Das Buch
Die Journalistin Kerra Bailey ist kurz davor, das Interview ihres Lebens zu führen. Vor fünfundzwanzig Jahren wurde Major Franklin Trapper für ein ganzes Land zum Helden, als er nach einem Bombenanschlag in Dallas eine Handvoll Überlebende in Sicherheit brachte. Um an den Major heranzukommen, braucht sie jedoch seinen Sohn John, der wenig kooperativ ist und den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen hat. Doch Kerra lässt nicht locker, auch weil dieser so abweisende Mann eine fast unheimliche Anziehungskraft auf sie ausübt. Als das Interview dann eine katastrophale Wendung nimmt, erkennt sie, dass sie von mächtigen Feinden zum Schweigen gebracht werden soll und mit John Trapper zusammenarbeiten muss, wenn sie überleben will …
Die Autorin
Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihren großen Durchbruch als Thrillerautorin feierte Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland auf die Bestsellerlisten kletterte – ein Erfolg, den sie mit jedem neuen Roman noch einmal übertreffen konnte. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Sandra Brown
Verhängnisvolle Nähe
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Christoph Göhler
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Seeing Red« bei Grand Central Publishing, a division of Hachette Books Group Inc., New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2017 by Sandra Brown Management Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe Dezember 2019
bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: www.buerosued.de
Covermotiv: Getty Images (Skip Nall/Photodisc; Mariâ Lermontova/EyeEm); www.buerosued.de
JB · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22967-2
V003
www.blanvalet.de
»Hatten Sie Angst, dass Sie sterben würden?«
Der Major kniff missbilligend die Lippen zusammen. »Diese Frage war nicht abgesprochen.«
»Darum habe ich sie auch nicht vor laufender Kamera gestellt. Aber jetzt sind wir unter uns. Das interessiert mich ganz persönlich. Hatten Sie Angst um Ihr Leben? Kam Ihnen der Gedanke, dass Sie vielleicht nicht überleben werden?«
»Ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen.«
Kerra Bailey legte den Kopf schief und sah ihn zweifelnd an. »Das hört sich für mich nach einer Phrase an.«
Der Siebzigjährige schenkte ihr das Lächeln, mit dem er die Herzen der ganzen Nation erobert hatte. »Richtig.«
»Also gut. Ich ziehe die Frage respektvoll zurück.«
Sie konnte großmütig über diesen Punkt hinweggehen, denn das, weswegen sie gekommen war, hatte sie bekommen: das erste Interview überhaupt, das der Major in über drei Jahren gegeben hatte. In den Tagen vor der abendlichen Liveübertragung aus seinem Heim hatten sie sich näher kennengelernt. Sie hatten einige lebhafte Diskussionen geführt und dabei oft gegensätzliche Standpunkte vertreten.
Kerra blickte zu dem Hirschkopf über dem Kaminsims auf. »Ich bleibe dabei, dass ich es nicht schön finde, von den Augen eines toten Tieres angestarrt zu werden.«
»Wildfleisch ist Nahrung. Und die Herde auszudünnen ist ökologisch notwendig, damit sie überlebt.«
»Rein wissenschaftlich mag das zutreffend sein. Aus persönlicher und menschlicher Sicht begreife ich nicht, wie jemand ein so schönes Tier ins Fadenkreuz nehmen und töten kann.«
»Diesen Streit wird keiner von uns beiden gewinnen«, erklärte er, woraufhin sie genauso stur erwiderte: »Und keiner von uns beiden wird klein beigeben.«
Der Major bellte ein kurzes Lachen, das in einem trockenen Husten endete. »Gut gekontert.« Er sah kurz zu dem hohen Waffenschrank in der Ecke des weitläufigen Raums, dann hievte er sich aus seinem braunen Lederfernsehsessel, ging hinüber und öffnete die Glastür.
Er holte ein Gewehr heraus. »Den Hirsch habe ich mit diesem Gewehr hier erlegt, dem letzten Weihnachtsgeschenk meiner Frau.« Seine Hand strich über den bläulichen Lauf. »Seit Debras Tod habe ich es nicht mehr benutzt.«
Kerra stellte gerührt fest, dass der ehemalige Soldat auch eine weichere Seite hatte. »Ich wünschte, sie hätte das Interview miterleben können.«
»Ich auch. Ich vermisse sie jeden Tag.«
»Wie war es für sie, mit Amerikas Helden verheiratet zu sein?«
»Oh, sie war ungemein beeindruckt«, antwortete er mit einem leisen Lachen und lehnte dabei das Gewehr in die Ecke zwischen Schrank und Wand. »Danach beschwerte sie sich nur noch jeden zweiten Tag, wenn ich meine schmutzigen Socken auf dem Boden liegen ließ, statt sie in den Wäschekorb zu werfen.«
Kerra lachte, doch in Gedanken war sie beim Sohn des Majors, der kein Geheimnis daraus gemacht hatte, wie zuwider ihm der Ruhm seines Vaters war. Aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus hatte sie ihn eingeladen, zusammen mit dem Major aufzutreten. Er hatte abgelehnt, und zwar mit Worten, die keinen Raum für eine Fehlinterpretation ließen. Gott sei Dank.
