Roman
Gedruckt mit Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien,
MA 7 / Literaturförderung
Wurmdobler, Christopher: Reset / Christopher Wurmdobler
Wien: Czernin Verlag 2019
ISBN: 978-3-7076-0669-0
© 2019 Czernin Verlags GmbH, Wien
Lektorat: Alice Huth
Satz, Umschlaggestaltung: Mirjam Riepl
Autorenfoto: Gregor Hofbauer
Druck: Finidr
ISBN Print: 978-3-7076-0669-0
ISBN E-Book: 978-3-7076-0670-6
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien
This used to be the future
where it was at back then
Let’s tear the whole bloody lot down
and start all over again
NEIL TENNANT
I feel like taking all my clothes off
dancing to The Rite of Spring
and I wouldn’t normally do this kind of thing
PET SHOP BOYS
Stop
Fast forward
Rewind
Record
Pause
Play
Fast hätte Karmen es verkackt. Verzweifelt irrte sie in den Katakomben des Kongresszentrums umher, auf der Suche nach einem Klo. Der Techniker, den sie fragte, schickte sie muffig mit einer Geste wieder nach oben, wo unzählige, sicherlich schlecht bezahlte Leute das Catering vorbereiteten. Eine junge Frau, die Weingläser polierte, zuckte bloß mit den Achseln, als Karmen sich nach den Waschräumen erkundigte. Vielleicht hatte sie sich auch unverständlich ausgedrückt. Oder die Frau hatte einfach Besseres zu tun. Karmen eilte durch das Labyrinth aus Getränkekisten und Transportwagen mit Geschirr, vorbei an einer temporär aufgebauten Großküche, in der es entsetzlich heiß war und nach Essen stank. Schließlich öffnete sie eine Notausgangstür, trat ins Freie und fand sich in einem schäbigen Hinterhof wieder. Eben noch mitten in hektischem Treiben, aufgeregtem Gewusel, war sie plötzlich ganz alleine. Abgesehen vom monotonen Brummen einer Lüftungsanlage war es still. Karmen legte den Stapel Moderationskarten, den sie bei sich hatte, auf den Betonboden, raffte ihr bodenlanges hellbeiges Escada-Kleid, hockte sich zwischen zwei Abfallcontainer und verrichtete ihre Notdurft.
Sie war schließlich Profi. Noch nie, niemals in all den Jahrzehnten, in denen sie den Job nun schon machte, hatte sie ein Fernsehstudio oder eine Bühne betreten, ohne vorher nicht noch mal »für kleine Mädchen« gewesen zu sein. Sie sagte tatsächlich »für kleine Mädchen«, womöglich hatte sie der Techniker vorhin deshalb ignoriert. Für kleine Mädchen! Sie war Anfang fünfzig, sah auch so aus, hätte sie »Scheißhaus« gesagt, hätte ihr der Typ backstage vielleicht geholfen. Karmen, ledig, Anfang fünfzig, keine Kinder, bis vor Kurzem noch großer Medienstar, viele Auszeichnungen, Bambis, Romys, Grimmepreis, sagte »für kleine Mädchen«, ohne jede Spur von Ironie im Ton. Schließlich wollte sie ihr mühsam aufgebautes Image wahren – das der Sauberfrau: Frau Neunmalklug, die kritische Fragen stellte, Ratgeberbücher schrieb und ganz nebenbei auch noch die Welt rettete. Die Werbung für Mineralwasser und Wellnessprodukte machte und die von der Welt geliebt wurde. Geliebt werden wollte. Alles nur Fassade.
Karmen blickte nach oben. Der Hof gab ein bisschen rosa Abendhimmel frei. Als sie fertig war, musste sie sich an dem stinkenden Container festhalten, um aus der Hocke zu kommen. Sie richtete ihr Kleid und überprüfte, ob es trocken geblieben war. Okay, auch ihre beigen Stoffpumps hatten nichts abbekommen. Dann ging sie zurück zur Tür, um festzustellen, dass diese verschlossen war. Es gab keine Klinke, keinen Knauf. Es gab kein Fenster zum Hof, um sie herum nur schwarze Ziegelwände und diese Tür und über ihr der Himmel.
Sie sah auf die Breitling an ihrem Handgelenk. Die sündteure, ein bisschen prollige Männer-Pilotenuhr stand im Kontrast zu ihrer sonst sehr eleganten Erscheinung. Kurz vor halb acht. In wenigen Minuten sollte sie auf der Bühne stehen, diese Gala mit irgendwelchen Wirtschaftsleuten moderieren, fünfhundert geladene Gäste, alle irre wichtig, und hinterher Champagnerempfang und Catering vom Feinsten. Easy Angelegenheit für eine wie sie, mit Jobs wie diesem verdiente sie mittlerweile hauptsächlich ihr Geld. Viel Geld, keine Frage. Gestern bei der Probe hatten die Verantwortlichen ihr gratuliert; Statisten, die die Wirtschaftsleute von heute Abend gespielt hatten, sie ehrfürchtig bestaunt: Die Frau aus dem Fernsehen, die Frau, die jahrelang Polit-Talkshows am Sonntagabend gehostet hatte, ganz nah. Und jetzt stand sie vor einer verschlossenen Tür in einem Hinterhof mit Abfallcontainern.
»Hallo! Bitte machen Sie auf«, rief sie zögerlich und klopfte dabei gegen die graue Metalltür. Ihr Smartphone befand sich natürlich in ihrer Handtasche, und die wiederum hatte sie in der Garderobe abgegeben – was hätte sie beim Moderieren auch damit tun sollen. Niemand moderierte mit der Handtasche überm Arm eine Gala. Auch mit keiner gelben Jasmin von Louis Vuitton, ein Geschenk ihres Ex, dem Depp. Karmen ärgerte sich über sich selbst. Erneut rief sie um Hilfe, trat gleichzeitig mit einem Fuß gegen diese verfickte Metalltür und wurde gleich noch wütender, als sie bemerkte, dass mit dem Tritt die beige Spitze ihres Schuhs einen dunklen Streifen bekommen hatte.
