Fahrersitz des alten rostigen VW Polo zurück, den er gegenüber von dem Mietblock geparkt hatte, und starrte durch die verdreckte Windschutzscheibe nach draußen, wo in dem ersten fahlen Morgenlicht Menschen mit müden Gesichtern die Straße entlangschlurften. Hatte Jimmy sich womöglich im Stockwerk geirrt? Wohnte der salaud in einer der anderen Wohnungen, in denen abends überall zuverlässig die Lichter hinter den Fenstern angingen? Doch warum tauchte er dann niemals außerhalb seiner vier Wände auf? War er vielleicht krank? Aber dann würde doch nachts wenigstens eine Lampe ab und zu aufflammen. Nur wer tot war, brauchte kein Licht mehr.
Und tot war der salaud mit Sicherheit nicht. Sonst hätten seine Kollegen ihn längst vermisst und nach ihm gesucht. Und das hätte er mitgekriegt.
Nein, er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Diese Aktion war ein Schuss in den Ofen.
Seine Hände krallten sich um den rauen, verfilzten Fellbezug, der irgendwann in grauer Vorzeit über das Lenkrad gespannt worden war. Acht Jahre lang hatte er diesen Moment herbeigesehnt. Acht beschissene Jahre in dieser verfickten Justizvollzugsanstalt in Freiburg. Freiburg. Er schnaubte sarkastisch. Was für ein Hohn. Wenn er etwas in all dieser Zeit nicht gewesen war, dann frei. Und das hatte einzig und allein dieser verfluchte salaud ihm eingebrockt. Aber er würde es ihm heimzahlen, das hatte er sich geschworen, an jedem verdammten Tag, den sie ihn hinter Schloss und Riegel hatten versauern lassen. Ideen, wie er dem salaud das Leben zur Hölle machen und ihn am Ende über die Klinge springen lassen konnte, hatte er en masse; schließlich hatte er lange genug Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen.
Und jetzt war der Mann nicht da. Zut alors!
Frustriert knüllte er die leere Bäckertüte auf dem Beifahrersitz zusammen und feuerte sie über die Schulter nach hinten. Seine Vorräte waren ebenso aufgezehrt wie seine Geduld. Zeit, die Aktion salaud fürs Erste abzubrechen und die Rostlaube zurückzubringen; Jimmy hatte sowieso schwer darauf gepocht, dass er sie heute wiederhaben wollte, wofür auch immer. Und außerdem brauchte er einen Eimer Kaffee. Dringend.
Gerade wollte er den Zündschlüssel herumdrehen, als eine junge Frau vor dem Mietblock stehen blieb und in ihrer Tasche zu kramen begann. Plötzliche Erregung jagte wie ein Stromstoß durch seinen Körper. Hübsche kleine Puppe. Schwarzhaarig, dunkle Augen, slawischer Typ, irgendwo aus Osteuropa vermutlich. Er spürte, wie es in seiner Hose anschwoll. Verdammt, er hatte wirklich viel zu lange nicht mehr ordentlich gebumst.
Er atmete tief ein und wieder aus. Nein. Nicht jetzt und nicht hier. Aber vielleicht …
Ohne den Satz zu Ende zu denken, sprang er aus dem Wagen, überquerte zielstrebig die Straße und blieb neben der Schwarzhaarigen vor der Haustür stehen. Er ließ den Blick über die Klingelschilder gleiten, als suchte er etwas, und als die Frau endlich einen Schlüsselbund aus der Handtasche zog, klingelte er demonstrativ bei seinem Zielobjekt Sturm.
»Hat sich wänig Sinn. Ist nicht da.«
Die Stimme klang überraschend dunkel und rau für so ein zierliches Persönchen. Er wandte sich der jungen Frau zu, die mit müden, glanzlosen Augen zu ihm aufsah. Wahrscheinlich, dachte er, kam sie von einer anstrengenden Nachtschicht nach Hause und sehnte sich nach ihrem Bett. Er zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken.
»Nicht da?«, erwiderte er, bemüht, erstaunt zu klingen. »Sind Sie sicher?«
»Ja, bin ich sicher«, antwortete sie sehr bestimmt. »Hat Urlaub, seit eine Woche. Besucht Eltern seinige. Ich weiß, weil ich hole Zeitung und Briefe aus seine Kasten und bewahre auf für ihn.«
Bei der Art, wie sie beim Sprechen das R rollte, wurde er erneut steif. Die Gier ließ seinen Körper summen wie eine Hochspannungsleitung, und er musste seine gesamte Selbstbeherrschung mobilisieren, um die Kleine nicht auf der Stelle gegen die Hauswand zu drängen und ihr den Rock hochzuschieben. Diese Ostweiber hatten ihn schon immer besonders scharf gemacht.
Er riss sich zusammen.
»Ach, das ist aber dumm«, sagte er und legte dabei all die Enttäuschung in die Stimme, die er tatsächlich empfand. »Wissen Sie, er ist ein alter Freund von mir; ich bin auf der Durchreise und wollte ihn überraschen … Sie wissen nicht zufällig, wo seine Eltern wohnen?«
Er garnierte diese Frage mit seinem charmantesten Lächeln, aber das schien bei der jungen Frau nicht wirklich anzukommen.
»Nein, weiß ich nicht«, entgegnete sie und steckte ihren Schlüssel in das Schloss.
»Haben Sie dann vielleicht seine Telefonnummer?«
Sie hielt mitten in der ersten Umdrehung des Schlüssels inne und musterte ihn mit offensichtlicher Verwunderung.
»Was – er ist alter Freind, und Sie haben nicht Telefonnummer seinige?«
Nur mit Mühe unterdrückte er ein ironisches Schnauben. Oh, er kannte durchaus eine Nummer, unter der man den salaud normalerweise erreichen konnte … aber bevor er die wählte, badete der Teufel im Weihwasserbecken.
»Er muss sich eine neue zugelegt haben; die, die ich in meinem Handy abgespeichert habe, funktioniert nicht mehr«, log er und fabrizierte einen resignierenden Seufzer. »Na ja, da kann man nichts machen. Danke für die Auskunft.«
»Gerne.« Sie schloss die Haustür auf. »Wollen Sie ihm schreiben eine Nachricht? Ich läge zu seine Briefe, dann er sie findet, wenn er kommt heim.«
»Wann kommt er denn?«, fragte er mit einem neu entfachten Funken Hoffnung. »Ich meine, wie lange will er wegbleiben?«
»Weiß ich nicht.« Sie schüttelte den schwarzgelockten Kopf. »Hat nicht gesagt. Hat nur gemeint, bleibt wohl weg ein paar Wochen. Wollen Sie nun schreiben Nachricht?«
Er zögerte kurz. Die Vorstellung, dem salaud einen kleinen »Liebesbrief« dazulassen, war nicht ohne Reiz. Mit freundlichen Grüßen, le vengeur.