Der Major durchquerte den Raum und trat an die Bar. »Das Reden hat mich durstig gemacht. Ich könnte einen Drink gebrauchen. Was möchten Sie?«
»Für mich nichts, danke.« Sie stand auf und hob ihre Tasche auf, die sie neben ihrem Stuhl abgestellt hatte. »Sobald das Team zurück ist, müssen wir aufbrechen.«
Der Major hatte für sie und ihr fünfköpfiges Produktionsteam bei einem Restaurant ein Picknickdinner mit kaltem Brathähnchen bestellt. Nachdem es geliefert worden war und sie gegessen hatten, verbrachten sie eine weitere Stunde damit, das Equipment zusammenzupacken. Danach hatte Kerra die Übrigen gebeten, den Wagen für die zweistündige Rückfahrt nach Dallas aufzutanken, während sie hiergeblieben war. Sie hatte ein paar Minuten allein mit dem Major verbringen wollen, auch damit sie sich gebührend bei ihm bedanken konnte.
»Major«, setzte sie an, »bitte lassen Sie mich sagen …«
Er drehte sich um und schnitt ihr das Wort ab: »Sie haben es schon gesagt, Kerra. Mehrmals. Sie brauchen es nicht noch zu wiederholen.«
»Vielleicht brauchen Sie es nicht noch mal zu hören, doch ich muss es aussprechen.« Ihre Stimme wurde rau. »Bitte lassen Sie mich Ihnen von Herzen für … für alles danken. Ich kann meine Dankbarkeit gar nicht genug ausdrücken. Sie ist grenzenlos.«
Ebenso ernst wie sie erwiderte er: »Gern geschehen.«
Sie lächelte ihn an und holte kurz Luft. »Dürfte ich Sie ab und zu anrufen? Oder besuchen, falls ich mal wieder in die Gegend komme?«
»Nur zu gern.«
Sie versicherten sich mit einem langen Blick ihrer gegenseitigen Sympathie und ließen dabei alle unzulänglichen Worte unausgesprochen. Dann knetete er, um den sentimentalen Augenblick zu überspielen, seine Hände. »Und Sie wollen sicher nichts zu trinken?«
»Nein, aber ich würde gern noch einmal Ihre Toilette benutzen.« Sie legte ihren Mantel über die Stuhllehne und hängte ihre Tasche über die Schulter.
»Sie wissen ja, wo sie ist.«
Es war ihr vierter Besuch in seinem Haus, weshalb sie sich mit den Räumlichkeiten auskannte. Das Wohnzimmer hatte etwas von einem Texasmuseum in Miniaturformat: mit Kuhfellteppichen auf den abgetretenen Holzdielen, Remington-Reproduktionen in Bronze, die Cowboys bei der Arbeit zeigten, und Möbelstücken, gegen die sich der Fernsehsessel des Majors winzig ausnahm.
Vom Wohnzimmer ging ein Flur ab, in dem sich hinter der ersten Tür links die Toilette befand, die, um nicht allzu feminin zu wirken, mit einem Seifenspender in Gestalt eines Longhorn-Stiers ausgestattet war.
Sie trocknete sich gerade ihre Hände ab und prüfte währenddessen ihr Aussehen im gerahmten Spiegel über dem Waschbecken, wobei sie sich still vornahm, ihre Friseurin anzurufen – vielleicht noch ein paar Highlights rund um das Gesicht? –, als es am Türknauf rappelte.
»Major? Ist mein Team schon zurück? Ich komme gleich.«
Er reagierte nicht, obwohl sie genau spürte, dass jemand hinter der Tür war.
Sie hängte das Handtuch in den Eisenring neben dem Waschbecken und wollte eben nach ihrer Schultertasche greifen, als sie den Knall hörte.
Ihr erster Gedanke galt dem Major, der das Gewehr aus dem Waffenschrank geholt und nicht zurückgestellt hatte. Falls er das gerade nachgeholt und sich dabei versehentlich ein Schuss gelöst hatte … O Gott!
Sie stürzte zur Tür, packte den Knauf, zog die Hand aber sofort zurück, als sie eine Stimme hörte, die definitiv nicht dem Major gehörte: »Und, wie gefällt es dir, tot zu sein?«
Kerra presste die Hand auf den Mund, um nicht vor Schreck und Entsetzen aufzuschreien. Sie hörte Schritte durchs Wohnzimmer poltern. Ein Paar Füße? Zwei? Es war schwer festzustellen, und vor Angst konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Allerdings war sie geistesgegenwärtig genug, das Licht auszuschalten.
Mit angehaltenem Atem verfolgte sie den Weg der Schritte über den Teppich, über die Holzdielen und dann, zu ihrem Entsetzen, in den Flur. Vor der Tür zur Toilette blieben sie stehen.
