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Umschlaggestaltung: Michael Beautemps

Edition AVRA

1. Auflage 2019

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN (Print): 978-3-946467-69-4

ISBN (E-Book): 978-3-946467-70-0

Printed in Germany

„Von der Kuppel der Frauenkirche sah ich diese leidigen Trümmer zwischen die schöne städtische Ordnung hineingesät; da rühmte mir der Küster die Kunst des Baumeisters, welcher Kirche und Kuppel auf einen so unerwünschten Fall schon eingerichtet und bombenfest erbaut hatte.“

Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Achtes Buch, 1768

Inhalt
  1. Kapitel
  2. Kapitel
  3. Kapitel
  4. Kapitel
  5. Kapitel
  6. Kapitel
  7. Kapitel
  8. Kapitel
  9. Kapitel

1. Kapitel

Arkadien und der Krieg

An einem wunderschönen Sommertag des Jahres 1759 ritt der junge Leutnant von Weltzow mit einem Trupp preußischer Husaren ins Umland der Stadt Dresden, denn österreichische Spähtrupps wagten sich immer näher an die Dresdner Festungswerke heran. Ihr Hauptlager befand sich südlich der kursächsischen Residenz und bekam ständig Verstärkung durch neue Truppen. Die in Dresden stationierten Preußen rechneten schon bald mit einem massiven Angriff der österreichischen Armee.

Der Trupp preußischer Husaren hatte sich schon ein Stück weit von den Dresdner Festungsmauern entfernt. Die ländlich anmutenden Häuser und Häuschen mit den üppig bepflanzten Gärten der Pirnaischen Vorstadt lagen bereits hinter ihnen. Jetzt hielten die Reiter im Galopp auf den »Großen Garten« zu. Der erschien von weitem als riesiges Karree, bestehend aus langen Reihen geometrisch zurechtgestutzter Bäumchen. Ganz wie eine Formation von Infanteristen sah das aus. »Eine schöne Gegend, hier ließe es sich gut leben«, dachte Conrad, ein junger Offizier des Trupps, bei sich, als die ebene Wiesenlandschaft in der Nähe der Elbe im Galopp an ihm vorbeiflog. Ein lauer Sommerwind zog um sein Gesicht und brachte den Geruch von frisch gemähtem Gras zu ihm. Links von den galoppierenden Husaren strömte die Elbe gemächlich dahin. Am anderen Ufer baute sich eine abwechslungsreiche Landschaft mit Flussweiden, Baumalleen und Buschwerk auf. Vereinzelt, wie von einem Maler hineingesetzt, erschienen Gehöfte mit strohgedeckten Fachwerkhäusern, Scheunen und Schuppen. Darüber leuchtete der strahlend blaue Sommerhimmel mit weißen Wölkchen, als sei auch er von demselben Künstler dahin gemalt worden. Der junge Offizier genoss diesen Augenblick fernab von den Kommandos und endlosen Exerzierübungen in seiner Garnison, die seit nunmehr drei Jahren in Dresden lag. »Arkadien könnte kaum schöner sein!«, rief er zu dem neben ihm reitenden älteren Husarenoffizier, der das Kommando über den ganzen Trupp hatte. Der Angesprochene winkte ab und machte ein verächtliches Gesicht. »Es ist Krieg, Herr Leutnant! Paradies und Krieg, das passt nicht!«

