Roman
Erste Auflage 2019
© Osburg Verlag Hamburg 2019
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Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle (Saale)
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-179-4
eISBN 978-3-95510-188-6
für Antje
»Etot, damy i gospoda,
eta zadnitsa mira –«
Ivan Petrowitsch Zverin
Prolog
Siebenseelensee
Sonntag
Rückkehr – Linas Zimmer – Das Gewehr – Mein Zimmer – Picknick – Die Werkstatt – Das Geisterhaus – Dr. Rakuhn – Nachtwache
Montag
Frühstück – Der Dachboden – Der weiße Kavalier – Spukgeschichten – Schatzsuche – Ausflug – Flitterwochen – Turbulenzen – Vogelshirtboy – Lawine
Dienstag
Der Pastor – Rathjens Feld – Hohnerode – Küchenschlacht – Osterfeuer – Das Geld – Kollaps – Flucht – Eisenbach – Jahreszeiten
Mittwoch
Morgenvisite – Dorffest – Caspar Jordan – Kriegsrat – Die Sass-Brüder – Verhör – Waldecks Armee – Hauptstadt – Lina – Der schwarze Kavalier
Donnerstag
Die Katze – Ende der Welt – Brinkmann – Das Versteck – Schwur – Schulschwänzer – Waschtag – Waldeck – Spahns Hof – Pulverfass – Johannes der Säufer – Amerika
Freitag
Spaziergang – Dorfidioten – Will Töllning – Milch & Honig – Waldecks Feld – Zahner – Letzte Worte – Stadt am Meer – Abschied – Winkelzüge – Besuch – Das Feuerwehrhaus
Samstag
Totenschein – Der Paradiesgarten – Der Schlüssel – Hitzewelle – Kasimir – Noah – Der Fächer – Nachmittag – Galgenfrist – Letzte Zigarette – Manhorn – Geisterzug
Epilog
Siebenseelensee
Am Morgen kehren wir zurück. Nach Jahren. Schwer verkatert. Ich am Steuer, das Fenster offen wegen des Pochens in den Schläfen. Alba neben mir. In ihrem schwarzen Kleid mit den aufgestickten Rosen, das sie in Wismar im Kaufhaus hat mitgehen lassen. Wie eine Gangsterbraut sieht sie aus mit ihren blond gefärbten Haaren, der Sonnenbrille auf der Nase und der unangezündeten Zigarette im Mundwinkel.
Spinnwebsommer. Anfang September. Das Singen der Vögel. Das leise Rascheln der Blätter im Wind. Ein Kuckuck, der ruft, von irgendwoher. Eine fahle Mondsichel, die über den Wipfeln der Bäume am Himmel verblasst.
Lass uns zum Siebenseelensee fahren, sagt Alba und legt ihre Hand auf meine.
Okay, sage ich und biege in den Feldweg ein, der hinunter zum See führt.
Die Nacht haben wir durchgemacht in einem Hotel in der Kreisstadt. Ein paar Schnäpse aus der Minibar. Zwei Flaschen Champagner, die der Zimmer-Service lieferte, ohne eine Miene zu verziehen, wenn Alba, in ein Laken gehüllt, an der Tür großzügig Trinkgelder verteilte. Bei Sonnenaufgang brachen wir auf. Kauften zwei Becher Kaffee und zwei Flaschen Wasser an der Tankstelle, Ausfahrtstraße Richtung Osten. Alba nahm ihre Medikamente und warf zwei Aspirin ein. Gegen die Kopfschmerzen.
Da ist er, sagt sie und nimmt die Sonnenbrille ab.
Still und glitzernd und unbewegt liegt er da in der frühen Morgensonne.
Ja, sage ich. Da ist er.
Komm, sagt Alba und ist schon halb aus der Tür, als ich den Wagen im Unterholz parke. Mit überkreuzten Armen zieht sie das Kleid über den Kopf. Komm, sagt sie und streift das Höschen ab.
Ich knöpfe das Hemd auf und öffne die Gürtelschnalle.
Warte, sagt sie plötzlich und legt einen Finger auf die Lippen.
Wir lauschen.
Alles gut, sagt sie und zieht mich mit sich über sonnenverbrannte Kiefernnadeln in das kalte, klare Wasser.
Im ersten Moment glaube ich, der Kopf würde mir zerspringen. Dann löst sich der Schmerz.
Wir tauchen hinab auf den Grund des Sees. Über uns nichts als wogende Stille.
Blau und grün.
Sonne und Mond.
Licht und Schatten.
Wir verlassen den Wald und nähern uns dem Haus von der rückwärtigen Seite. Das Auto stellen wir im Schatten der Werkstatt ab. Alba nimmt die noch immer unangezündete Zigarette aus dem Mund, deren Filter voller Lippenstiftspuren ist.
Hier sind wir, sagt sie und setzt die Sonnenbrille ab.
Ja, sage ich. Hier sind wir. Ich nehme ihre Hand und küsse sie sanft. Dann öffne ich die Fahrertür.
Nichts als sonnenüberflutete Stille, als wir den Hof überqueren. Ein Flugzeug, das einen weißen Kondensstreifen in den wolkenlosen Himmel über uns zieht. Ein Hund, der in der Ferne bellt.
Zwei Stunden, sagt Alba. Maximal.
Zwei Stunden, sage ich und öffne das Scheunentor, das leise in den Angeln quietscht.
In der Scheune ist es kalt und dunkel. Es riecht nach Staub und Regen und Benzin. Ein Lichtstrahl fällt durchs Dach und bricht sich in den morschen Brettern des Dachbodens über uns. Staubkörner wirbeln in der Luft. Hand in Hand tasten wir uns an Homanns altem Mercedes vorbei zur Hintertür. Ich steige auf den Anhänger, um den Schlüssel vom Bord zu angeln.
Luke –, sagt Alba plötzlich.
