Das außergewöhnliche Leben
eines Dienstmädchens namens
PETITE,
besser bekannt als
Madame Tussaud
Roman von
EDWARD CAREY
Illustriert von Edward Carey
Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
C.H.BECK
1761 wird ein winziges Mädchen namens Marie Grosholtz im Elsass geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern wird sie Gehilfin des exzentrischen Wachsbildners Doktor Curtius in Bern, der sie mit nach Paris nimmt, wo sie mit der dominanten Witwe Picot und ihrem stillen Sohn Edmond in einem leerstehenden Affenhaus Quartier beziehen. Sobald sie das Gebäude in einen Ausstellungsraum für Wachsfiguren und Wachsköpfe verwandelt haben, wird ihr Handwerk zur Sensation und führt Marie bis an den Königshof in Versailles. Das Geschäft mit den Wachsköpfen berühmter und berüchtigter Zeitgenossen, großer Philosophen und notorischer Verbrecher blüht. Doch in Paris werden die Paläste gestürmt und das Volk verlangt nach Köpfen – genau das, was die Wachsbildner liefern!
Der zauberhafte, mit vielen Zeichnungen Careys versehene, feinsinnige und lebenspralle Roman erzählt die abenteuerliche Geschichte der Frau, die als Madame Tussaud zu Weltruhm gelangte: Eine unschuldig-weise kleine Madame Courage zwischen Philosophen und Häftlingen, Helden und Schurken, die sie allesamt in Wachs zu fassen vermochte.
Edward Carey, geboren 1970 in Norfolk, England, ist bildender Künstler, Romancier und Theaterautor, der Verfasser mehrerer Romane für Erwachsene und Kinder und lehrt an der Universität von Texas in Austin, wo er mit seiner Frau, der Autorin Elizabeth McCracken, und ihren Kindern lebt. «Little», so der Originaltitel, wurde in viele Sprachen übersetzt.
Cornelius Hartz ist promovierter Philologe, Übersetzer und Autor. Neben Werken von Joby Warrick, Barry Strauss und Eric H. Cline hat er zahlreiche Biografien historischer Persönlichkeiten übersetzt und die Gedichte des römischen Dichters Catull neu ins Deutsche übertragen. Daneben betreut er das Literatur Labor Wolfenbüttel, das junge Schreibtalente fördert.
Vorrede – 1761–1767
KAPITEL EINS
In welchem ich geboren werde und meine Mutter und meinen Vater beschreibe.
KAPITEL ZWEI
Familie Grosholtz.
Erstes Buch – 1767–1769
KAPITEL DREI
In welchem meine Mutter und ich vielerlei wunderbare Dinge sehen, einige davon in Vitrinen aus Palisander, und ich das zweite Mal einem Tod beiwohne.
KAPITEL VIER
In welchem aus einem zwei werden.
KAPITEL FÜNF
In welchem einmal mehr der Chirurg auftaucht.
KAPITEL SECHS
Köpfe.
KAPITEL SIEBEN
Eine Stadt, weit, weit fort.
KAPITEL ACHT
Welches ein recht beunruhigendes ist.
Zweites Buch – 1769–1771
KAPITEL NEUN
Die neuesten Kinder.
KAPITEL ZEHN
Zum zweiten Male: Köpfe.
KAPITEL ELF
In welchem einige fürchterliche Entwicklungen stattfinden.
KAPITEL ZWÖLF
Paris: eine Stadtführung, gegeben von Louis-Sébastien Mercier.
KAPITEL DREIZEHN
In welchem ich ausgesperrt werde.
KAPITEL VIERZEHN
Zwei Edmonds in der Küche.
KAPITEL FÜNFZEHN
Bürger des Jahres 2440.
Drittes Buch – 1771–1778
KAPITEL SECHZEHN
Der haarige Mann.
KAPITEL SIEBZEHN
Das Affenhaus.
KAPITEL ACHTZEHN
Nächtliche Stimmen.
KAPITEL NEUNZEHN
Zum dritten Male: Köpfe.
KAPITEL ZWANZIG
In welchem Geräusche von draußen nach drinnen dringen.
KAPITEL EINUNDZWANZIG
In welchem das Kabinett einen Wachhund erhält.
