Delft, 1664. Die junge Magd Griet wird in den Haushalt des holländischen Malers Johannes Vermeer gegeben und avanciert schnell zur Schülerin und Muse des Malers. Sie zeigt eine scheue, in Andeutungen belassene Zuneigung zu dem Künstler, dem sie schließlich Modell sitzt, was für Schikanen seitens Vermeers eifersüchtiger Gattin sorgt. Als der Maler das junge Mädchen bittet, den Perlenohrring seiner Frau für ein Porträt anzulegen, löst er eine Katastrophe aus, die Griets Zukunft bedroht.
Tracy Chevalier, Jahrgang 1962, wuchs in Washington D.C. auf. Sie arbeitete als Lektorin, bevor ihr mit dem Roman Das Mädchen mit dem Perlenohrring im Jahr 1999 der internationale Durchbruch als Schriftstellerin gelang. Bei Atlantik erscheint ihr aktueller Roman Violet (2020). Die Autorin lebt mit ihrer Familie in London.
Die Übersetzerin
Ursula Wulfekamp, Jahrgang 1955, studierte Anglistik und Germanistik. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen gehören u.a. Elizabeth Jane Howard und Annie Leibovitz.
Für meinen Vater
Zeit ist dehnbar, und zwanzig Jahre können sich schlicht wie ein ganzes Leben anfühlen – oder wie eine Woche. Mir kommt es vor, als seien höchstens ein oder zwei Jahre seit der Veröffentlichung von Das Mädchen mit dem Perlenohrring im August 1999 vergangen; damals gab es einen kleinen Wirbel und eine Handvoll bemerkenswerte Rezensionen.
Fünf Millionen verkaufte Exemplare und fünfunddreißig Sprachen (Persisch ausgenommen: dort erschien das Buch illegal, wurde von der iranischen Regierung verboten und ist inzwischen wieder erlaubt) sowie einen Film mit Scarlett Johansson und Colin Firth später, läuft dieses Buch noch immer. Und ich staune über diesen Erfolg.
Mein Verhältnis zu Vermeers Gemälde ist schon wesentlich älter. Entdeckt habe ich es im Herbst 1981 bei meiner Schwester in Boston. Kaum in ihrer Wohnung angekommen, lief ich schnurstracks auf dieses Poster mit dem unbekannten Motiv zu. Das Licht, die Farben und der durchdringende Blick des Mädchens: Ich war wie verzaubert. Gleich am nächsten Tag kaufte ich mir das Poster selbst. Seither ist es mir an alle Orte gefolgt, an denen ich gelebt habe. Sogar während meines Auslandssemesters in London hatte ich es bei mir. Das Poster – inzwischen zerfleddert und ausgeblichen – hängt heute in meinem Arbeitszimmer, und ich sehe es täglich. Seit meiner ersten Begegnung in der Wohnung meiner Schwester führe ich eine Liebesbeziehung mit dem Mädchen – das Original habe ich allerdings erst im Jahr 1996 im Mauritshuis in Den Haag besichtigt.
Von Anfang an war ich von ihrer Schönheit wie gebannt. Ihr Turban in hellem Blau und Gelb, die Weise, auf die Licht und Schatten ihr Gesicht konturieren, der Schimmer in ihren Augen, der perfekt platzierte Tupfer der weißen Perle im dunklen Schatten über ihrem Nacken: diese Details offenbaren nicht nur die Schönheit des Mädchens, sie sind das Resultat ganz bestimmter Entscheidungen Vermeers, sie auf spezifische Weise zu porträtieren. Tatsächlich handelt es sich nicht um ein gemaltes Porträt, sondern um eine Tronie, die niederländische Bezeichnung für eine Charakterstudie – in diesem Fall eines jungen Mädchens. Es zielt darauf ab, ein universelles Bild zu sein.
Und doch: Ihr Blick ist besonders. Sie sieht uns an, als würde sie uns kennen.
Dieser letzte Satz enthält einen Fehler, den ich erst sechzehn Jahr später korrigierte. An einem Novembermorgen des Jahres 1997 sah ich das Poster vom Bett aus an – zu diesem Zeitpunkt trug ich es schon sechzehn Jahre mit mir herum –, und plötzlich tauchte diese Frage in meinem Kopf auf: »Was muss Vermeer getan haben, damit sie ihn so ansieht.« Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich hatte immer geglaubt, sie würde mich ansehen, uns. Aber natürlich sah sie nicht uns an, sondern Vermeer, der sie malte. Dieser nicht zu entziffernde Ausdruck – der sehnsüchtige und zugleich verhaltene Blick galt ihm.
Vermeer hatte nicht ein bestimmtes Mädchen porträtiert, so schien mir jetzt, sondern eine Beziehung. Welche Art von Beziehung? Wir wissen es nicht. Wissen weder, wer das Modell ist, noch genug über Vermeer selbst. Ich wusste nur, dass ich etwas gefunden hatte. Es ist seltsam, wie präzise man sich später an manche Momente im Leben erinnern kann, die wegweisend sind. An diesem Morgen hatte ich so einen Moment. In diesem Moment änderte sich auch mein Schreiben radikal. Innerhalb von nur drei Tagen entstand die Geschichte zu Griet, der Bediensteten, die in Vermeers Atelier aufräumt und seine Aufmerksamkeit gewinnt.
Ich recherchierte und schrieb den Roman in einer traumgleichen Blase – rasch und über den Zeitraum von neun Monaten hinweg (ich war schwanger, hatte also eine eingebaute biologische Deadline), ohne Vorerfahrung, also jenseits der Erwartungen potenzieller Leser, Verlage und mir selbst. Beim Schreiben achtete ich darauf, respektvoll gegenüber Vermeer, dem Prozess und dem Bild zu bleiben. Ich ließ eine Menge Raum – wortwörtlich (es ist kurz) und im übertragenen Sinn – für Interpretationen. Im denkbar schlechtesten Fall liest man Das Mädchen mit dem Perlenohrring und gleicht durch Blicke auf das Buchcover die Leseerfahrungen mit dem Bild ab. Im besten Fall hat man nach der Lektüre die eigene Sicht auf Kunst geändert. Am schönsten ist es immer, wenn Leser mir schreiben, dass sie sich Kunst seitdem mit anderen Augen nähern.