Das plötzliche Geknatter mehrerer Gewehrschüsse riss beide jäh aus ihrem Gespräch. »Da sehen Sie! Deckung!«, brüllte der Husarenoffizier weiter. Intuitiv bückten und schmiegten sich die erfahrenen Kavalleristen eng an die Leiber ihrer Pferde, um dem Gegner möglichst wenig Trefferfläche zu bieten. Doch zwei Reiter fielen sofort. Der eine lag sogleich blutüberströmt im Gras und hatte ohne Zweifel sein Leben ausgehaucht, dem anderen war das Pferd weggeschossen worden. Er verschanzte sich sogleich hinter dem Körper des toten Tieres, um nicht weitere Musketenkugeln abzubekommen. Doch wie lange würde ihm das glücken, wenn er ohne die Hilfe seiner Kameraden hier liegen bliebe und die Soldaten des österreichischen Vorpostens sich immer weiter vorwagen würden? Ohne sich mit Conrad abzustimmen, ließ der Husarenoffizier seinen Trupp eine Kehrtwende vollführen und suchte sein Heil in der Flucht. »Wer weiß, wie viele österreichische Schützen hier noch verborgen sind. Unser Befehl lautet erkunden und sonst nichts!«, rief er Conrad zu. Doch der stoppte sein Pferd und überschlug in Sekundenschnelle, wie lange die Gegner brauchen würden, um nachzuladen. »Jetzt oder nie!«, rief er dem älteren Husarenoffizier nach, gab kurz entschlossen seinem Ross die Sporen und galoppierte dorthin zurück, wo der Gestürzte lag. Der wusste sofort, dass er keine zweite Chance bekommen würde, gab seine Deckung auf und sprang einem Artisten gleich auf das vorbeigaloppierende Pferd Conrads. Unmittelbar danach krachten auch schon wieder Schüsse aus dem Gebüsch, hinter dem sich der österreichische Vorposten verschanzt hatte. Gott sei Dank verfehlten sie ihr Ziel, doch beide Reiter spürten, wie nahe die bleiernen Geschosse an ihren Köpfen vorbeizischten. Conrad setzte mit dem Geretteten auf seinem Pferd den anderen Husaren nach. Er gab seinem Ross die Sporen, als wäre der Teufel hinter ihm her. Schon bald hatten sie die Schussweite ihrer Feinde hinter sich gelassen. Erleichtert erreichten sie wieder die Pirnaische Vorstadt und konnten so ihre Pferde im Trab weiterlaufen lassen. Bis hierher würden sich die österreichischen Vorposten nicht wagen. »Ihr seid ein verwegener Kerl, Herr Leutnant«, sprach der Husarenoffizier zu Conrad. »Ich lasse keinen Kameraden im Stich!«, antwortete er ihm in vorwurfsvollem Tonfall. Der Angesprochene drehte verärgert sein Gesicht weg. Er mochte dieses »Milchgesicht«, wie sie ihn in der Truppe hinter vorgehaltener Hand nannten, ohnehin nicht. »Einfach lächerlich, der Kerl«, dachte der altgediente Husar bei sich und blickte den jungen Conrad von der Seite an. »Dieses glatte, bubenhafte Gesicht mit den blonden Löckchen unter der weißen Perücke! Der hat doch noch niemals ein Rasiermesser gesehen! Und so einer reitet mit stolzgeschwellter Brust herum und erzählt mir kriegserfahrenem Kavalleristen, was Tapferkeit und Treue ist? Verdammtes Milchgesicht aus reichem Hause!«, grübelte der Husar weiter vor sich hin.

Kurze Zeit später polterten die Hufe ihrer Pferde über die mit Holzbohlen ausgelegte Brücke vor dem Pirnaischen Tor. Direkt darunter befand sich der Wassergraben, welcher vor den massiven Festungswällen der Dresdner Altstadt eine zusätzliche Sicherheit gegen Angreifer aller Art bieten sollte. Conrad salutierte den Wachposten vor dem Tor und kurze Zeit später hallte der Hufschlag des Husarentrupps über das Steinpflaster einer zum Dresdner Neumarkt führenden Gasse, wo sich die Hauptwache des Stadtkommandanten befand. Ein Geruch von Fäulnis lag, wie immer in den Sommermonaten, in den Straßen Dresdens. Auf das Pflaster gekippter Unrat und Pferdeäpfel stanken vor sich hin. Die hohen Häuserfronten rechts und links waren bewohnt und in der Gasse sprudelte das Leben: geschäftig vorübereilende Bürger, zankende Kinder und Händler mit Eselskarren belebten das Bild der Straße. In den Erdgeschossen befanden sich Läden, Werkstätten und einige Kneipen, aus denen das Stimmengewirr unzähliger Menschen erklang. Je weiter der Trupp in Richtung Neumarkt kam, umso geschäftiger wurde das Treiben. Mit einem Mal endete die enge Gasse und gab den Blick frei auf diesen hellen, großräumigen Platz, der von prächtigen Gebäuden umgeben war. Gleich vorn stand die imposante Frauenkirche mit ihrer alles überragenden Kuppel. Vor ihr war das niedrige, aber prunkvoll verzierte Wachgebäude mit seinem Arkadengang im Erdgeschoss, den großzügigen Fenstern in der ersten Etage und seinem aufwendig gestalteten Mansarddach. Es reihte sich würdig in das vornehme Ensemble weiterer prächtiger Bauten ein, die den Neumarkt umgaben. »Fast zu prächtig für einen militärischen Verwaltungsbau. Bei uns in Preußen wäre ein solches Gebäude wesentlich nüchterner ausgefallen«, dachte Conrad bei sich. Direkt gegenüber stand das majestätisch anmutende Gebäude der königlichen Gemäldegalerie mit seiner imposanten Freitreppe. Unter den vielen prächtigen Bürgerhäusern hob sich das Brühlsche Palais besonders protzig und prunkvoll von allen anderen Gebäuden ab. Hier auf diesem großzügig angelegten Platz traf man um diese Tageszeit noch viel mehr Menschen an als in den schmalen Seitengassen Dresdens. Da stolzierten preußische Offiziere umher und zwischen ihnen die Bewohner der Stadt. Das waren vornehm gekleidete Herrschaften, ebenso wie auch viele arme Schlucker: barfuß laufende Tagelöhner, arme Bauern aus der Umgebung, Händler mit einfachen Holzkarren und alte Frauen, die riesige geflochtene Körbe auf dem Buckel trugen, worin sich Ware befand, die sie auf den benachbarten Altmarkt anbieten wollten. Drei Jahre Krieg hatten dem Land und seiner Residenz den Stempel aufgedrückt. Es gab nicht wenige verarmte Bauernfamilien, die ihre Höfe verloren hatten, jetzt in den Städten zu Hausierern geworden waren und wer weiß wo die Nächte verbrachten. Gleiches galt für verwundete oder desertierte Soldaten. Laute Kommandorufe rissen Conrad plötzlich aus seinen Beobachtungen.

