I’ve been here many times before.
FÜR MEINE GROSSMÜTTER
JAHR JAHRE GROSSVATER
EINE NUR SITZT
I’M DOING FINE IN ALASKA
FELS IN DER BURA
TÜRKIS, KEIN ORT
EIN ROSENKRANZ
FRAU MARIJANA
EIN ROSENKRANZ RÜCKWÄRTS: KAD SANJAM
VERGISS NICHT: DIE LANGSAMEN
IDEMO GORE, IDEMO DOLE
ES WURDE NICHT GESAGT
ANKUNFT: ZÜRICH
KEIN NAME
NACHT 1–3
UND
Sie schnarcht. Die Frau unter mir schnarcht, eine ganze Nacht hat sie geschnarcht, aus ihrer Liege kippen weiße Waden, Sommermückenstiche, sie schwitzt, ich schwitze, alle Stiche aufgekratzt, an den nackten Sohlen Wundpflaster und Striemen von Sandalen, blaue Venen, Haarstoppeln, Mundgeruch im Raum, Bitterkeit unter den Achseln.
Keine Nacht mehr.
Ich setze mich auf, die Decke ist zu niedrig, doch langsam ist es egal, wie sich der Körper verbiegt, fast zwölf Stunden ist er schon unterwegs, wieder einmal, kaum geschlafen, wieder einmal diese Fahrt, die weder aufhört noch irgendetwas auslöst, außer die Wiederholung, außer ihre Dauer, bekannte zwölf Stunden, wo stapeln sie sich wohl, diese immer wieder neuen fast zwölf Stunden Fahrt, irgendwo in diesem gekrümmten Körper liegen und stapeln sie sich, denk ihn weg, wisch ihn weg und auch diese Fahrten. Hundertmal oder waren es schon fünfhundertmal oder nur sehr viele, für einen einzelnen Körper vielleicht jetzt schon zu viele, waren es mal drei Mal im Jahr und dann vier Mal, dann die Jahre, in denen nur Sommer und Weihnachten möglich waren, so waren es unausweichlich diese Stunden und ihre fast genaue Anzahl, die unsere Bewegungen aufeinander zu und wieder weg seit jenem Tag bestimmen, als sie die Koffer nahmen, als sie die Wohnung im obersten Stock des Plattenbaus in Novi Zagreb abschlossen, als die Zweiten die Ersten wurden, die gingen, und die Mutter mich in den gelb gestreiften Rock steckte und sich den Bruder um den Bauch hängte und wir ins Flugzeug stiegen. Wohl gepackt, wohl vorbereitet, wohl organisiert, es warteten Wohnung, Arbeit und ein Kindergartenplatz, es wurden getauscht: die mir bekannte Straße, das Plattenbauviertel, die Großeltern, die Tante in der Stadt, die vielen Parks und Ausflugsziele, die Sarma und die gefüllte Paprika, die kleinen Schokoladen mit den Tierbildern zum Sammeln, Zagreb, die Stadt, und das Land, das damals noch ein anderes war und sich bald ändern sollte, gegen eine neue Entfernung und ihren Wert, gegen die Erinnerung, die ab diesem Moment anders verlaufen würde, mit zweisprachigen Träumen und zeitrennenden Ferien, immer zu wenig Zeit für die vielen Verwandten, immer zu wenig Zeit für eine wahrhaftige Unterhaltung, renn, renn, renn! Ostern, Weihnachten, wieder Ostern, schon wieder Weihnachten, dazwischen und davor und meist auch danach ein schlechtes Gewissen, ein Sprachspagat oder ein heulender Salto, inzwischen eine Kindheit an einem See weit weg davon, Anke für Butter, zuhause putar, und Grüezi, Ade, Merci, Frau Rüedi, die Nadines und Stefanies und Chrigis und Sämis im Chindsgi und in der Schule, inzwischen ein Studium, noch weiter weg, mit jenem Tag beginnend, an dem die Mutter mich in den gelb gestreiften Rock steckte und sich den Bruder um den Bauch hängte und wir dann ins Flugzeug stiegen. Ein kurzes Gewitter, eine verschüttete Coca-Cola und dann die Landung in Zürich, wo der Vater schon wartete, ein Foto fürs Familienalbum, darauf ist schräg hinter uns KUNFT ZÜ zu lesen, das Ende des Stadtnamens verdeckt ein großer Kopf im Hintergrund, den Anfang der Ankunft hat die Kamera abgeschnitten, unser Nullpunkt, von dort wächst alles aus zwei Richtungen heraus. Aus den Stunden dazwischen und jenen, die stets fehlen, entstehen irgendwo Stapel, die sich nicht mehr abtragen lassen werden.