Aber dann war der Mann vorgewarnt und die ganze Überraschung beim Teufel. Nicht gut.
»Nein«, antwortete er entschlossen. »Ich probier auf der Rückreise noch einmal mein Glück, und wenn er dann wieder nicht da ist, dann kann ich ihm immer noch eine Nachricht in den Kasten stecken.« Er bedachte die junge Frau erneut mit einem gewinnenden Lächeln. »So gut möchten wir’s auch mal haben, was? Einfach wochenlang Urlaub machen!«
Sie lächelte blass zurück. »No, muss er ja auch immer schwär arbeiten. Mussen wir alle. Wiedersähen!«
Mit diesen Worten ging sie ins Haus und schob von innen die Tür zu. Er trat ein paar Schritte zurück und verkrampfte hastig die Hände hinter dem Rücken, um sich nicht in letzter Sekunde noch dagegenzustemmen und die Kleine aufzuhalten. Er atmete auf, als die Tür vor seinen Augen schließlich schwerfällig ins Schloss fiel. Ein andermal. Jetzt hatte er Wichtigeres zu tun, als kleine Ostschnecken ranzunehmen.
Er ging zurück zu Jimmys Wagen, ließ den Motor an und fuhr los. Bei einem Bäcker zwei Straßen weiter hielt er kurz an, kaufte einen großen Coffee to go und zwei Croissants und setzte seinen Weg in Richtung Uferpromenade fort. Wenig später schlenderte er die Uferstraße entlang und ließ sich mit seinem Frühstück auf einer Bank nieder. Der Himmel war mit deprimierend dunklen Wolken überzogen, vermutlich würde demnächst ein Regenguss über dem Schwäbischen Meer niedergehen. Alles um ihn herum war grau. Merde. Zwar hatte der Wetterdienst im Autoradio Besserung versprochen und dass es durchaus ein schöner September werden könnte, aber davon konnte er sich in diesem Moment nichts kaufen. Seine Welt war lange genug grau gewesen. Er sehnte sich nach Licht und Sonne. Und nach Rache.
Er hob den Pappbecher mit dem Kaffee an die Lippen und schlürfte. Jimmy. Er würde Jimmy fragen, wenn er ihm nachher die Schrottmühle zurückbrachte. Immerhin hatte der auch schon seine Erfahrungen mit dem salaud gemacht. Vielleicht wusste der ja, wo die Eltern zu finden waren – oder bei wem man sich möglichst unauffällig danach erkundigen konnte. In jedem Fall würde er nicht ruhen, bis er ihn gefunden hatte.
Und dann war der Kerl fällig.
Das Gepäck war aufgegeben, der Flug ging in ziemlich genau einer Dreiviertelstunde. Malte Jacobsen versetzte dem Jungen, der neben ihm vor lauter Nervosität sichtlich Mühe hatte, still zu sitzen, einen sanften Klaps auf die Schulter.
»Jetzt musst du aber wirklich los, Lukas. Es sei denn, du hast dir das Ganze noch mal überlegt und willst doch lieber hierbleiben.«
Der Junge grinste schwach.
»Nee, natürlich nicht. Außerdem wüsste ich nicht, wie ich Oma erklären soll, dass ich im letzten Moment gekniffen habe.«
Jacobsen zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Als ob du jemals vor irgendwas kneifen würdest.«
Die Aufregung des Jungen war wenig verwunderlich. Der unmittelbar bevorstehende Flug nach London war der Beginn von Lukas’ bislang längstem Aufenthalt weg von daheim; er würde im internationalen Pfadfinderzentrum auf dem Landsitz des legendären Gründers Robert Baden-Powell ein sechsmonatiges Praktikum absolvieren. Genauso lang hatte die Planung für dieses Abenteuer gedauert; Mails waren zwischen Gilwell Park und der Villa in Backnang hin und her gegangen, Unterlagen waren gewälzt und Prospekte studiert worden.
Lukas’ Großmutter Klara von Weyen, bei der der Junge seit dem Mord an seinem Vater vor drei Jahren allein lebte, hatte – ganz wie von Jacobsen erwartet – hocherfreut auf die Pläne ihres Enkels reagiert. Als Witwe eines Mannes, der in seiner Jugend einen eigenen Pfadfinderbund gegründet hatte, begeisterte sie die Aussicht, dass der Junge sozusagen an die Wurzel der Bewegung zurückkehrte. Anstatt sich vor der langen Trennung zu fürchten, ermutigte sie Lukas, so gut sie nur konnte, und machte ihm damit den Sprung aus dem sicheren Nest so leicht wie möglich.
Lukas hatte sich auf eigenen Wunsch heute bereits in Backnang von seiner Großmutter verabschiedet, und Malte Jacobsen fungierte – nicht zum ersten Mal – als hilfsbereiter Chauffeur. Weswegen er jetzt auch mit dem Jungen in der Halle des Stuttgarter Flughafens saß; das umfangreiche Gepäck war eingecheckt, und Lukas hielt einen nagelneuen, vollgestopften Rucksack auf dem Schoß, der gerade noch klein genug war, um als Handgepäck durchzugehen.
Er stand auf. »Ich sollte wohl besser los, was?«
»Solltest du.« Jacobsen erhob sich ebenfalls. »Sonst bleibst du, wenn du Pech hast, zu lange im Sicherheitscheck hängen, und der Flieger geht ohne dich.« Er streckte Lukas die Hand entgegen. »Mach’s gut. Und meld dich ab und zu bei mir, ja?«
»Mach ich.«
Lukas zögerte, dann holte er tief Luft und hob die Rechte zum traditionellen Pfadfindergruß.
»Gut Pfad«, sagte er. Plötzlich wirkte er deutlich jünger als seine siebzehn Jahre, und seine Stimme klang, als würde ihm irgendetwas in der Kehle stecken.
Jacobsen lächelte und erwiderte die Geste. »Gut Pfad. Und jetzt schwing die Hufe!«
Lukas nickte, schulterte entschlossen den Rucksack und marschierte in Richtung des Durchgangs, der zu den Gates führte, ohne sich noch einmal umzudrehen. Jacobsen blieb stehen und sah ihm nach, bis er verschwunden war. Dann schüttelte er den Kopf und grinste leicht verlegen in sich hinein. Offenbar steckte doch mehr von einer Glucke in ihm, als er gedacht hatte.
Er wandte sich ab und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen.
Dass Lukas schon früh um halb neun abgeflogen war, bewahrte Jacobsen nicht davor, auf der B14 in den obligatorischen Stau zu geraten. Er saß in der Blechlawine vor dem Kappelbergtunnel fest, ärgerte sich darüber, dass seine Zigarettenschachtel leer war und dass er obendrein vergessen hatte, sich im Flughafen wenigstens einen ordentlichen Espresso zu gönnen. Außerdem machte einer seiner linken Backenzähne ihm zu schaffen. In den letzten Tagen hatte er immer dann wehgetan, wenn er darauf kaute; jetzt war aus dem dumpfen, unbestimmten Schmerz ein scharfes Stechen geworden, das mit alarmierender Häufigkeit wiederkam.