Eine Wachparade für die neuen Posten auf den Wällen und vor den Toren der Stadt wurde gerade zelebriert. »Ohne Tritt marsch!«, befahl in barschem Ton ein Kapitän der preußischen Armee und ließ so die Soldaten in Kompaniestärke abrücken. Er selbst stolzierte wie ein Hahn hocherhobenen Hauptes nebenher und ließ seinen kritischen Blick über die Uniformen seiner vergatterten Wachen schweifen. War ihm nicht vielleicht doch irgendeine Schlampigkeit bei seinen Jungs entgangen?

Derweil befahl der altgediente Husarenoffizier seinem Trupp abzusitzen. Mit ungutem Gefühl betrat Conrad sogleich das schmucke Wachgebäude, denn der Stadtkommandant, dem er als Adjutant zugeteilt war, wünschte ihn zu sprechen. Hastig eilte er die breite Treppe hinauf ins Obergeschoss. Rechts und links waren an den Wänden noch Haken zu sehen, wo früher einmal Bildnisse sächsischer Generäle und Kurfürsten gehangen hatten. Die waren nun nicht mehr aktuell und standen aneinandergestapelt im unteren Flur. So schnell verfließt der Ruhm!

Der Offizier im Vorzimmer begrüßte Conrad mit gespielter Freundlichkeit. »Ah, der Herr Leutnant von Weltzow!« – »Melde mich zurück vom Erkundungsritt! Ein Mann Verlust!«, platzte Conrad sogleich heraus. »Verlust? Äh, er wird von Herrn General von Schmettau ohnehin bereits erwartet«, entgegnete der Vorzimmeroffizier schnell in plötzlich distanzierter Art, denn nichts war schlimmer, als seinem Chef mit schlechten Nachrichten zu kommen. Er schob Conrad förmlich ins Arbeitszimmer des Stadtkommandanten und schloss sehr schnell hinter ihm die Tür. Mit klopfendem Herzen stand Conrad nun in der Höhle des Löwen. Der Stadtkommandant General von Schmettau, ein Mann mittleren Alters, von kleinem, untersetztem Körperbau mit Doppelkinn und hochroter Gesichtsfarbe, war von cholerischem Temperament. Unmöglich vorherzusagen, wie der auf die Meldung Conrads reagieren würde, dass ein Mann vom Erkundungsritt nicht zurückgekehrt war. Der Dicke saß leger etwas zurückgelehnt an seinem Schreibtisch. Eine Hand lag auf der mit aufwendigen Intarsien verzierten Tischplatte, die andere auf der Lehne seines lederbezogenen Stuhles. Die Höhe der Stuckdecke mit dem mächtigen Kronleuchter und den großen Fenstern im Raum ließen an ein kurfürstlich-königliches Schloss denken.

