Das Buch
Ihr langjähriger Freund Alex hat um ihre Hand angehalten, und zum ersten Mal seit Langem ist die TV-Produzentin Laurie Moran wieder richtig glücklich. Doch mitten in die Hochzeitsvorbereitungen platzt ein neuer Fall für sie und ihre Sendung »Unter Verdacht«: Vor fünf Jahren wurde der charmante, hochangesehene junge Arzt Dr. Martin Bell in seiner Auffahrt erschossen. Der Täter konnte unbekannt fliehen. Nun fordern Martins verzweifelte Eltern von Laurie, den Fall noch einmal aufzurollen. In ihren Augen steht die Schuldige ohnehin fest: Martins psychisch labile Witwe Kendra, die sich nun allein um die kleinen Kinder kümmert. Der Fall bewegt Laurie zutiefst, schließlich wurde vor vielen Jahren ihr eigener Mann vor den Augen ihres Sohnes ermordet. Also übernimmt sie und gräbt sich immer tiefer in die erschütternden Zusammenhänge. Was ihr dabei komplett entgeht: Anscheinend ist sie selbst ins Visier eines Stalkers geraten. Eines Stalkers, der nichts anderes als ihren Tod plant …
Die Autorinnen
Mary Higgins Clark zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautoren weltweit. Mit ihren Büchern führt Mary Higgins Clark regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an. Sie hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den begehrten Edgar Award.
Alafair Burke war lange als Deputy District Attorney tätig. Ihr Beruf inspirierte sie dazu, Kriminalromane zu schreiben, u.a. die New-York-Times-Bestsellerserie um Ellie Hatcher. Sie ist die Tochter von James Lee Burke und lebt in New York.
MARY
HIGGINS
CLARK
ALAFAIR BURKE
DENN
DU
GEHÖRST
MIR
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
You Don’t Own Me
bei Simon & Schuster, New York
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Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Nele Schütz Design/Margit Memminger
unter Verwendung von shutterstock/ Marina Poushkina
Redaktion: Claudia Alt
Herstellung: Helga Schörnig
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-24204-6
V002
www.heyne-verlag.de
Für meinen ersten Urenkel,
William Warren Clark
Willkommen in der Welt, Will!
MARY
Für David und Hiedi Lesh,
Cheers!
ALAFAIR
Um ein Haar wäre der sechzigjährigen Caroline Radcliffe eine der Untertassen aus der Hand gefallen, die sie ins übervolle Sideboard räumen wollte, als sie einen Schrei aus dem Familienzimmer hörte. Sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie die Kinder für einen kurzen Moment aus den Augen gelassen hatte. Sie hatte aus dem Fenster gesehen und sich gefreut, dass sie nun, Ende März, mit den Kindern bald wieder mehr Zeit im Freien verbringen konnte.
Sie ging nachsehen. Der vierjährige Bobby sauste an ihr vorbei und gluckste aufgeregt vor sich hin. Im Familienzimmer fand sie die zweijährige Mindy heulend auf dem Boden sitzen, wo sie mit ihren blauen Augen auf die Bauklötzchen starrte, die überall um sie herum verstreut lagen.
Caroline erkannte sofort, was sich abgespielt hatte. Bobby war zwar ein süßer kleiner Junge, nur ärgerte er hin und wieder gern seine jüngere Schwester. Gelegentlich war Caroline versucht, ihn zu warnen: Irgendwann würden die Mädchen den Spieß umdrehen. Aber dann dachte sie sich, dass die beiden eben Geschwister waren und ihre Streitigkeiten besser unter sich selbst ausmachen sollten.
»Es ist doch alles gut, Mindy, Liebes«, sagte sie tröstend. »Ich helfe dir, wir bauen alles wieder so auf, wie es gewesen ist.«
Aber Mindy zog eine Schnute und stieß die neben ihr liegenden Klötzchen noch weiter weg. »Will nicht!«, heulte sie. Und als Nächstes verlangte sie unmissverständlich nach ihrer Mama.
Caroline seufzte, hob sich Mindy auf die Hüfte und hielt die Kleine im Arm, bis sie sich beruhigt hatte.
»Schon besser«, sagte Caroline. »So kenne ich meine Mindy.«
Mindys Vater, Dr. Martin Bell, hatte sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass Caroline die Kinder nicht wie Kleinkinder behandeln sollte. Seiner Ansicht nach verstieß sie bereits gegen seine Regel, wenn sie Mindy auf den Arm nahm.
»Belohnung und Strafe, darum geht es doch«, sagte er gern. »Ich will sie ja nicht mit Hunden vergleichen, aber … na ja, so lernen Tiere eben. Sie will, dass man sie in den Arm nimmt. Kommt man ihr jedes Mal entgegen, kriegt sie nur einen Anfall, wenn man es einmal nicht tut, und dann gibt es ständig Tränen.«
Nun, zum einen gefiel es Caroline überhaupt nicht, dass er Kinder mit Hunden verglich. Und zum anderen wusste sie ebenfalls das eine oder andere über Erziehung. Sie hatte selbst zwei erwachsene Kinder und als Kinderfrau sechs weitere mit großgezogen. Die Bells waren ihre vierte Familie, und ihrer Meinung nach hatten sich Bobby und Mindy ein wenig zusätzliche Liebe und Zuneigung durchaus verdient. Ihr Vater arbeitete die ganze Zeit und hatte für alles im Haus seine Vorschriften, auch für die kleinen Kinder. Und ihre Mutter … nun, ihre Mutter machte gerade eine schwere Zeit durch. Sie war der Grund, warum Caroline überhaupt im Haushalt mithalf, obwohl die Mutter zu Hause war.
»Bobby!« Sie hatte seine Schritte auf der Treppe gehört. »Bobby!«, rief sie ihm hinterher. Solange Dr. Bell nicht da war, konnten sie und die Kinder im Haus einigen Lärm veranstalten. »Ich hab ein Wörtchen mit dir zu reden. Und du weißt auch, warum, junger Mann!«
Caroline hatte die Kleinen zwar ins Herz geschlossen, dennoch ließ sie sich von ihnen nicht auf der Nase herumtanzen.
Sie setzte Mindy am Fußende der Treppe ab. Mit jedem Schritt wurde Bobby langsamer, um das Unvermeidliche wenigstens hinauszuzögern. Unsicher ging Mindys Blick zwischen Caroline und Bobby hin und her, gespannt wartete sie darauf, was als Nächstes passierte.
»Lass das bitte sein«, wies Caroline Bobby zurecht. Dann zeigte sie auf Mindy. »Und du weißt, was sich gehört?«
»Es tut mir leid, Mindy«, murmelte er.