Wie konnte das Buch so erfolgreich werden und kann nun schon seinen 20. Geburtstag feiern? Es liegt natürlich an der Stärke des Gemäldes. Aber auch das Buch ist eine stilistische Leistung, von der ich nicht glaube, dass ich sie jemals in einem anderen Buch werde wiederholen können. Der Stil reflektiert und unterstützt das Subjekt. Während meiner Arbeit sagte ich mir: Du schreibst über Vermeer, also schreib so, wie er malt – sparsam, konzentriert und auf das Wesentliche reduziert. Zwei Klischees kamen hier absolut zum Tragen: Weniger ist mehr, und Form folgt Funktion. Viele Romane können eine Geschichte gut erzählen, oder einen einzigartigen Stil entwickeln, aber wenige sind die Kombination aus beidem und mehr als die Summe ihrer Teile. Seit der großen Vermeer-Ausstellung in Mauritshuis 1996 – und vielleicht auch seit dem Erfolg des Buches – spricht man über Vermeer. Vermutlich hätte man das früher oder später ohnehin getan, und ich hatte einfach großes Glück, als Schriftstellerin zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und seine Popularität nutzen zu können. Er ist mit nur sechs verfügbaren Gemälden einer der am häufigsten ausgestellten alten Meister. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre habe ich Vermeer-Ausstellungen in London, New York, Madrid, Rom, Cambridge und Dublin besucht. Die meisten zeigten nur zwei oder drei Vermeers, der Rest wurde von Arbeiten seiner Zeitgenossen aufgefüllt, viele waren thematisch ausgerichtet und widmeten sich entweder seiner Heimatstadt Delft, Frauen, Genre-Malerei, oder Musik – welchen Grund man auch immer finden konnte, um Vermeer auszustellen.
Vermeers Arbeiten heben sich immer von den anderen ab, so empfinde ich es. Sie sind von einer ätherischen Schönheit, die kaum zu erklären ist. Seine Farben sind intensiv, seine Subjekte scheinen uns aus ihrer ganz eigenen Welt heraus anzublicken. Betrachter verbringen viel Zeit vor seinen Arbeiten, länger als vor anderen. Sie versuchen, hinter die Magie zu kommen. Aber Magie gibt es ja immer nur so lange, wie der Trick wirkt.
Tatsächlich ist das Gemälde noch berühmter als Vermeer selbst. Das Bild des Mädchens ist überall, auf Regenschirmen, Koffern, Puzzlespielen, Lesezeichen und Wasserflaschen. Sogar eine Version der Strickpuppe Miffy trägt die Kleider des Mädchens, und in Gestalt eines Quietscheentchens schwimmt sie in meiner Badewanne. Die Graffitykünstlerin Banksy hat sie an eine Hauswand in Bristol gesprayt, hier ersetzt ein Sicherheitsalarm den Ohrring. Die Tochter einer Freundin hat sich einmal zu Halloween als Vermeers Mädchen verkleidet. Als mein Cousin Pierre eine Weinhandlung in Kalifornien besaß, nannte er seinen besten Wein »One Pearl«, mit der Abbildung des Mädchens auf dem Label. Ich habe zu besonderen Anlässen schon öfter Socken getragen, die das Mädchen oberhalb meiner Knöchel zeigen.
Die sozialen Medien werden von ihren Bildern geradezu überschwemmt. In über 25000 Beiträgen auf Instagram mit dem Hashtag #girlwithapearlearring werden Zeichnungen und Kopien des Bildes, Stickereien und bearbeitete Versionen des Bildes mit Hunde- oder Katzenschnauzen anstelle ihres Gesichts geteilt. Und noch mehr Menschen ziehen sich ihre Kleider an … Bevor sich die Medien durchsetzten, bekam ich noch Leserbriefe und Fotos von Fans, die sich als Vermeers Mädchen verkleidet hatten. »Sieht meine Tochter nicht eindeutig aus wie sie?«, fragten sie. Niemand sah so aus. Natürlich hat die Darstellung etwas Universelles – Haar- und Augenfarbe sowie die Nase im Profil sind nicht erkennbar –, aber das Mädchen ist doch entschieden sie selbst.
Habe ich wegen der Flut von Darstellungen ein schlechtes Gewissen? Manchmal schon. Der Roman mag einen Anteil daran haben. Aber wie geschmacklos eine Version von dem Mädchen mit dem Perlenohrring auf einem Aschenbecher auch immer sein mag, das zugrunde liegende Rätsel des Gemäldes wird auf geheimnisvolle Weise nicht angetastet. Was denkt das Mädchen, während sie den Maler anblickt? Ich habe einen Roman über ihren Blick geschrieben, ich spreche schon zwanzig Jahre darüber, und ich weiß es immer noch nicht. Solange das Geheimnis bestehen bleibt – und ich denke, das wird es auf ewig –, wird uns das Gemälde verzaubern und somit auch alles, was damit in Verbindung steht.
Tracy Chevalier im Februar 2019
Meine Mutter sagte mir nichts von ihrem Kommen. Sie wollte nicht, dass ich befangen wirke, erklärte sie mir später. Das überraschte mich; ich hatte geglaubt, sie kennt mich gut. Fremde halten mich immer für ruhig. Als kleines Kind hatte ich nie geweint. Nur meiner Mutter fiel auf, dass mein Kinn sich anspannte, dass meine runden Augen noch weiter wurden.
Ich war in der Küche und schnitt gerade Gemüse, als ich von der Haustür her Stimmen hörte – die Stimme einer Frau, hell wie blankes Messing, und die eines Mannes, tief und dunkel wie das Holz des Tisches, an dem ich gerade arbeitete. Es waren Stimmen, wie wir sie in unserem Haus nur selten hörten. Schwere Teppiche schwangen in ihnen mit, Bücher, Perlen und Pelze.
Ich war froh, dass ich am Morgen die Vordertreppe so gründlich gescheuert hatte.
Aus dem vorderen Zimmer kam die Stimme meiner Mutter näher – ein Kochtopf, ein Deckelkrug. Sie gingen auf die Küche zu. Ich schob den Lauch, den ich gerade geschnitten hatte, an seinen Platz, legte das Messer auf den Tisch und wischte mir die Hände an der Schürze ab.
Meine Mutter erschien in der Tür; ihre Augen blitzten warnend. Die Frau, die ihr folgte, musste sich ducken, weil sie so groß war, größer noch als der Mann, der hinter ihr in den Raum trat.
In unserer Familie waren alle klein, sogar mein Vater und mein Bruder.