Von draußen drangen Stimmengewirr, Marschtritt und das Rattern von Kutschenrädern in den Raum hinein, denn eines der Fenster war nur angelehnt. Überall in dem Arbeitszimmer stapelten sich Bücher und Akten. Auf einem größeren Tisch lagen gleich mehrere Lagepläne der Stadt und ihres Umfeldes neben- und übereinander. An einem prächtig verzierten Garderobenständer baumelte der Degen des Kommandanten mit dem Gehänge und ein Umhang war unordentlich darübergeworfen. »Und! Wo stehen die Vorposten der Österreicher? Wo ist ihre Hauptarmee abgeblieben?«, fragte der Stadtkommandant laut in den Raum hinein, dass seine Stimme aufgrund der hohen Decke mehrfach widerhallte. »Gestatten? Wir hatten ein Gefecht mit einem Vorposten der Österreicher, östlich, direkt vor dem Großen Garten. Ein Mann Verlust«, entgegnete Conrad militärisch korrekt. Der Kommandant stand ungeduldig werdend auf und ging zum Tisch mit den Karten und Plänen. »Ein Mann Verlust! Uninteressant! Kommen sie her, zeigen sie mir, wo das war!« Conrad tippte treuherzig mit seinem Finger auf die Stelle im Umgebungsplan Dresdens, wo der Zusammenstoß vor kurzer Zeit stattgefunden hatte. »Ist er schon im Feld gewesen? Ich meine, hat er schon Schlachtfelderfahrung? Nein? Ja?«, fragte der Kommandant den verblüfften Conrad weiter. Er hätte nicht erwartet, jetzt darüber ausgefragt zu werden. »Na los schon, Kolin? Prag? Lobositz? Dabei gewesen?«, bohrte der Dicke ungeduldig weiter und sah Conrad dabei herausfordernd an. »Nur Lobositz, Herr General!«, antwortete er mit hastiger und unsicherer Stimme. Als junger Leutnant war es ihm zuweilen unangenehm, bisher eben nicht an den Brennpunkten des Krieges eingesetzt worden zu sein, sosehr er auf der anderen Seite das friedlichere Leben in der sächsischen Residenz schätzen gelernt hatte. Hinzu kam noch, dass Conrad mit Caroline, einer hübschen Dresdnerin, hier seine große Liebe gefunden zu haben glaubte. Doch was interessierte das jetzt den dicken, cholerischen Stadtkommandanten von Schmettau. Conrad sah unsicher geworden zu ihm hinüber und überlegte sich, ob er seinen Kriegsbeitrag nicht noch etwas aufwerten konnte. »Und, und die Erstürmung des sächsischen Lagers bei Königstein, gleich zu Beginn des Krieges im Oktober 1756! Da war ich auch dabei!«, setzte er gleich noch hinzu. »Erstürmung des sächsischen Lagers! War ich auch dabei«, äffte der Kommandant die Stimme Conrads nach. »Will er mich auf den Arm nehmen?! Das war doch keine Schlacht. Ne Hasenjagd war das! Diese Sachsen haben sich uns kampflos ergeben und wir haben sie ins Gatter rennen lassen wie entlaufenes Vieh! Ihnen die Hörner gestutzt und eingeschlossen. Ganz normales Tagewerk war das für uns!«, kanzelte er Conrad kurz ab. Dann nahm er eine Lupe zur Hand und besah sich noch einmal einige Details in dem ausgebreiteten Plan mit der Umgebung Dresdens. »Kein Soldat der Welt würde es sich zur Ehre anrechnen, gegen so eine hundsmiserable Armee, wie es die sächsische nun mal ist, einen Sieg erfochten zu haben. Die sächsische Lotterwirtschaft von diesem Brühl hat die Streitkräfte systematisch verkommen lassen. Die sollten sich was schämen, diese Sachsen!«, redete Schmettau in einem fort weiter.

Während der Stadtkommandant weiterhin sein Wortgeprassel auf Conrad niedergehen ließ, blickte der nachdenklich nach draußen. Direkt vor der Wache stand der hölzerne Schandesel und daneben ein Galgen, an dessen oberen Balken ein Schild angebracht war: »Dieben, Plünderern und Deserteuren zur Warnung! Der Stadtkommandant.« Auf Conrads sensibles Gemüt machte der Anblick von alldem einen zusätzlich beunruhigenden Eindruck. Er blickte sehnsüchtig zur Tür, um nur recht bald wieder aus der Reichweite dieses Vorgesetzten verschwinden zu können. Denn wenn der sich mal eingehender mit einem Untergebenen beschäftigte, hatte der Betreffende meist nichts Gutes zu erwarten.