So lautlos wie möglich wich sie zurück, tastete sich in der Dunkelheit am Waschbecken und der Toilettenschüssel vorbei, bis sie mit dem Rücken an der holzvertäfelten Wand stand. Sie gab sich alle Mühe, leise zu atmen, während sich ihre Lippen unablässig zu einem Gebet formten, das aus einem einzigen Wort bestand: Bitte, bitte, bitte.
Der Unbekannte auf der anderen Seite der Tür drehte probeweise den Knauf und stellte fest, dass die Tür verriegelt war. Es folgte ein zweiter Versuch, dann erbebte die Tür unter einem ersten Anlauf, sie aufzubrechen. Wer auch immer einzudringen versuchte, musste an der abgeschlossenen Tür erkennen: Auf der anderen Seite hielt sich jemand versteckt.
Man hatte sie entdeckt.
Weitere Schritte eilten aus dem Wohnzimmer herbei. Dann wurde auf die Tür eingeschlagen, wahrscheinlich mit einem Gewehrkolben, mutmaßte sie.
Sie hatte rein gar nichts zur Hand, womit sie sich gegen einen bewaffneten Angreifer verteidigen konnte. Falls diese Unbekannten tatsächlich den Major erschossen hatten und diese Tür irgendwann aufbrechen konnten, würde sie ebenfalls sterben.
Ihre einzige Hoffnung bestand darin zu fliehen, und zwar sofort.
Das zweigeteilte Schiebefenster hinter ihr war klein, aber es war ihre einzige Chance, lebend aus dem Haus zu gelangen. Sie tastete nach dem Klappriegel, der die untere Hälfte fixierte, zerrte ihn auf und drückte dann die Finger in die Vertiefung unten am Rahmen, bevor sie die Scheibe nach oben zu schieben versuchte. Nichts rührte sich.
Bambambam! Unter den heftigen Schlägen begann der Türriegel zu wackeln, und das Holz rund um die Verankerung splitterte.
Weil man sie ohnehin entdeckt hatte, begann Kerra hemmungslos zu schluchzen und laut nach Luft zu schnappen. Bitte, bitte, bitte. Sie fühlte sich so ohnmächtig, dass sie wimmernd eine stärkere Macht als sie selbst um Erlösung anflehte.
Noch einmal, und diesmal mit aller Kraft, versuchte sie die Fensterscheibe hochzudrücken, worauf der Rahmen so unvermittelt und überraschend nach oben knallte, dass Kerra eine Sekunde wie gelähmt dastand. Hinter ihr lösten sich unter einem weiteren brutalen Ansturm die ersten Metallteile aus der Verriegelung, die klirrend zu Boden fielen.
In ihrer Verzweiflung zwängte sie Kopf und Oberkörper durch die Öffnung. Als beides draußen war, stieß sie sich vom Rahmen ab und stürzte in die Tiefe.
Sie landete seitlich, mit der Schulter zuerst. Ein stechender Schmerz raubte ihr den Atem. Ihr linker Arm fühlte sich taub und nutzlos an. Sie wälzte sich auf den Bauch, stützte sich auf ihren rechten Arm und richtete sich auf. Nach ein paar taumelnden Schritten hatte sie das Gleichgewicht wiedergefunden und rannte los. Hinter ihr hörte sie die Toilettentür splittern.
Ein ohrenbetäubender Gewehrschuss zerfetzte den Wipfel eines jungen Mesquitebaumes. Sie rannte weiter. Wieder wurde ein Schuss abgefeuert, diesmal traf er auf einen Felsbrocken und sprengte Steinsplitter heraus, die sich wie winzige Pfeile in ihre Beine bohrten.
Wie oft würden sie noch vorbeischießen, bevor Kerra getroffen wurde?
Nirgendwo brannte Licht, nur der Mond stand als schmale Sichel am Himmel. In der Dunkelheit war sie schwerer auszumachen, aber dadurch konnte sie auch nur wenige Schritte weit sehen. Blindlings hastete sie weiter, stolperte über Steine, Gestrüpp und Furchen im Erdreich.
Bitte, bitte, bitte.
Dann gab ohne jede Vorwarnung der Untergrund unter ihr nach. Sie stürzte nach vorn, und ihre Hände griffen ins Leere. Hilflos versuchte sie sich irgendwo festzukrallen, dann krachte sie auf etwas Hartes und rollte, rutschte, fiel immer tiefer.
Trapper lag praktisch im Koma, als das Klopfen zu ihm durchdrang.
»Verfluchter Dreck«, grummelte er in das Zierkissen unter seinem Kopf. Bestimmt würde sich der Polsterabdruck in seinem Gesicht abzeichnen, wenn er jetzt aufstand. Falls er jetzt aufstand. Im Moment hatte er nicht vor, sich zu bewegen oder auch nur die Augen aufzuschlagen.