Noch vier Minuten bis zu ihrem Auftritt. Sie wollte hier raus. Beziehungsweise da hinein. Nein, sie musste. Wie blöd trommelte sie jetzt mit den Fäusten gegen das Metall, fast klang es wie Donnergrollen. Schließlich fiel ihr die Tür entgegen und drückte sie so an die Wand, dass sie fast keine Luft mehr bekommen hätte. Ein junger Mann mit Kopfhörern betrat singend den Innenhof, einen prallvollen schwarzen Müllsack über der Schulter, den er, ohne sie zu bemerken, in einen der Container warf. Karmen nutzte die Gelegenheit, um ins Gebäude zu huschen. Sie zog die Schuhe aus, damit sie schneller laufen konnte, und hoffte, sich auf dem Weg zur Bühne nicht zu verirren. Noch viel mehr hoffte sie aber, dass sie keiner bemerken würde.
Gerade noch rechtzeitig kam Karmen hinter der großen Videowall an, von wo aus sie die Bühne betreten würde. Sie streifte sich die Schuhe über die Füße, ein Tontechniker klemmte ihr das Headset an den Ohren fest, gab ihr den Sender, den sie routiniert hinten in ihrer Unterhose verstaute, und prüfte, ob das Mikro gut saß. Äußerlich die Ruhe in Person, spürte sie ihr Herz klopfen. Wie vor jedem ihrer Auftritte und früher vor jeder Ausgabe ihrer »Sonntalknacht« ging sie in Gedanken noch einmal durch, was sie in den nächsten Stunden alles sagen müsste, wen sie begrüßen, ausfragen, grillen würde. Wobei: gegrillt hatte sie schon lange keines ihrer Gegenüber mehr. Ihre Fragen waren mittlerweile harmlos und weichgespült, aber dafür bezahlte man sie. Aus der Knallharten von einst war die Freundliche geworden; zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.
Vorsichtig tupfte ihr die Maskenbildnerin mit einem Kleenextuch den Schweiß von der Stirn, verteilte mit dem Pinsel noch ein wenig Mattpuder in ihrem Gesicht und richtete ihre blonden kurzen Haare mit einem Kamm. Dazu musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, Karmen war eine sehr große Frau, die keine Lust hatte, für diese Schminkschnepfe in die Knie zu gehen.
Während so an ihr herumgezupft wurde, warf Karmen einen kurzen Blick vorbei an den Kulissen in den Zuschauerraum, der gut gefüllt war mit elegant gekleideten Menschen, die gespannt Richtung Bühne schauten. Der Regisseur im Technikraum am anderen Ende des Saales gab ihr durch die Scheibe ein Zeichen und die Signation startete – irgendeine Random-Fanfare mit Streichern und Posaunen, die genauso gut eine Nachrichtensendung hätte einleiten können. Karmen atmete ein, atmete aus, hörte die extra sonore Männerstimme in der Signation: »… begrüßen Sie Ihre Gastgeberin …« Wo waren ihre Moderationskarten? Sie sah zur Inspizientin, auf deren Tisch nur ein Ablaufplan lag. »… mit einem großen Applaus …« Wo hatte sie den Stapel mit den verdammten Karten zuletzt gehabt? »… und hier ist sie, die wunderbare …« Die Inspizientin schaute sie auffordernd an. Die junge hübsche Schauspielerin, die als ihre Assistentin später irgendwelche Urkunden und Preistrophäen auf die Bühne bringen würde, lächelte falsch. »Karmen Sonntag!«
Karmen hörte den Applaus und überlegte, wie weit sie heute Abend ohne ihre Spickzettel mit Stichworten, Namen und Fakten kommen würde. »Wo bleibt die blöde Kuh«, quäkte die Stimme des Regisseurs aus dem Kopfhörer der Inspizientin. Die zeigte ihr den Daumen nach oben, machte ein aufmunterndes Gesicht und schob sie vor die Videowand, auf der für den Bruchteil einer Sekunde in Großaufnahme ihr irritiertes Gesicht zu sehen war, und ganz klein stand sie davor. Okay, dachte Karmen, dann mache ich das halt ohne. Vielleicht könnte sie in einer Pause ihre Show-Assistentin in den Hof mit den Müllcontainern schicken, wo sie den Kartenstapel abgelegt hatte, als sie für kleine Mädchen war. Schnell fand sie ihr Fernsehgesicht wieder, die gespielte Neugier im Blick, das Gütige, Verständnisvolle. Sie lächelte ihr charmantes Markenzeichenlächeln und die Gala begann.
Es war Arbeit. Und ganz aus dem Gedächtnis, ohne die blöden Kärtchen, war es noch eine Spur mehr Arbeit. Aber Karmen moderierte sich professionell durch die Show, begrüßte irgendwelche CEOs, Würdenträger, Sponsoren und Politikerinnen. Geprobt war geprobt. Tatsächlich hatte sie sich alle Namen gemerkt, gewusst, welches Wirtschaftsmagazin, welches Unternehmen und auch was das Unternehmen genau produzierte. Sie kannte den Namen der Band, die zwischendurch fürchterlich anstrengendes Elektrogeknarze auf die Bühne brachte, und wusste auch, woher die Expertinnen und Experten kamen, die für ihre Forschungsarbeiten ausgezeichnet wurden. Bei kleinen Unsicherheiten zum Ablauf des Abends fragte sie ihre »reizende Assistentin« hinter der Videowand. Die hatte sich zwar geweigert, in der Pause die Moderationskarten zu holen, war aber sonst hoch motiviert und bewunderte sie sogar ein bisschen. Jedenfalls hatte Karmen den Eindruck.