Ein Schatten fliegt auf und verschwindet über uns im Dunkel des Dachbodens.
Nur eine Fledermaus, sage ich. Ich klettere vom Anhänger herunter und drehe den Schlüssel im Schloss. Willkommen zuhause.
Alba sieht das Blut als Erste.
Was ist das?, sagt sie und weist auf die Spur, die sich den Flur hinunterzieht. Bis zur Küchentür.
Keine Ahnung, sage ich.
Sehr langsam und vorsichtig bewegen wir uns in Richtung Küche.
Die Tür ist offen, flüstere ich und spähe um die Ecke.
In der Küche dasselbe Bild. Die Blutspur verläuft quer über den Boden. Von der Tür bis zur Stube.
Lass uns abhauen, flüstert Alba.
Nein, sage ich und lege den Zeigefinger auf die Lippen. Auf Zehenspitzen durchquere ich die Küche. An der Stubentür angekommen, sehe ich mich noch einmal zu Alba um. Dann lege ich die Hand auf die Klinke und drücke sie hinunter.
Homann liegt auf dem Boden. Direkt vor mir. Nackt bis auf die Unterwäsche. In einer Lache aus Blut. Die Arme um den Körper geschlungen. Die Knie an die Brust gepresst.
Oh, mein Gott, sagt Alba und drängt an mir vorbei.
Sie hält Homanns Kopf in ihrem Schoß, während ich ihm ein Glas Wasser einflöße.
Homann, frage ich, was ist passiert?
Homann trinkt. In winzigen Schlucken. Das Wasser läuft ihm übers Kinn.
Lukas, sagt er, kaum hörbar, du bist zurück.
Ja, Homann, sage ich.
Das Geld –, sagt er und schließt die Augen.
Wir müssen ihn zudecken, sagt Alba. Er friert.
Zusammen hieven wir Homann aufs Sofa. Alba kramt im Verbandskasten, den ich aus dem Auto geholt habe. Mit der Schere zerschneidet sie Homanns Hemd. Sein Oberkörper ist übersät mit Schrammen und Blutergüssen. Unterhalb der Schulter klafft eine tiefe Wunde. Wie von einem Messerstich.
Die Desinfektionssalbe ist abgelaufen, sagt Alba.
Seit wann?
Seit zwei Jahren.
Nimm sie trotzdem. Ich hole ihm was zum Anziehen.
Homanns Kammer sieht aus wie immer: Bett. Schrank. Stuhl. Nachttisch. Lampe. Ich nehme den Schlafanzug und die Wolldecke vom Bett. Und die Waschschüssel, die auf der Fensterbank steht.
Ich glaube, er hat Fieber, sagt Alba und taucht einen Zipfel von Homanns Hemd in die Waschschüssel, die ich mit Wasser gefüllt habe.
Zusammen ziehen wir ihm den Schlafanzug an und decken ihn zu.
Sieh nach, ob du einen Lappen und einen Eimer findest, sagt Alba. Damit wir das Blut aufwischen können –
Lukas, flüstert Homann sehr leise.
Homann, sage ich und knie mich neben ihn.
Mein Junge, sagt er. Er sieht mich an. Alle Farbe scheint aus seinen Augen verschwunden zu sein. Mein Junge, sagt er wieder und nimmt meine Hand.
Das Haus ist leer. Bis auf die Küche, die Stube und Homanns Kammer. Nichts als Staub und Stille und angelehnte Türen, die in leere Räume führen. Eine Weile stehe ich am Fenster, oben in Linas Zimmer, und schaue hinaus auf die verlassene, sonnengelbe Dorfstraße, die von einem rotweißen Sperrgitter geteilt wird. In Richtung Siemsgluss ist das Kopfsteinpflaster verschwunden und durch Asphalt ersetzt worden. In Richtung Kreisstadt, direkt hinter Will Töllnings Einfahrt, fällt der noch nicht asphaltierte Teil der Straße etwa einen Viertelmeter ab und bildet eine Rinne aus braunem, schwarzfleckigem Sand, in dem verstreut ein paar herausgebrochene Kopfsteinpflastersteine liegen. Eine Schubkarre mit einer Schaufel und einer Spitzhacke darin steht verlassen am Straßenrand.
Wir müssen Homann zum Arzt bringen, sagt Alba und legt die Hand auf meine Schulter.
Ich fahre herum.
Alba hebt die Hände und weicht einen Schritt zurück.
Entschuldige, sage ich. Du hast mich erschreckt
Ich dachte, du hättest mich kommen hören, sagt Alba.
Entschuldige, sage ich und küsse sie auf die Stirn. Ich lege meine Arme um sie und ziehe sie an mich.
Horch –, sagt Alba. Die Musik.
Nun höre ich es auch. Ein schepperndes Plärren. Wie aus einem alten Transistorradio.
Kasimir, sage ich.
Wir spähen aus dem Fenster.
Da ist er, sagt Alba.
Wir sehen Kasimir, der die Straße heruntergerollt kommt. Auf seinem Bonanza-Fahrrad. Mit Wimpel und Fuchsschwanz und Katzenaugen und dem Radio, das er mit Gurten an der Sattellehne festgeschnallt hat. Am Sperrgitter hält er an. Eine ganze Weile steht er da und richtet seine Blicke über den Zaun hinweg. Dann dreht er das Fahrrad, mit kleinen Schritten, schwingt sich auf den Sattel, tritt in die Pedale, den Oberkörper leicht über den Lenker gebeugt, und schwenkt in die Alte Hartemer Landstraße ein.
Er fährt Richtung Eisenbahn, sagt Alba.
Ja, sage ich. Und dann: Ich liebe dich, Alba. Unvermittelt. Den Blick noch immer aus dem Fenster gerichtet.
Ich liebe dich auch, Luke, sagt Alba.
Mehr denn je, sage ich und sehe sie an.