»Ich glaube nicht, dass ich dich gehört habe«, sagte Caroline.
»Es tut mir leid, dass ich deine Bauklötze umgeworfen habe.«
Caroline wartete, bis Bobby seine Schwester etwas widerstrebend umarmt hatte. Aber die nach wie vor wütende Mindy wollte von der Entschuldigung nichts wissen.
»Bobby ist gemein!«, heulte sie.
In diesem Moment war das Rumpeln des Garagentors zu hören, das draußen geöffnet wurde. Das Heim der Bells war zweifellos das exklusivste Haus, in dem sie jemals gearbeitet hatte. Es handelte sich um eine Remise aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, ein ehemaliges Kutschenhaus mit Pferdestall, das renoviert und mit allen modernen Annehmlichkeiten ausgestattet worden war, unter anderem mit dem ultimativen Luxus in Manhattan: einer unterirdischen Parkgarage.
Daddy war zu Hause.
»Vielleicht räumt ihr beide das Chaos im Zimmer auf, bevor euer Vater es zu Gesicht bekommt.«
Popp! Popp! Popp!
Caroline entfuhr ein Aufschrei, und die Kinder fingen sofort zu weinen an.
»Das waren bloß Feuerwerksböller«, sagte sie so ruhig wie möglich, obwohl ihr Herz raste und sie wusste, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Es waren Schüsse gewesen. »Geht nach oben, ich sehe mal nach, wer hier so einen Radau veranstaltet.«
Als die beiden Kinder halb oben auf der Treppe waren, eilte sie zur Eingangstür und lief die Stufen zur Einfahrt hinab. Das Licht im Innenraum von Dr. Bells BMW brannte, die Fahrertür stand halb offen. Dr. Bell war über das Lenkrad gesackt.
Langsam ging Caroline weiter, bis sie vor der offenen Autotür stand. Sie sah das Blut. Sie sah genug, um zu wissen, dass Dr. Bell nicht überleben würde.
Panisch lief sie nach drinnen und rief den Notruf. Irgendwie schaffte sie es, der Leitstelle die Adresse mitzuteilen. Erst als sie aufgelegt hatte, fiel ihr Kendra ein, die sich in ihrem benommenen Zustand wie gewöhnlich oben aufhielt.
Großer Gott, wer bringt es bloß den Kindern bei?
Fünf Jahre später arbeitete Caroline immer noch in der Remise, aber vieles hatte sich verändert. Mindy und Bobby waren nicht mehr ihre Babys. Sie waren fast mit der ersten und dritten Klasse fertig. Und sie weinten nur noch selten, selbst wenn über ihren Vater geredet wurde.
Und Mrs. Bell – Kendra, wie Caroline sie mittlerweile oft nannte –, hatte sich vollkommen gewandelt. Sie verschlief nicht mehr die Tage. Sie war eine gute Mutter. Und sie arbeitete, weshalb es zu den Aufgaben von Caroline gehörte, die Kinder zweimal in der Woche von der Wohnung ihrer Großeltern in der Upper East Side abzuholen. Eine Aufgabe, an der keiner von ihnen sonderlich Gefallen fand. Verglichen mit seinen Eltern war Dr. Bell ein wahrer Freigeist gewesen.
Caroline hatte gerade deren Wohnung verlassen und war mit den Kindern bereits auf halbem Weg zum Aufzug, als die Großmutter ihr hinterherrief. Sie drehte sich um. Beide Großeltern standen nebeneinander vor ihrer Wohnungstür. Dr. Bell war schmal, fast hager, die dünnen Haarsträhnen hatte er sich quer über den Schädel gekämmt. Als Leiter der Gefäßchirurgie am renommierten Mount Sinai Medical Center war er es gewohnt gewesen, dass alle nach seiner Pfeife tanzten. Obwohl er sich seit nunmehr neun Jahren im Ruhestand befand, hatte sich sein mürrischer Gesichtsausdruck, den er Tag für Tag im Krankenhaus zur Schau gestellt hatte, nicht geändert.
Von Cynthias früherer Schönheit – mittlerweile war auch sie schon in den Achtzigern – konnte keine Rede mehr sein. Von den vielen Stunden in der Sonne war ihre Haut trocken und runzlig geworden. Ihre Mundwinkel hingen stets nach unten und verliehen ihr einen permanent beleidigten Ausdruck.
»Ja?«, fragte Caroline.
»Hat Kendra wenigstens versucht, diese Fernsehproduzentin für Martins Fall zu interessieren?«, fragte Dr. Bell.
Caroline lächelte höflich. »Es steht mir nicht zu, anderen zu erzählen, mit wem sich Mrs. Bell unterhält …«
»Sie meinen Kendra«, unterbrach er sie unwirsch. »Meine Frau ist die einzige Mrs. Bell. Diese Frau ist nicht mehr mit meinem Sohn verheiratet, weil mein Sohn in seiner Einfahrt erschossen wurde.«
Caroline zwang sich zu einer freundlichen Miene. Oh, sie erinnerte sich sehr genau an das, was sich ein halbes Jahr zuvor wegen dieser Fernsehproduzentin abgespielt hatte. Robert und Cynthia waren nach Mindys Tanzaufführung, die nach der Schule stattgefunden hatte, mit nach Hause gekommen und hatten dort Kendra von Unter Verdacht erzählt, einer Sendung, die sich ungelöster Verbrechensfälle annahm. Ohne Kendras Wissen hatten sie das Produktionsstudio angeschrieben und darum gebeten, Martins ungeklärten Mordfall in die Sendung zu nehmen.
Die einzig wahre Mrs. Bell, Cynthia, mischte sich nun ein. »Kendra sagte uns, dass die Produzentin, eine gewisse Laurie Moran, den Fall abgelehnt hat.«
Caroline nickte. »Genau das ist passiert. Kendra war darüber ebenso verärgert wie Sie. Aber jetzt muss ich Ihre Enkelkinder nach Hause bringen, bevor meine Arbeitszeit endet«, sagte sie noch, obwohl sie nie auf die Uhr schaute.
Als sie kurz darauf im Fahrstuhl in die Lobby des Apartmenthauses, in dem die Bells wohnten, nach unten fuhren, beschlich sie ein ungutes Gefühl: Die beiden würden die Sache nicht auf sich beruhen lassen, da war sie sich sicher. Den Namen Laurie Moran würde sie noch öfter zu hören bekommen.
Auf … und ab … auf … und ab …« Laurie Moran strampelte zu ohrenbetäubenden Techno-Beats und im Lichtgeflacker ähnlich einer Disco aus den späten Siebzigerjahren. Der Mann vor ihr gab erneut ein begeistertes »Wow!« von sich, was sicherlich keinen zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen haben dürfte.