Vielleicht gehörte das Klopfen zu einem Traum. Vielleicht suchte irgendwo im Gebäude ein Handwerker nach tragenden Balken und klopfte dafür die Wände ab. Ein Stadtspecht? Was auch immer. Vielleicht würde sich das Geräusch einfach wieder legen, wenn er es ignorierte.
Doch nach fünfzehn Sekunden in segensreicher Stille hörte er das nächste Klopf-klopf. »Es ist geschlossen!«, krächzte Trapper. »Kommen Sie ein andermal wieder.«
Das nächste Klopfen klang noch eindringlicher.
Fluchend wälzte er sich auf den Rücken, schleuderte das nassgesabberte Kissen durchs Büro und legte den Arm über die Augen, um das Tageslicht abzuschirmen. Die Jalousien waren nur halb gehöffnet, aber diese widerlich fröhlichen, dünnen Sonnenstrahlen brannten ihm in den Augäpfeln.
Ein Auge geöffnet, eines geschlossen, hob er die Füße vom Sofa. Er stand auf und stolperte dabei über seine abgestreiften Stiefel. Sein großer Zeh schoss das Handy quer über den Boden und unter einen Stuhl. Wenn er sich jetzt so tief bückte, würde er sich wahrscheinlich nicht wiederaufrichten können, darum ließ er das Handy vorsichtshalber dort liegen.
Es rief ihn sowieso so gut wie nie jemand an.
Den Handballen auf eine pochende Schläfe gepresst, schaffte er es bis ans andere Ende des Büros, ohne dabei gegen die unterste Schublade des eisernen Aktenschranks zu stoßen. Sie stand offen, ohne dass er sich an den Grund dafür erinnern konnte.
Hinter der Milchglasscheibe in der Tür konnte er eine Silhouette ausmachen, die eben die Faust hob, um wieder anzuklopfen. Um die weiteren Qualen abzuwenden, die das Geräusch mit sich bringen würde, zog Trapper den Riegel zurück und öffnete die Tür einen Spaltweit.
Er brauchte sie keine zwei Sekunden anzusehen, dann wusste er Bescheid. »Sie sind hier falsch. Ein Stockwerk höher. Erste Tür rechts vom Lift.«
Er wollte die Tür gerade wieder zudrücken, als sie »John Trapper?« fragte.
Scheiße. Hatte er einen Termin verschwitzt? Er kratzte sich am Scheitel, an den schmerzenden Haarwurzeln. »Wie spät ist es?«
»Zwölf Uhr fünfzehn.«
»Und welcher Tag?«
Sie atmete tief ein und langsam wieder aus. »Montag.«
Er musterte sie von Kopf bis Fuß und sah ihr zuletzt wieder ins Gesicht. »Wer sind Sie?«
»Kerra Bailey.«
Bei dem Namen läutete nichts bei ihm, aber selbst wenn, hätte er das über dem Presslufthammer in seinem Schädel kaum gehört. »Hören Sie, wenn es um die Parkuhr geht …«
»Die vor dem Haus? Die plattgefahren wurde?«
»Ich zahle den Schaden. Genau wie alle anderen Schäden. Ich hätte ja einen Zettel hinterlassen, aber ich hatte nichts zu schreiben dabei …«
»Ich bin nicht wegen der Parkuhr hier.«
»Ach. Hm. Sind wir verabredet?«
»Nein.«
»Also, im Moment ist es nicht so günstig, Ms. …« Er wusste nicht mehr weiter.
»Bailey.« Sie sagte das in dem gleichen ungeduldigen Tonfall, in dem sie Montag gesagt hatte.
»Genau. Ms. Bailey. Rufen Sie mich an, dann vereinbaren wir …«
»Ich kann nicht so lange warten. Darf ich hereinkommen?« Sie deutete auf die Tür, die Trapper immer noch nur eine Handbreit geöffnet hatte.
Einer Frau, die so aussah wie sie, konnte er nur schweren Herzens etwas abschlagen. Aber Hölle noch eins: Sein Schädel dröhnte wie eine Kirchenglocke. Sein Hemd war aufgeknöpft und hing ihm aus der Hose. Er konnte nur hoffen, dass seine Hose nicht offenstand, aber falls doch, würde er das keinesfalls korrigieren und dadurch ihren Blick darauf lenken. Mit seinem Atem hätte man Uhren anhalten können.
Stattdessen wagte er einen kurzen Seitenblick auf das Chaos in seinem Büro: Anzugsakko und Krawatte über der Rückenlehne eines Stuhls; Stiefel vor dem Sofa, einer aufrecht, einer zur Seite gekippt; eine schwarze Socke über der Armlehne, die andere Socke weiß Gott wo; eine leere Flasche Dom Perignon gefährlich kurz davor, von seinem Schreibtisch zu rollen.
Er musste duschen.
Er musste dringend pinkeln.
Aber er musste auch dringend, dringend neue Klienten gewinnen, und ihre Erscheinung schrie nach Geld, vor allem die Handtasche. Sie war groß wie ein kleiner Koffer und mit den Initialen eines Designers bedruckt. Selbst wenn sie zu dem Steuerberater ein Stockwerk höher gewollt hätte, hielt sie sich eindeutig in der falschen Gegend auf.