Ja, sagt Alba. Ich dich auch, Luke. Mehr denn je.
Das Gewehr finde ich, als ich das Haus nach dem Geld durchsuche. Es ist mit schwarzem Isolierband an der Rückseite der Anrichte in der Küche befestigt. Ein Jagdgewehr. Nicht das allerneueste Modell, aber sehr neu nach Homanns Maßstäben. Ich löse das Isolierband und nehme das Gewehr. Es fühlt sich überraschend leicht an. Ich lege an, drehe mich abrupt um und ziele auf die Küchentür. Peng, sage ich.
Als ich die Kirchenglocken höre, schultere ich das Gewehr und mache mich auf den Weg ins obere Stockwerk.
Das Kontor liegt direkt unter dem Dach. Man erreicht es über eine schmale Treppe, deren Holzstufen so morsch sind, dass man das Gefühl hat, sie könnten jeden Moment einbrechen, wenn man einen Fuß darauf setzt. Es ist heiß und stickig hier oben. Eine Petroleumlampe hängt an einem Nagel in der Dachschräge. Der Schreibtisch, der jahrelang mitten im Raum stand, ist verschwunden. Nur der Stuhl steht noch da, wo er immer stand.
Hier besuchte ich Vater und Homann, wenn sie abends nach der Arbeit zusammensaßen. Bei einer Flasche Bier. Oder einem Tee mit Rum, an kälteren Tagen. Vater nahm mich auf den Schoß und brach ein Stück von dem Kandisbrocken ab, den er, in ein Tuch eingeschlagen, in einer Schublade im Schreibtisch aufbewahrte. Ich liebte es, dort zu sitzen und ihren Gesprächen zu lauschen, die von Dingen handelten, von denen ich nichts verstand. Maschinen. Maßeinheiten. Hektarerträge. Ich lutschte meinen Kandis und hing meinen Gedanken nach. Bis mir die Augen zufielen und Vater mich die Treppe hinunter ins Bett trug.
Ich klappe die Dachluke auf. Ein leichter Wind weht herein, angenehm kühl und sanft auf der Haut. Für einen Moment schließe ich die Augen und lausche: das Singen der Vögel. Das Dröhnen eines Motorflugzeugs von weit her. Das Läuten der Glocken. Stimmfetzen, die der Wind herüberträgt. Ich stütze den Gewehrlauf auf das etwas windschiefe, durchgerostete Schneefanggitter, kneife das rechte Auge zu und spähe mit dem linken durch das Zielfernrohr. Ich verrücke das Gewehr ein Stück nach links, stoppe in Höhe der Kirchturmuhr und schwenke ein kleines Stück abwärts.
Vor der Kirche tummeln sich ein paar altbekannte Gesichter. Rathjen und seine Frau, die man nur am Sonntag zu Gesicht bekommt. Madame Biancourt, die Organistin. Johannes der Säufer, in seinem blauen Sonntagsanzug mit den Hochwasserhosen. Die Witwe Schönau, ein wenig grau und verlebt, doch noch immer schön, in ihrem maßgeschneiderten schwarzen Kostüm. An ihrer Seite Toni, der gewöhnlich mit seinen Eltern zum katholischen Gottesdient nach Pröbsten fährt. Dazu ein paar Kinder. Unbekannte Gesichter. Zugezogene oder Leute aus den Nachbarorten, deren Kirche an diesem Sonntag geschlossen bleibt. Langsam schwenke ich die Straße hinunter, die zur Kirche führt und wegen ihrer hellen Färbung Weißer Weg genannt wird. Ich sehe Falk Brinkmann den Hügel heraufstolzieren mit seiner Frau Vroni und seiner Nichte Christina, die einen Dackel an der Leine hält, den sie vor der Kirche am Fahrradständer für die Konfirmanden festbindet. Nur ein paar Schritte dahinter: Pastor Mahler-Ladewigk. Mit dem Wetterfrosch. In vertrautem Gespräch.
Der Wetterfrosch stammt aus Sültlingen und heißt mit bürgerlichem Namen Harm Frosch. Einmal in der Woche schreibt er eine Kolumne für die Wochenendbeilage der Kreiszeitung und versorgt die Leser mit Bauernregeln, die das Wetter der kommenden Woche vorhersagen. Gut möglich, dass er den Job inzwischen los ist, weil das Wetter sich seit einiger Zeit an keine Bauernregel mehr hält. Der Wetterfrosch ist bekannt dafür, seine Familie zu drangsalieren mit seiner Unbelehrbarkeit und seiner Hypochondrie.
Meine Mutter erzählte, er sei in mindestens zwei Fällen angeklagt worden, sich an polnischen Hilfskräften auf seinem Hof vergangen zu haben.
Und, fragte ich, was ist aus den Anklagen geworden?
Was soll schon daraus geworden sein?, fragte meine Mutter. Die Betroffenen zogen ihre Klagen zurück. Dumm ist der Wetterfrosch nicht. Und arm noch viel weniger. Hat einfach ein paar Scheine hingeblättert, um die Mädchen zum Schweigen zu bringen.
Vermutlich sind Froschs Hang zur Tyrannei und sein Appetit auf Erntehelferinnen so unstillbar, dass niemand auf die Idee käme, ihm auch nur eine Träne nachzuweinen, wenn ich in diesem Moment den Abzug betätigen würde. Und doch – hätte ich die Wahl, einem der beiden Kirchgänger das Licht auszublasen, die Antwort wäre eindeutig: Pastor Lorenz Mahler-Ladewigk.
Wir richten uns ein in meinem alten Zimmer, mit Blick auf den Garten. Aus der Scheune hole ich den alten Holztisch, den ich die Treppe hinauftrage und zwischen die beiden Fenster stelle. Alba findet eine Spiegelscherbe im Badezimmer und befestigt sie mit Leukoplaststreifen aus dem Verbandskasten an der Wand über dem Tisch. Dazu der Stuhl aus dem Kontor und die nötigsten Sachen für die Nacht aus dem Auto: Albas Tasche, der Schlafsack und die Wolldecken.