Das Handy auf dem Beifahrersitz begann zu vibrieren und rutschte dabei auf die Sitzkante zu. Er bekam es gerade noch rechtzeitig zu fassen und hob es ans Ohr. Solange er im Stau stand, nahm er sich einfach das Recht dazu. »Ja?«
»Ich bin’s«, ertönte die Stimme seiner Kollegin Melanie Brendel. »Na – hast du Lukas sicher abgeliefert?«
»Heil und ganz«, antwortete Jacobsen. »Aber bis ich wieder in Waiblingen und im Präsidium bin, kann es noch dauern. Der Verkehr ist mal wieder zum Abgewöhnen.«
»Ins Präsidium musst du gar nicht erst kommen«, meinte Melanie. »Vor ein paar Minuten hat jemand in der Nähe der alten Stadtmauer eine Leiche gefunden und uns alarmiert. Unten am Flussufer, in Sichtweite vom Beinsteiner Tor. Weißt du, wo das ist?«
»Weiß ich«, versetzte Jacobsen milde. »In Waiblingen finde ich mich inzwischen zurecht, ohne mich zu verlaufen. Mann oder Frau?«
»Frau«, sagte Melanie. »Ein Rentner, der am Wasser mit seinem Hund spazieren gegangen ist, hat sie entdeckt. Dem Kollegen am Telefon ist es schwergefallen, ihn zu beruhigen und die Sache einigermaßen geordnet zu Protokoll zu nehmen; er meint, der alte Herr hat fast geweint.«
»Kein Wunder.« Jacobsen seufzte. »So was ist ja auch ein übler Schreck in der Morgenstunde. Gar nicht gut für die Pumpe. Vielleicht solltest du zusätzlich einen Rettungswagen dazuholen – nicht, dass er vor seiner Zeugenaussage zusammenklappt.«
»Hab ich schon organisiert. Kommst du direkt dorthin?«
»So schnell ich kann.«
Es dauerte noch eine gute halbe Stunde, bis Jacobsen den Ort des Geschehens endlich erreicht hatte. Hinter ihm ragte der Fachwerkturm des Beinsteiner Tores in den blassblauen, wolkenlosen Septemberhimmel, vor ihm strömte die Rems friedlich an der malerischen Kulisse der Waiblinger Altstadt vorbei. Er erspähte Melanies betagten Golf ebenso wie das Auto des Notarztes und den Leichenwagen, der das Opfer nachher in die Rechtsmedizin bringen würde.
Auf den Stufen, die zu der Wiese am Wasser hinunterführten, saß zusammengesunken ein alter Mann, einen schwarzen Cockerspaniel neben sich, dem er ununterbrochen über den Kopf streichelte. An seiner Seite hockte ein Arzt, der gerade die Blutdruckmanschette von seinem Arm löste. Er bückte sich und holte eine Injektionsspritze aus seinem Koffer.
»Nur ein kleiner Piks«, sagte er freundlich, »und dann geht es Ihnen gleich besser, Herr Wegener. Sehen Sie – war doch gar nicht so arg, oder?«
Jacobsen nickte dem Arzt zu und ging an ihm vorbei auf die Wiese. Rechts von ihm befand sich eine mit reichlich Ranken bewachsene Betonbrücke. Er duckte sich unter dem breiten Schirm einer Weide hindurch, die mitten auf der Wiese wuchs, wurde aber von einem Kollegen im weißen Schutzanzug aufgehalten.
»Wartet Se bitte?« Der Mann – Jacobsen war ihm ein paarmal in der Präsidiumskantine begegnet und erinnerte sich undeutlich daran, dass er Hägele oder so ähnlich hieß – hob warnend die Hand. »Mir hen no net älles markiert, ond Fotos macha müsset mir auch no. Koi Sorg – die Leich kennet Sie begutachta, wenn mir fertig sen. Okay?«
Jacobsen wich anweisungsgemäß zurück und entdeckte Melanie, die sich zu dem alten Mann auf die Stufen gesetzt hatte. Er warf einen Blick unter die Brücke, wo drei weitere Männer von der Spurensicherung sich in Schutzanzügen über mögliche Spuren beugten und sie dokumentierten. Von der toten Frau sah er nur die Schuhsohlen … offenbar lag sie auf dem Rücken. Ziemlich kleine Füße, dachte er.
Melanie sah ihn und schenkte ihm ein knappes Lächeln. Er ließ sich neben ihr und dem Mann, der die Tote gefunden hatte, auf den Steinstufen nieder.
»Herr Wegener, richtig?« Er erhielt einen unsicheren, fast panischen Blick als Antwort. Noch immer streichelte der alte Herr den Hund, der mit seiner grauen Schnauze mindestens so alt wirkte wie sein Besitzer. »Ich bin Kommissar Malte Jacobsen von der Kripo hier in Waiblingen; meine Kollegin kennen Sie ja schon. Vielleicht erzählen Sie mir jetzt einfach der Reihe nach, was heute Morgen passiert ist.«
»I han bloß den Waschtl ausführa wella«, sagte Herr Wegener. Er sprach stockend und mühsam, als hätte seine unvermutete grausige Entdeckung dazu geführt, dass er erst nach jedem Wort suchen musste. »Des mach i jeda Morga, no vor dem Frühschtück. Uff’m Heimwäg, da gang i dann beim Bäcker vorbei ond hol mir’n Weckla, bevor ich mir dahoim en Kaffee koch.«
Seine Mundwinkel zuckten schwach.
»Mei Frau hot emmer g’sagt, i derf ohne äbbes em Maga net aus’m Haus ganga, aber i han mir des so a’gwöhnt, seit i alloi ben – letschtes Jahr isch se g’schtorba. Med fünfasiebzig.« Wieder ein Seitenblick, diesmal ein wenig schuldbewusst … als bereitete es ihm Gewissensbisse, dass er gegen die Hausordnung seiner dahingeschiedenen besseren Hälfte verstieß.
»Mein Beileid«, meinte Jacobsen. »Gehen Sie immer dieselbe Strecke? Immer am Fluss entlang und hier an der Brücke vorbei?«
»Emmer.« Der alte Mann nickte. »I treff hier Leute, die i scho lang kenn … die hen au Hunde. Ond dann kann i bissle med äbbem schwätza.«
Jacobsen registrierte das Mitgefühl in Melanies Augen. Vermutlich malte sie sich gerade eine kleine, spartanisch eingerichtete Wohnung aus, in der ihr Zeuge ganz allein hauste, nur mit dem Hund als Gesellschaft. Und falls er Kinder hatte, kamen sie wahrscheinlich nur ganz selten zu Besuch. Wenn überhaupt.