Rechts von ihr grinste ihre Freundin Charlotte – sie hatte den morgendlichen Spinning-Kurs vorgeschlagen – und wischte sich mit einem kleinen Tuch über die Stirn. In der lauten Musik war sie nicht zu verstehen, aber Laurie las ihr von den Lippen ab: »Gib’s zu, du findest es toll!« Linda Webster-Cennerazzo auf der anderen Seite sah dagegen genauso erschöpft aus wie sie selbst.
Nein, Laurie fand es nicht toll. Kurzzeitig war sie erleichtert, als ein ihr bekannter Song loswummerte, aber dann machte ihr perfekt gebräunter und durchtrainierter Leiter alles wieder zunichte, als er brüllte: »Leute, am Knöpfchen drehen. Zeit für den nächsten Anstieg!«
Laurie fasste zum Drehrad an ihrem Indoor Cycling Bike, doch statt nach rechts drehte sie zwei Stufen nach links. Ein höherer Tretwiderstand war jetzt das Letzte, was sie brauchte, ganz zu schweigen vom inneren Widerwillen, den es auch noch zu überwinden galt.
Aber dann war die Tortur endlich vorbei, und sie folgte den übrigen ausgelaugten Teilnehmern gemeinsam mit Charlotte und Linda zu den Umkleiden. Das Studio war mit denen, die Laurie bislang gekannt hatte, nicht zu vergleichen. Es gab mit Eukalyptusöl getränkte Handtücher, flauschige Bademäntel und einen richtigen Wasserfall in der Saunalandschaft.
Das Make-up dauerte bei Laurie keine zehn Minuten. Die schulterlangen Haare musste sie nur waschen und föhnen, dazu trug sie einen Moisturizer und etwas Mascara auf. Sie streckte sich auf einem Liegestuhl aus, während sich Charlotte zu Ende schminkte.
»Ich will einfach nicht glauben, dass du dir diese Qual viermal pro Woche antust«, sagte Laurie.
»Ich auch nicht«, pflichtete Linda bei.
»Und dreimal davon Crosstraining, vergesst das nicht«, sagte Charlotte.
»Jetzt gib doch nicht so an«, erwiderte Linda etwas pikiert.
»Hört mal, ich hab mich dafür entschieden, weil ich in der Arbeit die meiste Zeit nur rumsitze und mit Kunden zum Essen gehe. Ihr beide seid beruflich und auch privat viel auf den Beinen.«
»Das kannst du laut sagen«, kam es von Linda, die sich auf den Weg zur Dusche machte.
Laurie wusste, dass Charlotte schon aus beruflichen Gründen in Topform sein musste. Sie war die Vorsitzende der New Yorker Niederlassung ihres Familienunternehmens Ladyform, eines bekannten Herstellers von Sportbekleidung für Frauen. »Wenn ich noch mal mitkommen sollte, setze ich mich in den Heißwasserbottich neben dem Wasserfall und überlasse das Strampeln dir.«
»Wie du willst, Laurie. Außerdem finde ich, dass du genau richtig bist, so wie du bist. Aber du hast schließlich gesagt, dass du besser in Form kommen willst vor deiner großen Hochzeit.«
»Es wird keine große Hochzeit«, protestierte sie. »Und ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Diese Hochzeitsmagazine setzen einer Frau nur dumme Ideen in den Kopf: Designer-Kleider, ein Meer aus Blumen und Unmengen an Tüll. Mir ist das alles zu viel. Ich bin wieder zur Vernunft gekommen.«
Aber der Gedanke an ihre bevorstehende Hochzeit mit Alex erfüllte Laurie mit großer Freude. »Wenn Timmys Schuljahr vorbei ist, machen wir irgendwas Kleines und unternehmen eine Familienreise«, sagte sie so gelassen wie möglich.
Charlotte schüttelte missbilligend den Kopf, während sie eine Tube Haargel in ihrem schwarzen Prada-Lederrucksack verstaute. »Laurie, glaub mir. Vergiss die Familienreise. Schließlich sind das eure Flitterwochen. Die solltet ihr wirklich zu zweit verbringen. Und Leo wird während eurer Abwesenheit liebend gern auf Timmy aufpassen.«
Laurie bemerkte, dass eine Frau im nächsten Gang ihr Gespräch belauschte, und senkte die Stimme. »Charlotte, ich hatte eine große Hochzeit mit Greg. Diesmal möchte ich eine kleine Feier. Alles, was zählt, ist, dass Alex und ich endlich zusammen sind. Für immer.«
Laurie hatte den Strafverteidiger Alex Buckley kennengelernt, als sie ihn als Moderator für ihre Fernsehsendung Unter Verdacht angeheuert hatte. In der Arbeit war er schnell zu ihrem engsten Vertrauten geworden, bald darauf in ihrem Privatleben aber zu wesentlich mehr als das. Als er seinen Rückzug von der Sendung verkündete, um sich ganz seiner Anwaltskanzlei widmen zu können, war sich Laurie nicht mehr ganz sicher gewesen, welchen Platz er in ihrem Leben einnahm. Mit Greg hatte sie bereits die große Liebe gefunden, und nach seinem Tod war sie vollauf damit beschäftigt gewesen, die beruflichen Anforderungen mit den Pflichten einer alleinerziehenden Mutter unter einen Hut zu bringen. Sie hatte geglaubt, vollends zufrieden zu sein, bis Alex ihr unmissverständlich klargemacht hatte, dass er mehr von ihr wollte, als sie ihm seiner Meinung nach zu geben bereit war.
Nach einer dreimonatigen Auszeit musste sie erkennen, dass sie ohne Alex schrecklich unglücklich war. Also hatte sie ihn angerufen und gebeten, mit ihr zum Essen zu gehen. Bereits beim Auflegen hatte sie gewusst, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Mittlerweile waren sie seit zwei Monaten verlobt. Und sie hatte sich an den von Alex ausgewählten Platinring mit dem Diamant-Solitär gewöhnt.
Doch ehrlicherweise konnte sie sich nicht erinnern, Alex jemals nach seinen Wünschen gefragt zu haben.
Sie versuchte sich selbst in einem tollen weißen Kleid zu sehen, in dem sie durch einen langen Mittelgang schritt, hatte aber immer nur Greg vor Augen, der vor der Kirche auf sie wartete. Und wenn sie sich ausmalte, mit Alex das Ehegelübde abzulegen, sah sie sich irgendwo im Freien, umgeben von Blumen, möglicherweise sogar barfuß an einem Strand. Wenn es nach ihr ginge, sollte es etwas Besonderes sein und vor allem anders als bei ihrer ersten Hochzeit. Aber auch das war etwas, was sie wollte.