Die Frau sah aus, als wäre sie im Sturm unterwegs gewesen, obwohl es ein windstiller Tag war. Ihre Haube war verrutscht, sodass sich kleine blonde Locken gelöst hatten und ihr in die Stirn hingen wie Bienen, die sie mehrmals ungeduldig zu vertreiben suchte. Ihr Kragen saß schief und war nicht so gut gestärkt, wie es sich gehörte. Sie schob die graue Ärmeljacke von den Schultern, und da sah ich, dass sie unter ihrem dunkelblauen Kleid ein Kind erwartete. Es würde zum Jahresende geboren werden, wenn nicht früher.
Das Gesicht der Frau war wie eine ovale Servierplatte, gelegentlich funkelnd, dann wieder matt. Ihre Augen sahen aus wie zwei hellbraune Knöpfe; ich hatte diese Farbe nur selten zusammen mit blonden Haaren gesehen. Sie tat, als würde sie mich genau betrachten, aber sie konnte ihre Aufmerksamkeit nicht lange auf mich gerichtet halten. Immer wieder schweiften ihre Augen durch den Raum.
»Das ist also das Mädchen«, sagte sie unvermittelt.
»Das ist meine Tochter Griet«, erwiderte meine Mutter. Ich nickte der Dame und dem Herrn achtungsvoll zu.
»Nun ja, besonders groß ist sie ja nicht. Ist sie denn kräftig?« Als die Frau sich umdrehte, um den Mann anzusehen, streifte sie mit ihrer Jacke den Griff des Messers, das ich benutzt hatte. Es rutschte vom Tisch und schlitterte über den Boden.
Die Frau stieß einen Schrei aus.
»Catharina«, sagte der Mann sanft. Er sprach ihren Namen aus, als habe er eine Zimtstange im Mund. Die Frau wurde still und bemühte sich, ruhiger zu werden.
Ich trat vor und hob das Messer auf, putzte die Klinge an meiner Schürze ab, bevor ich es wieder auf den Tisch legte. Das Messer war auch gegen das Gemüse gestoßen. Ich schob ein Karottenstückchen an seinen Platz zurück.
Der Mann beobachtete mich; seine Augen waren grau wie das Meer. Er hatte ein langes, kantiges Gesicht, und seine Miene war gefasst, im Gegensatz zu der seiner Frau, die wie eine Kerze flackerte. Er hatte weder Bart noch Schnurrbart, und darüber war ich froh, denn das gab seinem Äußeren etwas sehr Sauberes. Über seine Schultern hing ein schwarzer Umhang, dazu trug er ein weißes Hemd und einen feinen Spitzenkragen. Sein Hut saß auf Haaren, die das Rot der vom Regen gewaschenen Backsteine hatten.
»Was hast du hier gemacht, Griet?«, fragte er.
Die Frage erstaunte mich, aber ich wusste, dass ich meine Überraschung verbergen musste. »Ich habe Gemüse geschnitten, Mijnheer. Für die Suppe.«
Ich ordnete Gemüse immer zu einem Kreis an, jedes als eigenes Teil, wie bei einem runden Kuchen. Es gab fünf solcher Kuchenstücke: Rotkohl, Zwiebeln, Lauch, Karotten und Steckrüben. Ich hatte jedes Teilstück mit der Messerkante begradigt und in die Mitte eine Karottenscheibe gelegt.
Der Mann klopfte mit dem Finger auf den Tisch. »Ist es in der Reihenfolge angeordnet, in der es in die Suppe kommt?«, fragte er, ohne vom Kreis aufzuschauen.
»Nein, Mijnheer.« Ich zögerte. Ich konnte nicht sagen, warum ich das Gemüse so angeordnet hatte. Meinem Gefühl nach gehörte es einfach so, aber ich hatte Angst, einem Herrn das zu sagen.
»Du hast das Weiße getrennt«, sagte er und deutete auf die Rüben und die Zwiebeln. »Und das Orange und Lila liegen auch nicht nebeneinander. Warum das?« Er nahm ein Kohlstückchen und eine Karottenscheibe in die Hand und schüttelte sie, als wären sie Würfel.
Ich schaute zu meiner Mutter, die fast unmerklich nickte.
»Die Farben beißen sich, wenn sie nebeneinanderliegen, Mijnheer.«
Er zog die Augenbrauen hoch, als hätte er keine solche Antwort erwartet. »Verbringst du viel Zeit damit, das Gemüse anzuordnen, bevor du die Suppe kochst?«
»O nein, Mijnheer«, antwortete ich bestürzt. Er sollte nicht denken, dass ich saumselig wäre.
Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr. Meine Schwester Agnes spähte um den Türpfosten und hatte bei meiner Antwort den Kopf geschüttelt. Es kam nur selten vor, dass ich log. Ich sah zu Boden.
Der Mann drehte den Kopf ein klein wenig zur Seite, und Agnes huschte davon. Er ließ das Kohlstückchen und die Karottenscheibe in ihr jeweiliges Viertel fallen. Das Kohlstück landete halb in den Zwiebeln. Am liebsten hätte ich es an seinen richtigen Platz gelegt. Ich tat es nicht, aber er wusste, dass ich es tun wollte. Er stellte mich auf die Probe.
»Genug der Worte«, sagte die Frau. Obwohl sie auf ihn ärgerlich war, weil er mir Aufmerksamkeit schenkte, warf sie mir einen zornigen Blick zu. »Also morgen dann?« Sie sah zu dem Mann, bevor sie aus der Küche schritt, gefolgt von meiner Mutter. Der Mann schaute ein letztes Mal auf die Zutaten für meine Suppe, dann nickte er mir zu und ging der Frau nach.
Als meine Mutter wiederkam, saß ich neben dem Kreis von Gemüse. Ich wartete, dass sie zu sprechen anfing. Sie hatte die Schultern hochgezogen wie vor der Winterkälte, obwohl es Sommer war und heiß in der Küche.
»Du wirst morgen als Dienstmagd bei ihnen anfangen. Wenn du anstellig bist, bekommst du acht Stuiver am Tag. Du wirst bei ihnen wohnen.«
Ich presste die Lippen zusammen.