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
In welchem ich Lehrerin werde.
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
Jacques Beauvisage, ein Bericht von ihm selbst.
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
In welchem ein höchst bedeutsamer Ausflug stattfindet.
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
Unser erster Mörder.
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
In welchem es juckt.
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
Unsere neuesten Köpfe.
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
Neue Kleider.
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
ÖFFENTLICHE BEKANNTMACHUNG: Die Hochzeit der Cornélie Ticre.
KAPITEL DREISSIG
In welchem man mich findet.
Viertes Buch – 1778–1789
KAPITEL EINUNDDREISSIG
In welchem ich ein kurzes Gespräch mit meiner neuen Arbeitgeberin führe und mir meine Unterkunft gezeigt wird.
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
Mein kleines bisschen Palast.
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
Bezüglich meiner Anstellung als Mensch Ihrer Majestät, Princesse Élisabeth.
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
Der Schlosser von Versailles.
KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
Die armen leidenden Körper der Madame Élisabeth, von ihr selbst erzählt.
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
Auf dem Dach.
KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
Von Frauen, waagerecht und lotrecht.
KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
Kleine Vorfälle rund um ein Ereignis von nationaler Bedeutung.
KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
Ein Dienstmädchen und ein König.
KAPITEL VIERZIG
Von Spielsachen und ihren Besitzern.
KAPITEL EINUNDVIERZIG
Schmerz findet man in der Kirche von Saint-Cyr.
KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
Marie fecit oder Zum vierten Male: Köpfe.
KAPITEL DREIUNDVIERZIG
Meine Familie in Versailles.
KAPITEL VIERUNDVIERZIG
In welchem die Schranktüren geschlossen werden.
Fünftes Buch – 1789–1793
KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
Eingang und Ausgang.
KAPITEL SECHSUNDVIERZIG
Ein neuer Anfang.
KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
Ein Besuch.
KAPITEL ACHTUNDVIERZIG
PLAKATE ANKLEBEN VERBOTEN.
KAPITEL NEUNUNDVIERZIG
Jeder ist darinnen.
KAPITEL FÜNFZIG
In welchem Köpfe gestohlen werden.
KAPITEL EINUNDFÜNFZIG
Über Capitaine Curtius.
KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG
Gottloses Kind.
KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG
Flohbiss.
KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG
In welchem ich viel zu tun habe.
KAPITEL FÜNFUNDFÜNFZIG
Mehrere Liebesgeschichten.
KAPITEL SECHSUNDFÜNFZIG
In welchem die Familie dezimiert wird.
KAPITEL SIEBENUNDFÜNFZIG
«Macht mich.»
KAPITEL ACHTUNDFÜNFZIG
Keine Gefühle.
Sechstes Buch – 1793–1794
KAPITEL NEUNUNDFÜNFZIG
Ein stilles Haus in einer stillen Straße.
KAPITEL SECHZIG
Das Himmlische Bett des Doktor James Graham.
KAPITEL EINUNDSECHZIG
Zum sechsten Male: Köpfe.
KAPITEL ZWEIUNDSECHZIG
Ein neuer Geschäftszweig.
KAPITEL DREIUNDSECHZIG
Edmond leistet mir Gesellschaft.
KAPITEL VIERUNDSECHZIG
In welchem man uns fortbringt.
Siebentes Buch – 1794–1802
KAPITEL FÜNFUNDSECHZIG
Leben und Tod in einer Zelle.
KAPITEL SECHSUNDSECHZIG
Der zerschmetterte Kiefer.
KAPITEL SIEBENUNDSECHZIG
Eine kurze schwarze Liste.
KAPITEL ACHTUNDSECHZIG
Es gibt keinen Knochen.
KAPITEL NEUNUNDSECHZIG
Porträt der A. M. Grosholtz (von Louis David, Jahr III).
KAPITEL SIEBZIG
Meine letzte Wachsfigur in Frankreich.
KAPITEL EINUNDSIEBZIG
Und ich werde nie wiederkommen.
Später – 1802–1850
KAPITEL ZWEIUNDSIEBZIG
Zum siebenten Male: Köpfe.