Außerdem hatte man ihm noch nie nachsagen können, dass er eine Lady in Nöten abgewiesen hätte.
Er trat zurück, zog die Tür auf und deutete auf die zwei Bürostühle vor seinem Schreibtisch. Mit dem Absatz rammte er die Aktenschublade zu und schaffte es trotzdem rechtzeitig vor ihr an seinen Schreibtisch, wo er blitzschnell einen leeren, aber muffelnden chinesischen Essenskarton und die letzte Ausgabe der Maxim verschwinden ließ. Er zählte das Coverfoto zu seinen persönlichen Top Ten, aber vielleicht wäre ihr so viel nackte Haut aufgestoßen.
Sie setzte sich auf den einen Stuhl und legte ihre Tasche auf den anderen. Während er den Tisch umrundete, knöpfte er den mittleren Hemdknopf zu und fuhr sich mit der Hand über Mund und Kinn, um eventuell übriggebliebenen Sabber wegzuwischen.
Als er sich in seinen Schreibtischsessel fallen ließ, bemerkte er, wie sie die Champagnerflasche fixierte, die mühsam der Schwerkraft trotzte. Er errettete die Flasche vor dem drohenden Aufprall und stellte sie behutsam und ohne jedes Klirren im Papierkorb ab. »Ein Kumpel hat geheiratet.«
»Gestern?«
»Samstagnachmittag.«
Eine Braue wanderte nach oben. »Klingt nach einer ausgelassenen Feier.«
Er zuckte mit den Achseln und lehnte sich zurück. »Wer hat mich empfohlen?«
»Niemand. Ich habe die Adresse von Ihrer Webseite.«
Trapper hatte ganz vergessen, dass er eine Homepage hatte. Er hatte einem Burschen vom College fünfundsiebzig Dollar gezahlt, damit er seine Webseite online stellte. Seither hatte er keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Sie war die erste Klientin, die er damit angelockt hatte.
Sie sah aus, als könnte sie sich etwas wesentlich Besseres leisten.
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich ohne Termin hier auftauche«, sagte sie. »Aber ich habe heute Vormittag immer wieder angerufen und bin jedes Mal auf Ihrer Mailbox gelandet.«
Trapper sah verstohlen auf den Stuhl, unter den sein Handy geschlittert war. »Ich hatte das Handy während der Hochzeit stumm gestellt. Wahrscheinlich habe ich vergessen, es wieder einzuschalten.« So diskret wie möglich setzte er sich zurecht, um seiner Blase etwas Raum zu verschaffen.
»Aber kommen wir zur Sache, Ms. Bailey. Sie sagten, es sei wichtig, aber es ist nicht so wichtig, dass Sie einen Termin gemacht hätten. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte, dass Sie Ihr Wort für mich einlegen und Ihren Vater überreden, mir ein Interview zu geben.«
Er hätte Wie bitte? oder Pardon? oder Habe ich richtig verstanden? gefragt, doch sie hatte sich perfekt verständlich ausgedrückt, darum fragte er: »Soll das ein beschissener Witz sein?«
»Nein.«
»Ganz im Ernst, wer hat sie dazu angestiftet?«
»Niemand, Mr. Trapper.«
»Trapper allein genügt völlig, aber es ist völlig gleich, wie Sie mich nennen, weil wir uns nichts weiter zu sagen haben.« Er stand auf und ging zur Tür.
»Sie haben mich gar nicht angehört.«
»Doch. Habe ich. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss dringend pissen, und danach muss ich meinen Kater ausschlafen. Machen Sie die Tür zu, wenn Sie rausgehen. Und in diesem Viertel kann ich Ihnen nur wünschen, dass Ihr Wagen noch dort steht, wo Sie ihn abgestellt haben.«
Er stakste barfuß hinaus und tappte durch den trüben Korridor zur Herrentoilette. Nachdem er sich erleichtert hatte, stellte er sich ans Waschbecken und betrachtete sich in dem wolkigen, gesprungenen Spiegel. Ein Haufen Hundescheiße hätte kaum gegen ihn anstinken können.
Er beugte sich vor und ließ Leitungswasser in seinen Mund laufen, bis der brennendste Durst gestillt war, dann hängte er den Kopf unter den Hahn. Anschließend schüttelte er sich das Wasser aus den Haaren und trocknete mit den Papiertüchern sein Gesicht ab. Um wenigstens andeutungsweise respektabel auszusehen, knöpfte er auf dem Rückweg zu seinem Büro sein Hemd vollständig zu.
Sie war immer noch da, was ihn nicht besonders überraschte. Sie sah nicht so aus, als würde sie sich so leicht abwimmeln lassen.