Draußen jetzt Vorstadt, kein Land mehr, gleißende Morgensonne, graue Betonklötze, Vorstadt, Großstadt, die ausgestorben sein wird, der Zug halb leer. In einem Land am Meer bleibt im August keiner in der Stadt. Der Boden glüht, Staub, die Fenster in den Betonblöcken stehen fast alle offen, an den Häuserwänden hängen Klimaanlagen, ab und zu Satellitenschüsseln.
Ich drehe mich um.
Vor drei Tagen noch ein anderer Zug.
Ich drehe mich um.
Es beginnt drei Tage zuvor, ich drehe mich auf den Bauch, auf den Rücken, auf die Seite, und es hört auf, ich drehe mich um, in einem Zug nach Paris, vor drei Tagen, ich drehe mich um, in einem lila-roten TGV, glühender Körper in einem eiskalten Zugabteil, um mich herum Stille, ich drehe mich um, durch diese Ruhe schlich ich auf die Toilette, zog mich um, in der Hoffnung, dass es keiner bemerkt, als würde es jemanden interessieren, ob ich mich umgezogen hatte, ob ich nun besser, schlechter oder einfach nur anders aussah, eine Unsicherheit insgesamt, die in Wirklichkeit keinem einzigen Blick im Zug galt, sondern ihm.
Ich liege auf dem Rücken. Ich liege still.
Dabei kennen seine Hände und Augen jeden Teil meines Körpers auswendig, kennen die Höhlen zwischen den Achseln, in der Armbeuge, beim Schlüsselbein, können im Schlaf meine Brust nachzeichnen, meine Ohren, meinen Hals, Hände, die tief eingedrungen sind, die den Körper immer und immer wieder auseinandergebaut und neu zusammengeschraubt haben, ich zog mich um, als könnte diese kleine Entscheidung alle weiteren bedingen, als wäre sie ein Panzer, mit dem ich sicher oder zumindest sicherer aussteigen würde. Wenn ich in diesem unterkühlten Zug nach Paris eine klare Entscheidung treffen könnte, dann müsste es auch nach der Ankunft möglich sein, eine weitere zu treffen. Doch es gab weder Sicheres noch Unsicheres, wenn ich an die Treffen und Berührungen dachte, es gab mich, es gab ihn, es gab keinen Panzer, mit dem ich für das Eine oder Andere kämpfen konnte, also beschwor ich dieses Umziehen, ich beschwor die Unterwäsche, das Hemd, die Hose und die Socken, ich beschwor jeden Teil meines Körpers, diese Begegnung zu schützen, mehr konnte ich nicht tun in einem kalten Zugabteil vor drei Tagen, als ich nach Paris fuhr, um vielleicht eine Entscheidung zu treffen. Dabei kannte ich sie schon. Länger schon. Wusste, dass wir uns nie voneinander verabschiedeten, bei keiner Begegnung, so würden wir es auch bei dieser nicht tun, dass wir kein Ende finden würden, doch dass es trotzdem, auch schon länger, auf eine bestimmte Art vorbei war. Ich fuhr trotzdem hin, vor drei Tagen, so wie alles andere trotzdem geschehen war, dieses gesamte letzte Jahr über.
Als der Zug in Paris ankam, ließ ich die Beschwörung im Abteil zurück, wir haben keine Schwüre und wir haben keine schüchternen Verabredungen.
Ich drehe mich um.
Fett auf der Stirn und unter den Nägeln schwarze Ablagerungen. Das Laken unter mir ist rauh, nicht richtig gespannt, zu viel Stoff, durchgeschwitzt. Ich schiebe das T-Shirt hoch und lege einen Arm auf die eiserne Vorrichtung am Bett, die davor schützt, dass der Körper herausfällt, sie ist kühl, ich liege kaum angezogen in diesem Zugabteil.