»Ist Ihnen vorhin etwas aufgefallen, als Sie hier vorbeigelaufen sind?«, erkundigte sich Jacobsen. »War noch jemand da – außer der toten Frau? Ist vielleicht jemand geflüchtet, als er Sie bemerkt hat?«
»Noi.« Herr Wegener schüttelte den Kopf. »Da war koiner. Der Waschtl hat halt müssa, ond i han ihn von d’r Leine g’lassa. Er isch die Schtufa hier nonderg’schpronga – der isch no ganz schee fit für sei Aldr – ond hot an dem Baum da drüba sei Bein g’hoba.«
Er deutete mit dem Kinn zu der Weide hinüber.
»Plötzlich isch er ganz uffg’regt g’wäse ond hat g’winselt ond kläfft. Ond dann isch er onder die Brück da g’saut. Ond oifach net wiederkomma, obwohl ich ihn g’rufa han.«
Also war er ebenfalls die Stufen hinuntergestiegen (wesentlich mühsamer als sein Hund) und hatte unter die Brücke geschaut, um herauszufinden, was es dort Interessantes gab.
Jetzt trat eine Pause ein, und der alte Mann starrte eine ganze Weile auf seine Hände hinunter, bevor er endlich weitersprach.
»Ond … ond da isch se g’läga. Ganz still. Der Waschtl hat näba ihr g’hockt ond g’heult. I han glei g’wisst, dass sie nemmer … dass sie tot isch. Ond I han nix ag’fasst. Jädafalls … fascht nix.«
»Fast nichts? Wie meinen Sie das?«, wollte Melanie wissen. Ihr Ton war sehr sanft, als wollte sie den Zeugen nicht unnötig erschrecken.
»Ihr Hos … der Reißverschluss war offa«, sagte Herr Wegener. »Ond sie hat so a buntes Fähnle ag’het, e buntes Blüsle, obarom. Ganz zerfetzt isch des g’wäse. Ond die Haut da dronder … die war zerkratzt. Ond da han i …«
Er zögerte, nahm dann sichtlich seinen Mut zusammen und fuhr fort.
»Ond da han i mei Jack aus’zoga ond sie zu’deckt.« Er schluckte. »I moin … i konnt des arme Mädle doch net so halber nacket da liegalassa.«
Gegen Mittag waren Jacobsen und Melanie wieder in ihrem Büro im Präsidium. Auf Melanies Schreibtisch lagen die Tatortfotos ausgebreitet. Eine offene Handtasche … Schleifspuren im trockenen Lehm unter der Brücke … die Abdrücke von Sneakern, Größe 44 und schon ziemlich abgelaufen. Und Fotos der Toten, erbarmungslos in ihrer kühlen Sachlichkeit. Das Gesicht mit Augen, die weit geöffnet und blicklos ins Leere starrten. Eine zerfetzte, bunte Tunika, darunter die Überreste eines BHs und überall Kratzspuren auf der Haut. Langes, dunkles Haar, zu einem halb aufgelösten, zerzausten Zopf geflochten. Die Jeans, die sie getragen hatte, halb heruntergezogen, und der Slip, der zerrissen und zerknüllt einen halben Meter vom Opfer entfernt auf dem Boden gelegen hatte.
Melanie seufzte.
»Eine hübsche Frau«, sagte sie leise. »Jedenfalls … vorher.«
»Und jung«, erwiderte Jacobsen. Er hielt den Reisepass in der Hand, den man in der Handtasche der Toten gefunden hatte; die Fingerabdrücke waren bereits abgenommen und gesichert worden. »Vierundzwanzig. Vidya Kapoor, eingereist mit einem Studentenvisum, vor drei Wochen. Vorher war sie – wenn man den Stempeln in diesem Pass glauben will – fast zwei Jahre in England. Hat dort wahrscheinlich auch studiert und sich anschließend irgendwo hier eingeschrieben. In Stuttgart vielleicht … dummerweise waren in der Handtasche keine Papiere, die uns etwas darüber verraten würden.«
»Die trägt man normalerweise auch nicht ständig mit sich herum«, meinte Melanie. »Vielleicht hatte sie in Stuttgart ein Zimmer in einem Wohnheim. Es wird uns kaum etwas anderes übrig bleiben, als jede einzelne Hochschule im Großraum Stuttgart abzuklappern.«
»Und einen Rundruf in sämtlichen Hotels und Pensionen in und um Stuttgart und Waiblingen zu starten«, fügte Jacobsen seufzend hinzu. »Falls sie reicher Leute Kind war und die ihr eine noblere Unterkunft finanziert haben als ein simples Studentenwohnheimzimmer. Vielleicht haben sie ihr sogar irgendwo ein Appartement gemietet.« Er warf erneut einen Blick in den Pass. »Sie stammt aus einer Stadt namens Jalandhar; hier ist eine Heimatadresse angegeben. Wir müssen die Familie verständigen. Wenn wir Pech haben, versteht da keiner ein Wort Englisch … wir werden einen Dolmetscher brauchen.«
»Der sollte dann aber sicherheitshalber Punjabi können«, sagte Melanie. »Jalandhar liegt nämlich im Punjab. Hindi und Englisch sind zwar in Indien offizielle Amtssprachen, aber es gibt jede Menge Dialekte, und Punjabi ist nur einer davon.«
»Was du alles weißt!« Jacobsen lächelte sie an.
Sie errötete leicht. »Ach was … ich interessiere mich bloß für Indien, jedenfalls ein bisschen. Übrigens, da fällt mir ein: Wenn Vidya Kapoor ein Studentenvisum beantragt hat, dann hat sie dabei vermutlich auch angeben müssen, wo sie hier wohnen wird. Da können wir uns notfalls auch noch erkundigen, falls wir in Indien keine Angehörigen von ihr auftreiben. Aber zuallererst sollten wir schauen, ob irgendwo eine Vermisstenmeldung vorliegt. Vielleicht ist sie ja hier bei Bekannten oder bei Freunden ihrer Familie untergekommen, die schon nach ihr suchen. Wenn wir Glück haben, spart uns das eine ganze Menge Arbeit.«
»Aber auch nur, wenn es wirklich schon eine Vermisstenmeldung gibt.« Jacobsen schüttelte zweifelnd den Kopf. »So wie die Tote aussah, kann sie nicht früher gestorben sein als irgendwann letzte Nacht. Und normalerweise macht doch niemand gleich eine Riesenwelle, wenn eine Frau in ihrem Alter mal nicht nach Hause kommt. Selbst wenn man weiß, dass das mit den viel zitierten vierundzwanzig Stunden Wartezeit bei einem Vermisstenfall Blödsinn ist – üblicherweise versucht man doch erst mal, sie auf dem Handy zu erreichen, oder ruft ein paar Freunde an, meinst du nicht?«
»Ihr Handy war zwar auch in der Handtasche, aber das Passwort haben die Kollegen noch nicht geknackt«, erwiderte Melanie. »Außerdem … vergiss nicht, Vidya Kapoor kommt aus Indien. Wenn sie hier tatsächlich bei Bekannten oder sogar bei Angehörigen gewohnt hat, und wenn die feststellen, dass sie nach irgendeiner Verabredung nicht wieder auftaucht, dann werden die schneller Alarm schlagen, als du glaubst, verlass dich drauf.«
»Einen Versuch ist es wert – aua!« Jacobsen zuckte zusammen und tastete instinktiv mit der Zungenspitze nach dem vermaledeiten Backenzahn. Das hatte jetzt wirklich verflucht wehgetan.