»Sieh mich nicht so an, Griet«, tadelte meine Mutter. »Es geht nicht anders, jetzt, wo dein Vater seine Arbeit verloren hat.«
»Wo wohnen sie?«
»Am Oude Langendijck, an der Kreuzung mit dem Molenpoort.«
»Im Papistenviertel? Sind sie katholisch?«
»Am Sonntag darfst du nach Hause kommen. Das haben sie zugesichert.« Meine Mutter klaubte die Rüben auf, zusammen mit ein paar Kohl- und Zwiebelstückchen, und ließ sie in einen Topf Wasser fallen, der auf dem Feuer stand. Die Kuchenstücke, die ich so sorgsam angeordnet hatte, waren zerstört.
Ich stieg über die Treppe zu meinem Vater hinauf. Er saß auf dem Speicher ganz nah am Fenster, wo das Licht auf sein Gesicht fiel. Mehr konnte er jetzt nicht mehr sehen.
Vater war Fliesenmaler gewesen. Seine Finger waren noch von der blauen Farbe gefärbt, mit der er auf weiße Fliesen Putten und Mädchen gemalt hatte, Soldaten, Schiffe, Kinder, Fische, Blumen, Tiere; dann hatte er die Fliesen glasiert, gebrannt und verkauft. Eines Tages explodierte der Ofen. Er verlor sein Augenlicht und seine Arbeit. Er hatte Glück gehabt – zwei andere Männer waren ums Leben gekommen.
Ich setzte mich neben ihn und nahm seine Hand.
»Ich hab’s gehört«, sagte er, bevor ich etwas hervorbringen konnte. »Ich habe alles mitgehört.« Sein Gehör hatte die Schärfe seiner fehlenden Augen übernommen.
Mir fiel nichts zu sagen ein, das nicht wie ein Vorwurf geklungen hätte.
»Es tut mir leid, Griet. Ich hätte dir gerne ein besseres Leben ermöglicht.« Die Stelle, wo seine Augen gewesen waren, wo der Arzt die Haut zusammengenäht hatte, sah betrübt aus. »Aber er ist ein guter Herr, und gerecht. Er wird dich gut behandeln.« Von der Frau sagte er nichts.
»Woher weißt du das, Vater? Kennst du ihn?«
»Weißt du nicht, wer er ist?«
»Nein.«
»Erinnerst du dich an das Bild, das wir vor ein paar Jahren im Rathaus gesehen haben, das van Ruijven dort ausgestellt hat, nachdem er es gekauft hatte? Eine Ansicht von Delft, vom Rotterdam- und Schiedam-Tor. Wo der Himmel so viel Platz einnimmt und das Sonnenlicht auf einige der Häuser fällt.«
»Und in der Farbe ist ein bisschen Sand, damit die Backsteine und die Dächer grobkörnig aussehen«, ergänzte ich. »Und auf dem Wasser sind lange Schatten und winzige Menschen auf dem diesseitigen Ufer,«
»Genau das.« Vaters Augenhöhlen weiteten sich, als hätte er noch Augen und betrachte wieder das Gemälde.
Ich erinnerte mich gut daran und wusste auch noch, dass ich gedacht hatte, wie oft ich an genau der Stelle gestanden, aber Delft nie so gesehen hatte, wie der Maler die Stadt sah.
»Dann war dieser Mann also van Ruijven?«
»Der Gönner?« Vater lachte. »Nein, Kind, nicht der. Das war der Maler. Vermeer. Johannes Vermeer und seine Frau. Du sollst in seinem Atelier sauber machen.«
Zu den wenigen Dingen, die ich mit mir nahm, legte meine Mutter noch eine Haube, einen Kragen und eine Schürze, damit ich jeden Tag einen Satz waschen und den anderen tragen konnte und immer adrett aussehen würde. Außerdem gab sie mir einen Zierkamm aus Schildpatt, der die Form einer Muschel hatte; er hatte meiner Großmutter gehört und war viel zu kostbar für eine Dienstmagd. Dazu ein Gebetbuch, in dem ich lesen konnte, wenn ich dem Katholizismus im Haus entkommen wollte.
Während wir meine Habseligkeiten zusammensuchten, erklärte sie, warum ich für die Vermeers arbeiten sollte. »Du weißt doch, dass dein neuer Herr Obmann der Sankt-Lukas-Gilde ist und die Position schon hatte, als dein Vater letztes Jahr verunglückt ist?«
Ich nickte. Ich war noch immer benommen von der Vorstellung, für einen solchen Künstler zu arbeiten.
»Die Gilde kümmert sich um ihre Mitglieder so gut sie kann. Erinnerst du dich an den Kasten, in den dein Vater jahrelang jeden Monat etwas Geld steckte? Das Geld ist für Männer bestimmt, die in Not geraten sind, wie wir jetzt. Aber du weißt, es reicht nicht allzu weit, vor allem jetzt nicht, wo Frans als Lehrling arbeitet und kein Geld verdient. Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir wollen nichts von der öffentlichen Wohlfahrt nehmen, solange wir auch so zurechtkommen. Dann hörte dein Vater, dass dein neuer Herr ein Mädchen sucht, das in seinem Atelier sauber machen kann, ohne etwas zu verstellen. Er hat dich vorgeschlagen, weil er dachte, dass Vermeer als Obmann unsere Verhältnisse kennt und uns helfen wird.«
Ich ließ mir ihre Worte durch den Kopf gehen. »Wie macht man in einem Zimmer sauber, ohne etwas zu verstellen?«
»Natürlich musst du die Sachen wegnehmen, aber du musst einen Weg finden, sie an genau denselben Platz zurückzustellen, sodass es aussieht, als wären sie nie bewegt worden. So, wie du es jetzt für deinen Vater tust, wo er nicht mehr sehen kann.«
Seit dem Unglück meines Vaters hatten wir gelernt, alle Dinge an einen bestimmten Platz zu stellen, damit er sie immer finden konnte. Aber es war eine Sache, das für einen Blinden zu tun, und etwas ganz anderes bei einem Mann, der den Blick eines Malers hatte.
Nach dem Besuch sprach Agnes kein Wort mit mir. Sie schwieg noch immer, als ich mich abends zu ihr ins Bett legte, aber sie drehte mir nicht den Rücken zu. Sie starrte zur Decke. Nachdem ich die Kerze ausgeblasen hatte, war es so dunkel, dass ich gar nichts sehen konnte. Ich wandte mich zu ihr.
»Du weißt doch, dass ich nicht gehen will. Ich muss.«
Sie schwieg.
