Aus dem Englischen
von Max Henninger
Für das Combahee River Collective,
das den Weg früh erkannt hat,
und für die streikenden Feministinnen Polens
und Argentiniens,
die heute Neuland gewinnen.
Feminismus für die 99 Prozent. Ein Manifest
Nachwort
Im Frühjahr 2018 hat Facebook-Managerin Sheryl Sandberg erklärt: »Wir wären in einer weitaus besseren Lage, wenn die Hälfte aller Länder und Konzerne von Frauen, die Hälfte aller Haushalte von Männern geführt würde.« Wir »sollten nicht ruhen, bevor wir dieses Ziel erreicht haben«. Als führende Vertreterin eines unternehmensnahen Feminismus hat sich Sandberg einen Namen gemacht (und Geld verdient), mit ihrer an Managerinnen gerichteten Aufforderung, sich auf der Vorstandsetage »durchzusetzen« (lean in). Bereits als ehemalige Stabschefin des US-Finanzministers Larry Summers – des Mannes, der für die Deregulierung der Wall Street verantwortlich zeichnet – hatte sie keinerlei Bedenken, Frauen zu versichern, durch Zähigkeit errungener geschäftlicher Erfolg sei der Königsweg zur Geschlechtergleichheit.
Im selben Frühjahr hat ein militanter feministischer Streik Spanien lahmgelegt. Mehr als fünf Millionen Demonstrantinnen folgten dem Aufruf der Veranstalter dieser vierundzwanzigstündigen huelga feminista, sich einzusetzen für »eine Gesellschaft ohne sexistische Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt […], für Rebellion und den Kampf gegen jenes Bündnis von Patriarchat und Kapitalismus, das uns gehorsam, fügsam und still sehen will«. Als die Sonne über Madrid und Barcelona unterging, erklärten die streikenden Feministinnen: »Am 8. März verschränken wir die Arme und legen jegliche produktive und reproduktive Tätigkeit nieder.« Sie seien nicht bereit, »schlechtere Arbeitsbedingungen hinzunehmen oder uns für die gleiche Arbeit schlechter bezahlen zu lassen als Männer«.
Diese beiden Stimmen stehen für gegensätzliche Wege der feministischen Bewegung. Sandberg und ihresgleichen begreifen den Feminismus als Magd des Kapitalismus. Sie wollen eine Welt, in der sich Männer und Frauen der herrschenden Klasse gleichberechtigt die Aufgabe teilen, Ausbeutung am Arbeitsplatz und gesamtgesellschaftliche Unterdrückung zu verwalten. Das ist die erstaunliche Vision einer auf Chancengleichheit beruhenden Herrschaft: einer Herrschaft, die gewöhnliche Menschen im Namen des Feminismus aufruft, sich dankbar zu zeigen dafür, dass eine Frau und kein Mann ihre Gewerkschaft zerschlägt, einer Drohne den Befehl erteilt, die Mutter oder den Vater zu töten, oder das Kind an der Grenze in einen Käfig sperrt. Im scharfen Gegensatz zu Sandbergs liberalem Feminismus bestehen die Organisatorinnen der huelga feminista darauf, dem Kapitalismus ein Ende zu setzen: jenem System, das den Chef hervorbringt, nationale Grenzen produziert und die Drohnen herstellt, die diese Grenzen überwachen.
In Anbetracht dieser beiden Visionen des Feminismus können wir sagen, dass wir an einer Weggabelung stehen. Für welchen Weg wir uns entscheiden, hat außergewöhnliche Folgen für die Menschheit. Ein Weg führt zu einem verbrannten Planeten, wo menschliches Leben bis zur Unkenntlichkeit verelendet, wenn es überhaupt möglich bleibt. Der andere Weg weist uns in jene Art von Welt, die stets im Mittelpunkt der kühnsten Menschheitsträume gestanden hat: eine gerechte Welt, in der Wohlstand und natürliche Ressourcen von allen geteilt werden und in der Gleichheit und Freiheit nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt sind.
Der Gegensatz könnte kaum deutlicher sein. Was die Entscheidung für uns heute jedoch so dringlich macht, ist die Abwesenheit jeglichen gangbaren Mittelwegs. Wir verdanken diesen Mangel an Alternativen dem Neoliberalismus: jener außergewöhnlich räuberischen, finanzialisierten Spielart des Kapitalismus, die in den letzten vierzig Jahren weltweit geherrscht hat. Indem sie die Atmosphäre vergiftet, jeden Anspruch auf demokratische Regierungsführung verhöhnt, die Kapazitäten der Gesellschaft bis zur Belastungsgrenze ausgezehrt und im Allgemeinen die Lebensbedingungen der überwiegenden Mehrheit der Menschen verschlechtert hat, hat diese Variante des Kapitalismus auch den Einsatz eines jeden sozialen Kampfes erhöht und aus nüchternen Bemühungen um die Durchsetzung bescheidener Reformen offene Feldschlachten um das blanke Überleben gemacht. Unter solchen Bedingungen ist die Zeit für Unentschlossenheit abgelaufen, und Feministinnen müssen Stellung beziehen: Werden wir darin fortfahren, eine »auf Chancengleichheit beruhende Herrschaft« zu verfolgen, während der Planet in Flammen steht? Oder werden wir eine neue, antikapitalistische Vorstellung von Geschlechtergerechtigkeit entwickeln – eine, die über die aktuelle Krise hinaus- und in eine neue Gesellschaft führt?