Melanie warf ihm einen scharfen Blick zu. »Warst du immer noch nicht beim Zahnarzt?«
»Bis jetzt war es nicht so schlimm«, grummelte Jacobsen. »Ich dachte, ich komme drum herum.«
»Offenbar nicht.« Melanie nahm den Hörer des Telefons ab und hielt ihn ihm entgegen. »Ruf an, jetzt gleich. Bei Zahnweh wird man normalerweise sofort drangenommen. Wenn du heute noch einen Termin bekommst, hast du’s hinter dir.«
»Musst du so bossy sein?« Jacobsen lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist schon wieder vorbei – ich bin sicher, morgen reicht es auch noch.«
»Bloß wenn du Lust hast auf eine unruhige Nacht und jede Menge Ibuprofen.« Melanies Ton war unerbittlich. »Na komm schon, Malte – fass dir ein Herz! Das wird dich schon nicht umbringen.«
Jacobsen stellte sich vor, wie er in dem Behandlungsstuhl lag, den Mund weit aufgerissen und das bösartige Sirren des Bohrers in den Ohren. Er schauderte unwillkürlich.
Melanie grinste. »Und wenn du schön ›bitte, bitte‹ sagst, gibt dir der Onkel Doktor vorher bestimmt eine Spritze.«
Jacobsen schluckte heldenhaft die giftige Retourkutsche hinunter, die ihm bereits auf der Zunge lag, und nahm den Hörer entgegen.
Es wurde fast fünf Uhr nachmittags, bis er die Zahnarztpraxis wieder verlassen konnte, den Kiefer noch betäubt und statt des quälenden Übeltäters ein Stück blutstillender Watte im Mund. Er war kurz in Versuchung, direkt nach Hause zu fahren, aber Pflichtbewusstsein und die Neugier auf etwaige neue Entwicklungen in dem Fall der Toten unter der Brücke trugen den Sieg davon. Also kehrte er ins Büro zurück, wo Melanie hoffentlich mit Informationen (und zumindest mit einem Espresso) auf ihn wartete.
Sie enttäuschte ihn nicht.
»Erstens: Es gibt tatsächlich eine Vermisstenanzeige. Aufgegeben von einem Ingenieur aus Waiblingen-Neustadt. Laut seinen Angaben hat Vidya Kapoor seit ihrer Einreise nach Deutschland bei ihm und seiner Frau gewohnt; sie ist die Tochter eines Freundes der Familie.«
Melanie sah hochzufrieden aus; sie war sichtlich froh darüber, dass sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte.
»Sie hat zwei Jahre an der London School of Economics Betriebswirtschaft studiert und war an der Stuttgarter Uni im laufenden Semester für mehrere Kurse eingeschrieben. Gestern Abend wollte sie sich laut Auskunft ihres Gastgebers im Teneria in der Waiblinger Altstadt mit Freundinnen auf ein paar Tapas treffen.«
»Kenn ich.« Jacobsen nickte. »Tolle spanische Küche, aber nicht ganz billig.«
»Richtig.« Melanie nickte. »Der Mann ist gegen elf zum S-Bahnhof in Neustadt gefahren, um seinen Gast dort abzuholen. Vidya hat ihm eine WhatsApp-Nachricht geschickt, dass sie um kurz nach elf ankommt. Aber sie war nicht da.« Ihr fröhliches Gesicht wurde ernst. »Er hat sich sofort Sorgen gemacht. Ich hab mit ihm telefoniert; er meinte, sie sei sonst immer sehr zuverlässig gewesen und habe alle Absprachen gewissenhaft eingehalten. Er war heute früh hier im Präsidium, um sie als vermisst zu melden … ziemlich zu derselben Zeit, als der alte Herr Wegener ihre Leiche unter der Brücke gefunden hat.«
»Ach je.« Jacobsen schüttelte den Kopf. »Haben wir die Familie von Vidya Kapoor in Indien schon erreicht?«
»Das wird Vidyas Gastgeber uns abnehmen«, erwiderte Melanie. »Er war vorhin in der Pathologie bei Lothar im Robert Bosch in Stuttgart und hat die Leiche zweifelsfrei identifiziert. Er setzt sich morgen mit Vidyas Eltern in Verbindung; in Indien sind sie uns ein paar Stunden voraus, und er hat mir gegenüber gemeint, er will sie ›nicht mitten in der Nacht in Verzweiflung stürzen‹. Hat er wörtlich so gesagt.«
Jacobsen nippte vorsichtig an seinem Espresso. »Guter Mann. Auf diese Weise haben sie noch ein paar Stunden Schonfrist. Und sie erfahren es wenigstens durch jemanden, den sie kennen.«
Seine und Melanies Augen trafen sich; ihm war klar, dass sie genau das Gleiche dachte wie er. Die Nachricht, dass ein geliebter Mensch ums Leben gekommen war – noch dazu auf diese Weise –, blieb immer ein entsetzlicher Schock. Egal von wem und wann man so etwas beigebracht bekam.
Er wandte seine Gedanken entschlossen von der noch ahnungslosen Familie ab und wieder den Ermittlungen zu. »Wo wir gerade von deinem Onkel reden – hat er schon irgendwelche Erkenntnisse für uns?«
»Aber ja.« Melanies Miene hellte sich wieder auf. »Er hat Spermaspuren gesichert, und es gab fremde DNA in den Kratzern auf ihrer Brust. Außerdem hatte Vidya sowohl Hautzellen als auch Blut unter den Fingernägeln, die eindeutig von ihrem Angreifer stammen. Sie muss sich heftig gegen den Mann gewehrt haben, der sie vergewaltigt und danach erstochen hat.«
Sie hielt inne; er konnte sehen, dass die eigentliche Sensation unmittelbar bevorstand.