Fast zwei Stunden dauerte die Gala und Karmen kämpfte tapfer. Niemand schien zu bemerken, wenn sie schwamm. Ausgerechnet beim Finale, als alle Mitwirkenden des Abends noch einmal vor die Videowand geholt wurden, sprach sie den Namen des Hauptverantwortlichen der Veranstaltung so aus, dass es wie »Doktor Arsch« klang, was für verhaltene Heiterkeit im Zuschauerraum sorgte. Mit aufgerissenen Augen sah »Doktor Arsch« sie an, als er ihr einen Blumenstrauß überreichte, und Karmen lächelte ihren Versprecher einfach mit ihrem Markenzeichenlächeln weg. Sie bedankte sich noch mal bei allen Beteiligten und wünschte – ebenfalls seit der Sonntags-Talkshow-Zeit ihr Markenzeichen – eine gute Nacht.
Zumindest für Karmen war es ein gelungener Abend.
»Schlafen Sie gut?«, brüllte der Regisseur aufgebracht, der gleich nach dem Finale hinter der Bühne aufgetaucht war. »Ist das dein Ernst, Karmen? Wieso um alles in der Welt hast du am Ende der Show ›Schlafen Sie gut‹ gesagt? Das stand nicht im Drehbuch. Die Leute sollen sich jetzt amüsieren und feiern und du schickst sie ins Bett!« Etwas verloren und auch erschöpft lehnte sich Karmen an eine schwarz gestrichene Wand. Ihr Körper war voll mit Adrenalin, vibrierte wie nach jeder Show, nach jeder Sendung. Würde sie jetzt jemand umarmen, könnte er ihre Anspannung förmlich spüren. Aber es umarmte sie niemand. Sie hatte sich das Headset vom Kopf gerissen und war gerade dabei, sich den kleinen Sender aus dem Slip zu fischen. Was sollte das denn jetzt? Statt sie zu loben, wie sie das Ding zwei Stunden lang ohne Kärtchen frei von der Leber weg moderiert hatte, gab es auch noch einen Anschiss. Das würde sie sich nicht bieten lassen, dafür war sie zu lange im Geschäft. Sie hatte eine grundfade Wirtschaftsgala mit Charme und Intelligenz zum unterhaltsamen Event gemacht, bei dem keiner im Publikum weggepennt war. So sah es aus.
Sie warf dem Regisseur-Idioten den Blumenstrauß vor die Füße, der ihr kurz zuvor von »Doktor Arsch« überreicht worden war. Pinke, stinkende Lilienblüten zerfielen auf dem schwarzen Boden. »Im Drehbuch stand auch nicht, dass mir am Ende jemand Blumen in die Hand drückt«, zischte sie. Jeder in der Branche kannte ihre Abneigung gegen Schnittblumen. Schnittblumen waren für sie tote Blumen. Sie hatte es in Interviews oft genug, aber meist nur nebenbei erwähnt und war deshalb oft genug als leicht überspannte Tussi hingestellt worden, die ein Problem mit Blumensträußen hatte. Aber, ja, sie hasste Schnittblumen, wie sie Natur im Allgemeinen unausstehlich fand. Ihr Geruch brachte sie fast um, allein der Gedanke an schlaffe Blüten, Blätter und Stängel machte sie mürbe. Genauso gut hätte man ihr, der bekennenden Vegetarierin und zumindest fürs Protokoll engagierten Tierschützerin, ein frisch geschlachtetes, blutiges Kaninchen überreichen können.
»In meinem Vertrag steht ausdrücklich: keine Schnittblumen.« Sie schaute auf den Komposthaufen, den der Regisseur vorsichtig versuchte, mit den Füßen zur Seite zu schieben. Als sie es sich noch leisten konnte, hatte sie sich sogar bei solchen Veranstaltungen vertraglich zusichern lassen, dass komplett auf Blumenschmuck und tierische Produkte beim Catering verzichtet würde. Das war früher. Draußen im Foyer standen die Leute sicher schon zwischen Blumenvasen und nagten an asiatischen Fleischspießchen.
»Du kannst dir das nicht mehr erlauben, Karmen-Schatz«, sagte der Regisseur. Sein Kopf war rot geworden. »Die Zeiten sind vorbei, auch für dich.«
Karmen-Schatz. Sie war sicher nicht sein Schatz. Nie gewesen. Und sie war so überhaupt keine Karmen, war weder feurig noch glutäugig oder temperamentvoll. Genau genommen war sie das Gegenteil einer Karmen: blond, blass und stets ein bisschen unterkühlt – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Der Ausbruch gerade war ganz untypisch, in der Öffentlichkeit hätte ihr das nicht passieren dürfen. Karmen strich sich das Kleid glatt, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und ließ ihn einfach stehen. Dann betrat sie noch einmal die Bühne. Der Glam der letzten Stunden war vorbei, alles war grell beleuchtet und ein paar Leute waren bereits damit beschäftigt, die Videowall abzubauen. Fast wäre sie über ein Kabel gestolpert, das vor den Stufen zur Bühne im Zuschauerraum lag, und ins Parkett gefallen. »Ey, Alte«, rief eine Technikerin und pfiff mit den Fingern, als Karmen keine Reaktion zeigte. »Hier darf niemand rumrennen.« Zu spät erst erkannte sie den TV-Star, gerade noch Gastgeberin der Show, und sagte »Sorry, aber«. Karmen machte eine beschwichtigende Geste, lächelte müde und ging durch den Zuschauerraum hinaus ins Foyer. Sie wollte sich jetzt feiern lassen, Anerkennung für ihre große Leistung abholen, die beste Leistung des Abends. Eigentlich hätte sie dafür auch einen Preis bekommen müssen statt diesem blöden Strauß.
Doch niemand nahm von ihr Notiz. Wirtschaftsmenschen und ihre Begleitungen, die so lange hatten still sitzen müssen, angelten emsig Getränke und Fingerfood von den Tabletts, die Heerscharen von Helferinnen und Helfern in Schwarz durch das Getümmel manövrierten. Die Leute führten sich auf, als ob sie tagelang gefastet hätten. Kaum wurde ein volles Tablett aus dem Catering-Bereich ins Foyer getragen, war es auch schon wieder leergeräumt. Karmen hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern, als ein Student mit feuerrotem Haar und Schnauzbart ihr ein Tablett mit einem Dutzend gut gefüllten Longdrinkgläsern hinhielt. »Sie haben sich jetzt was verdient«, sagte er.