Es begann an einem sehr warmen Abend mitten im Hochsommer, mitten zwischen den rotverbrannten Rücken und Nacken, die tagsüber zu lange und zu eng aneinander am Strand lagen und abends wie betrunken über die Promenade spazierten, es begann letzten Sommer auf der Großmutterinsel, die in jener Richtung liegt, in welche der Zug jetzt fährt, die vor mir liegt, während ich von ihm wegfahre, es begann zwischen Schweiß und Parfüm und Sonnencreme, und es begann mit Hrvoje, der uns einander vorstellte und mich einlud, mit ihnen essen zu gehen, ja, jetzt sofort, sagte er laut, weil es um uns herum noch lauter war, und wir gingen los, waren viele, es begann auf der Terrasse eines überfüllten Restaurants, mit zwei Stuhllehnen dicht nebeneinander, und kaum saßen wir, stand er auf, musste rauchen, musste telefonieren und sagte: Bestell mir bitte etwas. Was bestellt man einem solchen Mann zu essen, er stand weiter weg auf der Promenade, telefonierte und schaute mir dabei zu, wie ich die Bestellung aufgab, und ich kriegte Lust, kriegte eine unglaubliche Lust auf die vielen Möglichkeiten, die diese Insel bot, auf frischen Fisch und Škampi na Buzaru, auf Šurlice, auf Mangold und kleine Kartoffeln, und ich bestellte für zwei, es begann mit einer Bestellung am ersten Abend, und er aß mit einer Geste, als hätten wir schon immer genau das gemeinsam gegessen. Er tunkte das Brot in meine Scampisauce, er probierte ohne zu fragen von meinem Teller und ich von seinem.
Und dann klopfte er. Er klopfte ein paar Abende später an meiner Tür, ohne Ankündigung, und kam herein. Ich war dabei, ins Bett zu gehen, saß auf dem Balkon des Großmutterhauses, ohne Licht, wie ich das nachts meistens tue im Sommer, und er setzte sich dazu. Ich schaute mir seine Ruhe an und wurde ungeduldig, ich schaute mir seinen Körper in der Nacht an, einen großen Schatten, spürte, dass ich keinen BH trug, verschränkte die Arme vor den Brüsten wie ein Mädchen, obwohl er mich im Dunkeln kaum sehen konnte, und sagte viel. Tat so, als wäre er jeden Abend immer schon vorbeigekommen, und konnte mich nicht bewegen. Ich bot ihm kein Getränk an, kein Licht, kein Zeitlimit. Ich redete viel. Irgendwann wird jemand ins Haus zurückkommen. Ich fragte mich wann, und ich fragte mich, ob er das auch wusste. Ich redete weiterhin viel. Dann wechselten wir. Dann nahm er sich und die Worte zusammen und sagte, dass er hier sei, um etwas zu sagen, was er jahrelang nicht mehr zu jemandem gesagt hätte, diese Berührung, sie sei da, sagt er. Ich sage nichts. Ich drückte die Arme um die Brüste und sagte nichts, und er blieb ruhig, er blieb da. Er sagte nochmal: berührt. Ein Tisch lag zwischen uns, wie jeden Abend Tische und Stuhllehnen zwischen uns lagen, und ich schaffte es nicht, ein Wort zu sagen.
Vielleicht müsse er es zuhause erzählen, sagte er nach einer Weile, er wisse es noch nicht. Etwas daran verletzte. Ich verstand noch nicht, was daran verletzte. Zuhause? Oder erzählen? Verletzt erzählen? Verletzt zuhause? Verletzen sich Berührung und Zuhause? Sie schließen sich nicht aus. Sie verletzen sich. Ich wusste es. Ich wollte es ihm verbieten. Das Erzählen. Das Zuhause. Das nicht verstehen wird, vielleicht ausschließen wird, wo etwas erst begann. Eine erste Berührung war, trotz Tisch, trotz Nacht, trotz keiner Berührung. Ich hatte Angst um die paar Worte, um die ich ihn nicht gefragt hatte. Sie prägten sich ein, sie waren jetzt da, sie blieben, er machte sie zu meinen.
Trinken wir morgen früh einen Kaffee, fragte er.
Und ich sage: Ja.
Jetzt ist der letzte Sommer lange her. Jetzt ist es schon viel zu heiß, der Zug ist noch nicht angekommen, jetzt draußen eine alte Frau, die aus dem Fenster schaut, ein kleiner See, Parkbänke, jetzt ein Mann, der auf einer dieser Parkbänke schläft, jetzt sein Traum, jetzt ein Graffito an der Mauer, ein Fahrrad an der Ecke, ein Ei, ein Kaffee, jetzt eine Hand an der Hüfte, jetzt ein Flugzeug über uns, jetzt ist doch alles da, kommt nach oder noch: vor einem Jahr, auf meiner Insel, vor drei Tagen, gestern Abend. Ich drehe mich um.