»Und jetzt halt dich fest, Malte: Dank dieser Spuren können wir mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass wir ihren Mörder bereits gefunden haben.« Ihre Augen blitzten triumphierend. »Jedenfalls haben wir einen Namen.«
»Was?« Jacobsen hätte um ein Haar seine Tasse umgekippt. »Wer ist es?«
»Der Kerl heißt Pierre Meyer. Er stammt aus Konstanz am Bodensee und wurde dort wegen zweifacher schwerer Vergewaltigung zu acht Jahren Haft verurteilt. Die hat er in Freiburg abgesessen, und er wurde vor ziemlich genau einem Monat entlassen. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist zwar nicht bekannt – aber seine DNA ist natürlich in der Datei der Sexualstraftäter abgespeichert. Da hat er wohl Pech gehabt, was?«
»Stimmt.« Jacobsen nickte grimmig. »Aber Vidya Kapoor leider auch.«
Eine Stunde später war Pierre Meyer bundesweit zur Fahndung ausgeschrieben; der Mann würde mit Sicherheit versuchen, erneut spurlos von der Bildfläche zu verschwinden, und man musste ihn unbedingt erwischen, bevor er über die nächste Frau herfiel.
Die badischen Kollegen in Friedrichshafen waren ausgesprochen kooperativ. Schon kurz, nachdem Jacobsen dort angerufen und die Lage geschildert hatte, konnte er sich eine Online-Version von Pierre Meyers Akte auf seinem eigenen Bildschirm ansehen. Er überflog die ersten paar Seiten und pfiff leise durch die Zähne.
»Eine Straftatenliste, so lang wie mein Arm«, sagte er. »Körperverletzung, Kneipenschlägereien und immer wieder Gewalt gegen Frauen. Zieht sich durch sein Leben wie ein roter Faden. Mit sechzehn hat er eine Klassenkameradin angebaggert, und als die nicht so wollte wie er, hat er sie krankenhausreif geprügelt. Danach ist er von der Schule geflogen. Wenn ich das hier richtig lese, sind die zwei Vergewaltigungen, für die man ihn letztendlich verknackt hat, nur die Spitze des Eisbergs. Es gab noch sehr viel mehr Opfer, bei denen alles auf ihn als Täter hindeutet, aber man hat ihm nur diese beiden Taten wirklich nachweisen können. – Unser Mord hier ist eigentlich ziemlich komisch.«
»Wieso komisch?« Melanies Mund wurde schmal. »Ich finde ihn eher traurig.«
Jacobsen sah sie an. »Komisch deswegen, weil Meyer sich – jedenfalls nach diesem ersten Ausraster mit sechzehn – immer ziemlich vorgesehen hat. Bei seinen sexuellen Übergriffen hat er üblicherweise Handschuhe getragen und Kondome benutzt; er wusste offensichtlich ganz genau, dass DNA-Spuren der schnellste Weg in den Knast sind. Zudem hat er sich mit Sturmhauben und Strickmasken getarnt; deswegen konnte er in den meisten Verdachtsfällen nicht zweifelsfrei identifiziert und überführt werden.«
»Das heißt, er war normalerweise gründlich vorbereitet und besaß eine gut funktionierende Impulskontrolle.« Melanie zog die Augenbrauen zusammen. »Ich verstehe, was du meinst. Die Vergewaltigung und der Mord an Vidya Kapoor passen nicht ins Profil, oder?«
»Kein Stück.«
Jacobsen rieb sich die Wange; die Betäubung war abgeklungen, und das Loch, wo der Backenzahn gesessen hatte, tat ziemlich weh. Er beschloss, den Schmerz zu ignorieren. Eine Tablette nehmen konnte er später immer noch.
»Der Körper unseres Opfers war förmlich mit Meyers DNA übersät«, sagte er. »Kondom Fehlanzeige, sonst hätte dein Onkel wohl kaum das Sperma gefunden. Und obendrein hat Meyer das Mädchen nach der Vergewaltigung umgebracht. Sieht so aus, als hätte er komplett die Beherrschung verloren.«
Melanie überlegte.
»Er hat acht Jahre gesessen«, meinte sie. »Vielleicht war er ja einfach … ausgehungert?«
»Möglich.« Jacobsen wiegte zweifelnd den Kopf. »Aber wieso hat er sich dann nicht schon kurz nach Haftende eine Frau gesucht, um Dampf abzulassen? Falls wir nicht demnächst von einer früheren Tat innerhalb der vier Wochen hören, die er wieder draußen ist, dann hat er sich die ganze Zeit am Riemen gerissen. Und obendrein hat er seinen ersten Überfall in Freiheit hier in Waiblingen verübt. Wieso ausgerechnet bei uns? Ist er hierhergezogen, oder was wollte er hier?«
»Registriert ist er immer noch in Konstanz«, erwiderte Melanie. »Aber vielleicht ist ihm da der Boden zu heiß geworden. Immerhin hat man ihn dort verhaftet und ihm den Prozess gemacht. Möglicherweise hat er sich einfach ein neues Betätigungsfeld gesucht, weit weg von seinem früheren Revier. Und es könnte hier einen Kumpel geben, bei dem er untergekrochen ist … vielleicht jemand, den er aus dem Knast kennt. Wir müssen in seinem persönlichen Umfeld auf die Suche gehen.«
»Da hast du recht.« Wieder tastete Jacobsen nach seiner Wange. »Aber nicht mehr heute.«
Melanie lächelte leicht und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Würd ich auch sagen. Und du, mein Lieber, schaust jetzt bitte, dass du nach Hause kommst. Dort wirfst du eine von den Pillen ein, die dein Zahnarzt dir unter Garantie mitgegeben hat, und legst dich hin. Du bist ganz schön blass um die Nase – soll ich dich fahren?«
Jacobsen erwiderte das Lächeln und hätte beinahe seine Hand über ihre gelegt. Die Versuchung war riesengroß; er flüchtete sich hastig in Ironie, um ihr nicht nachzugeben.
»Und dann deckst du mich zu, singst mir ein Wiegenlied und machst mir einen Baldriantee?« Eigentlich eine Vorstellung, die ihm sehr gefiel … aber er würde den Teufel tun und ihr das verraten. »Keine Sorge, Florence Nightingale. Ich komm auch ohne dich in einem Stück nach Hause.«
»Zweifellos.« Sie zog die Hand zurück. »Hau schon ab, du Held. Wir sehen uns morgen früh.«
Glücklich zu Hause angekommen, tat Jacobsen genau das, was Melanie ihm geraten hatte. Er nahm das Medikament, ließ sein Abendessen ausfallen – kauen konnte er sowieso noch nicht – und duselte unter einer Decke auf dem Sofa ein, während im Fernsehen eine Dokumentation über seltene Wildtiere in den Anden lief. Wider Erwarten schlief er wie ein Stein.
Als das Telefon klingelte, brauchte er eine ganze Weile, um aus einem verwirrenden Traum aufzutauchen, in dem es um Krankenschwestern in viktorianischen Gewändern ging, die dahinsiechende Lamas mit Flaschen fütterten. Er schreckte hoch, blinzelte verwirrt und angelte das vibrierende Handy von der Tischkante. Der Fernseher hatte sich irgendwann in der Nacht automatisch abgeschaltet, der Himmel jenseits des Wohnzimmerfensters war wieder hell, und die Uhr zeigte kurz vor sieben.