DANKSAGUNG
Für Elizabeth
Das außergewöhnliche Leben und die historischen
Abenteuer eines Dienstmädchens namens
PETITE,
besser bekannt als Madame Tussaud,
darinselbst enthalten Reisen auf drei Kontinenten, verlorene Kinder, verlorene Eltern, Affengeister, Schneiderpuppen, Holzpuppen, künstliche Hausbewohner, ein König, zwei Prinzessinnen, sieben Ärzte, ein Mann, welcher ganz Paris durchwanderte, ein Mann, welcher eine Schneiderpuppe war und dessen Mutter eine Mogulin, ein Mann, welcher Mörder, bedeutende Philosophen, Helden und Monster sammelte, mehrere Häuser, jedes größer als das vorige, Fortschritt, Rückschritt, eine große Familie, Szenen von historischer Bedeutung, berühmte Menschen, gewöhnliche Menschen, Liebe, Hass, Massaker an Unschuldigen, Morde, mit eigenen Augen gesehen, Leiber, in mehrere Teile zerlegt, Blut in den Straßen, Elend, Gefängnisse, der Verlust von allem, was lieb und teuer ist, mehrere Ehen, festgehaltene und zurückgehaltene Erinnerungen, tagtägliche Katastrophen, eine eigene Geschichte.
Niedergeschrieben
von ihr selbst.
SOWIE:
Kraft ihrer eigenen Hand angefertigte Zeichnungen.
In Grafit, Kohle und schwarzer Kreide.
1761–1767
EIN KLEINES DORF
Vom Zeitpunkte meiner Geburt bis zu meinem siebenten Lebensjahre.
Im selben Jahre, als der fünfjährige Wolfgang Amadeus Mozart sein Menuett für Cembalo komponierte, dem Jahre, als die Briten den Franzosen in Indien Pondicherry entrissen, im selben Jahre, als erstmals die Melodie des Liedes Morgen kommt der Weihnachtsmann veröffentlicht wurde; während also in ebenjenem Jahre, man könnte auch sagen, dem Jahre 1761, in der Stadt Paris die feinen Herrschaften in den Salons von Ungeheuern in Königsschlössern erzählten, von Männern mit blauen Bärten und Prinzessinnen, die hundert Jahre schliefen, von gestiefelten Katern und gläsernen Schuhen und von kleinen Mädchen mit roter Kappe und vom bösen Wolf; und während sich die Herrschaften in der Stadt London in ihren Klubs über die Krönung König Georgs III. und seiner Gattin Charlotte unterhielten – während also all dies geschah, kam viele Meilen entfernt in einem kleinen Dorfe im Elsass in Anwesenheit einer rotwangigen Hebamme, zweier Landmägde und einer verängstigten Mutter ein Säugling zur Welt, der selbst für ein Neugeborenes recht zierlich war.
Anna Maria Grosholtz war der Name, den man dem in aller Eile getauften Kinde gab, doch später sollte man mich einfach nur Marie rufen. Ich war anfangs nicht viel größer als die kleinen Hände meiner Mutter aneinandergelegt, und niemand glaubte, dass ich lange leben würde. Dennoch überstand ich meine erste Nacht, und allen düsteren Prophezeiungen zum Trotze fuhr ich auch nach einer Woche noch fort, zu atmen. Den ganzen ersten Monat meines Lebens hindurch schlug mein Herz ohne Unterlass weiter. Das bockige, winzige Ding.
Meine einsame Mutter zählte bei meiner Geburt achtzehn Jahre. Sie war eine kleine Frau, knapp fünf Fuß hoch, und die Tochter eines Priesters. Dieser Priester, mein Großvater, durch Pocken zum Witwer geworden, war ein recht strenger Mann gewesen, ein Dämon im schwarzen Gewande, der seine Tochter niemals aus den Augen ließ. Nach seinem Tode veränderte sich das Leben meiner Mutter. Sie traf sich mit anderen Menschen, Leute aus dem Dorfe besuchten sie, und einer davon war Soldat. Dieser Soldat, ein Junggeselle, etwas älter, als ein Junggeselle sein sollte, war von düsterem Gemüte, allzu schreckliche Dinge hatte er gesehen, allzu viele Kameraden hatte er verloren. Er mochte Mutter sehr und fand, so seltsam es klingt, sie könnten zusammen glücklich sein, wenn sie zusammen traurig wären. Ihr Name war Anna Maria Waltner. Sein Name war Joseph Georg Grosholtz. Sie heirateten. Meine Mutter und mein Vater. Da war Liebe, und da war Freude.