Vor drei Tagen scheint jetzt eine längere Zeit zu sein als all diese reisenden Stundenstapel davor zusammengezählt, vor drei Tagen trägt keine Wiederholung in sich, keine Pflicht wiederzukehren, kein schlechtes Gewissen, vor drei Tagen ist nicht mehr, vor drei Tagen war er, waren er und ich, waren vielleicht Möglichkeiten vor uns, vor drei Tagen war alles Kommende noch unzählbar und noch nicht vor drei Tagen.
Dazwischen: ein Jahr. Ein Jahr der vielen Zugfahrten, ein Jahr wie viele andere in Zügen verbracht, Köln, Frankfurt, Wiesbaden, Hamburg, Basel, Innsbruck bekannt, alle Möglichkeiten des Umsteigens bekannt, die üblichen Verspätungen, der beste Kaffee an jedem Bahnhof und der schlechteste, vor allem der schlechteste bekannt, der Körper in einem Zugsitz, der eigene, der sitzend bewegt wird, um wieder und wieder die Distanzen zu vermessen, das Sitzen und irgendwann nur noch das Warten, darauf, dass eine Zugtür oder eine Bustür oder eine Flugzeugtür aufgeht, bekannt, diese Orte, die fremd bleiben und ähnlich werden, bekannt. Wie müde die Ähnlichkeit macht, wie ähnlich die Müdigkeit macht. Fahle Gesichter in grellen Zugbeleuchtungen, Zeitungen, Bier, der Wein schon morgens um neun in unbekannten Händen, im Zugbistro am Tisch nebenan, rote Augen, grelle Bildschirme bekannt. Ich musste losfahren und werde es wieder müssen, das Kindheitsleben zwischen zwei Orten vervielfacht, wieder und wieder los und jedes Mal zurück, dahin, wo er war, vor allem dahin, wo er zugleich nicht war, in die leere Wohnung, in einer Stadt, in der auch er lebt, aus der heraus er sich nicht bewegt, auch das irgendwann bekannt. Fast lieb.
Nun wieder Sommer.
Nun sitzt die Familie wieder auf der Großmutterinsel, Sommeralltag, und die Mutter sagt: Wo steckst du, wir sind im Sommer immer zusammen, du bist nicht da, das geht nicht, wann kommst du zu uns? Ich fuhr zunächst nach Paris, vor drei Tagen nach Paris, im Regen, und erst gestern Abend setzte ich mich in den Zug nach Zagreb, nur auf eines freue ich mich, auf das Licht, wenn abends die Straßenlampen angehen, wenn es gelb wird, orange-gelb wie bei alten Natriumlampen, und die Häuserfassaden will ich sehen, ebenfalls orange-gelb, dieses österreichisch-ungarische Erbe, Hochkultur, dazwischen aber Frankfurt. Kurz vor Mitternacht umsteigen, warten in der langgedehnten Halle, Asiafood, Ditch, zwei Mal Crobag, alle in selben kleinen Häuschen untergebracht, daneben Burger King, Presse, McDonalds, drei Mal hin und her zwischen den Buden, laute, kaum verständliche Durchsagen aus den Lautsprechern, klirrende Frauenstimmen, München, Kiel, Berlin, Verspätung, wenn man hinaustritt Hochhäuser und das Rotlichtviertel, kein Regen, nur grau, und bis Mitternacht war es noch etwas mehr als eine Stunde. Ich traute mich nicht zu weit vom Bahnhof wegzugehen, war wie immer zu pünktlich wieder zurück, eine halbe Stunde vor Abfahrt stand ich an den Gleisen, zur Sicherheit, man weiß ja nie, da fuhr ein Zug ein, der nach Zürich fährt, alle Stunden ein Zug aus Frankfurt nach Zürich, wo ich schon lange nicht mehr war, nur die Schweizer Pünktlichkeit, die tickt.
Und gleich die Ankunft in Zagreb.
Letzten Sommer verpasste ich, nach einer letzten Nacht, die er und ich nebeneinander am Strand verbrachten, meinen Rückflug. Ich verpasse keine Flüge, keine gebuchten Zugreisen, Jahre schon, aber dann:
Ich schlief einen ganzen Tag.