Sie war schon fast an der Tür zu ihrem Büro, als sie bemerkte, dass ihre Assistentin Grace Garcia ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen versuchte. »Erde an Laurie? Bist du da?«
Sie blinzelte, und damit war sie wieder in der Realität. »Tut mir leid, ich glaube, ich bin immer noch ganz hinüber von dem Spinning-Kurs, zu dem Charlotte mich geschleppt hat.«
Grace sah sie mit ihren großen dunklen Augen an. Die langen schwarzen Haare hatte sie zu einem strengen Bezaubernde-Jeannie-Knoten hochgesteckt, dazu trug sie ein Wickelkleid und kniehohe Stiefel – deren lediglich sieben Zentimeter hohe Absätze nach Graces Maßstäben als flache Treter durchgingen.
»Spinning ist gerade schwer angesagt«, erwiderte Grace. »Das ganze Getöse, und die Leute in ihren abgefahrenen Klamotten, als wären sie auf der Tour de France. Meine Liebe, du bist in einem Fitness-Studio auf der 5th Avenue.«
»Es war definitiv nichts für mich. Du hast mir was gesagt, als ich noch nicht ganz hier war?«
»Genau. In der Lobby warten Besucher auf dich. Sie saßen schon da, als ich am Morgen kam. Laut der Security sind sie vor acht eingetroffen und wollten auf jeden Fall bleiben, bis du kommst.«
Laurie freute sich über den Erfolg ihrer Sendung, auf so manche Begleiterscheinungen aber hätte sie gut und gern verzichten können. Dazu gehörten Fans, die kurz mal im Studio »vorbeischauen« wollten, um sich ein Selfie oder ein Autogramm abzuholen.
»Es sind auch wirklich keine Fans von Ryan?« So populär Alex beim Publikum auch gewesen war, die jüngere Generation fand ihren jetzigen Moderator Ryan Nichols schlicht »zum Niederknien«.
»Sie wollen zu dir, keine Frage. Du erinnerst dich noch an den Fall Martin Bell?«
»Natürlich.« Einige Monate zuvor hatte Laurie gedacht, der Fall würde sich perfekt für Unter Verdacht eignen – ein renommierter Arzt wurde in der Einfahrt zu seinem Haus erschossen, nur wenige Meter von seiner Frau und seinen Kindern entfernt, die sich im Haus aufhielten.
»Seine Eltern sind im Konferenzraum B. Sie behaupten, seine Frau sei die Mörderin, und sie wollen, dass du es beweist.«
Konferenzraum B«, wie Grace ihn bezeichnet hatte, trug mittlerweile offiziell den Namen »Bernard B. Holder Konferenzraum«. Studiochef Brett Young hatte ihn nach Holders Pensionierung im Jahr davor so getauft. Holder, noch länger im Studio beschäftigt als Brett selbst, hatte so unterschiedliche Kategorien wie Soaps, politische Enthüllungsstorys und ein Reality-TV-Format geleitet, das mit der Realität nicht mehr viel zu tun gehabt hatte.
Grace allerdings bezeichnete den Raum nach wie vor mit seinem alten Namen. Wie oft hatte Laurie Bernie für seine anzüglichen Witze, die oft auf Graces Kosten gegangen waren, zurechtweisen wollen, aber Grace hatte immer nur ein höfliches Lächeln für ihn übrig gehabt. »Ich werde noch lange nach ihm da sein«, hatte sie dann gesagt. Und genau so war es gekommen.
Laurie hörte schon die lauten Stimmen von drinnen, als sie sich der Tür näherte. Kurz hielt sie inne. Die Frau sprach davon, das Vergangene hinter sich zu lassen und zum Wohle der Kinder endlich Frieden zu finden. »Ich sehe es nicht gern, wenn der Name der Familie in den Schmutz gezogen wird.«
Ihr Mann war deutlicher zu verstehen. Er klang verbittert und wütend. »Es interessiert mich nicht die Bohne, was mit dem Namen der Familie geschieht. Sie hat unseren Sohn umgebracht.«
Ein paar Sekunden wartete Laurie noch, bevor sie den Raum betrat. Mrs. Bell richtete sich auf ihrem Stuhl auf, ihr Mann schien bereits gestanden zu haben.
Laurie stellte sich als die Produzentin von Unter Verdacht vor.
»Dr. Robert Bell.« Sein Händedruck war fest, aber kurz.
Die Hand der Frau war kaum zu spüren. »Nennen Sie mich Cynthia«, sagte sie leise.
Laurie sah, dass Grace bereits die Gastgeberin gespielt hatte. Beide hielten Pappbecher mit einer Kartonmanschette zum Schutz vor der heißen Flüssigkeit in der Hand.
»Meine Assistentin hat mir gesagt, Sie seien schon sehr früh hier gewesen.«
Dr. Bell sah sie mit eisigem Blick an. »Um ehrlich zu sein, Ms. Moran, wir haben angenommen, dass nur so ein Treffen mit Ihnen zustande kommt.«
Es war nicht zu übersehen, dass mindestens einer der beiden ihr gegenüber feindselig eingestellt war. Sie hatte keine Ahnung, aus welchem Grund. Sie wusste nur: Robert und Cynthia Bell hatten ihr einziges Kind durch Mord verloren, und das hieß, dass sie, Laurie, um jeden Preis freundlich zu ihnen sein wollte.
»Bitte nennen Sie mich Laurie. Und, Dr. Bell, nehmen Sie doch bitte Platz und machen Sie es sich bequem.« Sie deutete auf den leeren Stuhl gleich neben seiner Frau. Er sah sie argwöhnisch an, aber Laurie verstand es, andere so zu behandeln, damit sie sich entspannten. Sie spürte fast, wie sein Blutdruck sank, als er sich auf dem ledernen Konferenzstuhl niederließ. »Ich nehme an, Sie sind wegen Ihres Sohnes hier. Ich bin mit dem Fall vertraut.«
»Natürlich«, erwiderte Dr. Bell barsch, was ihm einen missbilligenden Blick seiner Frau eintrug. »Entschuldigen Sie. Ich gehe davon aus, dass Sie eine viel beschäftigte Frau sind. Aber ich hoffe, Sie kennen wenigstens den Namen meines Sohnes und die Umstände seines schrecklichen Todes. Immerhin haben wir Sie kontaktiert. Wir haben das Schreiben an Sie selbst verfasst, jedes Wort davon stammt von uns gemeinsam.« Er griff nach der Hand seiner Frau. »Es war nicht leicht, wissen Sie, erneut von dem fürchterlichen Abend zu erzählen. Wir haben unseren Sohn identifizieren müssen. So war das eigentlich nicht vorgesehen, dass wir die nächste Generation überleben.«
»Jahrelang haben wir keine Kinder bekommen«, sagte nun Cynthia. »Wir dachten schon, es würde nicht mehr passieren. Und dann, als ich schon vierzig war, wurde er geboren. Für uns grenzte es an ein Wunder.«
Laurie nickte, sagte aber nichts. Zuhören und Schweigen war oft das Beste, was sie für die Hinterbliebenen eines Mordopfers tun konnte, wie sie auch aus eigener leidvoller Erfahrung wusste.