Meine Mutter hatte eine große Nase, wie die alten Römer sie besaßen. Mein Vater, so erzählte man mir, besaß ein ausgeprägtes Kinn, das ein wenig nach oben wies. Dieses Kinn und diese Nase schienen gut ineinanderzupassen. Nach einer Weile war Vaters Heimaturlaub jedoch wieder vorüber, und er kehrte zurück in den Krieg. Drei Wochen hatten Mutters Nase und Vaters Kinn einander gekannt.
Ich kam aus Liebe zur Welt. Mein Gesicht kündete von der Liebe, die mein Vater und meine Mutter füreinander empfunden hatten: Ich wurde mit der Nase der Waltners und dem Kinn der Grosholtzens geboren. Jedes dieser Merkmale war für sich gesehen schon bemerkenswert und gab den Gesichtern beider Familien ein ganz eigenes Gepräge; zusammengenommen war das Ergebnis weniger schön – es war, als stellte ich mehr Fleisch zur Schau, als es mir geziemte. Kinder wachsen, wie sie wollen. Manche tun sich durch einen besonders üppigen Haarschopf hervor oder bekommen schon früh ihre Zähnchen; andere haben Sommersprossen, wieder andere kommen so blass auf die Welt, dass ihre schneeweiße Nacktheit für alle, die ihrer Zeuge werden, ein Schock ist. Ich für meinen Teil naste und kinnte mich auf die Welt. Natürlich war mir nicht bewusst, welch außergewöhnliche Leiber ich einst kennenlernen, in welch gewaltigen Häusern ich wohnen, inmitten welch blutiger Ereignisse ich mich wiederfinden würde; und doch, so scheint mir, hatten meine Nase und mein Kinn bereits eine Ahnung von all dem. Nase und Kinn, eine Rüstung fürs Leben. Nase und Kinn, meine Begleiter. Gleich zu Anfang war sie da, und sie sollte mich immer begleiten: die Liebe.
Da Mädchen wie ich nicht die Schule besuchten, gab meine Mutter mir Unterricht, und sie lehrte mich durch Gott. Die Bibel war meine Grundlage für alles. Ansonsten brachte ich Knüppelholz ins Haus, suchte im Walde nach Kienspänen, spülte Teller und wusch Kleider, schnitt Gemüse, holte Fleisch. Ich fegte. Ich putzte. Ich schleppte. Ich hatte immer zu tun. Mutter lehrte mich, geschäftig zu sein. Wenn meine Mutter zu tun hatte, war sie glücklich; wenn sie innehielt, kam die Unsicherheit, die sich nur durch eine neue Aufgabe zerstreuen ließ. Mutter war ständig in Bewegung, und Bewegung stand ihr gut.
«Schau dich um, was du tun kannst», sagte sie. «Irgendetwas findest du immer. Eines Tages kehrt dein Vater zurück, und dann sieht er, was für ein gutes und nützliches Kind du bist.»
«Danke, Mutter. Ich werde mich nützlich machen, ja, das möchte ich.»
«Was für ein Geschöpf du bist!»
«Bin ich das? Ein Geschöpf?»
«Ja, du bist mein kleines Geschöpf.»
Mutter bürstete mir mit Nachdruck das Haar. Manchmal berührte sie meine Wange oder tätschelte meine Haube. Wahrscheinlich fanden andere Leute sie nicht besonders hübsch, aber für mich war sie das. Direkt unter einem Augenlide hatte sie ein kleines Muttermal. Ich wünschte, ich könnte mich an ihr Lächeln erinnern. Ich weiß genau, sie hatte eines.
Im Alter von fünf Jahren war ich so groß wie der Hund im Hause der Nachbarn. Später war mein Kopf auf der Höhe der Türklinken, die ich so gerne rieb. Noch später, und weiter wuchs ich nicht, reichte ich den meisten Menschen bis zum Herzen. Wenn die Frauen im Dorfe mich sahen, murmelten sie manchmal: «Du wirst es schwer haben, einen Mann zu finden», und sie gaben mir einen Kuss.