Dieses Manifest ist ein Abriss des zweiten Weges, das heißt eines Kurses, den einzuschlagen wir sowohl für notwendig als auch für möglich halten. Ein antikapitalistischer Feminismus ist heute denkbar geworden, unter anderem weil die politischen Eliten weltweit ihre Glaubhaftigkeit verlieren. Zu den Opfern dieser Entwicklung zählen nicht nur die Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien, die dem Neoliberalismus das Wort geredet haben – und die heute nur noch ein Schatten ihrer selbst sind, der Verachtung ausgesetzt –, sondern auch ihre Verbündeten à la Sandberg, jene Vertreterinnen eines unternehmensnahen Feminismus, deren »fortschrittlicher« Anstrich mittlerweile an Glanz eingebüßt hat. Der liberale Feminismus hat mit der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl im Jahr 2016 sein Waterloo erlebt, als die von viel Tamtam begleitete Kandidatur Hillary Clintons das Interesse wählender Frauen nicht zu erwecken vermochte. Und das nicht ohne Grund: Clinton verkörperte die wachsende Kluft zwischen der Besetzung hoher Ämter durch Frauen aus der Elite und der Verbesserung der Lebensumstände der überwiegenden Mehrheit der Menschen.
Clintons Niederlage ist unser Weckruf. Indem diese Niederlage den Bankrott des liberalen Feminismus offenbart hat, hat sie auch die Gelegenheit für eine Infragestellung dieses Feminismus von links geschaffen. Das vom Niedergang des Liberalismus hinterlassene Vakuum bietet uns die Möglichkeit, einen neuen Feminismus zu entwickeln: mit einer anderen Definition dessen, was als feministisches Thema gilt, mit einer anderen Klassenausrichtung und einem anderen Ethos – einem radikalen und transformativen.
Dieses Manifest ist unser Versuch, einen solchen anderen Feminismus voranzubringen. Wir schreiben nicht, um eine fantasierte Utopie zu skizzieren, sondern um den Weg zu kartieren, dem es zu folgen gilt, um eine gerechte Gesellschaft herbeizuführen. Wir wollen erläutern, weshalb Feministinnen den Weg der Frauenstreiks wählen sollten, weshalb wir uns mit anderen antikapitalistischen und antisystemischen Bewegungen verbünden sollten und weshalb unsere Bewegung die eines Feminismus für die 99 Prozent werden muss. Nur auf diese Weise – durch die Knüpfung von Verbindungen zu Antirassistinnen, Umweltschützern, Arbeiter- und migrantischen Aktivistinnen und Aktivisten – vermag der Feminismus der Herausforderung unserer Tage gerecht werden. Indem er das Dogma, Frauen müssten sich durchsetzen, ebenso ablehnt wie den Feminismus des einen Prozent, kann unser Feminismus ein Fanal setzen und allen anderen Hoffnung verleihen.
Die Courage, dieses Projekt jetzt anzugehen, beziehen wir aus der neuen Welle des militanten feministischen Aktivismus. Dies ist nicht der unternehmensnahe Feminismus, der sich für arbeitende Frauen als so desaströs erwiesen hat und gegenwärtig an Glaubwürdigkeit verliert. Es ist auch nicht der »Feminismus der Mikrokredite«, der behauptet, die Frauen des globalen Südens dadurch zu »ermächtigen«, dass er ihnen winzige Geldbeträge leiht. Was uns hoffen lässt, sind vielmehr die internationalen feministischen und Frauenstreiks der Jahre 2017 und 2018. Es sind diese Streiks und die zunehmend koordinierten Bewegungen, die sich in deren Umfeld entwickeln, die die Vorstellung eines Feminismus für die 99 Prozent inspiriert haben – und die einen solchen Feminismus mittlerweile verkörpern.
Erste These: Eine neue feministische Welle ist im Begriff, den Streik neu zu erfinden.
Die neue feministische Streikbewegung begann in Polen, wo im Oktober 2016 mehr als 100 000 Frauen die Arbeit niederlegten und demonstrierten, um gegen das polnische Abtreibungsverbot zu protestieren. Bis zum Monatsende hatte dieser Geist radikaler Verneinung bereits den Ozean überquert und Argentinien erreicht, wo streikende Frauen den ruchlosen Mord an Lucía Pérez mit dem militanten Ausruf »Ni una menos« beantworteten. Bald breitete sich das Aufbegehren nach Italien, Spanien, Brasilien, in die Türkei und nach Peru, in die USA, nach Mexiko, Chile und in Dutzende weitere Länder aus. Auf der Straße entstanden, fasste die Bewegung rasant auch in der Arbeitswelt und an Universitäten Fuß, um schließlich in die erhabenen Welten der Unterhaltungsindustrie, der Medien und der Politik vorzudringen. Die Parolen dieser Bewegung sind in den letzten zwei Jahren weltweit zu vernehmen gewesen: #NosotrasParamos, #WeStrike, #VivasNosQueremos, #NiUnaMenos, #TimesUp, #Feminism4the99. Zunächst nur ein Rippeln, dann eine Welle, ist die Bewegung mittlerweile zu einer heftigen Flut geworden. Es handelt sich um eine neue, globale feministische Bewegung, die ausreichend Kraft entfalten könnte, um bestehende Bündnisse zu sprengen und die politische Landschaft nachhaltig zu verändern.