Ehe er sie aus dem Büro werfen konnte, fragte sie: »Wieso würde es Sie stören, wenn der Major ein Interview gibt?«
»Es geht mich zwar einen feuchten Dreck an, aber er wird es nicht tun, und ich glaube, Sie wissen das bereits, sonst wären Sie nicht zu mir gekommen, weil ich der letzte Mensch auf Erden bin, der ihn zu irgendwas überreden könnte.«
»Und warum?«
Er erkannte die klug ausgelegte Falle und weigerte sich hineinzutappen. »Lassen Sie mich raten. Ich bin Ihre letzte Hoffnung?« Ihre Miene war ein glattes Eingeständnis. »Wie oft haben Sie den Major selbst gefragt, bevor Sie hergekommen sind?«
»Ich habe dreizehnmal bei ihm angerufen.«
»Und wie oft hat er aufgelegt?«
»Dreizehnmal.«
»Unhöflicher Kerl.«
Halblaut hörte er sie sagen: »Liegt wohl in der Familie.«
»Es ist das Einzige, was er und ich gemeinsam haben.« Trapper lächelte und studierte sie nachdenklich. »Sie bekommen einen Bonuspunkt für Ihre Hartnäckigkeit. Die meisten geben lang vor dem dreizehnten Mal auf. Für wen arbeiten Sie?«
»Für einen Sender, der in Dallas sitzt.«
»Man kann Sie im Fernsehen sehen? In Dallas?«
»Ich mache Dokumentationen. Human Interest Stories, Geschichten aus dem Leben. Gelegentlich schafft es eine in die Hauptnachrichtensendung am Sonntagabend.«
Trapper konnte sich nicht erinnern, je die Nachrichten am Sonntagabend gesehen zu haben.
Und er wusste mit Sicherheit, dass er die Frau nie gesehen hatte, nicht einmal im Lokalfernsehen, denn das hätte er bestimmt nicht vergessen. Sie hatte glattes, glänzend hellbraunes Haar mit blonderen Strähnen rund ums Gesicht. Braune große Rehaugen. Einen Fingerbreit unter dem äußeren linken Augenwinkel saß ein Schönheitsfleck, zartbitterschokoladenbraun wie ihre Augen. Ihr Teint war sahnig, ihre Lippen waren voll und rosa, und es fiel ihm schwer, die Augen davon loszureißen.
Trotzdem tat er es. »Tut mir leid, aber Sie sind umsonst hergefahren.«
»Mr. Trapper …«
»Sie vergeuden Ihre Zeit. Der Major hat sich schon vor Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.«
»Vor drei Jahren, richtig. Und er hat sich nicht nur zurückgezogen. Er hat sich von der Außenwelt abgeschottet. Warum, glauben Sie, hat er das getan?«
»Ich würde tippen, dass er es satthatte, ständig darüber zu reden.«
»Und Sie?«
»Ich hatte es schon lange satt.«
»Wie alt waren Sie?«
»Zur Zeit des Bombenanschlags? Elf. Fünfte Klasse.«
»Dass Ihr Vater so schlagartig berühmt wurde, muss sich auch auf Sie ausgewirkt haben.«
»Kaum.«
Sie beobachtete ihn kurz und meinte dann leise: »Das ist unmöglich. Das muss Ihr Leben genauso dramatisch verändert haben wie seines.«
Er kniff ein Auge zusammen. »Wissen Sie, wie sich das anhört? Nach Suggestivfragen, so als würden Sie versuchen, mich zu interviewen. In diesem Fall haben Sie beschissenes Pech, denn ich werde auf keinen Fall über den Major, über mich oder mein Leben reden. Jemals. Ganz gleich, mit wem.«
Sie griff in ihre übergroße Tasche, zog den papierblattgroßen Abzug eines Fotos heraus, legte ihn auf den Tisch und schob ihn ihm zu.
Ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, schob er das Foto zurück. »Kenne ich.« Wieder stand er auf, ging an die Tür, zog sie auf und blieb, die Hände abwartend in die Hüften gestützt, daneben stehen.
Nach kurzem Zögern seufzte sie resigniert, hängte den Träger ihrer Handtasche über ihre Schulter und kam zu ihm an die Tür. »Ich habe Sie in einem schlechten Augenblick erwischt.«
»Einen Besseren wird es nicht geben.«
»Würden Sie vielleicht in Betracht ziehen, sich später mit mir zu treffen, nachdem Sie Zeit hatten …« Mit einem Schwenk ihrer Hand erfasste sie seinen erbärmlichen Zustand. »… sich zu erholen. Dann könnte ich Ihnen umreißen, was ich will. Wir könnten beim Abendessen darüber sprechen.«
»Es gibt nichts zu besprechen.«
»Sie sind eingeladen.«
Er schüttelte den Kopf. »Trotzdem vielen Dank.«
Sie kaute innen an ihrer Wange, als würde sie abwägen, mit welcher Taktik sie ihn am ehesten umstimmen könnte. Ihm wären da ein paar verlockende Optionen eingefallen, aber wahrscheinlich würde sie nicht so weit gehen, und selbst wenn, würde er hinterher trotzdem ihre Bitte abschlagen.