Cynthia räusperte sich. »Wir möchten es einfach von Angesicht zu Angesicht hören: Warum wollen Sie uns nicht helfen, den Mörder unseres Sohnes zu finden? Sie haben so vielen anderen Familien geholfen. Warum ist unser Sohn Ihre Mühe nicht wert?«
Zu Lauries schwierigsten Aufgaben gehörte es, die Briefe, E-Mails, Facebook-Einträge und Tweets der Hinterbliebenen zu sichten. Es gab so viele ungelöste Mordfälle. Menschen verschwanden einfach. Ihre Freunde und Familienangehörigen schickten Laurie häufig ausführliche Chroniken zu den Fällen, dazu Geschichten zum Ermordeten. Fotos vom Schul- oder Universitätsabschluss, Babybilder, geschilderte Lebensträume, die nie mehr in Erfüllung gehen würden – manchmal kamen Laurie dabei die Tränen. Ihrer Ansicht nach schadete es den Familien eher, wenn sie sie kontaktierte und ihnen persönlich mitteilte, dass sie ihren Fall nicht übernehmen könne. Manchmal aber – wie jetzt – wollten die Familien es von ihr persönlich hören.
»Es tut mir sehr leid.« So oft Laurie Angehörigen die Nachricht schon überbracht hatte, es wurde nicht einfacher für sie. »Es geht nicht darum, dass das Fall Ihres Sohnes weniger wert wäre als andere. Ich weiß, er hatte kleine Kinder, er war ein hochangesehener Arzt. Wir können nur in einigen wenigen Fällen pro Jahr ermitteln. Daher müssen wir uns auf jene konzentrieren, von denen wir wirklich glauben, dass wir Fortschritte erzielen können, wo die Polizei bislang erfolglos geblieben ist.«
»Die ermittelnden Beamten waren erfolglos«, sagte Dr. Bell. »Noch nicht einmal einen Tatverdächtigen können sie vorweisen, von einer Verhaftung oder Verurteilung ganz zu schweigen. Aber wir müssen jetzt mit ansehen, wie Martins Mörderin seine Kinder großzieht.«
Er musste den Namen der Verdächtigen gar nicht erwähnen. Laurie wusste, dass er von seiner ehemaligen Schwiegertochter sprach. Sie hatte zwar nicht mehr alle Einzelheiten im Kopf, wusste aber, dass die Ehefrau in der Beziehung unglücklich gewesen war und anscheinend zu nicht geklärten Zwecken Geld abgehoben hatte.
»Das ist eigentlich das Schlimmste«, sagte Cynthia. »Schlimm genug, mit dem Wissen leben zu müssen, dass Kendra unseren Sohn umgebracht hat und ungeschoren davongekommen ist. Aber Großeltern haben kein festgeschriebenes Recht, ihre Enkelkinder sehen zu dürfen. Wussten Sie das? Wir haben Anwälte damit betraut. Solange sie nicht von einem Gericht für schuldig an Martins Tod befunden wird, hat sie das uneingeschränkte Sorgerecht über die Kinder. Das heißt, wir müssen nett zu dieser Frau sein, damit wir Bobby und Mindy nicht verlieren. Es macht einen ganz krank.«
»Es tut mir leid«, wiederholte Laurie. »Es ist immer eine schwierige Entscheidung für uns.«
Durch die viele Post, die im Sender landete, hatte Laurie erfahren, dass es Abertausende von ungelösten Mordfällen im Land gab. Rätsel warteten darauf, gelöst zu werden. Aber in vielen dieser Fälle gab es keinerlei Spuren, die man hätte verfolgen, keine losen Fäden, die man hätte zusammenführen können. Nichts, wo man hätte weitergraben können. Wenn Laurie ihre Arbeit machen wollte, brauchte sie Indizien, Hinweise, denen nachzugehen sich lohnte. Sie hatte den Mordfall Martin Bell ursprünglich in die engere Auswahl genommen, weil er vielversprechend klang. Und er hatte den Vorteil, dass sie in New York bleiben konnte. Solange Timmy noch zur Schule ging, wollte sie so wenig wie möglich reisen.
Leider stellte sich heraus, dass der Fall doch nicht so gut geeignet war. Unter Verdacht brauchte einen Verdächtigen oder mehrere Verdächtige, die bereit waren, vor laufender Kamera ihre Unschuld zu beteuern. Hier gab es keine Polizei, keine Strafverteidiger, keine Rechtsbelehrung, nur schonungslose Fragen. Nicht jeder Tatverdächtige war bereit, sich dem auszusetzen.
»Wie der Titel der Sendung schon sagt«, führte Laurie weiter aus, »sind wir auf die Mitarbeit derjenigen angewiesen, die nach der Tat jahrelang im Schatten des Verdachts gelebt haben.«
»Welche anderen Verdächtigen gibt es denn noch?«, fragte Dr. Bell.
»Dieser Frage gehen wir nach, wenn wir glauben, mit der Produktion beginnen zu können.«
»Aber Sie haben doch soeben zu verstehen gegeben, dass Sie aus diesem Grund den Fall unseres Sohnes nicht annehmen können. Sie brauchen die Kooperation der Verdächtigen, wenn man so will.«
»Ja.«
»Also, wer sind die anderen Verdächtigen? Vielleicht können wir sie ja dazu bewegen, an der Sendung mitzuwirken.«
»So weit sind wir leider nie gekommen.« Laurie hatte das Gefühl, als drehte sich die Unterhaltung im Kreis. Von Anfang an, nach dem Brief der Bells und der kursorischen Durchsicht der Presseberichterstattung, war Laurie klar gewesen, dass erneute Ermittlungen im Mordfall Martin Bell die Mitarbeit seiner Witwe Kendra erforderlich machten. Wäre sie zur Teilnahme bereit, hätte Laurie zusammen mit ihr, der Polizei und anderen Zeugen daran arbeiten können, andere potenzielle Tatverdächtige ausfindig zu machen und sich deren Mitwirkung zu sichern. Aber nachdem Kendra Bell unmissverständlich deutlich gemacht hatte, auf keinen Fall in Unter Verdacht auftreten zu wollen, hatte sich Laurie einem anderen Fall zugewandt. Jetzt verstand sie nicht, warum die Bells deshalb so verwundert waren.