»Ist da Alkohol drin?«
Der Typ grinste. Karmen wusste genau, dass auf dem Tablett Gin Tonics standen, sogenannte GinTos, fragte aber aus Gewohnheit. Als sie noch den Deal mit dem Mineralwasserabfüller hatte, ihr Wellnessgesicht auf Plakatwänden und in Hochglanzillustrierten zu sehen war, durfte sie in der Öffentlichkeit keinen Alkohol trinken. Ja, es war ihr sogar untersagt gewesen, andere Wassermarken zu konsumieren. Vor ein paar Tagen hatte sie den Anruf bekommen, dass sich das Unternehmen marketingtechnisch umorientieren, ihr Werbevertrag nicht verlängert würde. Jetzt war sie durstig. Während einer Show verzichtete sie seit jeher aufs Trinken, weil sie mit voller Blase nicht moderieren wollte und befürchtete, ihre Schluckgeräusche würden vom Mikrofon übertragen. Zudem hinterließ der Lippenstift unschöne Flecken auf dem Glas, was bei Close-ups schlecht aussah. Ihr Wasserglas blieb also immer unangetastet. Es hatte sogar Phasen gegeben, da bildete sie sich ein, irgendwelche Konkurrentinnen wollten sie vergiften. Schon allein deshalb ließ sie Studiogetränke stehen. Jetzt aber hatte sie großen Durst und überlegte, ob sie vielleicht erst etwas ohne Alkohol. Egal. Sie nahm einen der GinTos, die ihr der junge Mann immer noch unter die Nase hielt. »Wusste ich’s doch«, sagte er eine Spur zu keck, drehte sich um und schon rissen sich die anderen Gäste um die Getränke.
Karmen nippte erst vorsichtig an dem Drink. Wie lange hatte sie keinen GinTo mehr getrunken? Früher, vor hundert Jahren, auf Unipartys, weil sie als Tochter aus gutem Hause es sich leisten konnte und keine von diesen entsetzlichen Rotwein- oder Bierkommilitonen sein wollte, hatte sie oft GinTos bestellt. Später, als sie ihr eigenes Geld hatte, gut verdiente und Longdrinks als Trash betrachtete, trank sie dann lieber teuren Wein. Stundenlang musste sie sich langweilige Vorträge ihrer jeweiligen Begleiter anhören, die erstaunlicherweise alle immer vorgaben, Ahnung von Wein zu haben. Die letzten fast fünfzehn Jahre folgte die Phase ohne Alk – zumindest in der Öffentlichkeit. Schwergefallen war das Karmen nie. Als »Meine persönliche Durststrecke« bezeichnete sie einmal in einem Gespräch mit einer »Gala«-Journalistin ihre exzessive Wassertrinkerei; die Ärsche von der Werbeagentur hatten aus dem Sager dann sogar einen eigenen Claim gemacht: »Wasser, sonst nichts. Meine persönliche Durststrecke.« Extra Honorar hatte es dafür natürlich nicht gegeben.
GinTo war jetzt also wieder in Mode. Sie schmeckte den herben Wacholder, das süß-bittere Tonic, die Kühle in ihrem Mund. Weil sie wirklich Durst hatte, wurde aus dem Nippen ein Herunterstürzen. Sie hätte doch erst ein Wasser gegen den Durst nehmen sollen. In dem Glas klimperten die Eiswürfel, als sie sich durch die Menschenmenge bewegte. Die meisten Gäste vermieden Blickkontakt. Aber als Person, die in der Öffentlichkeit steht, war sie das gewohnt. Bis auf die paar üblichen Distanzlosen, die ein Autogramm oder ein Selfie mit ihr wollten, taten die Menschen so, als wäre sie eine Unbekannte. Wenn sie sich dann doch einmal umdrehte, sah sie, wie die Leute hinter ihrem Rücken tuschelten, sie von oben bis unten musterten, anstarrten, wie ertappt schnell wieder wegsahen. Dann war es Karmen, die so tat, als wäre ihr das alles egal. Fans wiederum musste man besonders zuvorkommend behandeln. Sie hatte lernen müssen, dass sich Fantum ganz schnell in blanken Hass wandeln kann, wenn das Idol sich nicht erwartungsgemäß verhält. Einmal unfreundlich in eine Handykamera geschaut, schon gab es einen Shitstorm auf Social Media.
Im Foyer des Kongresszentrums hatte sie offenbar keine Fans. Vielleicht waren auch einfach nur alle nach der langen Preisverleihung hungrig und erschöpft und wollten endlich das Buffet stürmen. Während gerade noch alle paar Meter jemand mit Tabletts voller Getränke gestanden hatte, wurde das Servicepersonal offenbar jetzt woanders gebraucht. Karmen musste etwas ohne Alkohol trinken. Sie fischte einen Eiswürfel aus ihrem Glas und steckte ihn in den Mund. Schlagartig verursachte der Eiswürfel einen migräneartigen Schmerz zwischen ihren Augen. Weil sie ihren Drink so rasch hinuntergestürzt hatte, war der Würfel in ihrem Mund größer als erwartet, und sie befürchtete eine Kiefersperre. Wo konnte sie das Teil jetzt ausspucken, ohne dabei eine schlechte Figur zu machen? Überall waren Fotografen, selbst wenn die Leute sie ignorierten, Fotografen warteten nur auf so eine Situation. Gerade als sie hinter einer Hecke aus künstlichen Lorbeerbüschen – wenigstens keine Schnittblumen – verschwinden wollte, stürmte der CEO auf sie zu, den sie eben auf der Bühne »Doktor Arsch« genannt hatte. Karmen schloss ihre Lippen und versuchte ein Lächeln, was ihr mit dem Würfel Eis im Mund schlecht gelang.