Sie sah sich im Büro um und zuletzt wieder ihn an. Mit der Fingerspitze unterstrich sie die auf das Milchglas aufgeklebten Buchstaben. »Privatermittler.«
»Steht da.«
»Ihr Beruf ist es, Dinge zu ermitteln, Mysterien aufzuklären.«
Er schniefte. Das war früher sein Beruf gewesen. Mittlerweile beauftragten ihn in Tränen aufgelöste Ehegattinnen, die von ihm bestätigt bekommen wollten, dass ihre Ehemänner fremdvögelten. Falls er Bilder liefern konnte, verdoppelte sich sein Honorar. Verzweifelte Eltern bezahlten ihn dafür, dass er ihre pubertierenden Kinder aufspürte; gewöhnlich stöberte er die Ausreißer in irgendwelchen Hauseingängen auf, wo sie Blowjobs gegen Heroin feilboten.
Er würde seine Tätigkeit nicht als das Aufklären von Mysterien bezeichnen. Oder auch nur als Ermittlungen. Doch zu ihr sagte er: »Der Sherlock Holmes von Fort Worth.«
»Haben Sie eine Lizenz?«
»Aber ja. Ich habe auch eine Waffe, Patronen, alles.«
»Auch eine Lupe?«
Die Frage warf ihn kurz aus der Bahn, denn sie hatte sie keineswegs scherzhaft gestellt. Sie meinte es ernst. »Wozu?«
Die rosa Schmolllippen dehnten sich zu einem rätselhaften Lächeln, und sie flüsterte: »Das müssen Sie schon selbst rausfinden.«
Ohne die Augen von ihm zu nehmen, griff sie in ein Innenfach ihrer Handtasche und zog eine Visitenkarte heraus. Sie überreichte sie ihm nicht, sondern klemmte sie in einen Spalt zwischen der Milchglasscheibe und dem Türrahmen, direkt neben seine aufgeklebte Berufsbezeichnung.
»Meine Handynummer steht auf der Karte, falls Sie es sich anders überlegen.«
Eher würde die Hölle gefrieren.
Trapper zupfte die Visitenkarte aus dem Schlitz, schnippte sie direkt in den Müll und knallte die Tür hinter ihr zu.
Dann zog er die Socke von der Sofalehne, weil er es kaum erwarten konnte, nach Hause zu kommen und seinen äußerst langsam abklingenden Kater auszuschlafen, und machte sich auf die Suche nach der zweiten.
Nach mehreren frustrierenden Minuten und einer ausschweifenden Litanei von Flüchen entdeckte er sie in seinem Stiefel. Er zog die Socken über, kam aber zu dem Schluss, dass er eine Aspirin brauchte, bevor er sich auf die Straße wagte. Er tappte an seinen Schreibtisch und zog in der Hoffnung, ein vergessenes Röhrchen Aspirin zu finden, die mittlere Schublade auf.
Dieses verfluchte Foto lag unübersehbar unter seiner Nase.
Ganz gleich, ob er es ansah oder es irgendwie zur Kenntnis nahm oder auch seine Existenz negierte, es würde ihn nie wirklich loslassen. Er hatte Kerra Bailey angelogen. Sein Leben war nicht mehr dasselbe, seit dieses Foto vor fünfundzwanzig Jahren um die Welt gegangen war.
Trapper ließ sich in den Schreibtischsessel fallen und starrte auf das verfluchte Ding. Sein Schädel dröhnte, seine Augen brannten, seine Kehle und sein Mund waren immer noch ausgedörrt. Aber obwohl er begriff, dass es reiner Masochismus war, griff er über den Schreibtisch und zog das Bild zu sich her.
Im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts hatte jeder Mensch auf der Welt dieses Bild schon einmal gesehen. Unter den preisgekrönten, zeitlosen Fotos stand es auf einer Stufe mit dem Aufstellen der Flagge auf Iwojima, dem Matrosen und der Krankenschwester am Siegestag nach dem Zweiten Weltkrieg in New York, dem nackten vietnamesischen Mädchen, das vor dem Napalmangriff flüchtete, den in Flammen stehenden und einstürzenden Zwillingstürmen des World Trade Centers.
Doch lange vor Nine-Eleven hatte es den Bombenanschlag auf das Pegasus Hotel in Dallas gegeben. Das Attentat hatte eine Stadt erschüttert, die immer noch nicht über den Mord an J.F. Kennedy hinweggekommen war, dabei ein Wahrzeichen der Stadt zerstört und 197 Menschenleben ausgelöscht. Noch einmal halb so viele waren lebensgefährlich verletzt worden.
Damals hatte Major Franklin Trapper eine Handvoll abgekämpfter Überlebender aus den qualmenden Trümmern geführt.