»Hallo …?«
»Morgen, Malte!« Es war Melanie, und ihre Stimme klang geradezu aufreizend munter. »Geht’s dir gut? Was macht der Backenzahn?«
»Ich würde ihn ja fragen, wenn er noch da wäre.« Er gähnte ausgiebig. »Was mich angeht – das weiß ich erst nach meinem ersten Kaffee. Und ich brauch dringend eine Zigarette.«
»Brauchst du nicht.« Jetzt klang sie strafend. »Spring unter die Dusche und komm nach Waiblingen.«
»Langsam!« Er schüttelte den Kopf, um die Spinnweben in seinem Gehirn zu vertreiben. »Darf ich wenigstens vorher frühstücken?«
»Ich spendier dir eine Laugenbrezel und einen Espresso, wenn wir hier fertig sind«, sagte sie. »Aber erst musst du zum Hochwachtturm. Der Fundort ist am Stadtgraben, Ecke Schmidener Straße. Die Spurensicherung ist schon da.«
»Die SpuSi?« Plötzlich war er hellwach. »Der Fundort? Das heißt …«
»Das heißt, wir haben schon wieder eine Leiche.« Melanie schnaufte hörbar durch die Nase. »Und einen Zeugen, der sie entdeckt und uns angerufen hat, gibt es auch wieder. Allerdings ist er dieses Mal bei Weitem nicht so alt und hinfällig wie Herr Wegener, sondern ausgesprochen gut aussehend. Und er hat keinen Hund bei sich, sondern eine Katze.«
»Echt jetzt?«
»Echt jetzt. Außerdem ist das Opfer diesmal keine Frau, sondern ein Mann. Und unser Zeuge kennt ihn. Laut seiner Aussage ist es – Pierre Meyer.«
Jacobsen warf die Decke beiseite und schwang die Beine vom Sofa.
»Ich komme sofort.«
Auf der Fahrt von Backnang nach Waiblingen geriet er wunderbarerweise nicht in einen Stau und hatte eine knappe halbe Stunde später die angegebene Adresse erreicht. Er schob das Flatterband beiseite, das den Fundort absperrte, und nickte zwei uniformierten Beamten zu. Diesmal stellte sich ihm niemand in den Weg; die Kollegen von der SpuSi waren mit der Sammlung und den Fotos der Beweise schon fertig. Ein schlichter Metallsarg stand an der Wehrmauer, wo sich mehrere Bänke aufreihten. Auf einer davon lag schief und mit schlaff gespreizten Beinen in ausgebleichten Jeans die Leiche.
Jacobsen blieb stehen und musterte den Toten. An den Füßen trug er abgelaufene Turnschuhe, der Oberkörper steckte in einem grauen Hoodie mit aufgekrempelten Ärmeln. Auf dem rechten Unterarm befand sich ein Tattoo – ein Totenschädel, dem aus einer leeren Augenhöhle eine Schlange kroch. Reizender Zeitgenosse.
Der Mann auf dem Fahndungsfoto, das er gestern in der Akte von Pierre Meyer gesehen hatte, war deutlich weniger korpulent gewesen und um einiges jünger; wahrscheinlich hatten die acht Jahre Haft seiner Figur nicht gerade gutgetan. Eine offensichtliche Verletzung konnte Jacobsen auf den ersten Blick nicht erkennen. Das rundliche Gesicht unter den kurz geschorenen graubraunen Haaren war bleich, und der Mund stand offen, als wäre er über seinen Exitus immer noch verblüfft.
Ein paar Meter weiter entdeckte Jacobsen Melanie, die an der gegenüberliegenden Mauer stand. Die Stadt hatte dort einen kleinen Brunnen errichtet, der von kniehohen, zylinderförmigen Steinblöcken mit den Wappen der vier Waiblinger Partnerstädte umringt war. Auf einem dieser Blöcke saß ein Mann. Vermutlich der, von dem Melanie am Telefon gesprochen hatte. Der Pierre Meyer kannte.
Jacobsen trat näher und musterte ihn. Etwa Mitte dreißig, schätzte er spontan, und vermutlich kein Landsmann. Schwarzbraunes kurz geschnittenes Haar, dunkelbraune Augen unter dichten, schön geschwungenen Augenbrauen, die Haut mit einem warmen Bronzeton. Hochgewachsen und sehr schlank. Araber vielleicht, oder Inder. Und der Mann hatte tatsächlich eine kleine Katze bei sich; sie lag auf seinem Schoß zusammengerollt, die Nase unter der Schwanzspitze verborgen, und schien friedlich zu schlummern.
»Hallo«, sagte Jacobsen.
Melanie und der Mann wandten sich ihm gleichzeitig zu; Melanie lächelte.
»Hallo, Malte. Das hier ist der Zeuge, der die Leiche gefunden hat.«
Der Mann neben ihr erhob sich – sehr vorsichtig, um die schlafende Katze auf seinem Arm nicht zu wecken – und grüßte Jacobsen mit einem blassen Lächeln. Sein Mund war voll und weich; er sah aus, als besäße er unter weniger dramatischen Umständen eine Menge Humor. Jetzt aber wirkte er eher übernächtigt und düster.
»Guten Morgen«, sagte Jacobsen. »Kriminalkommissar Malte Jacobsen, Kripo Waiblingen.«
»Surendra Sinha«, erwiderte der Mann und neigte grüßend den Kopf. »Auch Kriminalkommissar, K1 Friedrichshafen. Normalerweise jedenfalls. Wir sind also gewissermaßen Kollegen.«
»Das stimmt«, warf Melanie ein. »Ich hab vorhin seinen Ausweis überprüft.«
Jacobsen nickte. »In Ordnung. Und was heißt, Sie arbeiten ›normalerweise‹ bei der Kripo Friedrichshafen? Sind Sie im Urlaub?«
»Sozusagen.« Surendra Sinha sprach vollkommen ruhig, allerdings war da ein ganz leicht bitterer Unterton – kaum spürbar, aber Jacobsen registrierte ihn trotzdem. »Ich besuche für ein paar Wochen meine Eltern. Sie leben hier ganz in der Nähe.«
»Einen Moment.« Melanie stutzte, dann blickte sie schlagartig alarmiert drein. »Etwa in Neustadt? Ich meine, es kann ja auch nur eine zufällige Namensgleichheit sein, aber – ist Ihnen der Ingenieur Praveer Sinha bekannt?«
Die kleine Katze hob den Kopf, gab ein nervöses Miauen von sich und versuchte, von Sinhas Armen herunterzuspringen; er hielt sie jedoch fest und kraulte beruhigend ihr hellgraues Fell.
»Ja, sicher. Das ist mein Vater. Wieso?«
Jacobsen brauchte einen Moment, bis auch bei ihm der Groschen fiel. Das war ja nicht zu fassen. Der Mann sprach trotz seines exotischen Aussehens ein fehler- und akzentfreies Deutsch, weswegen er ihn spontan niemals mit dem indischen Gastgeber von Vidya Kapoor in Verbindung gebracht hätte. Er musterte den Kollegen aus Friedrichshafen mit scharfäugigem Interesse.