»Karmen, Liebes, wie du das immer wieder hinbekommst. Respekt.« Doktor Arsch sah so aus, als hätte er Redebedarf. Vor Jahren hatte sie ihn kennengelernt. Ihr Lover damals saß mit ihm gemeinsam in irgendeinem Aufsichtsrat, man ging zusammen essen und verbrachte auch mal ein paar Fünf-Sterne-Tage auf einer Insel im Norden. Offiziell war es ein Arbeitstreffen, Karmen durfte am Damenprogramm teilnehmen, abends im Hotel saß man gemeinsam vorm Kaminfeuer. Sie wollte etwas sagen, brachte aber mit dem Eiswürfel im Mund nur ein »Hmmm« heraus und zwinkerte betont lässig mit den Augen. Das restliche Eis klirrte in ihrem Glas.
»Zwei Stunden gediegene Fadesse sind wirklich nur mit so einer charmanten Moderatorin auszuhalten. Ganz, ganz toll hast du das gemacht, in all den Jahren.«
Was sollte das jetzt? Tat er jetzt auf Waldorfschule? Karmen hatte erwartet, dass der Typ sie dumm auf ihren Patzer anreden würde. Stattdessen machte ihr Doktor Arsch Komplimente. Lob von dieser Seite kam jetzt wirklich unerwartet. Sie schluckte den Eiswürfel, der in ihrem Mund inzwischen auf Bonbongröße geschmolzen war, runter und konnte endlich wieder sprechen. »Dank dir, Jürgen. Aber ihr organisiert das hier auch wirklich jedes Mal wunderbar«, log sie und machte wieder ihr Fernsehgesicht.
»Allerdings«, hob Doktor Arsch an, und Karmen war intuitiv klar, was folgen würde. »Allerdings glaube ich, dass wir unbedingt frischen Wind in die Veranstaltung bringen sollten.«
»Ganz deiner Meinung, Jürgen. Wir machen das ja auch schon ein paar Jahre und am Konzept könnte man sicher noch feilen. Und der Regisseur …«
Er unterbrach sie. »Regisseur und Konzept sind super.«
»Ganz wie du meinst, du hast da den besseren Überblick.« Um zu kämpfen, war sie zu erschöpft. Also schleimte sie um ihr Leben. »Und deine Leute haben auch immer sehr geile Ideen, Jürgen.«
»Meine Leute haben keine Ahnung. Aber ich werde urgieren, dass wir nächstes Jahr einen Wechsel an der Spitze vornehmen.« Doktor Arsch redete jetzt mit ihr, als wären sie hier statt in Abendgarderobe zwischen Drinks und Platten mit Lachs-Sashimi in der Vorstandsetage eines börsennotierten Unternehmens. »Um es kurz zu machen: Karmen, du bist raus.«
Sie schaute ihm fest in die versoffenen Schweinsäuglein. Dann, ohne groß zu überlegen, ohne Kampf und ohne Schleimerei ergriff sie Doktor Arschs Hosenbund, zog ihn zu sich, kippte die restlichen Eiswürfel aus ihrem Glas samt dem Wasser, das sich während ihrer unschönen Unterhaltung gebildet hatte, vorne in seine Hose, drückte ihm das leere Glas in die Hand, drehte sich um und ließ ihn stehen. Blitzschnell hatte sich ein dunkler Fleck im Schritt der Smokinghose gebildet. Als hätte er sich gerade angepisst, stand der Vorstandsvorsitzende des größten Unternehmens des Landes vor lauter Wichtigen.
Aus gutem Grund hatte sie ihre Tasche und ihren Mantel, statt sie in der Künstlergarderobe zu lassen, dort abgegeben, wo auch die Gäste ablegten. Man wusste nie, wann und mit wem man solche Veranstaltungen verließ und normalerweise fühlte sie sich nach getanem Job auch als Gast willkommen. Sogar als sie noch die »Sonntalknacht« hatte, gab sie ihr Zeug immer an der Besuchergarderobe ab: Es war ihre Art gewesen, Nähe zum Publikum zu zeigen. Auf dem Weg zu den Garderoben entdeckte Karmen den rothaarigen Jobber-Studenten von vorher. Mit einer kleinen Geste winkte sie ihn mit seinem Tablett voller Getränke zu sich. »Und den haben Sie sich jetzt erst recht verdient«, sagte er leise und grinste, als sie sich einen GinTo vom Tablett nahm. Auch den zweiten Drink an diesem Abend stürzte sie rasch hinunter. Niemand schien mehr Notiz von ihr zu nehmen, als ob die Szene zuvor mit Doktor Arsch niemals geschehen wäre. Als sie ihr Glas gerade auf einem Stehtisch abstellen wollte, an dem eine Gruppe schlecht gekleideter Gutverdiener sich über Roastbeefscheiben hermachte, spürte sie eine Hand auf ihrer rechten Schulter. Bitte lass es nicht den Schmidt sein, hoffte sie noch und überlegte sogar kurz, die eklige Berührung zu ignorieren und sich aus ihr herauszuwinden.
»Gehst du schon?«
»Ich war lange genug hier.«
»Welches Hotel?«
»Wie bitte?«
»In welchem Hotel du wohnst. Ich muss zwar noch ein bisschen bleiben. Aber vielleicht könnte ich dann noch auf einen Sprung zu dir.«
Wieso Hotel? Nahm er an, sie hätte die Wohnung in der Stadt aufgegeben, nur weil ihre Sendung abgesetzt worden war? »Dieter«, sagte sie eine Spur zu laut. Schmidt hatte offenbar schon einiges intus.
»Pschscht«, machte er. Und obwohl die Roastbeeffresser sie ignorierten, zog er sie von dem Stehtischchen weg.
»Hast du deine neue Frau heute zu Hause gelassen?« Sie ließ die Eiswürfel in ihrem Glas klirren und schaute ihn angriffslustig an. Schmidt, der Senderchef, der sie damals eiskalt abserviert und aus dem Programm gekippt hatte, den sie davor jedes Mal abserviert hatte, ausgerechnet. Der Idiot glaubte tatsächlich immer noch, sie wolle was von ihm. Damals hatte sie kein Interesse, heute noch viel weniger.