An meinem fünften Geburtstage schenkte mir meine liebe Mutter eine Puppe. Ich nannte sie Marta, nach mir selbst. Ich kannte ihren kleinen Leib, der ungefähr ein Sechstel des meinen maß, ganz genau; jeden Zoll von ihr lernte ich kennen, während ich sie bewegte, manchmal grob, manchmal ganz zärtlich. Als sie zu mir kam, war sie nackt und besaß kein Gesicht. Sie bestand aus sieben hölzernen Gliedern, die sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise zusammenbauen ließen, sodass etwas entstand, das der Gestalt eines Menschen zumindest ein wenig ähnelte. Marta war mit Ausnahme meiner Mutter meine erste innige Verbindung zur Welt; nie war ich ohne sie. Wir waren glücklich zusammen, Mutter, Marta und ich.
Vater war in meinen ersten Lebensjahren nie da. Das Heer fand immer neue Ausreden, seinen nächsten Heimaturlaub zu verschieben. Was sollte Vater dagegen tun? Die armen Samen der Pusteblume landen stets dort, wohin der Wind sie bläst. Er fehlte uns, aber wir vergaßen seiner nicht. Manchmal saß Mutter auf dem Hocker am Kamin und erzählte mir von Vater. Dieses Wort zu sagen, bereitete mir große Freude: Vater. Manchmal, wenn Mutter fort war und es niemand sah, redete ich den Herd oder einen Stuhl oder eine Truhe oder einen der Bäume mit «Vater» an, und ich verbeugte mich vor ihnen oder umarmte sie, um für meines Vaters Heimkehr zu üben. Vater war überall im Dorfe. Vater war in der Kirche. Er war im Kuhstall. Vater war ein aufrechter Mann, sagte Mutter. Und das wäre er in unseren Gedanken sicherlich auch geblieben, wäre er nie wieder heimgekehrt.
Doch genau das tat er eines Tages. Mein wirklicher, leibhaftiger Vater war in den Ruhestand genötigt worden – und die Schuld daran trug nicht etwa eine Schlacht, denn in jenem Jahr fanden in Europa keine Schlachten statt, sondern die Fehlfunktion einer Kanone auf einer Parade. Das Geschütz war in der Schlacht bei Freiberg im Jahre 1762 beschädigt worden, und seine Reparatur muss recht erbärmlich gewesen sein, denn ein einziger Auftritt dieses fehlerhaften Geräts reichte aus, um mein Leben für immer zu verändern. Auf einer Sonntagsparade, ihrer letzten, wurde die Kanone zum Salut gezündet, doch irgendetwas blockierte das Geschützrohr, und so versprühte die Kanone in weitem Bogen Schwefel, Kohle, Salpeter und glühendes Metall. Vater stand innerhalb dieses weiten Bogens, und so durfte er endlich nach Hause.
Mutter war vor Sorge und Freude ganz außer sich. «Dein Vater kehrt heim zu uns! Und bald wird er wieder völlig gesund sein. Ich bin mir ganz sicher. Dein Vater, Marie!»
Doch der Mann, der in unser Haus zurückkehrte, wurde geschoben. Der Vater, der heimkam, war ein Vater im Rollstuhl. Vaters gelbe Augen waren feucht; sie schienen die Gattin, die vor ihm stand, gar nicht wiederzuerkennen; sie zeigten keine Regung, als die Gattin zitterte und zu stöhnen begann. Vaters Kopf zierte eine Glatze; das fehlerhafte Geschütz hatte ihm die Haut vom Kopfe gerissen. Vor allem aber fehlte diesem an den Rollstuhl gefesselten Häufchen Elend die Mandibula, der größte Knochen im Gesichte des Menschen, jener, den man für gewöhnlich als Unterkiefer bezeichnet.