»Wir brauchen das Geld. Wir haben keins, jetzt, wo Vater nicht mehr arbeiten kann.«
»Acht Stuiver am Tag sind nicht viel.« Agnes’ Stimme war heiser, als hätte sie Spinnweben im Hals.
»Aber die Eltern können Brot kaufen und ein bisschen Käse. Das ist schon etwas.«
»Aber ich bin ganz allein. Du lässt mich allein. Zuerst Frans und jetzt du.«
Von uns allen hatte es Agnes am meisten getroffen, als Frans im Jahr zuvor fortgegangen war. Er und sie hatten immer wie Hund und Katze gestritten, aber als er aus dem Haus ging, war sie tagelang missmutig gewesen. Mit ihren zehn Jahren war sie die jüngste von uns dreien und konnte sich gar nicht vorstellen, dass es Frans und mich nicht gab.
»Mutter und Vater sind noch da. Und ich komme euch jeden Sonntag besuchen. Außerdem haben wir ja gewusst, dass Frans weggehen würde.« Seit Jahren hatte festgestanden, dass unser Bruder in die Lehre gehen würde, sobald er dreizehn war. Unser Vater hatte lange gespart, um das Lehrgeld aufzubringen, und immer wieder davon gesprochen, dass Frans einen anderen Bereich des Handwerks kennenlernen und sie zusammen eine Fliesenwerkstätte aufmachen würden, wenn er fertig war.
Jetzt saß unser Vater am Fenster und redete nie mehr von der Zukunft.
Nach dem Unglück war Frans für zwei Tage nach Hause gekommen, aber seitdem nicht mehr. Das letzte Mal hatte ich ihn gesehen, als ich zu der Werkstätte auf der anderen Seite der Stadt gegangen war, wo er seine Lehre machte. Er sah verhärmt aus und hatte überall an den Armen Verbrennungen, weil er die Fliesen aus dem Ofen holte. Er erzählte mir, dass er von Morgengrauen bis spät in die Nacht arbeiten musste und oft so müde war, dass er nicht einmal etwas essen wollte. »Vater hat mir nie gesagt, dass es so schlimm sein würde«, murrte er. »Er sagte immer, seiner Lehrzeit habe er alles zu verdanken.«
»Vielleicht stimmt das ja auch«, antwortete ich. »Er hat ihr zu verdanken, dass er heute so ist, wie er ist.«
Als ich am nächsten Morgen fertig war zu gehen, schlurfte mein Vater zum Hauseingang, tastete sich die Wand entlang. Ich nahm meine Mutter und Agnes in den Arm. »Der nächste Sonntag kommt ganz bald«, sagte meine Mutter.
Mein Vater steckte mir ein kleines, in ein Taschentuch gewickeltes Bündel zu. »Damit du dein Zuhause nicht vergisst«, sagte er. »Uns.«
Es war meine Lieblingsfliese von ihm. Die meisten Fliesen, die wir zu Hause hatten, waren irgendwie schadhaft – angeschlagen, schief geschnitten, oder das Bild war verschwommen, weil der Ofen zu heiß gewesen war. Aber diese Fliese hatte mein Vater eigens für uns aufgehoben. Es war ein einfaches Bild von zwei kleinen Figuren, einem Jungen und einem etwas älteren Mädchen. Aber sie spielten nicht miteinander wie auf den meisten anderen Fliesen. Sie gingen einfach nebeneinanderher, wie Frans und ich, wenn wir zusammen spazieren gingen – unser Vater hatte an uns gedacht, als er sie malte. Der Junge ging dem Mädchen ein Stückchen voraus, drehte sich aber zu ihr um, um ihr etwas zuzurufen. Er hatte einen kecken Gesichtsausdruck, seine Haare waren zerzaust. Das Mädchen trug seine Haube wie ich, und nicht mit den Enden unter dem Kinn oder im Nacken verknotet wie die meisten anderen Mädchen. Ich hatte immer weiße Hauben mit breiten Krempen, die meine Haare völlig bedeckten und deren Spitzen rechts und links herabhingen, sodass mein Gesicht von der Seite nicht zu sehen war. Ich stärkte meine Hauben immer, indem ich sie mit Kartoffelschalen auskochte.
Ich ging von unserem Haus fort, meine Habseligkeiten in einer Schürze zusammengeknotet. Es war noch früh – unsere Nachbarinnen schütteten Eimer voll Wasser auf die Stufen und die Straße vor dem Haus und schrubbten sie sauber. Das würde jetzt Agnes tun müssen, wie viele andere meiner Aufgaben. Sie würde weniger Zeit haben, um auf der Straße und entlang den Grachten zu spielen. Auch ihr Leben würde sich verändern.
Menschen nickten mir zu und sahen mir neugierig nach. Niemand fragte, wohin ich ging, oder rief mir etwas Freundliches zu. Das war nicht nötig – sie wussten, was mit Familien passierte, in denen der Mann seine Arbeit verlor. Aber später würden sie darüber reden – dass die junge Griet Dienstmagd wurde, dass ihr Vater die Familie an den Rand des Ruins gebracht hatte. Aber sie würden nicht schadenfroh sein. Sie wussten, ihnen konnte es allzu leicht ebenso ergehen.
Mein ganzes Leben war ich diese Straße langgegangen, aber nie war mir so sehr aufgefallen, dass ich dabei meinem Zuhause den Rücken zukehrte. Doch als ich das Ende der Straße erreichte und außer Sichtweite meiner Familie abbog, fiel es mir etwas leichter, ruhig auszuschreiten und mich umzusehen. Es war noch kühl, der Himmel ein lebloses Grauweiß, das sich wie ein Laken über Delft breitete; die Sonne stand noch nicht hoch genug, um den Dunst wegzubrennen. Die Gracht, an der ich entlangging, war ein Spiegel von weißem Licht mit einem leichten Grünton. Wenn die Sonne stärker wurde, würde der Kanal die Farbe von Moos annehmen.
Früher hatten Frans, Agnes und ich oft an der Gracht gesessen, hatten etwas hineingeworfen – Steinchen, Stöcke, einmal eine zerbrochene Fliese – und uns vorgestellt, worauf die Dinge unten am Grund auftrafen – nicht auf Fische, sondern auf Lebewesen unserer Phantasie mit vielen Augen, Schuppen, Händen und Flossen. Frans erfand die gruseligsten Ungeheuer. Agnes hatte am meisten Angst. Ich brach das Spiel immer ab; ich sah alles zu sehr so, wie es wirklich war, um mir etwas auszudenken, was es nicht gab.