»Angelika ist daheim, ja. Der Babysitter hat kurzfristig abgesagt.«
Babysitter. Unfassbar. Der Typ ging auf die Sechzig zu und war echt noch mal Vater geworden! Und während seine sicher über dreißig Jahre jüngere Frau mit dem Kind zu Hause hockte, machte er sie hier in aller Öffentlichkeit an? »Habt ihr keine Praktikantinnen mehr, die du beeindrucken kannst?«, fragte sie. »Oder Praktikanten?« Sie wusste, dass Schmidt – wie so viele Männer aus seiner Generation – latent homophob war. »So einen sexy Tontechniker?«
»Vielleicht stehe ich ja eher auf ältere Semester«, sagte er und strich ihr mit dem Zeigefinger über den Arm. »Vielleicht stehe ich ja ein bisschen auf welkes Fleisch. Dein Auftritt eben mit Doktor Arsch war ganz schön, äh, wild. Schade, dass wir keine Kamera dahatten. Ich mochte dich sowieso immer am liebsten, wenn du in Rage warst. Magst du mir den Arsch versohlen?« Er glotzte sie an und lachte blöd. »Deine Diddlmaus hat sicher Haue verdient.«
In Rage? Diddlmaus? Schläge. Eindeutig provozierte Schmidt hier gerade einen Eklat. Sie hatte es nicht nötig, sich von diesem Idioten auch noch saudumm anmachen zu lassen. Wie konnte sie diese Situation so rasch wie möglich beenden? Noch mal die Eiswürfelnummer? Möglicherweise würde ihm das sogar noch gefallen. Kurz entschlossen hakte sie sich bei Schmidt unter und schob ihn zurück an den Tisch mit den Roastbeeffressern. »Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, Sie sind sicher gerade mit etwas sehr Wichtigem beschäftigt. Darf ich trotzdem kurz unterbrechen?«, sagte sie und die Gruppe Besserverdienender sah von ihrem Cateringfutter auf. »Ich möchte Ihnen einen alten Freund und Begleiter vorstellen: Dieter Schmidt, Chef des örtlichen Fernsehsenders, Sie kennen ihn womöglich.« Sechs Frauen und Männer lächelten irritiert, wischten sich an Papierservietten die Finger ab und gaben Schmidt die Hände. »Herr Schmidt ist sehr interessiert daran, eine oder einen von Ihnen heute Abend ins Hotel zu begleiten. Er steht nämlich auf ältere Semester wie Sie, ob Dame oder Herr ist ihm dabei vollkommen egal. Hauptsache, die kleine Diddlmaus bekommt heute noch den Arsch versohlt.« Schmidt schwieg. Er war rot geworden, wollte sich aus ihrem Griff befreien, aber Karmen hielt ihn fest. »Nun mach schon, Dieter, warum so schüchtern? Ran an die Buletten! Oder sollte ich besser sagen: Ran ans welke Fleisch?« Karmen schaute triumphierend in die Runde. »Schlafen Sie gut. Beziehungsweise: Schlagen Sie gut. Herr Schmidt hat es sich verdient.«
Es würde das letzte Mal gewesen sein, dass sie an so einer Veranstaltung teilgenommen hatte. Sie ging zur Garderobe, überlegte, wo sie die kleine Metallmarke mit der eingeprägten Eins hingetan hatte. Die junge Frau, die so früh am Abend noch wenig zu tun hatte und kaugummikauend in einer Klatschillustrierten blätterte, sah von ihrer Lektüre auf. Sie hatte den TV-Star gleich erkannt, wusste, dass sie heute der erste Gast gewesen war, lange vor Beginn der Veranstaltung, die Alte mit der Nummer eins. Gleichgültig reichte sie Karmen ihren hellbeigen Burberry-Trenchcoat und die gelbe Louis-Vuitton-Tasche.
»Danke«, sagte Karmen und lächelte gespielt freundlich, »da ist mein ganzes Leben drin.«
Sie schlüpfte in den Mantel und ertappte sich dabei, dass sie einen Augenblick wartete, ob ihr jemand dabei half. Aber es war noch niemand da, und wenn ihr ein Gentleman behilflich gewesen wäre, hätte sie ohnehin gesagt, was sie in dieser Situation immer betont selbstbewusst sagte: Ach, das ist nicht nötig, das schaffe ich alleine, ich bin ja noch keine alte Frau. Auch wenn es hier eher ums Komplimentefischen ging: Hilfe hatte sie noch nie annehmen wollen. Karmen verknotete den Gürtel ihres Burberry und blickte die Garderobenfrau kurz an. Die hatte sich aber längst wieder ihrer Illustrierten zugewandt.
Draußen ging einer der ersten Frühsommerabende zu Ende. Die Stadt hatte sichtlich gute Laune und sogar die beiden Bühnenarbeiter, die dabei waren, den roten Teppich und die Absperrungen vor der Kongresshalle abzubauen, pfiffen vergnügt. Ein paar elegant gekleidete Gäste standen vor der Tür, rauchten oder telefonierten. Karmen atmete tief ein und atmete aus. Nach der ganzen Zeit in dem klimatisierten Bau tat ihr die frische Luft gut. Und nach der ganzen Aufregung. Plus: Die zwei GinTos, die sie quasi im Vorübergehen hinuntergekippt hatte, machten sich bemerkbar.