Ich schlief, bis ich meinen Flug verpasst hatte und noch länger.
Ich wachte auf, als das Flugzeug wieder gelandet war, ohne mich.
Ich setzte mich auf den Balkon und machte kein Licht.
Ich wollte ihn anrufen, doch ich tat es nicht.
Ich hatte beschlossen, mich nicht bei ihm zu melden.
Ein paar Sommertage ein paar Sommertage sein zu lassen.
Er rief an.
Er sagte: Eine schlaflose Nacht und schon verpasst du deinen Flug. Er musste etwas lachen. Ich sagte nichts. Ich sagte nicht, dass mir das lange schon nicht passiert sei. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war die Geschwindigkeit nicht gewohnt. Er war mir ständig einen Schritt voraus. Es gab kein Warten. Ich mochte das. Ich mochte es nicht. Ich sagte also weiterhin wenig.
Er rief ein zweites Mal an dem Abend an, er sagte: Ab jetzt werde ich mich bei dir melden.
Es war keine Frage, das hörte ich. Es war sein Beschluss, diese Sommertage nicht einfach nur Sommertage gewesen sein zu lassen.
Ich blieb vorsichtig mit den Worten.
Er sagte: Pass auf dich auf, wie kommst du nach Hause?
Ich sagte: mit dem Zug. Gut sagte er, ich melde mich.
Er war da.
Jetzt Zagreb Zapadni Kolodvor.
Jetzt der Westbahnhof.
Jetzt das Hotel Westin,
an dem wir rechts vorbeifahren.
Jetzt früher Morgen, keine Nacht mehr.
Jetzt sagt es, ganz nah bei mir: Wo bist du schon wieder so lange gewesen?, ein leiser Vorwurf, sorgfältig streicht die Großmutter über das zerknitterte Hemd, das stinkend auf dem Koffer liegt, wo warst du nun schon wieder? Und: Wirst du nicht müde? Doch, das werde ich, aber ich sage es nicht, als die grüßenden Großahnen einsteigen, als sie sich langsam, einer nach dem anderen, hereindrängen. Da hocken sie neben mir und nehmen nach und nach das gesamte Abteil ein, das kann ja wieder einmal gut werden. In den Stimmen ein leiser Vorwurf, ich weiß dennoch, dass ihr euch freut, mich wieder hier zu sehen. Bei euch. Bei uns. Kurz vor der Ankunft verdreht sich die Sprache im Mund, ihr sagt: Jetzt bist du wieder hier, jetzt kannst du wieder uns sagen, nicht euch. Das sind doch alles wir. Aber welches wir, so tot wie ihr alle seid? Hier sitzt die schielende Großtante, die nie einen Mann hatte und als eine der wenigen Töchter im Familiengrab des Urgroßvaters liegen darf, oder muss, auf dem kleinen Friedhof der windigen Insel, und dort der bucklige Großonkel von der gleichen windigen Insel, seine Hände riechen nach Feldarbeit, seine Haut von ebendiesem Inselwind zerwühlt, keine Zähne mehr, daneben vier weitere Geschwister der Inselgroßmutter und unzählbare des Inselgroßvaters, dann die Großmutter aus der Stadt, die Klavierspielerin in hohen Schuhen, Lockenwickler im Haar und die Nägel frisch lackiert, dann die Omama der Mutter, ihr Otata, dann die Hutmacherinnentante, und in einer Ecke, still am Fenster, die vorbeiziehende Landschaft beobachtend, sitzt leise der Großvater, der von einem anderen, einem dritten Ort kommt, der zwischen Stadt und Insel liegt, ohne Familienanhang, nur mit der Großmutter, die er immer wieder liebevoll anschaut, die ihn zum Stadtgroßvater gemacht hat.
Und dieser ortlose Großvater hält sich mit einer Hand gut fest und erwartet die Ankunft noch ungeduldiger als ich, um sich, sobald die Zugtüren aufgehen, am Bahnsteig die erste Zigarette anzuzünden. Seine Stille entwickelt eine Kraft, nimmt den Raum ein und lässt die anderen kleiner werden. Er grüßt mich, setzt sich nun neben mich, und wir werden zusammen in dieser Stadt ankommen.
Und wie immer sagt er nichts. Und es wird noch lauter.