Ich muss hier und jetzt ein Geständnis ablegen: Ich selbst hatte mir ausgemalt, dass mein Vater ein so markantes Kinn besessen hatte. Von wem sonst sollte ich dieses stolze, vorwitzige Ding haben? Ich hatte Vater nie zuvor gesehen. Doch gerade da ich ihn nicht zu sehen bekam, wünschte ich mir, er habe an mir eine Spur hinterlassen, damit ich Tag für Tag sicher sein könnte, dass ich sein war und er mein. All das ist lange, lange her, und außer mir sind die Akteure längst von der Bühne abgetreten; daher vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen, ob ich erst nach seiner Rückkehr, in einem Anfalle der Sehnsucht vielleicht, verkündete, ich hätte mein Kinn von ihm, oder ob ich es schon vorher geglaubt hatte. Aber seine Abwesenheit war so auffällig, dass ich mich danach sehnte, ihn zu verstehen und mir ein vollkommeneres Bild von jenem Manne zu machen, der mein in Not geratener Vater war. Ich wollte ihn im Ganzen sehen und stellte mir vor, wie mein Gesicht das seine vervollständigte, denn was ich vor mir sah, war nur das Porträt eines unglücklichen, zugrunde gerichteten Mannes.
Gemeinsam mit der Ankunft meines Vaters war mir ein Hinweis auf meine eigene Zukunft erschienen. Ein kleines Fenster hatte sich geöffnet und einen Namen gerufen.
Dem Manne im Rollstuhl fehlte der Unterkiefer, doch an dessen Stelle war ein Stück Silberblech angebracht, das die Form des unteren Endes eines recht durchschnittlichen Gesichtes aufwies. Da dieses Stück Silberblech nach einer Vorlage geformt war, darf man annehmen, dass Dutzende unglückliche Menschen ebenjenes silberne Kinn besaßen, das Vater nun sein Eigen nannte. Das Silberblech ließ sich abnehmen. Vater kam in zwei Teilen, die sich mit ein wenig Schmerz zusammenfügen ließen.
Mein armer Vater hatte keine Ahnung, wo er war. Er erkannte seine Gattin nicht wieder, und er begriff auch nicht, dass das kleine Mädchen, das ihn schweigend beobachtete, seine Tochter war.
Zur Unterstützung heuerte meine Mutter die Hebamme wieder an, eine liebevolle, kurzatmige Frau mit dicken Armen, die sich jeglichen Umständen anzupassen vermochte, die ihr ein paar Groschen einbrachten, und sie zog den Arzt aus dem nahen Dorfe, Doktor Sander, zurate. Zusammen richteten sie für Vater den kleinen Raum neben der Küche her, und nachdem er dort drinnen war, sollte er ihn nie wieder verlassen. Er lag den ganzen Tag nur da, schaute manchmal aus dem Fenster, manchmal an die Decke, aber ich glaube, er richtete nie seinen Blick auf etwas Bestimmtes. Ich saß Stunden um Stunden mit Vater zusammen, und wenn er nicht mit mir redete, hatte ich ein paar Worte für ihn, und ich stellte mir vor, was er mir alles erzählen wollte.
Nach Vaters Ankunft stieg Mutter die Treppe zu ihrem Schlafzimmer empor und schloss die Türe. Die Tage vergingen, und sie verbrachte immer mehr Zeit im Bett. Sie bewegte sich nicht mehr, und das war nicht gut für sie. Doktor Sander sagte, meine Mutter litte unter einem starken Schock und man müsse ihr helfen, allmählich wieder zu sich zu finden. Nach Vaters Ankunft veränderte sich ihr ganzer Leib; ihre Haut glänzte und wurde gelblich wie die einer Zwiebel. Sie roch auch anders als sonst. An einem Wintermorgen fand ich sie vor der Türe, spärlich bekleidet, auf der Erde liegen und weinen. Ich brachte sie zurück ins Bett.
Ich lief zwischen meinen Eltern hin und her, von Mutter im Obergeschoss zu Vater unten, und ich las beiden aus der Bibel vor. Mit dem kleinen Hocker, der Verlängerung meines Leibes, platzierte ich mich an verschiedenen Standorten rund um Vaters Bett, je nachdem, was er gerade brauchte. Ich war auch dabei, wenn Vater gewaschen wurde. Die Hebamme war freundlich zu mir, manchmal presste sie mich ganz fest an sich, und in jenen Momenten war ich überrascht, wie groß Leiber sein können, und ich drückte mit aller Kraft zurück. Oft aßen wir zusammen; ich glaube, sie hat mir von ihrem Essen abgegeben. Wenn sie mit mir über Vater sprach, runzelte sie besorgt die Stirn; wenn sie über Mutter sprach, schüttelte sie den Kopf.