»Kendra war unsere einzige und alleinige Verdächtige«, sagte Dr. Bell. »Die Polizei hat sie zwar offiziell nie der Tat verdächtigt, uns aber sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ganz oben auf ihrer Liste stand. Was brauchen Sie denn noch?«
Plötzlich ging Laurie ein Licht auf. Mit einem Mal glaubte sie den Grund für diese Verwirrung zu kennen.
»Sie meinen also, Kendra wäre nach wie vor bereit, an der Sendung teilzunehmen?«, fragte Laurie auf gut Glück.
»Absolut!«, kam es prompt von Cynthia Bell. In ihren Augen flackerte Hoffnung auf. »Sie war sehr aufgebracht, dass Sie sich monatelang Zeit gelassen haben, um eine Entscheidung zu treffen, und dann abgelehnt haben. Ach, bitte, sagen Sie uns, dass Sie es sich noch einmal überlegen wollen.«
Laurie lächelte höflich. »Ich kann nichts versprechen. Aber ich werde noch einmal einen Blick auf den Fall werfen, nur um sicherzugehen, dass ich auch nichts übersehen habe.«
Laurie hatte sich nicht mehrere Monate Zeit mit ihrer Entscheidung gelassen, und sicherlich hatte nicht sie den Fall abgelehnt. Kendra Bell hatte Robert und Cynthia Bell angelogen, und Laurie war jetzt entschlossen, den Grund dafür herauszufinden.
Nachdem Laurie die Bells zum Aufzug begleitet hatte, kehrte sie in ihr Büro zurück. Sie konnte es kaum erwarten, die Einzelheiten zum Mordfall Martin Bell durchzugehen. Sie erinnerte sich, wie aufgeregt sie damals gewesen war, als sie im Wust der liegen gebliebenen Fanpost auf den Brief seiner Eltern gestoßen war. Der Fall schien wie gemacht für ihre Sendung. Martin Bell galt nach allem, was man hörte, als liebevoller Vater und brillanter Arzt und stammte aus einer bekannten New Yorker Familie. Sein Vater war früher Leiter der Chirurgie am Mount Sinai gewesen und sein Großvater Generalbundesanwalt des Staates New York. Der Name Bell fand sich an mehr als nur einer Handvoll Gebäude im Bundesstaat.
Und dann wurde Martin, der geliebte Sohn, vor seinem wunderschönen Haus im Greenwich Village erschossen.
Ein hervorragender junger Arzt – und Vater –, aus dem Nichts heraus in Downtown Manhattan ermordet. Natürlich hatte sie damals an Greg denken müssen. Wie hätte es anders sein können?
Die Ähnlichkeiten zu Gregs Fall aber endeten hier bereits. Lauries Sohn Timmy war Zeuge am Mord seines Vaters geworden. Der damals Dreijährige hatte so seine Version einer Täterbeschreibung liefern können, die vor allem auf den Augen des Mörders beruhte: »Der Mann mit den blauen Augen hat meinen Daddy erschossen … der Mann mit den blauen Augen hat es getan!« Martin Bells Kinder hingegen hatten sich zur Tatzeit mit der Kinderfrau im Haus aufgehalten, niemand hatte den Mord in der Einfahrt gesehen.
Und im Unterschied zu Kendra Bell war Laurie auch niemals als Tatverdächtige eingestuft worden. Klar, man hatte ihr in den fünf Jahren, in denen der Mord an Greg unaufgeklärt blieb, gelegentlich argwöhnische Blicke zugeworfen. Für manche war in solchen Fällen automatisch der Ehepartner schuldig. Aber Lauries Vater war zu jener Zeit noch als stellvertretender Polizeichef im NYPD tätig, kein Polizist hätte es gewagt, ihr gegenüber auch nur die Andeutung eines Verdachts laut auszusprechen, solange es keine stichhaltigen Beweise dafür gab.
Kendra jedoch war von der New Yorker Boulevardpresse regelrecht durch den Fleischwolf gedreht worden. Schon vor seiner Ermordung war Martin Bell so etwas wie eine Berühmtheit gewesen. Er galt als aufstrebender Star an der neurologischen Abteilung der New Yorker Universität, bevor er seine eigene Praxis eröffnete, mit der er sich auf die Schmerztherapie spezialisierte. Er war Autor eines Bestsellers über Schmerzreduzierung mittels Homöopathie, Stressvermeidung und physikalischer Therapie und betrachtete die Verschreibung von Medikamenten sowie chirurgische Eingriffe nur als allerletztes Mittel. Greg, erinnerte sich Laurie, hatte einmal gesagt, er hätte sehr viel weniger Patienten in der Notaufnahme, wenn sich mehr Ärzte an Dr. Bells Ratschläge halten würden. Je berühmter Bell wurde, desto häufiger wurde er als Wundertäter angesehen.
Das Bild, das in der Öffentlichkeit von ihm kursierte, hätte allerdings in keinem größeren Gegensatz zu dem seiner Ehefrau stehen können. Fotos wurden veröffentlicht, auf denen Kendra einen verwirrten, fast verwahrlosten Eindruck machte. Es stellte sich heraus, dass sie Stammgast in einer Kellerbar im East Village war und große Summen vom gemeinsamen Konto der Eheleute abgehoben hatte. Nach manchen Berichten soll sie zum Zeitpunkt des Mordes dermaßen weggetreten gewesen sein, dass die Kinderfrau sie nicht wachgekriegt hatte.
Schlagzeilen bezeichneten sie als »Schwarze Witwe« oder als »Junkie-Mom«, weil sie angeblich ein heftiges Drogenproblem hatte.
Nach ersten Online-Recherchen hatte Laurie Kendra in der Hoffnung kontaktiert, sie würde es begrüßen, dass ein großer TV-Sender ihr die Möglichkeit bot, der Öffentlichkeit ihre Version der Geschichte zu präsentieren. Laurie gefiel der Gedanke, ihre Sendung könnte den Angehörigen und Freunden des Mordopfers helfen, die Tragödie endlich hinter sich zu lassen. Sie half jedenfalls denen, deren Leben in der Schwebe hing, die zwar niemals verhaftet oder eines Verbrechens angeklagt wurden, aber den argwöhnischen Blicken nicht entkamen. Und würden Kendras Kinder, wenn sie älter wurden, nicht erfahren wollen, wer ihren Vater umgebracht hatte? Sollten die Kinder denn nicht mit absoluter Sicherheit wissen, dass ihre Mutter keine Schuld traf? Laurie jedenfalls wusste noch sehr genau, wie verzweifelt sie sich in Gregs Mordfall nach Antworten gesehnt hatte.