Sie hatte sich von niemandem verabschiedet, von wem auch? Dem Regisseur, der sie angepflaumt hatte? Den Leuten von der Agentur, die sie ohnehin nie wieder buchen würden? Von Doktor Arsch, dem Diddlmaus-Idioten vom Sender oder den Roastbeeffressern? Da ihr klar war, dass man sie beobachtete, hatte sie sich bemüht, ihrem Abgang nichts Fluchtartiges zu geben. Würdevoll und stolz, mit extra langsamen Schritten stieg sie die paar Stufen zum Vorplatz hinunter, öffnete ihre Handtasche und kramte darin herum. Kurz vergewisserte sie sich, dass der Brief noch da war, fischte ihr Smartphone heraus und schaute auf den Bildschirm. Dreiundzwanzig Anrufe in Abwesenheit, dazu jede Menge WhatsApp-Nachrichten. Ohne zu schauen, wer angerufen oder ihr geschrieben hatte, verstaute sie das Gerät wieder in ihrer Tasche. Ihr Apartment war ganz in der Nähe, gut zu Fuß zu erreichen. Okay, vielleicht ohne diese Absätze. Karmen sah auf die beigen Stoffpumps an ihren Füßen hinunter. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie ja noch das Show-Outfit trug. Den Escadafetzen und die Schuhe hatte ihr eine Kostümbildnerin ausgesucht, das Zeug war nur geliehen und musste eigentlich zurückgegeben werden. Jil-Sander-Jeans, der helle Sweater und die silbernen New-Balance-Sneaker, ihre Normalo-Klamotten, in denen sie Stunden vorher hierhergekommen war, lagen noch in der Künstlergarderobe im Untergeschoß des Kongresshauses herum. Sollte sie noch mal reingehen? Noch so einen strangen Auftritt hinlegen? Vielleicht gab es ja auch irgendwo einen Bühneneingang?
»Nein«, sagte Karmen bestimmt, als hätte sie hier draußen noch ein Publikum und hielt nach einem Taxi Ausschau. Auf der Straße war überraschend wenig los für diese Zeit. Okay, es war Freitag, das typische Feierabend- und Wochenendverkehrs-Chaos war wohl schon vorüber. Wahrscheinlich saßen die Leute an so einem Abend auch lieber im Biergarten oder unten am Fluss anstatt im Auto. Oder sie hatten die Stadt schon längst verlassen. Kein Wagen weit und breit am Taxistandplatz. Zu Recht vermuteten die Taxler um diese Zeit vor der Kongresshalle noch kein Geschäft. Eine Straßenbahn stand an der Haltestelle nur wenige Meter von ihr entfernt. Um endlich hier wegzukommen überlegte sie, einfach in die Linie 2 einzusteigen. Aber sie hatte seit Jahrzehnten keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, hatte keine Ahnung, wie das überhaupt funktionierte. Obwohl sie als Kind und Jugendliche regelmäßig ihre Großeltern in der Stadt besucht hatte, war ihr das Liniennetz unbekannt. Sie war keine Öffi-Tante. Die vielen Menschen, der Mief, die Enge, das Gedränge in den Öffis hielt sie schlecht aus. Und Kleingeld für den Fahrschein hatte sie auch keines. Sie würde sich wahrscheinlich fürchterlich verfahren und nie in ihrer Wohnung ankommen. Dann doch lieber mit dem Taxi. Wenn bloß endlich eines käme.
Tatsächlich fuhr überhaupt kein Auto mehr auf der breiten Straße, dafür war aus der Ferne ein leises Sirren und Klingeln zu hören. Alter, dachte Karmen, es waren doch wirklich nur zwei GinTos. Das Klingeln wurde lauter und entwickelte sich zu einem Tosen. Sie sah einen Polizeiwagen mit Blaulicht, der sich näherte, gefolgt von einer großen Gruppe Radlerinnen und Radlern, die alle ihre Fahrradklingeln läuteten, gefolgt wiederum von Inlineskatern, die blinkende LEDs an ihren Körpern trugen. Der Pulk rauschte an Karmen vorbei, ihr Haar wehte im Fahrtwind, den Hunderte Radler und Skater erzeugten. Als das Klingeln und Sirren wieder im sonoren Grundrauschen der Großstadt verklungen war, fuhren auch wieder Autos, und Karmen winkte das nächstbeste Taxi zu sich. Ein klappriger, ziemlich verbeulter grauer Mercedes hielt. Unmöglich konnte sie in diese Dreckschleuder steigen. Sie, die sich mit dem Wasser-Werbedeal auch für die Erhaltung der Regenwälder, für gute Luft und saubere Flüsse eingesetzt hatte. Gab es in dieser verfickten Stadt keine E-Taxis? Aber ihre Öko-Testimonial-Zeiten waren vorüber. Was scherte sie die Umwelt!
»Was ist, Lady, wir haben nicht ewig Zeit«, krähte der Chauffeur durch das geöffnete Beifahrerfenster und Karmen roch Zigarettenqualm. Ein älterer Mann, sein faltiges Gesicht war glatt rasiert, das wenige gelbgraue Haar hatte er mit einem roten Bürogummi zu einem dünnen Zopf nach hinten gebunden. Er trug eine abgewetzte Lederjacke mit Fransen, schaute sie verschmitzt an und nahm einen letzten Zug von seiner Kippe und warf sie aus dem Fenster. Ganz offensichtlich ein Alt-Achtundsechziger, der schon vor Jahrzehnten beim Taxilenken hängen geblieben war. Karmen widerten solche Typen an, die es mit ihrer beschissenen Revolution nur zum Taxifahrer gebracht hatten und die zwar über Feminismus Bescheid wussten, aber trotzdem Macker blieben.
»Nein, äh, danke, ich nehme vielleicht lieber das nächste«, sagte sie. Dann öffnete sie trotzdem die hintere Tür und warf sich auf die Rückbank, froh, überhaupt ein Taxi erwischt zu haben. Endlich saß sie. Zum ersten Mal seit Stunden, fiel ihr auf. Sie schloss die Augen. Endlich. Ruhe.
»Lady, Rumstehen kostet auch was. Wohin geht die Reise?«, hörte sie die Krähenstimme des Lederjackenfreaks vorne im Wagen, der mit dem Zeigefinger auf den Taxameter klopfte, der schon über sechs Euro anzeigte. Wie lange standen sie jetzt schon hier? Lady, dachte Karmen, wenn der noch mal Lady sagte, musste sie leider wieder aussteigen. Selbst wenn das hier das einzige Taxi in der ganzen verdammten Stadt wäre.