In der Küche füllen wir einen Krug mit Wasser. Alba durchsucht die Schränke nach Geschirr.
Gläser gibt es nicht, sagt sie, nur diese hier. Sie hält zwei Kaffeetassen in der Hand: die eine weiß, die andere mit Blumenmotiv und abgebrochenem Henkel.
Ich nehme die mit den Blumen, sage ich.
Nein, sagt Alba, die nehme ich.
Zusammen sehen wir nach Homann, der auf dem Sofa liegt und leise schnarcht in tiefen, regelmäßigen Zügen. Alba wringt das Unterhemd in der Waschschüssel aus und tupft ihm den Schweiß von der Stirn. Sie schlägt die Decke zurück. Die linke Seite des Schlafanzugoberteils hat sich rot gefärbt.
Der Verband ist durch, sagt Alba. Er braucht einen Arzt.
Ich weiß, sage ich und decke Homann zu. Komm.
In meinem Zimmer wohnen die Geister. In den knarrenden Holzdielen unter meinen Schuhen. In den abblätternden Tapeten an den Wänden. In den Silberpappelästen, die raschelnd ans Fenster klopfen. In den mottenzerfressenen Vorhängen, die der Wind in den Raum hineinweht.
Fehlt nur noch ein Bett, sagt Alba.
Wir nehmen den Schlafsack als Unterlage und decken uns mit den Wolldecken zu, sage ich. Es ist nur für eine Nacht.
Nein, sagt Alba. Wir nehmen Homanns Matratze.
In Homanns Kammer ist die Zeit stehen geblieben. Der alte Bauernschrank an der Wand neben der Tür. Das Bett an der Wand gegenüber. Der Nachttisch mit der in Leder gebundenen Bibel, die Homann von meiner Mutter geschenkt bekam. Der Stuhl am Fenster links vom Bett, auf dem fein säuberlich Homanns Sachen für den nächsten Tag bereitliegen. Schwarze Cordhose. Gestärktes weißes Hemd. Strickjacke. Wollsocken.
Alba und ich hieven die Matratze aus dem Bett und tragen sie ans andere Ende des Flurs in mein Zimmer. Wir legen die Matratze an die Wand, links von der Tür.
Schon besser, sagt Alba.
Fehlen nur noch zwei Kleinigkeiten, sage ich.
Aus Linas Zimmer hole ich das Gewehr, aus Homanns Zimmer die Flasche, die er, wie ich seit meiner Kindheit weiß, im Bettkasten zwischen der frischen Bettwäsche aufbewahrt.
Alba sitzt an ihrem Frisiertisch, mit dem Rücken zu mir. In einem Sonnenstrahl, der, von den Blättern der Pappel gebrochen, durchs offene Fenster fällt. Sie kämmt sich das Haar, den Kopf leicht schräg gelegt. Im Spiegel sehe ich ihre Augen, tiefblau und klar, die in irgendeine Ferne starren.
Du musst dein Medikament nehmen, sage ich.
Was ist das?, fragt Alba und dreht sich um zu mir.
Wacholderschnaps. Homanns Lebenselixier.
Das meine ich nicht, sagt Alba.
Ich weiß, sage ich und lehne das Gewehr an die Wand zwischen Matratze und Tür.
Mit den Rücken an die Wand gelehnt, sitzen wir in meinem Zimmer auf der Wolldecke und essen. Brot, Butter und Salz aus der Küche. Pflaumen und Brombeeren aus dem Garten. Brezeln und Waffeln aus Albas Beständen. Dazu das Wasser, das wir am Morgen an der Tankstelle gekauft haben.
Ich sehe nach Homann, sagt Alba und steht auf.
Ich nehme ihre Hand und küsse ihre Finger. Einen nach dem anderen.
Wir bringen ihn in die Kreisstadt, sage ich. Ins Krankenhaus. Sobald wir das Geld gefunden haben.
Alba nickt und nimmt den Verbandskasten von der Fensterbank.
Und wenn wir es nicht finden?, fragt sie.
Eine Weile liege ich auf dem Boden, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, in der warmen Nachmittagssonne, die süß und orange ist wie Sirup oder flüssiger Honig. Und für einen Moment ist es wie damals, vor Jahren, als meine Mutter starb und ich mich in meinem Zimmer verkroch, tagelang, nach der Schule.
Ganze Nachmittage verbrachte ich damit, auf dem Bett zu liegen und die Wand anzustarren, an der die Schatten der Zweige im Sonnenlicht tanzten. Hin und wieder kam Homann herein und blieb eine Weile. Manchmal, sehr selten, kam mein Vater. Einmal, an einem Sonntagmorgen, schlug ich die Augen auf und Lina saß neben mir auf dem Bett. Eine Weile tat ich, als würde ich schlafen. Dann richtete ich mich auf und nahm sie in den Arm, und wir fingen beide an zu weinen. Jeden Tag kam Alba. Sie klopfte an die Tür, leise, irgendwann am späten Nachmittag. Sie setzte sich zu mir auf die Bettkante. Strich mir das verklebte Haar aus der Stirn. Küsste mich auf Wangen und Schläfen. Legte ihren Kopf auf meinen und flüsterte mit sanfter Stimme:
Es geht vorbei, mein Liebling. Ich weiß, es geht vorbei.