Dann klopfte es plötzlich an der Tür und der Vorzimmeroffizier begehrte wieder Einlass. »Gestatten, Herr General! Die Offiziere zur Lagebesprechung!«, platzte er in den großen Raum hinein. »Eintreten!«, tönte der Kommandant sofort barsch zurück. »Und er bleibt auch!«, befahl er Conrad in gleicher Tonart. Der Raum füllte sich sogleich mit Offizieren verschiedenster Ränge und Waffengattungen: Infanteristen, Artilleristen, Husaren, Dragonern. Alle nahmen sogleich ihre dreieckigen Hüte ab und hielten sie in den Händen. Die Dielen des Raumes knarrten unter den vielen Militärstiefeln. Doch ansonsten wagte keiner der Eintretenden zu sprechen. Alles blickte gebannt und erwartungsvoll zugleich auf den Kommandanten, der kein Freund langer Vorreden war. »Also, meine Herrn! Der Österreicher rückt uns immer ärger auf die Pelle! Hier und da sowie da Vorpostengefechte. Immer mehr feindliche Truppen scheinen jetzt südlich von Dresden Lager zu beziehen. Noch ist unser Hauptfeind der österreichische Marschall Daun mit seiner Armee nicht hier erschienen«, begann er mit gereizter Stimme zu dozieren. Sein Spazierstock zeigte nacheinander auf die entsprechenden Punkte auf der ausgebreiteten Karte. »Zu allem Übel sind auch noch Reichstruppen im Anmarsch. Der Pfalzgraf von Zweibrücken wird sich als ihr Oberbefehlshaber also ebenfalls noch bei uns die Ehre geben«, ergänzte er schließlich das Gesagte. Langsam und bedächtig schritt der General nun zurück zu seinem Schreibtisch, wo der Spazierstock von ihm laut hörbar auf die mit Intarsien verzierte Tischplatte geworfen wurde. Sein Griff war in Form eines Jagdhundes gestaltet, der kunstvoll aus Elfenbein geschnitzt war. Durch den kühnen Wurf splitterte ein winziges Stück von dem kleinen Kunstwerk ab, was für Schmettau keine Bedeutung zu haben schien. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und gab den Offizieren in barschem Ton Befehle. »Die ganze Stadt ist sofort in Verteidigungszustand zu versetzen. Keiner kommt mehr rein und keiner raus! Alle Tore werden geschlossen. Tag und Nacht! Verstanden? Gilt auch für Zivilisten! Alle Geschütze, die verfügbar sind, kommen hoch auf die Festungswälle. Übrigens liegen da noch vor den Toren der Neustadt Kanonenrohre mit defekten Lafetten, die darauf warten, endlich geborgen zu werden. Gott weiß, wer von Ihnen für diese Schlamperei verantwortlich ist.« Dann schritt er wieder zum Tisch mit den ausgebreiteten Plänen. »Außerdem!«, fuhr er mit rauer Stimme fort. »Diese windschiefen Bauernkaten in den Pirnaischen, Wilsdruffschen, See- und sonst wie bezeichneten Vorstädten Dresdens werden abgebrannt!« Er zeigte dabei energisch auf die entsprechenden Stellen der Karte. »Diese Buden mit ihren Gärtchen und Misthaufen verdecken unseren Artilleristen die Sicht. Wenn die Österreicher kommen, sollen die gefälligst keine unnützen Möglichkeiten der Deckung bekommen. Da brauchen wir freies Schussfeld. Wie bei der Hasenjagd! Also weg damit und alles einebnen. Verstanden?!« Sein massiges Gesicht hatte sich während der Rede tiefrot gefärbt und war leicht nach vorn gebeugt. Es hatte den Ausdruck einer zähnefletschenden Bulldogge. »Das heißt, wir müssten die Einwohner von dort vertreiben«, entgegnete ihm einer seiner Offiziere mit unsicherer Stimme. Dieser Einwurf unterbrach kurzzeitig den Redefluss Schmettaus. Es vergingen einige Sekunden voller Spannung, in denen der dicke Stadtkommandant verdutzt in die Runde seiner Offiziere schaute, als verstehe er die Frage nicht recht. Ein Wutausbruch des Cholerikers schien unmittelbar bevorzustehen. »Na, vielleicht sollten sie umquartiert werden, Herr General«, fügte der Offizier mit schüchterner Stimme hinzu und blickte dabei unschuldig, Zustimmung erheischend, in die Runde der anderen. »Herr Jott! In diesem verdammten Krieg sind schon so viele Leute an die frische Luft gesetzt worden. Die preußische Armee ist schließlich kein Nonnenorden, der alles und jeden mit Barmherzigkeit beglückt! Verschone er mich also gefälligst mit seinen weibischen Anwandlungen von Rücksichtnahme«, donnerte der Stadtkommandant mit gewohnt lauter Stimme zurück. »Mussten ja auch nicht gerade dort ihre Häuser bauen, wo sie im Schussfeld liegen! Direkt vor den Festungsmauern! Diese Sachsen!«, sprach er in abgehackten Sätzen weiter und schlug sich dabei mit der Handfläche gegen die Stirn. »Und ihre Kurfürsten haben das auch noch genehmigt. Skandal ist das! Aber nicht unserer! Wir sind Preußen und sorgen für freies Schussfeld!«, beendete Schmettau schließlich unerbittlich seinen Vortrag. Dann ging er mit schnellen Schritten um seinen Schreibtisch herum und riss ungeduldig einen der Schieber auf, nahm einen mehrfach gefalteten Brief mit erbrochenem Siegel heraus und überflog dessen Zeilen. »Meine Herren Offiziers! Hier nun noch etwas ganz und gar Delikates, ja Heikles«, begann Schmettau, viel leiser als vorher, fast mit der Stimme eines Verschwörers, weiterzureden. »Per Geheimkurier habe ich Nachricht erhalten, dass Ihro Majestät unser König Friedrich noch heute Nacht höchstselbst vor den Toren der Stadt erwartet wird. Es ist vorgesehen, dass er inkognito begleitet von einer zuverlässigen Eskadron Dragoner unter Umgehung der österreichischen Vorposten schon bald hier eintreffen wird.« Unter den anwesenden Offizieren brach daraufhin sofort ein nervöses Gemurmel aus. »Ist das nicht zu riskant? Was ist, wenn der Feind davon Nachricht bekommt?«, wagten einige sogar dazwischenzufragen. »Das ist eine äußerst vertrauliche Mitteilung und ich warne alle anwesenden Offiziers, nichts, aber auch gar nichts davon nach außen dringen zu lassen. Weder zu unseren Truppen und schon gar nicht zur Bevölkerung Dresdens. Allerhöchste Stufe der Geheimhaltung wird hier befohlen«, kommandierte Schmettau nervös weiter. »Es ist sicherzustellen, dass an jedem Stadttor ein Vorgesetzter steht, der über diese heikle Sache informiert ist und bei Ihro Majestät Erscheinen dieselbe sofort und ungehindert einzulassen hat. Sodann bin ich umgehend per Bote davon zu unterrichten«, schloss er schließlich seine Rede im Kommandoton ab. Seine Arme verschränkte er wieder vor der Brust und entließ die Offiziere mit dem kurz und bündig formulierten Befehl »Wegtreten!«.