Ein Fotograf, der für eine Zeitung in Dallas arbeitete, hatte eben an seinem Schreibtisch in der innerstädtischen Redaktion gesessen und ein Gebäckteilchen gegessen, als die erste Bombe detonierte. Der Donnerschlag machte ihn kurzfristig taub. Die Druckwelle erschütterte das Gebäude und ließ den Betonboden unter seinem Schreibtisch aufplatzen. Fenster gingen zu Bruch.
Doch wie ein alter Feuerwehrgaul war der Fotograf darauf konditioniert, zum Ort einer Katastrophe zu eilen. Er schnappte seine Kamera, stürmte über die Feuertreppe drei Stockwerke nach unten und rannte aus dem Gebäude, auf die schwarze Rauchsäule zu, die schon den halben Himmel überzog.
Noch vor den ersten Einsatzkräften erreichte er den Schreckensort und begann Bilder zu schießen, darunter jenes, das zur Ikone werden sollte: Franklin Trapper, jüngst aus der U.S. Army entlassen, der an der Spitze einer Kolonne von benommenen, versengten, blutenden und hustenden Opfer aus dem qualmenden Gebäude kam, in den Armen ein Kind, am Saum seines Sakkos die Hand einer hinterherstolpernden Frau und auf der anderen Seite einen Mann mit zersplittertem Schienbein, der ihn als Krücke benutzte.
Der inzwischen verstorbene Fotograf hatte für diese Aufnahme den Pulitzer-Preis verliehen bekommen, und der auf Film gebannte heroische Akt hatte ihn und das Foto auf der Stelle unsterblich gemacht.
Und wie Trapper nur zu gut wusste, dauerte die Unsterblichkeit verflucht lang.
Die Geschichte hinter dem Foto und den Menschen darauf kam erst später ans Licht, als diejenigen, die im Krankenhaus gelandet waren, ihre jeweiligen Erlebnisse schildern konnten.
Doch bis diese Geschichten erzählt wurden, wurde der Vorgarten der Trappers in einem Außenbezirk von Dallas längst von der Presse belagert. Sein Vater, der inzwischen nur noch Major genannt wurde, war zum nationalen Symbol für Tapferkeit und Selbstaufopferung geworden. Noch jahrelang nach diesem Tag im Jahr 1992 war er ein begehrter öffentlicher Redner gewesen. Er bekam so gut wie jeden Orden, jeden Preis, der zu verleihen war, und viele weitere wurden seinetwegen ausgelobt und nach ihm benannt. Jeder neue Präsident lud ihn ins Weiße Haus ein. Bei Staatsbanketten wurde er ausländischen Würdenträgern vorgestellt, die Ehrfurcht vor seiner Tapferkeit bezeugten.
Über die Jahre brachten neue Katastrophen neue Helden hervor. Eine Zeitlang stellte der tapfere Feuerwehrmann, der das Kleinkind aus dem zerbombten Regierungsgebäude in Oklahoma City gerettet hatte, den Major in den Schatten, doch schon bald stand er wieder auf den Einladungslisten der Fernsehtalkshows und durfte auf Galadiners Reden halten. Nach dem elften September hatten seine Reden einen neuen Schwerpunkt: sein zufälliger heroischer Akt verglichen mit jenen Taten, die Tag für Tag von unbekannten Helden begangen wurden. Auf diese Weise blieb seine Geschichte über zwei Jahrzehnte zeitgemäß und relevant.
Dann, vor drei Jahren, hatte er sich für den kalten Entzug entschieden.
Seither lebte er völlig zurückgezogen, mied das Scheinwerferlicht und wies alle Bitten um öffentliche Auftritte oder Interviews ab.
Trotzdem lebte die Legende weiter. Und immer wieder klopften Journalisten, Biografen und Filmproduzenten bei ihm an, wollten Zeit mit ihm verbringen und ihm ihre jeweiligen Pläne unterbreiten. Nie öffnete er auch nur einem von ihnen die Tür.
Bis heute hatte keiner von ihnen je Trappers Hilfe gesucht, um Zugang zu seinem berühmten Vater zu bekommen.
Kerra Baileys Dreistigkeit war schon ärgerlich genug. Aber besonders ärgerlich machte es ihn, dass sie mit ihrer Bemerkung über das Vergrößerungsglas seine Neugier geweckt hatte. Was konnte es auf jenem Foto, das er schon zehntausendmal betrachtet hatte, noch für ihn zu sehen geben?
Er sehnte sich nach einer heißen Dusche, einer Aspirin, seinem Bett und einem weichen Kissen.
»Scheiß drauf.« Er zog die Schreibtischschublade auf und wühlte, statt das Fläschchen mit Kopfschmerztabletten herauszuholen, in den Tiefen der Lade, bis er das längst vergessene Vergrößerungsglas gefunden hatte.
Vier Stunden später saß er immer noch auf seinem Stuhl, immer noch ungeduscht, immer noch mit dröhnendem Schädel und brennenden Augen. Doch ansonsten war nichts wie zuvor.
Er legte die Lupe auf den Tisch, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und hielt so seinen Kopf fest. »Leck mich doch.«