Als aber Laurie vier Monate zuvor Kendra zu Hause besucht hatte, damit sie die Teilnahmeerklärung unterzeichnete, hatte die Witwe zu verstehen gegeben, dass sie kein Interesse daran habe. Sie hatte sämtliche Gründe vorgebracht, die Laurie in solchen Fällen immer zu hören bekam: Sie wolle die Polizei nicht gegen sich aufbringen, weil eine Fernsehsendung bei ihren Recherchen womöglich weiterkäme als die Ermittlungsbehörden. Sie habe endlich Arbeit gefunden und sich ein neues Leben ohne Martin aufgebaut und fürchte nun, dass ihr aufgrund der erneuten Aufmerksamkeit nur abermals der Zorn der Öffentlichkeit entgegenschlage. Vor allem aber seien ihre Kinder mittlerweile alt genug, um mitzubekommen, dass ihre Mutter im Fernsehen auftrete. »Ich will nicht, dass sie das alles durchmachen müssen, solange Sie mir nicht absolut garantieren können, dass Sie den Mörder meines Mannes finden.«
Dieses Versprechen konnte ihr Laurie natürlich nicht geben.
Das alles klang äußerst vernünftig.
Jetzt aber war Laurie im Besitz neuer Informationen.
Sie fand Grace in Jerry Kleins Büro, das gleich neben dem ihren lag. Manchmal vergaß Laurie glatt, dass Jerry in seiner Anfangszeit im Studio ein schüchterner, etwas linkischer Praktikant gewesen war. Mittlerweile war er Lauries Produktionsassistent, und sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie ohne ihn zurechtkommen sollte.
»Grace hat mir gerade erzählt, dass Martin Bells Eltern heute Morgen hier aufgetaucht sind«, sagte Jerry.
Laurie war anscheinend nicht die Einzige, die sich noch an den Fall erinnerte.
»Wir hatten ein überaus interessantes Gespräch«, erzählte Laurie. »Sie scheinen zu glauben, dass Kendra es gar nicht erwarten kann, in der Sendung aufzutreten. Anscheinend hat sie ihnen gegenüber gesagt, dass ich diejenige sei, die den Fall abgelehnt hat.«
Jerry und Grace, wie immer Lauries eifrigste Fürsprecher, bestätigten sofort, wie begeistert sie sich damals gezeigt hatte.
»Warum sollte Kendra Bell also diesbezüglich lügen?«, fragte Jerry.
»Genau das möchte ich herausfinden.«
Erst jetzt bemerkte Laurie, dass der Moderator der Sendung, Ryan Nichols, an Jerrys Tür lehnte. Er platzte gern unangekündigt in ihre Treffen und hatte überhaupt eine Art, die Laurie hin und wieder ziemlich auf die Nerven ging.
»Was wollen wir herausfinden?«, fragte er jetzt.
Laurie musste sich immer wieder seine Qualifikationen ins Gedächtnis rufen, die durchaus für sich sprachen: Magna-cum-laude-Abschluss an der juristischen Fakultät in Harvard, danach Anstellung am Obersten Gerichtshof, schließlich eine angesehene Stelle als Bundesstaatsanwalt. Zu Lauries Bedauern hatte er dann aber beschlossen, dass ihn seine unzweifelhafte juristische Begabung auch für eine Fernsehkarriere befähige, obwohl er auf diesem Gebiet keinerlei Erfahrung vorweisen konnte. Laurie hingegen hatte dagegen eine Ausbildung als Journalistin durchlaufen und sich anschließend zur Produzentin hochgearbeitet.
Ryan hatte lediglich ein paar Auftritte als Nachrichtensprecher, bevor er seine Vollzeitstelle für ihren Sender antrat. Neben seiner Arbeit als Moderator für Unter Verdacht fungierte er als Rechtsbeistand für andere Sendungen und hatte auch die eine oder andere Idee für ein eigenes Format, wobei ihm ein gutes Aussehen in der Fernsehbranche sicherlich zugute kam. Er hatte blonde Haare, große grüne Augen und ein umwerfendes Lächeln – und natürlich gehörte zu seinen Ideen ausnahmslos, dass er vor der Kamera stand. Richtig störte sich Laurie aber an Ryans Unwillen, wahrhaben zu wollen, dass sein großer Karriereschub hauptsächlich der engen Freundschaft zwischen seinem Onkel und Lauries Chef Brett Young geschuldet war. Brett war im Allgemeinen nur schwer zufriedenzustellen, in seinen Augen wurde aber alles, was Ryan anfasste, zu Gold. Trotz Ryans offizieller Funktion als »Moderator« verlangte Brett von Laurie, dass sie Ryan in alle Abläufe der Produktion mit einband.
»Wir haben gerade über den Martin-Bell-Fall gesprochen«, sagte Laurie. »Der Arzt, der in seiner Einfahrt im Greenwich Village erschossen wurde.«
Laurie hatte Ryan nicht mit einbezogen, als sie im vergangenen Herbst erste Recherchen dazu angestellt hatte.
»Ach, ja. Es war doch wohl die Ehefrau, oder? Der Fall wäre perfekt für uns.«
Er sagte das in einem Ton, als wäre er der Erste gewesen, als wäre vor ihm noch keiner auf die Idee gekommen.
Grace und Jerry tauschten einen genervten Blick aus. Ihr Ärger auf Ryan war mit der Zeit nicht weniger geworden, während Laurie Ryans Rolle allmählich für sich akzeptieren konnte – so unverhältnismäßig groß sie auch sein mochte.
»Ich hatte mit Kendra – das ist die Ehefrau – um Thanksgiving herum einige Gespräche, aber sie wollte nichts von der Sendung wissen.«
»Weil sie schuldig ist«, entgegnete Ryan selbstgefällig.
Am liebsten hätte Laurie ihn gefragt, wie oft er sich erst irren musste, bevor er einmal unvoreingenommen an einen ihrer Fälle herangehen würde. »Na ja, zu der Zeit schien es ihr vor allem wichtig gewesen zu sein, die Privatsphäre ihrer Kinder zu schützen. Jetzt aber habe ich den Eindruck, dass sie ihren Schwiegereltern etwas anderes erzählt hat.« Sie fasste ihr Gespräch mit den Bells kurz zusammen. »Ich habe vor, sie heute, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt, zu überraschen. Möchtest du vielleicht mitkommen? Du kannst dann ja den guten Bullen spielen.«
»Um wie viel Uhr?«
»Um fünf, spätestens. Wir dürfen nicht zu spät kommen.« Alex’ Amtseinführung als Bundesrichter war auf 18.30 Uhr angesetzt, und Laurie würde um nichts in der Welt auch nur eine Minute davon verpassen wollen.