Nur wenige Boote waren auf dem Kanal zum Marktplatz unterwegs. Es war nicht Markttag. Dann war die Gracht so belebt, dass man das Wasser nicht mehr sehen konnte. Ein Boot transportierte Flussfische, die für die Händler an der Jeronymous-Brücke bestimmt waren. Ein anderes, schwer mit Backsteinen beladen, lag tief im Wasser. Der Mann, der das Boot stakte, rief mir einen Gruß zu. Ich nickte nur und senkte den Kopf, sodass meine Haube mein Gesicht verbarg.
Ich überquerte die Brücke, die über die Gracht führte, und bog auf den Marktplatz ein, wo trotz der frühen Stunde viele Menschen unterwegs waren – sie gingen in die Fleischhalle, um Fleisch zu kaufen, holten beim Bäcker Brot, trugen Holz zur Stadtwaage, um es dort wiegen zu lassen. Kinder machten Botengänge für ihre Eltern, Lehrjungen für ihre Meister, Dienstmägde für ihre Herrschaften. Pferde und Fuhrwerke klapperten über die Steine. Zu meiner Rechten lag das Rathaus mit seiner vergoldeten Fassade und den weißen Marmorgesichtern, die von den Schlusssteinen über den Fenstern herabschauten. Linker Hand stand die Nieuwe Kerk, wo ich vor sechzehn Jahren getauft worden war. Der hohe, schlanke Turm ließ mich immer an einen steinernen Vogelkäfig denken. Vater war einmal mit uns hinaufgestiegen. Den Anblick von Delft, das zu unseren Füßen lag, würde ich nie vergessen – jedes schmale Backsteinhaus, jedes steile rote Dach, jede grüne Gracht und jedes Stadttor hatte sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt, winzig klein und doch deutlich zu erkennen. Damals fragte ich meinen Vater, ob jede holländische Stadt so aussehe, aber das konnte er mir nicht sagen. Er war nie in einer anderen Stadt gewesen, nicht einmal in Den Haag, das zu Fuß zwei Stunden von Delft entfernt war.
Ich ging in die Mitte des Platzes. Dort waren die Steine so angeordnet, dass sie einen achtzackigen Stern umgeben von einem Kreis bildeten. Jede Zacke deutete auf einen anderen Teil von Delft. Für mich war der Stern der absolute Mittelpunkt der Stadt, der Mittelpunkt meines Lebens. Frans, Agnes und ich hatten in dem Stern gespielt, sobald wir alt genug waren, allein zum Markt zu laufen. Unser Lieblingsspiel war, dass einer von uns eine Zacke bestimmte, ein anderer einen Gegenstand – einen Storch, eine Kirche, einen Schubkarren, eine Blume –, und dann liefen wir in die genannte Richtung und suchten nach dem Gegenstand. Auf die Art hatten wir fast ganz Delft kennengelernt.
Nur einer bestimmten Zacke waren wir nie gefolgt. Ich war noch nie im Papistenviertel gewesen, wo die Katholiken lebten. Das Haus, in dem ich arbeiten sollte, war gerade zehn Minuten von zu Hause entfernt, so lange, wie es braucht, einen Topf mit Wasser zum Kochen zu bringen, aber ich war nie dort gewesen.
Ich kannte keine Katholiken. In Delft gab es nicht viele von ihnen und überhaupt keine in unserer Straße oder in den Läden, die wir aufsuchten. Nicht, dass wir ihnen aus dem Weg gingen, aber sie blieben unter sich. Sie waren in Delft geduldet, aber man erwartete, dass sie kein Aufhebens um ihren Glauben machten. Sie hielten ihren Gottesdienst im privaten Kreis ab, in bescheidenen Häusern, die von außen gar nicht wie Kirchen aussahen.
Mein Vater hatte mit Katholiken gearbeitet und sagte, sie seien genauso wie wir. Wenn überhaupt, dann seien sie weniger ernst. Sie aßen und tranken, sangen und spielten gerne. Das sagte er fast, als würde er sie darum beneiden.
Jetzt folgte ich dieser Zacke des Sterns. Ich überquerte den Platz langsamer als alle anderen, denn ich wollte den vertrauten Ort nicht verlassen. Ich ging über die Kanalbrücke und bog links in den Oude Langendijck ein. Zu meiner Linken verlief die Gracht parallel zur Straße und trennte sie vom Marktplatz.
An der Kreuzung mit dem Molenpoort saßen auf einer Bank neben einer offenen Haustür vier Mädchen. Sie waren der Größe nach aufgereiht, von der Ältesten, die vielleicht Agnes’ Alter hatte, bis zur Jüngsten, die vermutlich etwa vier war. Eines der mittleren Mädchen hielt einen Säugling im Schoß – er war schon groß, konnte vermutlich bereits krabbeln und würde bald laufen lernen.
Fünf Kinder, dachte ich. Und noch eins unterwegs.
Die Älteste blies Seifenblasen durch eine Muschel, die am Ende eines hohlen Steckens befestigt war, ganz ähnlich wie das Spielzeug, das mein Vater für uns gemacht hatte. Sobald eine Blase erschien, sprangen die anderen auf und ließen sie zerplatzen. Das Mädchen mit dem Säugling auf dem Schoß konnte sich kaum bewegen und fing deswegen nur wenig Blasen, obwohl sie dem Mädchen mit dem Stecken am nächsten saß. Die Jüngste war die Kleinste und saß am Ende der Bank, am weitesten entfernt, und hatte gar keine Gelegenheit, eine Blase platzen zu lassen. Die Zweitjüngste war die Schnellste, sie flitzte den Seifenblasen nach und zerdrückte sie zwischen den Händen. Sie hatte die leuchtendsten Haare von den vieren, rot wie die trockene Backsteinwand hinter ihr. Die Jüngste und das Mädchen mit dem Säugling hatten beide blonde Locken wie ihre Mutter, während die Haare der Ältesten ebenso dunkelrot waren wie bei ihrem Vater.