Als ich erwache, ist der Himmel vor den Fenstern fast farblos, das Zimmer kalt und grau. Ich nehme das Gewehr und mache mich auf den Weg die Treppe hinunter. Ich werfe einen Blick durch den Spalt der angelehnten Stubentür. Alba schläft, die Beine angewinkelt, auf dem Sessel, den sie vor das Sofa geschoben hat. Homann murmelt leise im Schlaf vor sich hin. Ich nehme den Schlüsselbund vom Haken neben dem Ofen, schließe die Küchentür auf und trete hinaus auf die Terrasse. Ich sehe mich nach allen Seiten um und überquere den Hof Richtung Werkstatt.
Abenddämmerung. Die Konturen der Gebäude scharf umrissen. Leuchtende Streifen am Himmel über den Feldern. Der Wald jenseits von Rathjens Feld eine rote Wand im Sonnenuntergang. Der Geruch von Rauch in der Luft. Eine Fledermaus, die im Zickzack über der Werkstatt umherschwirrt, als ich den Schlüssel im Schloss drehe und die Tür öffne, die schwer in den Scharnieren kreischt.
Um kein Licht machen zu müssen, gehe ich zwischen Schrauben- und Ersatzteillager hindurch zum Haupttor, lege den Riegel um und ziehe das Tor auf. Ich nehme Platz auf der Werkbank, zwischen dem Schraubstock und einem Haufen Kupferrohren, und sehe mich um. Das Ganze macht den Eindruck, als hätte mein Vater alles stehen und liegen gelassen. Zwischen zwei Reparaturen. Weil meine Mutter ihn zum Mittag rief. Oder er kurz hinübergelaufen war, um seine Tasse Kaffee am Nachmittag zu trinken, im Stehen am Küchenfenster. Zusammen mit einem Stück ihres Butterkuchens, den er so liebte. Der Kaffee stark und schwarz aus der alten, verbeulten Blechkanne auf dem Ofen in der Küche. Ein paar Minuten des Innehaltens, bevor er sich zurück auf den Weg machte. In sein Reich. In dem alles ist, wie es immer war: Der Wagenheber, der quer im Raum steht, sodass man ständig darüber stolperte. Die Drahtrolle an der Wand neben dem Haupttor, an der man sich den Kopf stieß, wenn man das Radio an- oder ausstellte. Die Roste über der Grube, in der wir im Sommer ganze Tage zubrachten, mein Vater und ich, um Autos zu reparieren, Trecker, Mähdrescher, Runkelroder, Unimogs. Ölwannen, Kühler, Spritfilter auswechseln, Bremsspulen gangbar machen, Kurbelwellen und Wasserpumpen erneuern, Zylinderkopfdichtungen austauschen, während uns irgendeine Schmiere ins Gesicht tropfte. Diesel. Öl. Bremsflüssigkeit. Die Rollwagen mit den Werkzeugen, die immer dort herumstanden, wo niemand sie brauchte, und erst mühsam befreit werden mussten, weil immer irgendetwas im Weg lag. Man zog sie kreuz und quer durch die Werkstatt, bevor man sich auf die Suche nach dem 17er-Maul oder 22er-Ringschlüssel machte, die garantiert als einzige ihrer Art fehlten, weil sie im Fond einer Maschine liegengeblieben waren, die nun irgendein Bauer auf seinem Acker spazieren fuhr. Der Ofen, der im Winter so heiß wurde, dass man ihn zum Schmieden von Eisenteilen benutzen konnte. Das Waschbecken mit dem Senfeimer voll Werkstattseife, die auf der Haut kratzte wie nasser Sand. An der Wand über den Hydraulikleitungen der Pirelli-Kalender mit den halbnackten Mädchen, der jedes Jahr kurz vor Weihnachten von einem Vertreter einer Reifenhandlung aus der Kreisstadt persönlich vorbeigebracht wurde, damit meine Mutter nichts in der Post fand, was sie meinem Vater unter die Nase reiben konnte. Es ist, als sähe ich ihn vor mir – meinen Vater –, wie er die Schweißmaske sinken lässt, sich mit dem Oberarm die ölverschmierte Stirn wischt und mit noch glühendem Schweißstab vor der Nase des Vertreters herumfuchtelt. Und mehr als alles andere ist es dieser Geruch, der die Werkstatt ausmacht. Der feine, vertraute, verräucherte, metallische Geruch einer frisch gesetzten Schweißnaht.
Ich sage dir, mein Sohn, sagte mein Vater, in einer Wolke aus Qualm, so und nicht anders riecht es im Weltraum.
Im Büro steht der Honig. Im Regal zwischen den Ringordnern. Der Deckel des Topfes schief aufgelegt. Der Honig kristallisiert und hart. Ein Löffel davon am Morgen vor der Arbeit, so das Credo meines Vaters, und du sparst dir den Arzt. Und es stimmte: Bis auf den einen oder anderen Gichtanfall im Winter konnte ihn nichts von der Arbeit abhalten. Kein Tag, an dem er nicht als Erster in der Werkstatt stand, frühmorgens, um in Ruhe seinen Bürokram zu erledigen. Mit Karteikarten, Rechenschieber, Stempelkarussell und Bleistiftstummeln, an deren Ende er herumkaute, zwischen zwei Zahlenreihen, bevor er mit großer Sorgfalt und schöner, verschnörkelter Handschrift das Ergebnis seiner Berechnungen aufs Durchschlagpapier setzte. Zwischen all den Auftragsbüchern, Rechnungsdurchschriften und handbeschriebenen Karteikästen steht das Telefon. Das erste im ganzen Dorf, wie mein Vater stolz zu sagen pflegte. Haben wir deinem Großvater zu verdanken. Ein W48. Schwarz. Mit Schnur. Und Erdtaste unten am Sockel. Auf der Wählscheibe in den altmodischen Krakeln meines Großvaters die dreistellige Nummer: 914. Ich nehme den Hörer von der Gabel und lege ihn auf den Tisch. Eine Weile lausche ich dem Freizeichen. Dann klemme ich den Hörer zwischen Schulter und Ohr und wähle die Nummer von Vogelshirtboy.