»Klingt gut«, erwiderte er. »Ich lese mich in den Fall noch ein.«
Nachdem Ryan fort war, sahen Jerry und Grace zu Laurie, als hätten sie gerade miterleben dürfen, wie die Capulets und Montagues ewigen Frieden schlossen.
»Was?«, fragte Laurie mit einem Schulterzucken. »Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, hat mich Kendra bei unserem letzten Treffen angelogen. Es kann also nicht schaden, wenn ich einen ehemaligen Staatsanwalt dabei habe.«
Als Laurie in ihr Büro zurückkehrte, wurde ihr mal wieder bewusst, dass sie Ryan nur eines vorwerfen konnte: dass er nicht Alex Buckley war, Ryans Vorgänger als Moderator der Sendung. Aber jetzt waren sie und Alex verlobt, er fehlte ihr nicht mehr bei der Arbeit. Jetzt würde sie immer mit ihm zusammen sein. Da sollte sie Ryans Unzulänglichkeiten locker ertragen.
Caroline ermahnte Bobby, dass die fünf Minuten, die sie ihm für sein Videospiel gegeben hatte, längst abgelaufen seien. Er vollführte noch einige letzte Bewegungen in seinem Kart-Racing-Game, bevor er ihrer Aufforderung nachkam.
Er reichte ihr das Tablet und gesellte sich zu seiner Schwester, die auf dem Sofa saß und mit einem Puzzle beschäftigt war, das sie bereits Dutzende Male zusammengesetzt hatte. Die beiden Geschwister waren immer schon sehr unterschiedlich gewesen. Bereits als Kleinkind schien Mindy in ihrer eigenen Welt zu versinken, während ihr Bruder Bobby immer unterhalten werden wollte.
Als sie am Fenster vorbeikam, bemerkte sie eine Handvoll Touristen, die sich auf den Bürgersteig drängten und die leere Einfahrt in Augenschein nahmen. Ihr Führer war ein schlaksiger Typ, der seine langen Haare zu einem kleinen Dutt gebunden hatte. Wie immer trug er schwarze weite Kleidung und leuchtend orangefarbene Tennisschuhe. Seit nunmehr fast vier Monaten kam er zweimal in der Woche vorbei. Er nannte seine Exkursionen die »Big Apple Verbrechertour«.
Caroline hatte einmal mit ihm zu reden versucht und ihn daran erinnert, dass im Haus ein siebenjähriges Mädchen und ein neunjähriger Junge lebten. Der Ort gehöre nicht auf eine Liste berüchtigter Tatorte – anders als diverse Mafia-Kneipen oder die Stelle, wo eine Frau nach dem Sprung aus dem Empire State Building zu Tode gekommen war, oder das Hotel, wo ein Punk-Rock-Star seine Freundin ermordet hatte.
Aber der Führer hatte die Touristen damals lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass Caroline die Kinderfrau war, die nach Martin Bells Ermordung die Polizei gerufen hatte. Sofort war sie um Autogramme und Selfies gebeten worden.
Wenn jetzt wieder die Touristen auftauchten, zog Caroline einfach die Vorhänge zu. Einziger Trost war, dass seine Gruppen ständig kleiner zu werden schienen. Einmal hatte sie sogar auf einer beliebten Touristen-Website eine vernichtende Kritik gepostet.
Wenn, dann bin ich den Kindern gegenüber loyal, dachte sie mit Blick auf Bobby und Mindy, die das Puzzle zerlegten, um wieder von vorn beginnen zu können.
Sie schälte gerade einen Apfel, den es zusammen mit Käse als Nachmittagssnack geben sollte, als das Telefon klingelte.
Sofort war sie alarmiert, als sich die Anruferin vorstellte. Caroline hatte immer gewusst, dass sie von Laurie Moran nicht zum letzten Mal gehört hatte.
»Spreche ich mit Kendra Bell?«, fragte die Produzentin.
»Nein. Mrs. Bell ist in der Arbeit.«
»Verstehe. Sie sind nicht zufällig Caroline Radcliffe?«
»Doch.«
»Vielleicht erinnern Sie sich noch, wir haben uns vor einigen Monaten kurz gesehen. Ich habe mich mit Kendra Bell getroffen.«
Wie konnte ich das vergessen?, dachte Caroline. Mit klopfendem Herzen hatte sie oben an der Treppe gelauscht, obwohl sie Bobby und Mindy bei ihren Hausaufgaben hätte beaufsichtigen sollen.
Mach es nicht, mach es nicht, hatte sie im Stillen gefleht und dabei die Finger gekreuzt, als könnte sie Kendra im Wohnzimmer telepathisch ihre Botschaft übermitteln. Und wie erleichtert war sie, als Kendra dann alle möglichen Gründe aufführte, die gegen eine Teilnahme sprachen.
»Natürlich erinnere ich mich. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Caroline.
»Ich glaube nicht. Wissen Sie, wie ich sie erreichen kann?«
»Mrs. Bell will während der Arbeit nicht gestört werden. Selbst ich rufe sie nur in Notfällen an.«
»Um wie viel Uhr erwarten Sie sie heute Abend zurück?«
»Sie arbeitet normalerweise bis fünf. Aber dann will sie mit den Kindern zu Abend essen und mit ihnen noch Zeit verbringen, bevor sie ins Bett müssen. Sie ist sehr beschäftigt. Sagen Sie mir doch, worum es geht, vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.«
»Nein. Es ist wichtig, dass ich mit Mrs. Bell persönlich spreche.«
Kommt die Sendung endlich zustande? Warum brauchen sie so lange, bis sie eine Entscheidung treffen?
Und jetzt rief die Produzentin erneut an. Das war nicht gut.
»Ich kann mir Ihre Nummer notieren und Mrs. Bell ausrichten, dass Sie angerufen haben«, bot Caroline an.
Nachdem sie aufgelegt hatte, sah sie aus dem Fenster. Die Touristen waren verschwunden. Dennoch ließ sie die Vorhänge geschlossen, voller Angst, dass sie die Außenwelt nicht davon abhalten konnte, unwiderruflich in dieses Haus einzudringen.
Kendra war damals in einem so üblen Zustand. Bitte, Gott, sag mir, dass sie es nicht war.