»Seltsamer Zufall«, sagte er langsam. »Ihr Vater hat gestern Morgen eine junge Frau bei uns als vermisst gemeldet. Sie wurde kurz darauf hier in Waiblingen ermordet aufgefunden, unter einer Brücke an der Rems. Sie ist bei Ihren Eltern zu Gast gewesen, oder?«
»Ja.« Sinhas Gesicht war sehr blass geworden. »Seit ziemlich genau drei Wochen. Sie kam aus London hierher, um zu studieren, und ihre Familie meinte, sie wäre bei Freunden besser aufgehoben als in einem Zimmer im Studentenwohnheim.«
»Das war dann ja wohl ein Irrtum«, bemerkte Jacobsen trocken. Sinha erstarrte, als hätte man ihm eine Ohrfeige verpasst, und Melanie warf Jacobsen einen scharfen, vorwurfsvollen Blick zu. Na so was. Offenbar weckte der Mann mit seiner Katze ihren Beschützerinstinkt.
»Meine Eltern sind am Boden zerstört«, sagte Sinha leise. »Sie machen sich große Vorwürfe – dabei kann man sie wohl kaum für das verantwortlich machen, was Vidya zugestoßen ist.«
Er hob den Kopf und betrachtete Jacobsen aufmerksam.
»Haben Sie schon eine Spur? Irgendeinen Verdacht?«
Jacobsen antwortete nicht sofort. An sich sprach nichts dagegen, einen auswärtigen Kollegen über ausgewählte Ermittlungsdetails zu informieren, aber sein Instinkt sagte ihm, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmte. Der bittere Unterton von vorhin hatte ihn stutzig gemacht. War der Mann tatsächlich einfach nur ›im Urlaub‹ – oder war er womöglich beurlaubt worden? Und wenn ja, warum?
»Ich würde gern erst einmal wissen, was Sie um diese Uhrzeit hier gemacht haben, Herr Sinha«, sagte er kühl. »Für einen Spaziergang ist es reichlich früh, finden Sie nicht?«
»Ich habe bei einem Freund übernachtet«, erklärte Sinha, der sich über Jacobsens Verhörton nicht im Mindesten zu wundern schien. »Gestern Abend ist es ein bisschen spät geworden, und dann war die letzte S-Bahn weg. Er wohnt hier ganz in der Nähe; ich gebe Ihnen seinen Namen und die Adresse, damit Sie das überprüfen können. Leider hab ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht … Seit das mit Vidya passiert ist, kann ich kaum noch schlafen. Irgendwann hab ich es dann nicht mehr ausgehalten; ich wollte raus, an die frische Luft.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Das war vor etwa zwei Stunden.«
»Sprich: etwa gegen sechs.« Jacobsen nickte. »Und dann?«
»Ich bin zum Beinsteiner Tor gelaufen und runter zum Fluss – zu der Stelle, wo man Vidya gestern gefunden hat. Dort hab ich lange auf den Stufen gesessen. Ich hab mir den Kopf darüber zerbrochen, wer ihr das angetan hat, und bin im Geist ein halbes Dutzend Tatszenarien durchgegangen.«
Er lächelte ein wenig schief.
»Berufskrankheit, fürchte ich. Ich weiß, ich bin hier nicht zuständig, und ich will mich auch bestimmt nicht in Ihre Arbeit einmischen. Für gesicherte Erkenntnisse ist es vermutlich sowieso noch zu früh. Aber vielleicht können Sie mir wenigstens sagen, ob man Spuren gefunden hat, die uns weiterhelfen. DNA oder was auch immer.«
Er sah Melanie an, als hoffte er von ihrer Seite auf mehr Auskunftsbereitschaft.
»Ich habe Vidya gekannt, wissen Sie, und ich … mochte sie. Falls – und wirklich nur falls – Sie schon etwas in Erfahrung gebracht haben und es nicht ermittlungstechnischer Geheimhaltung unterliegt, dann … verstehen Sie, auch für meine Eltern wäre es ein großer Trost, wenn ich ihnen erzählen könnte, dass Sie dem Mörder schon auf der Spur sind.«
»Kann ich mir lebhaft vorstellen«, versetzte Jacobsen. »Aber erst möchte ich von Ihnen hören, wie Sie schließlich auf den Toten gestoßen sind. Sie haben also am Fluss gesessen, haben an Vidya Kapoor gedacht – und dann?«
»Dann hab ich mich irgendwann doch aufgerafft und bin zurückgegangen«, sagte Sinha. »Und als ich hier vorbeikam, hab ich plötzlich ein jämmerliches Maunzen gehört. Ich hab mich umgeschaut und schließlich da drüben in dem alten Brunnen die Mieze gefunden; zum Glück ist kein Wasser drin, aber sie saß fest und kam nicht mehr raus. Ich hab sie herausgeangelt, unter meine Jacke gesteckt und erst mal gewärmt. Dann ist mir da vorne auf der Bank die leblose Gestalt aufgefallen. Ich dachte schon, lieber Himmel, da braucht gleich noch jemand Hilfe … aber als ich hinkam, hab ich sehr schnell gemerkt, dass er nicht mehr lebt. Und da hab ich natürlich sofort die Polizei verständigt.«
Er ließ den Blick hoffnungsvoll zwischen Jacobsen und Melanie hin und her schweifen.
»So, das war der Rest der Geschichte, wie gewünscht – verraten Sie mir dafür jetzt, ob Sie im Fall von Vidya schon eine Spur haben?«
Während Jacobsen noch zögerte, kam Melanie ihm kurz entschlossen zuvor.
»Nach Abgleich der DNA auf Vidyas Leiche müssen wir davon ausgehen, dass der Täter der Mann war, den Sie hier tot aufgefunden haben, Herr Sinha«, sagte sie. »Es gab Blutspuren und Sperma, und beides stimmt hundertprozentig mit Pierre Meyers DNA in der Sexualstraftäter-Datei überein.«
Sinhas Gesicht verlor schlagartig auch noch den letzten Rest Farbe. Er starrte Melanie an, als hätte sie sich vor seinen Augen in einen Geist verwandelt; dann drehte er sich ruckartig um, ging mit schnellen Schritten in die Richtung des Toten auf der Bank und stieß dabei Worte in einer Sprache aus, die Jacobsen nicht verstand. Ein paar Polizisten kamen herbeigelaufen, um ihn aufzuhalten, während die Katze bei einem hektischen Versuch, sich aus Sinhas Griff herauszuwinden, mit den Krallen in seinem T-Shirt hängen blieb.
»Beruhigen Sie sich, Herr Sinha!«, kommandierte Jacobsen scharf. »Seien Sie vernünftig – um sich den Mann vorzuknöpfen, ist es doch sowieso zu spät!«