Eines Morgens, als ich an seinem Bette saß, starb Vater. Es war ein ganz kleiner Tod, ein sanfter, könnte man sagen. Ich beobachtete ihn dabei ganz genau. Er zitterte ein wenig, sein Atem rasselte kurz, und dann verließ er uns, ganz still und leise. Das letzte, kleine Geräusch war der Klang des letzten Grosholtz-Gedankens in seinem Grosholtz-Kopfe, der sich den Weg ins Freie bahnte. Ich saß noch immer an seiner Seite und hielt seine Hand, als die Hebamme hereinkam. Sie wusste sofort, dass Vater nicht mehr unter den Lebenden weilte. Sanft legte sie ihm seine Hand auf die Brust und die andere daneben, dann ergriff sie meine Hand und nahm mich mit zum Haus ihrer Tochter. Dort muss ich die Nacht verbracht haben.
Ein paar Tage später wurde Vater begraben. Aber der Vater in der Kiste, die wir mit Erde bewerfen sollten, war nicht vollständig. Doktor Sander hatte mir Vaters Silberblech gegeben, er sagte, es sei bares Geld wert. Es hatte durchaus ein wenig Gewicht, in etwa wie ein mit Wasser gefüllter Emaillebecher. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob Vater seine silberne Kinnlade vermissen würde, ich vermutete, dass er sie lieber behalten hätte. Am liebsten hätte ich ihn wieder ausgegraben und ihm das Kieferblech ins Grab geworfen. Wie um alles in der Welt sollte er denn so im Himmel sprechen? Aber als ich weiter darüber nachdachte, wurde mir klar: Dieses Blech war ja gar nicht wirklich Vaters Kinn. Es war nach dem Kinne eines anderen modelliert. Allein ich besaß sein wahres Kinn, und ich hatte es immer bei mir, ein Stück unterhalb von Mutters Nase.
Vater hinterließ seine Militäruniform, ein Kinn aus Silberblech, eine Halbwaise und eine verarmte Witwe. Seine Militärrente reichte für uns nicht zum Leben. Damit Mutter sich und mich ernähren konnte, musste sie Arbeit finden. Doktor Sander versprach, sich darum zu kümmern und seine Verbindungen in der Welt der Medizin zu nutzen. Er erfuhr von einem Arzt am Spitale von Bern namens Philipp Curtius, der Hilfe im Haushalt benötigte. Eine Stellung und eine Aufgabe, das würde, so Doktor Sander, meine Mutter gesund halten.
Mutter, deren ganzer Leib vom Unglücke gezeichnet war, setzte sich hin, um Doktor Curtius einen Brief zu schreiben. Doktor Curtius schrieb zurück. Als sein Antwortschreiben eintraf, kehrte die Bewegung in meine Mutter zurück – mehr denn je, als habe sie schreckliche Angst davor, jemals wieder stillzusitzen.
«Ein gebildeter Herr, Marie!», rief sie, die Augen weit aufgerissen. «In der Stadt, Marie, ein Arzt in der Stadt! Schluss mit den engen, dunklen Zimmern auf dem Lande. Hohe Räume voll Licht und Luft warten auf uns. Mein Vater, dein Großvater, hat immer gesagt, wir hätten etwas Besseres verdient. Oh, die Stadt! Curtius in der Stadt!» Nicht viel später, irgendwann im Jahre 1767, befanden wir uns auf einem Karren auf dem Wege in die Stadt Bern. Ich saß neben Mutter. In einer Hand hielt ich einen Zipfel ihres Kleides, in der anderen Vaters Kinnlade, in meiner Schoßtasche steckte Marta. Die Familie Grosholtz war unterwegs. Knarrend und ratternd verließ der Karren das Dorf meiner Geburt. Weg von den Schweineställen, der Kirche und dem Grab des Vaters.
Wir sollten nie mehr zurückkehren.
1767–1769
EINE STRASSE, DIE NUR EINE RICHTUNG KENNT
Bis zu meinem neunten Lebensjahre.