Wortlos trampelten nun unzählige Stiefelpaare die Treppe im Wachgebäude herunter. Auch Conrad war unter ihnen. Seine Gedanken kreisten allerdings nicht um die Befehle des Stadtkommandanten, denn er hatte heute Abend etwas sehr viel Erfreulicheres vor.

2. Kapitel

Die Schneiderwerkstatt Besenbrecht

Es begann schon dunkel zu werden, als Conrad durch die Straßen Dresdens ging. Nicht so sehr weit weg lag die Gasse, in der seine geliebte Caroline mit ihrer Familie lebte. Er hatte seine große Liebe gleich nach dem Einmarsch der Preußen in Dresden 1756 kennengelernt und lebte seither in seiner dienstfreien Zeit unter dem Dach ihrer gastfreundlichen Familie. Dabei war er nur durch den Befehl des preußischen Stadtkommandanten zu dieser Adresse gekommen. Das heißt, man hatte ihn hier, wie damals beim Militär üblich, zwangsweise einquartiert. Nach und nach, er wusste selbst nicht mehr, wie ihm das geschah, hatte er sich in Caroline, die Tochter des Hauseigners und Schneidereibesitzers Besenbrecht, verliebt. Die kleine Werkstatt war vor dem Krieg eine lukrative Adresse für angesehene Leute bei Hofe gewesen, die hier ihre prächtigen Kleider schneidern ließen. Nun, da der Krieg schon das dritte Jahr anhielt, waren keine guten Geschäfte mehr zu machen. Der größte Teil des sächsischen Hofes war nach Warschau emigriert und die Zurückgebliebenen hatten kaum noch Geld für Luxuswaren.