Was zunächst nur eine Reihe national ausgerichteter Aktionen war, wurde am 8. März 2017 zu einer transnationalen Bewegung, als sich Veranstalterinnen weltweit entschlossen, gemeinsam zu streiken. Mit diesem kühnen Streich haben sie den internationalen Frauentag neu politisiert. Indem sie den Tand der Depolitisierung beiseite gefegt haben – Brunches, Mimosen und Grußkarten –, haben die Streikenden die beinahe vergessenen Ursprünge des Feiertags in der Geschichte eines in der Arbeiterklasse verankerten sozialistischen Feminismus wiederbelebt. Ihre Aktionen haben den Geist der Mobilisierungen von Arbeiterklasse-Frauen aus dem frühen 20. Jahrhundert aufgegriffen; exemplarisch seien hier die Streiks und Massendemonstrationen genannt, die in den USA vor allem von Einwanderinnen und jüdischen Frauen angeführt wurden und US-amerikanische Sozialisten anregten, einen ersten nationalen Frauentag zu organisieren, woraufhin die deutschen Sozialistinnen Luise Zietz und Clara Zetkin zu einem internationalen Frauenkampftag aufriefen.
Indem sie diesen militanten Geist wiederbeleben, betreiben die heutigen feministischen Streikbewegungen eine Wiederaneignung unserer historischen Ursprünge in den Kämpfen um Arbeiterrechte und soziale Gerechtigkeit. Und indem sie Frauen über Ozeane, Gebirge und Kontinente, aber auch über Grenzen, Stacheldrahtzäune und Mauern hinweg verbinden, verleihen sie der Parole »Solidarität ist unsere Waffe« neue Bedeutung. Sie überwinden die Isolation, reißen symbolische und Ländergrenzen ein und beweisen damit das enorme politische Potenzial der Frauenmacht: der Macht jener Menschen, deren bezahlte und unbezahlte Arbeit die Welt in Gang hält.
Doch damit nicht genug: Diese aufkeimende Bewegung hat neue Streikformen entwickelt und den Streik zum Träger einer neuen Form von Politik gemacht. Indem sie die Arbeitsniederlegung mit Märschen, Demonstrationen, der Schließung kleiner Unternehmen, mit Blockaden und Boykotten verbindet, erweitert die Bewegung das Repertoire der Streikaktionen. Dieses Repertoire war bereits einmal ein umfangreiches, ist aber infolge der jahrzehntelangen neoliberalen Offensive dramatisch geschrumpft. Gleichzeitig bewirkt die neue Welle eine Demokratisierung des Streiks und weitet dessen Reichweite aus – vor allem durch eine Erweiterung der Vorstellung dessen, was überhaupt als Arbeit zählt. Durch seine Weigerung, diese Kategorie auf den Bereich der Lohnarbeit zu beschränken, beinhaltet der Frauenstreik-Aktivismus eine Arbeitsverweigerung, die auch den Haushalt, die Sexualität und die Erwartung einer stets freundlichen Miene betrifft. Indem er die unverzichtbare Rolle erkennen lässt, die geschlechtsspezifische, unbezahlte Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften spielt, richtet er die Aufmerksamkeit auf Tätigkeiten, die dem Kapitalismus zugutekommen, von diesem aber nicht vergütet werden. Auch in Hinblick auf bezahlte Arbeit haben die Streikenden einen großzügigen Begriff davon, was zum Thema Arbeit gehört. Weit davon entfernt, sich nur auf Löhne und Arbeitszeiten zu beschränken, thematisiert ihre Kritik auch sexuelle Belästigung und Übergriffe, Verhältnisse, die der reproduktiven Gerechtigkeit im Wege stehen, sowie Beschränkungen des Streikrechts.
Infolgedessen hat die neue feministische Welle das Potenzial, die starrsinnige und spalterische Gegenüberstellung von Identitätspolitik und Klassenpolitik zu überwinden. Die Einheit von Arbeitsplatz und Privatleben aufdeckend, weigert sie sich, ihre Kämpfe auf diese Bereiche zu beschränken. Und indem sie neu bestimmt, was als Arbeit gilt und wer als Arbeiterin zählt, weist sie die strukturelle Unterbewertung der – bezahlten und unbezahlten – Frauenarbeit durch den Kapitalismus zurück. Alles in allem antizipiert der Frauenstreik-Feminismus die Möglichkeit einer neuen, präzedenzlosen Phase des Klassenkampfes: feministisch, internationalistisch, ökologisch und antirassistisch.