»Eingepennt, Lady?«
Karmen tastete nach dem Türgriff, erwischte aber in der Hektik den elektrischen Fensterheber. Ganz langsam fuhr die Scheibe hinunter, und obwohl jetzt alle Fenster offen waren, stank es im Wageninneren weiter aufdringlich nach Kippe. Nach Kippe, Schweiß, altem Autokunststoff, Leder und Pitralon, einem Aftershave, das sie an ihren Vater erinnerte. »Bitte«, sagte sie und ihre Stimme klang ungewöhnlich schwach, »nennen Sie mich bitte nicht Lady. Ich bin alles andere, nur keine Lady.«
»In Ordnung, Lady.«
Der Typ war offenbar ein Ignorant. Und ein Chauvi alter Schule. Karmen seufzte matt, nannte die Adresse und fingerte über ihrer rechten Schulter nach dem Sicherheitsgurt. Der Fahrer suchte über den Rückspiegel Augenkontakt und gab Gas. »Keine Sicherheitsgurte, Lady. Das ist ein Kamikaze-Taxi. Mercedes Benz Strich Acht, Baujahr 1969. Aber du bist in guten Händen.« Offenbar hatte er Probleme mit dem Gebiss. Kamikaze klang bei ihm eher wie »Kamikatsche«. Er griff nach einer blauen Zigarettenschachtel. Gitanes ohne Filter.
Karmen krallte sich an dem abgegriffenen Ledersitz fest. »Okay, gewonnen. Geben Sie mir auch eine?«
Er steckte sich zwei Zigaretten in den Mund, zündete beide an und reichte ihr eine nach hinten. »Du kannst mich übrigens Sitting Bull nennen, kleine Lady. Großstadtindianer alter Schule. Oder darf man Indianer jetzt auch nicht mehr sagen?« Kleine Lady jetzt auch noch. Sitting Bull klang bei ihm eher wie »Shitting Bull«. Karmen streckte ihre Hand aus. Die Gier nach der Zigarette war größer als der Ekel vor dem selbsternannten Indianertyp mit dem Kukidentproblem. Kurz schaute sie die Kippe an, die eben noch Shitting Bull im Maul gehabt hatte, und steckte sie sich zwischen die Lippen. Während vorne die zahnlose Alt-Achtundsechziger-Version eines Neo-Western lief, kam sie sich hier hinten fast vor wie in so einem französischen Film mit Jean Seberg. Nouvelle Vague, Godard und so. Sie zog an der Gitanes, starkes Zeug, und musste aufpassen, keinen Hustenanfall zu bekommen. Jahrelang war ihr untersagt gewesen, in der Öffentlichkeit zu rauchen – das beschissene Wellnesswasser! –, schließlich hatte sie es sich ganz abgewöhnt. Nun war es ihr egal. Sie blickte aus dem offenen Fenster, saugte an der Zigarette und blies den Rauch in die nächtliche Stadt hinaus. Prachtvolle beleuchtete Fassaden zogen an ihr vorbei, Alleebäume, ein Park. Hatte sie zu Beginn die vom Taxifahrer angespeichelte Kippe nur mit ganz spitzen Lippen berührt, behielt sie sie nach ein paar Zügen lässig im Mundwinkel und der Fahrtwind fachte die Glut an, sodass die Gitanes nach wenigen Minuten nur noch ganz klein war.
Die Aschenbecher in der Tür waren zugeklebt und mit einem Aufkleber versehen, dass es sich um ein Nichtrauchertaxi handle, danke für Ihr Verständnis. »Danke auch«, dachte Karmen, warf die Zigarette aus dem Fenster und entfernte einen Tabakkrümel von ihrer Unterlippe. Sollte sie Lippenstift nachziehen? Auch schon egal.
»Schönen Abend gehabt?«, hörte sie die krächzende Stimme vom Vordersitz. Karmen überlegte, ob er sie erkannt hatte. Smalltalk mit Taxifahrern hatte sie schon immer gehasst und sich aus diesem Grund immer von einem Angestellten des Senders fahren lassen, der normalerweise ziemlich schweigsam war. Normalerweise hatte sie aber auch um zehn Uhr abends keine zwei Drinks intus. Nun tat sie so, als hätte sie Shitting Bulls Frage überhört.
Aber der blieb hartnäckig. »Ein bisschen zu früh, um schon nach Hause zu gehen. Findest du nicht auch, Lady?«
»Hmm«, machte sie fast lautlos. Vielleicht doch den Lippenstift. Sie griff nach ihrer gelben LV, öffnete den Verschluss und kramte in der Handtasche. Der Brief. Heppenkohn und Partner, lautete der Absender, Rechtsanwälte. Sie hatte das Kuvert kürzlich mit unwichtigem Werbekram aus der Post gefischt und gleich hektisch aufgerissen. Seitdem trug sie es mit sich herum. Jetzt schaute sie auf die zerfranste Kante und überlegte, das Schreiben noch einmal zu lesen. Dabei kannte sie den Inhalt Wort für Wort
»Schlechte Nachrichten?«
»Sie sind ganz schön neugierig.«
»Ich interessiere mich halt für meine Fahrgäste.«
»Wollen Sie echt wissen, was in dem Brief steht?«
»Nein, kein Interesse mehr.«
Jetzt war sie es, die hartnäckig blieb. »Es ist ein Schreiben einer Anwaltskanzlei. Ich soll das Haus meines verstorbenen Vaters räumen, mein Elternhaus. Es soll verkauft werden und jetzt muss ich den ganzen Scheiß da ausräumen.«
»Wo?«
Sie nannte den Namen des Ortes, in dem sie aufgewachsen war. Ein Dorf irgendwo in der Provinz, das ihr nichts bedeutete, nie etwas bedeutet hatte.
»Kenn ich«, sagte er. »Und du musst da hin?« Seine Frage klang eher wie eine Aufforderung.
»Muss ich.« Ihre Antwort klang eher wie eine Frage.
»Ja, kleine Lady.«