Ich sah dem Mädchen mit den leuchtenden Haaren zu, wie es die Seifenblasen zerplatzen ließ, gerade bevor sie auf den feuchten grauen und weißen Fliesen auftrafen, die den Boden vor dem Haus in diagonalen Reihen bedeckten. Sie wird viel Schwierigkeiten machen, dachte ich. »Schau nur zu, dass sie zerplatzen, bevor sie am Boden landen«, sagte ich. »Sonst müssen die Fliesen noch einmal geputzt werden.«
Das älteste Mädchen senkte die Pfeife. Vier Augenpaare richteten sich auf mich, alle mit demselben Blick; es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sie Schwestern waren. Ich erkannte in ihnen einzelne Züge ihrer Eltern – hier graue Augen, dort hellbraune, kantige Gesichter, ungeduldige Bewegungen.
»Bist du die neue Dienstmagd?«, fragte die Älteste.
»Wir sollen hier auf dich warten«, warf die Rothaarige ein, bevor ich etwas erwidern konnte.
»Cornelia, geh und hol Tanneke«, sagte die Älteste zu ihr.
»Geh du, Aleydis.« Cornelia wandte sich an die Jüngste, die mich aus großen grauen Augen ansah, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
»Ich gehe.« Die Älteste war wohl zu dem Schluss gekommen, dass mein Erscheinen doch wichtig war.
»Nein, ich gehe.« Cornelia sprang auf und lief ihrer älteren Schwester voraus. Ich blieb mit den beiden Stilleren zurück.
Ich schaute auf das kleine Kind, das sich auf dem Schoß des Mädchens wand. »Ist das dein Bruder oder deine Schwester?«
»Mein Bruder«, antwortete sie mit einer Stimme, die so weich war wie ein Daunenkissen. »Er heißt Johannes. Du darfst ihn nie Jan nennen.« Das Letzte sagte sie, als wäre es ein altbekannter Refrain.
»Gut. Und wie heißt du?«
»Lisbeth. Und das ist Aleydis.« Die Jüngste lächelte mich an. Beide trugen adrette braune Kleider mit weißen Schürzen und Häubchen.
»Und deine ältere Schwester?«
»Maertge. Nenn sie nie Maria. Maria heißt unsere Großmutter. Maria Thins. Ihr gehört das Haus.«
Das Kind begann zu greinen. Lisbeth schaukelte es auf den Knien.
Ich schaute am Haus empor. Es war zweifellos imposanter als unseres, aber nicht so imposant, wie ich befürchtet hatte. Zwei Stockwerke und darüber der Speicher, während unseres nur das eine Stockwerk hatte und dazu einen winzigen Speicher. Es war ein Endhaus mit dem Molenpoort an einer Seite, und deswegen war es etwas breiter und wirkte auch weniger beengt als die meisten anderen Häuser in Delft, die dicht aneinandergedrängt an den Grachten standen, sodass ihre Kamine und Giebeldächer sich im grünen Wasser spiegelten. Die Fenster im Erdgeschoss des Hauses waren sehr hoch, und im ersten Stock gab es drei dicht nebeneinanderliegende Fenster und nicht nur zwei, wie bei den anderen Häusern in der Straße.
Jenseits des Kanals, direkt gegenüber dem Haus, ragte der Turm der Nieuwe Kerk auf. Ein seltsamer Ausblick für eine katholische Familie, dachte ich. Eine Kirche, die sie nie betreten werden.
»Du bist also die Dienstmagd?«, hörte ich eine Stimme hinter mir sagen.
Die Frau, die in der Tür stand, hatte ein breites Gesicht mit Pockennarben. Ihre Nase war wie eine Knolle, ihre dicken Lippen zu einem kleinen Mund zusammengepresst. Ihre Augen waren hellblau, als würden sie den Himmel einfangen. Die Frau trug ein graubraunes Kleid mit einem weißen Leibchen, eine fest um den Kopf gebundene Haube und eine Schürze, die nicht so sauber war wie meine. Sie stand breit in der Tür, sodass Maertge und Cornelia sich an ihr vorbeizwängen mussten, und starrte mich mit verschränkten Armen an, als erwarte sie, dass ich sie bedrohen würde.
Schon sieht sie mich als Gefahr, dachte ich. Wenn ich mich nicht vorsehe, wird sie mich herumkommandieren.
»Ich heiße Griet«, sagte ich und sah sie ruhig an. »Ich bin die neue Dienstmagd.«
Die Frau verlagerte das Gewicht von einer Hüfte auf die andere. »Dann komm mal rein«, sagte sie nach einem Moment. Sie trat einen Schritt in das düstere Innere zurück, sodass der Eingang frei war.
Ich trat über die Schwelle.
Woran ich mich immer erinnerte von diesem ersten Mal, als ich im Eingang stand, waren die Gemälde. Unmittelbar hinter der Tür blieb ich stehen, mein Bündel fest an mich gedrückt, und staunte. Ich hatte schon öfter Gemälde gesehen, aber nie so viele zusammen in einem Raum. Ich zählte elf. Das größte Bild war von zwei fast unbekleideten Männern, die miteinander rangen. Aus der Bibel kannte ich ein solches Thema nicht und dachte, dass es vielleicht eine katholische Geschichte erzählte. Auf den anderen Gemälden waren vertrautere Dinge zu sehen – Früchte, Landschaften, Schiffe auf See, Porträts. Offenbar stammten sie von mehreren Malern. Ich fragte mich, welche wohl mein neuer Herr gemalt hatte. Keines war so, wie ich es mir von ihm vorstellte.
Später fand ich heraus, dass sie alle von anderen Künstlern waren – er behielt nur selten eins seiner fertigen Gemälde im Haus. Er war nicht nur Maler, sondern auch Kunsthändler, und deswegen hingen Bilder in fast jedem Zimmer, selbst in dem, wo ich schlief. Insgesamt waren es über fünfzig, obwohl sich die Zahl immer wieder veränderte, weil er mit ihnen handelte und sie verkaufte.
»Komm schon. Du hast keine Zeit zu trödeln und zu gaffen.« Die Frau eilte den langen Gang hinunter, der an einer Seite des Hauses bis ganz nach hinten führte. Sie bog scharf nach links in ein Zimmer ab. Ich folgte ihr. An der Wand direkt gegenüber der Tür hing ein Gemälde, das größer war als ich. Es war von Christus am Kreuz, umgeben von der Jungfrau Maria, Maria Magdalena und dem heiligen Johannes. Ich versuchte, es nicht anzustarren, aber ich war verblüfft über seine Größe und das Thema. »Die Katholiken sind genauso wie wir«, hatte mein Vater gesagt. Aber in unseren Häusern hingen keine solchen Bilder, auch nicht in unseren Kirchen oder irgendwo anders. Und jetzt würde ich dieses Bild jeden Tag sehen.