Als ich zurückkehre, hat Alba sich umgezogen. Sie sitzt in der Küche, in Jeans und Pullover, mit dem Rücken zur Tür. Mit beiden Händen umfasst sie die Tasse, aus der sie in kleinen Schlucken trinkt.
Wo warst du?, fragt sie und dreht sich um.
In der Werkstatt. Ich lehne das Gewehr an die Wand neben der Tür.
Und?
Nichts.
Hast du überall gesucht?
Ja. So gut es ging bei dem Licht.
Auch oben auf der Galerie, wo dein Vater den ganzen Schrott stapelt?
Alba, sage ich. Das Geld ist nicht in der Werkstatt.
Ich habe Tee gemacht, sagt sie. Möchtest du welchen? Sie reicht mir ihre Tasse.
Der Tee ist heiß und schmeckt süß und rauchig.
Ich habe Vogelshirtboy angerufen, sage ich so beiläufig wie möglich und reiche ihr die Tasse zurück.
Alba starrt mich an.
Du hast was –, fragt sie.
Ich habe Vogelshirtboy angerufen. Aus dem Büro. In der Werkstatt. Ich gehe in die Hocke und lege die Arme um Albas Hüften.
Bist du wahnsinnig?, fragt sie. Ohne eine Spur Ärger in der Stimme. Fast flüsternd. Fast flehentlich.
Sein Vater kommt. Um nach Homann zu sehen. Nach Einbruch der Dunkelheit.
Alba streicht mir mit der Hand durchs Haar.
Er hat uns geholfen, sage ich und lege meinen Kopf in ihren Schoß. Weißt du noch? Vogelshirtboy. Damals in der ersten Nacht.
Irgendein russischer Millionär hatte das Haus bauen und einrichten lassen. Ohne es je zu beziehen. Auf der rechten Seite der Hartemer Landstraße, in dem kleinen Birkenwäldchen ein paar hundert Meter jenseits der Eisenbahngleise. Drei Stockwerke. Im Bungalowstil. Mit Schwimmbad unter einer verglasten Dachkuppel, einem Billardzimmer, komplett mit Billardtisch, Queues und einem Satz Kugeln. Kühlzelle. Fitnessraum. Ein Schießstand in einem Anbau hinter dem Haus. Ein paar Mal tauchte der Millionär im Dorf auf. Begleitet von einer Blondine und ein paar Bodyguards. In manchen Nächten brannte Licht im Haus. An einem Sommerabend fuhren die Bodyguards durchs Dorf und machten Lautsprecherdurchsagen. In schlechtem Deutsch luden sie die Dorfbewohner ein, am Abend vorbeizukommen. Zur Einweihungsparty. Der Einzige, der hinging, war Vogelshirtboy. Er erzählte unglaubliche Geschichten. Von Drogen und Waffen und wunderschönen Frauen, die nichts am Leib trugen außer einem Halstuch. Oder einem Hundehalsband. Dann zeigte er mir den Haustürschlüssel und die beiden Geldscheine, die er vom Hausherren bekommen hatte.
Komm mit, sagte er, wir machen zusammen sauber.
Den ganzen Sonntag über räumten wir auf. Der Millionär war verschwunden. Mitsamt der Blondine und den Bodyguards und den wunderschönen Frauen. Es sah wüst aus in dem Haus. Im Schwimmbecken trieben Champagnerflaschen, Zigarettenkippen, Zigarrenstummel und ein Stück rohes Fleisch. Im Schießstand lag eine Pistole, die Vogelshirtboy zusammen mit dem ganzen übrigen Plunder in einem der großen blauen Müllsäcke verschwinden ließ, die wir in der riesigen Vorratskammer fanden. Dann gingen wir heim. Vogelshirtboy wollte mir einen der beiden Scheine geben, weil ich ihm geholfen hatte.
Behalt dein Geld, sagte ich. Aber vielleicht komme ich irgendwann mal auf den Schlüssel zurück.
Jahrelang ließ sich der Millionär nicht mehr blicken. Ich wusste: Vogelshirtboy schlief ab und zu in dem Haus, wenn er nicht wollte, dass sein Vater Wind bekam von einem Mädchen, einem Joint, einem Drink zu viel. Irgendwelche Spinner aus der Umgebung schmissen im Erdgeschoss die Fensterscheiben ein. Irgendjemand veranstaltete eine Party im Schwimmbad unter dem Dach, die Polizei rückte an und versiegelte das Haus.
In der Nacht nach der Sache mit Caspar Jordan auf dem Sültlinger Schützenfest fuhren wir zu Vogelshirtboy. Er gab mir den Schlüssel. Ohne weiter zu fragen.
Lasst einfach die Tür offen, wenn ihr geht, sagte er. Den Schlüssel lasst ihr im Schloss stecken.
Den Rest der Nacht über beratschlagten wir, was zu tun war. Zuerst im Schießstand, weil es dort keine Fenster gab und wir Licht machen konnten. Bei Tagesanbruch gingen wir hinauf ins Schwimmbad. Das Becken war leer. Die Wände waren vollgeschmiert mit Graffiti. Ein Plastikstuhl lag auf dem Beckenboden. Mit der Lehne nach oben. Wir setzten uns aufs Ein-Meter-Brett, Rücken an Rücken, und sahen ins vollkommene, unendliche Blau über uns.
Der Himmel, sagte Alba. Dann sagte sie eine ganze Weile nichts mehr. Und dann: Sieht aus wie eine Straße –
Es ist dunkel, als Dr. Rakuhn eintrifft. Er ist grau geworden. Und alt. Das Gesicht schmal und abgezehrt. Haare und Bart weiß. Nur die Augen wandern schnell und lebhaft hin und her zwischen Alba und mir.
Lukas, sagt er und schüttelt mir die Hand. Mit festem Druck. Alba – Er verbeugt sich leicht, stellt seine Tasche auf den Tisch, legt den Mantel ab, nimmt Platz und schlägt die Beine übereinander. Was kann ich für euch tun?
In der Stube sehen Alba und ich dem Doktor zu, als er Homann untersucht. Ihn abhört. Puls und Blutdruck misst. Die Instrumente und Utensilien aus der Tasche bereitlegt, die er für die Wundversorgung braucht. Er bittet mich, Homann zu stützen, während er den Verband löst. Dann reinigt er die Wunde, legt einen neuen Verband an, zieht eine Spritze auf, setzt die Spritze, zieht eine zweite Spritze auf, setzt auch diese und deckt Homann zu.
Wie ist das passiert?, fragt er.
Das wissen wir nicht, antworten Alba und ich, fast einstimmig.
Dr. Rakuhn sieht von Alba zu mir und wieder zurück.
Wir haben ihn so gefunden, sagt Alba. Heute Morgen. Hier auf dem Boden.
War er bei Bewusstsein?
Nein, sagt Alba.
Er hat uns erkannt, sage ich.
Ja, sagt Alba. Wir haben ihn hierher aufs Sofa verfrachtet, und seitdem schläft er.
Er wird auch die Nacht über schlafen, sagt Dr. Rakuhn. Er schließt die Tasche und steht auf. Ich habe ihm etwas gegeben, damit er zur Ruhe kommt.
In der Küche zieht der Doktor den Flachmann aus der Innentasche seines Jacketts und nimmt einen Schluck.
Warum habt ihr mich nicht gleich gerufen?, fragt er und hält mir den Flachmann hin.
Nein, danke, sage ich.
Wir wussten nicht, wie schlimm es ist, sagt Alba. Erst als der Verband anfing durchzubluten –
Morgen früh komme ich wieder, sagt Dr. Rakuhn. Es ist besser, jemand bleibt die Nacht über bei ihm. Vielleicht könnt ihr euch abwechseln. Falls irgendetwas sein sollte, ruft ihr mich an.
Ist er –, sage ich, wird er –
Dr. Rakuhn nimmt einen zweiten Schluck, schraubt den Flachmann zu und schiebt ihn zurück in die Innentasche seines Jacketts.
Homann ist zäh, sagt er. Aber er ist nicht mehr der Jüngste. Und er hat viel Blut verloren. Er zieht das Jackett an und nimmt die Tasche. Also –, sagt er und öffnet die Tür.
Dr. Rakuhn –, sagt Alba.
Ja?
Danke.
Was bekommen Sie für Ihre Mühen?, frage ich.
Darüber reden wir, wenn der Alte über den Berg ist.
Ach, und eins noch, Doktor –, sage ich.
Was denn noch, Lukas?, fragt Dr. Rakuhn und sieht mich an.
Kein Wort zu niemandem.
Der Doktor nickt müde.
Gute Nacht, sagt er, tritt hinaus auf die Terrasse und verschwindet in der Nacht, ohne die Tür zu schließen.
Die Nacht verbringe ich an Homanns Bett. Ich lausche seinen regelmäßigen, tiefen Atemzügen, die immer wieder unterbrochen werden von einem kurzen Innehalten, einem unverständlichen Wort, einem gemurmelten Satzfetzen. Um ihn zu beruhigen, lege ich meine Hand auf seinen Arm und spreche leise zu ihm. Oder ich tupfe seine Stirn mit der Kompresse aus der Wasserschüssel ab, die Alba vor dem Schlafengehen frisch aufgefüllt hat. Irgendwann übermannt mich die Müdigkeit. Ich stehe auf und laufe im Zimmer herum. Ich öffne das Fenster und sehe hinaus. Auf die Umrisse der Bäume im Garten. Auf den Zaun, der das Anwesen von Töllnings Hof trennt. Auf das kalte, weiße Licht in den Glaswürfelfenstern von Töllnings Schlachthaus. Auf den Mond, der über Töllnings Schornstein steht, aus dem sich eine feine, weiße Rauchschwade kräuselt. Auf den stillen, klaren Himmel, an dem matt die Sterne funkeln. Ich schließe das Fenster und setze mich zurück in den Sessel. Ich mache die Augen zu. Einen Moment nur. Ich sehe die Zweige des Nussbaums, die, vom Wind bewegt, an den rückwärtigen Fenstern der Werkstatt kratzen. Ich sehe das Leuchten in den Augen der Katze, die durchs Gebüsch schleicht. Ich sehe, wie die Kerzen, die Alba aufgestellt hat, flackernde Schatten an die Wände werfen. Dann plötzlich ist Alba über mir. Inmitten der Nacht. Wie im Traum. Mit einem Kuss. Und einem Flüstern. Und zwei Fingern, die sich auf meine Lippen legen.
Liebster, sagt sie und schlingt ihre Arme um meinen Nacken. Küsst mich auf den Mund. Biegt den Oberkörper zurück und reckt den Kopf zur Decke empor. Unwirklich sieht sie aus. Und wunderschön. Wie ein Luftgeist. Oder eine Nixe, die aus dem Siebenseelensee auftaucht, lautlos, um Mitternacht, vom Mondlicht gebadet. Ihr Körper weiß und wie aus einer anderen Welt. Sanft wiegt sie sich, auf mir, über mir, und flüstert meinen Namen. Und ich flüstere ihren: Alba.
In immer neuen Tonfällen und Variationen.
Und es ist, als würden wir verschmelzen. Miteinander. Mit Raum und Zeit und dem gesamten, mühsam von frisch gesetzten Schweißnähten zusammengehaltenen Universum. Mit allem, was war und ist und jemals sein wird. Und blieben doch allein dabei, jeder für sich, auf immer und ewig allein –
Allein.
Am Morgen weckt mich Alba mit Kaffee, Marmelade und frischen Brötchen.
Wo hast du die her?, frage ich und setze mich auf.