Insgeheim nannte ich den Raum immer Kreuzigungszimmer. Ich fühlte mich dort nie wohl.
Das Gemälde überraschte mich so sehr, dass ich die Frau in der Ecke erst bemerkte, als sie mich ansprach. »Nun, Mädchen«, sagte sie. »Hier siehst du was ganz Neues.« Sie saß in einem bequemen Sessel und rauchte eine Pfeife. Die Zähne, zwischen denen das Mundstück steckte, waren braun, und ihre Finger trugen Spuren von Tinte. Alles andere an ihr war makellos – das schwarze Kleid, der Spitzenkragen, die gestärkte weiße Haube. Ihr faltiges Gesicht wirkte zwar streng, aber ihre hellbraunen Augen schienen belustigt.
Sie sah aus wie die Art alte Frau, die alle anderen überleben würde.
Sie ist Catharinas Mutter, wurde mir plötzlich klar. Nicht nur wegen der Augenfarbe und der grauen Lockensträhne, die sich aus ihrer Haube gelöst hatte, genau wie bei ihrer Tochter. Sie verhielt sich wie ein Mensch, der daran gewöhnt ist, sich um weniger Tüchtige zu kümmern – sich um Catharina zu kümmern. Jetzt begriff ich, warum ich zu ihr gebracht worden war und nicht zu ihrer Tochter.
Obwohl sie mich eher beiläufig anzusehen schien, war ihr Blick sehr aufmerksam. Als sie die Augen zusammenkniff, merkte ich, dass sie genau wusste, was ich dachte. Ich drehte den Kopf zur Seite, sodass meine Haube mein Gesicht verbarg.
Maria Thins schmauchte an ihrer Pfeife und lachte leise. »Recht so, Mädchen. Hier behältst du deine Gedanken am besten für dich. Du sollst also für meine Tochter arbeiten. Im Augenblick ist sie unterwegs, beim Einkaufen. Tanneke wird dir das Haus zeigen und dir deine Aufgaben erklären.«
Ich nickte. »Ja, Mevrouw.«
Tanneke hatte neben der alten Frau gestanden. Jetzt schob sie sich an mir vorbei. Ich folgte ihr und spürte, Maria Thins’ Augen in meinen Rücken. Dann lachte sie wieder leise.
Zuerst führte Tanneke mich in den hinteren Teil des Hauses, wo die Koch- und die Waschküche und zwei Vorratsräume lagen. Von der Waschküche ging eine Tür in einen kleinen Hinterhof, wo weiße Wäsche zum Trocknen aufgehängt war.
»Als Erstes muss das alles gebügelt werden«, sagte Tanneke. Ich erwiderte nichts, obwohl die Wäsche aussah, als wäre sie noch nicht richtig von der Mittagssonne gebleicht.
Sie ging mir voraus ins Haus zurück und deutete auf eine Öffnung im Boden einer der Vorratsräume, wo eine Leiter nach unten führte. »Da schläfst du«, erklärte sie. »Wirf deine Sachen runter, dort einrichten kannst du dich später.«
Widerwillig ließ ich mein Bündel in das dunkle Loch fallen und dachte dabei an die Steine, die Agnes, Frans und ich in die Gracht geworfen hatten, um die Ungeheuer aufzustöbern. Meine Habseligkeiten landeten mit einem dumpfen Aufprall auf der Erde. Ich kam mir vor wie ein Apfelbaum, der seine Früchte verliert.
Ich folgte Tanneke wieder in den Gang, von dem alle Zimmer abgingen – viel mehr als in unserem Haus. Neben dem Kreuzigungszimmer, wo Maria Thins saß, mehr im vorderen Teil des Hauses, war ein kleinerer Raum mit Kinderbetten, Nachttöpfen, kleinen Stühlen und einem Tisch, auf dem ein Durcheinander von irdenen Töpfen, Kerzenständern, Kerzenlöschern und Kleidungsstücken lag.
»Hier schlafen die Mädchen«, murmelte Tanneke, vielleicht verlegen wegen der Unordnung.
Sie kehrte in den Gang zurück und öffnete die Tür zu einem großen Raum, in den von den vorderen Fenstern viel Licht hereinströmte und über den rot-grau gefliesten Boden fiel. »Das Herrschaftszimmer«, flüsterte sie. »Hier schlafen Mijnheer und Mevrouw.«
Um das Bett hingen grüne Seidenvorhänge. Es gab noch andere Möbel – einen großen, mit Elfenbein eingelegten Schrank, einen Tisch aus Weißholz, der direkt am Fenster stand, darum angeordnet mehrere spanische Lederstühle. Aber was mir auffiel, waren wieder die Gemälde. Hier hingen mehr als in den anderen Räumen. Im Stillen zählte ich neunzehn. Die meisten waren Porträts – offenbar von Mitgliedern der beiden Familien. Dann gab es ein Gemälde von der Jungfrau Maria und eines von den drei Königen, die das Christuskind anbeten. Ich sah sie beide unbehaglich an.
»Und jetzt nach oben.« Tanneke ging mir voraus die steile Treppe hinauf und legte dabei einen Finger an die Lippen. Ich folgte ihr so leise wie möglich. Oben blickte ich mich um und sah die geschlossene Tür. Dahinter herrschte eine Stille, die mir sagte, dass er dort war.
Ich stand da, die Augen auf die Tür gerichtet, und wagte nicht, mich zu bewegen, für den Fall, dass sie aufging und er herauskam.
Tanneke beugte sich zu mir und flüsterte: »Da drin musst du sauber machen. Das erklärt die junge Herrin dir später. Und diese Zimmer …«, sie deutete auf die Türen im hinteren Teil des Hauses, »… gehören meiner Herrin. Da putze nur ich.«
Wir schlichen wieder nach unten. Als wir in der Waschküche standen, sagte Tanneke: »Du sollst die Wäsche für das ganze Haus machen.« Sie deutete auf einen großen Berg Kleidungsstücke – mit der Wäsche waren sie weit in Rückstand geraten. Ich würde viel waschen müssen, um das aufzuholen. »In der Kochküche gibt es eine Zisterne, aber du holst das Wasser für die Wäsche besser aus dem Kanal – das ist in diesem Teil der Stadt sehr sauber.«
»Tanneke«, sagte ich leise. »Hast du das alles ganz allein gemacht? Das Kochen, das Putzen und die Wäsche?«