Der Doktor war beim Bäcker, bevor er herkam.
Dr. Rakuhn war hier?
Ja, am Morgen. Du hast noch geschlafen. Alba stellt das Tablett auf den Frisiertisch und öffnet die Fenster.
Es ist still draußen. Wie am Sonntag. Obwohl Montag ist. Als würde der September jedes Geräusch verschlucken. Wie der Schnee im Winter. Kein Wind. Keine Wolke am Himmel. Nichts als goldgelbe, sonnenhelle Stille.
Ich hatte dich abgelöst, sagt Alba und lächelt. Gestern Nacht. Erinnerst du dich? Sie reicht mir die Tasse mit dem abgebrochenen Henkel. Ich habe den Kaffee in Homanns Blechkanne gemacht, sagt sie. Auf dem Ofen.
Wie geht es ihm?, frage ich, umfasse die Tasse und nehme einen Schluck. Der Kaffee ist sehr heiß. Und sehr stark. Schmeckt gut, lüge ich.
Alba bestreicht zwei Brötchenhälften mit Butter und Marmelade und reicht mir eine davon.
Der Doktor sagt, es geht ihm gut. Den Umständen entsprechend. Aber er ist sehr schwach.
Ist er wach?
Nein, sagt Alba. Aber das Fieber ist runter. Der Doktor kommt gegen Abend wieder, um nach ihm zu sehen.
Ich stopfe mir die Brötchenhälfte in den Mund und spüle mit Kaffee nach.
Dann an die Arbeit, sage ich, mit vollem Mund. Ich ziehe die Jeans an und ein frisches Hemd. Ich nehme den letzten Schluck Kaffee, stelle die Tasse aufs Tablett und knie mich vor Alba auf den Boden. Wie geht es dir?, frage ich und umfasse ihre Beine.
Gut, sagt sie.
Und die Medizin?
Nehme ich.
Iss dein Frühstück vorher, sage ich.
Aye aye Sir!, sagt Alba und salutiert. Aber zuerst sag mir eins: Wann fahren wir?
Sobald wir das Geld gefunden haben.
Hast du nicht alles danach abgesucht?
Ja. Hab ich. Bis auf den Dachboden.
Und wenn es da nicht ist?
Suchen wir nochmal von vorn.
Okay, sagt Alba. Ich esse brav mein Frühstück, nehme meine Medizin und dann gehen wir rauf.
Nein, Alba, sage ich. Ich gehe allein. Es ist zu gefährlich.
Auf dem Dachboden türmt sich das Gerümpel von Jahrzehnten. Alte Möbel. Sessel, Schränke, Tische, Stühle, Bänke, Bettgestelle, Matratzen mit herausstehenden Sprungfedern. Fensterscheiben, Türen, Fensterrahmen. Bilderrahmen. Kästen voll mit angelaufenem Silberbesteck. Gläser, Tassen, Teller, Becher. Ausrangierte Toaster. Brotschneidemaschinen. Brotkästen. Kühlschränke. Kühltruhen. Waschmaschinen. Wäschemangeln. Wäscheständer. Eine Sammlung mottenzerfressener Vorhänge. Gardinen. Gardinenstangen. Tapeten. Teppiche. Teppichklopfer. Fußmatten. Staubsauger. Eine Gartengarnitur weißer Korbsessel, Korbtische und Korbstühle. Campingstühle, Gaskocher, Campinggeschirr. Zelte und Zeltstangen. Spül- und Waschbecken. Toilettenschüsseln. Gusseiserne Badewannen. Zinkwannen. Gießkannen. Blumentöpfe in allen Größen. Vasen. Besen, Harken, Hacken. Wischeimer. Mülleimer. Papierkörbe voller alter Notizen und Rechnungen und Kontoauszüge. Rasenmäher. Fernsehapparate. Fotoapparate. Filmkameras. Tonbänder. Röhrenradios. Autoradios. Transistorradios. Heizkörper. Lampen. Ventilatoren. Stand- und Wanduhren. Ein Grammophon mit gebrochenem Schalltrichter. Regale voller Akten und Briefe und Bücher und Zeitschriften und Landkarten und Schallplatten. Eine Gitarre. Eine Trompete. Ein Klavier. Berge von Klamotten. Hüte. Spazierstöcke. Schuhe, einzeln und in Paaren. Fahrräder. Decken, Kissen, Schlafsäcke. Das Gummiskelett, das Lina eines Tages aus der Schule mit nach Hause brachte. Flaschen und Kanister, voll mit giftigen und entzündlichen Substanzen: Pflanzenschutzmittel. Brennspiritus. Petroleum. Terpentin. Kerosin. Kisten voll mit Kacheln. Dachziegel. Eine Kollektion Regen- und Sonnenschirme. Gartenschläuche. Vogelkäfige in allen Größen und Formen. Ein Schmetterlingsnetz. Bienenkörbe. Eine Hollywoodschaukel. Staffeleien, Malerpaletten, Leinwände, Pinsel. Lichterketten. Christbaumkugeln. Tannenbaumständer. Ein Tannenbaum, mit Lametta behängt. Tischtennisplatten, Tischtennisschläger, Tennisschläger. Cricketschläger. Carrerabahnen. Modelleisenbahnen. Schwimmreifen. Schwimmflügel. Schultüten. Bauklötze. Bälle, aus denen die Luft entwichen ist. Holzschwerter. Plastikpistolen. Ein ausgestopfter Hirschkopf.
Nichts konnte mein Vater je wegwerfen. Was meine Mutter in den Wahnsinn trieb.
Wann kommt der ganze Plunder endlich weg?, fragte oder brüllte oder flehte sie, je nach Heftigkeit ihrer Auseinandersetzung.
Bald, sagte mein Vater, mit sanfter, leicht resignierter Stimme. Ich verspreche es dir: bald.