Conrads Herz schlug jedes Mal höher, wenn er vom Neumarkt kommend in eine der Gassen abbog, die direkt zum Altmarkt führten. Der große, rechteckige Platz war von hoch aufragenden Bürgerhäusern umgeben und in den Erdgeschossen befanden sich auch hier Geschäfte, Werkstätten und Wirtschaften. Jetzt in den Abendstunden räumten die letzten Händler gerade ihre Stände und Waren weg. Der Markttag neigte sich seinem Ende zu. Vereinzelt ertönten hier und da noch laute Stimmen und Hammerschläge der mit dem Abbau ihrer Stände beschäftigten Händler. Preußische Militärpatrouillen standen dabei und achteten darauf, dass alles pünktlich den Platz verließ. Auch die Sänftenträgerstation am südlichen Ende des gigantischen Platzes schloss ihre Türen. In den Abend- und Nachtstunden würden gut zahlende Kunden nur noch bei Vorbestellungen befördert werden. Am gegenüberliegenden Ende befand sich der ständig vor sich hin plätschernde Justitiabrunnen.

Unmittelbar dahinter ertönte vielstimmiger Lärm aus einer kleinen Kneipe, die den Namen »Zum Bären« führte. Hier betranken sich Männer aus ärmeren Schichten der Bevölkerung und oft genug kam es zu Schlägereien. Conrad betrat die Wirtshaft, um noch einen Krug Wein für die Familie von Caroline zu kaufen. Er ging zwei ausgetretene Stufen hinunter in einen diffus beleuchteten und unübersichtlichen Raum mit niedrigen Gewölben, die in der Nähe des Kamins total verrußt waren. Essensgeruch vermischte sich mit Pfeifenrauch. Die Kneipe war mäßig gefüllt, und in einer Ecke saßen an einer Art Stammtisch mehrere verwahrloste Gestalten, die gebannt einem hageren Typen zuhörten, der ein geradezu grauenhaft zerfurchtes Gesicht hatte. Beim Eintreten Conrads drehten sich die Gesellen am Tisch zu ihm um und fixierten ihn mit abfälligen Blicken, wagten aber nichts zu sagen. Der Typ mit dem zerfurchten Gesicht wollte mit etwas herausplatzen, wurde aber von den anderen am Ärmel gezupft. »Halt die Schnauze, Alter. Das ist ein Offizier, der lässt den ganzen Laden hochgehen, wenn du …«, flüsterten sie ihm zu. Doch der betagte Mann wollte davon nichts wissen, riss sich von den anderen los und brüllte in Conrads Richtung. »Von so einem lass ich mir das Maul nicht verbieten. Hab als junger Artillerist vor den Preußen keinen Schiss in der Hose gehabt und bei Gott, ich fang auch jetzt nicht damit an!« Er erhob sich und humpelte mit zwei Krückstöcken unter den Achseln auf Conrad zu. Erst jetzt war zu sehen, dass er auf der linken Seite nur noch ein Holzbein hatte. Er erschien Conrad wie ein uralter Waldgeist, in dessen verwittertem Gesicht zwei blaue Augen voller Hass funkelten. Lange Strähnen fettiger grauer Haare klebten ihm im Gesicht. »Ja, ich war kursächsischer Artillerist! Schlacht bei Hohenfriedberg! Linkes Bein verloren! Preußische Kugel hat es getroffen. Ist Wundbrand reingekommen. Musste amputiert werden«, sprach der Alte in abgehackten Sätzen auf Conrad ein. »Fünf Mann halten dich fest, damit der Doktor Chirurgus mit seiner Knochensäge arbeiten kann! Ritsch, ratsch! So nen Oberschenkelknochen ist verdammt dick und das dauert, bis der durch ist! Irgendwann erlöst dich dann eine Ohnmacht!«, krächzte er weiter mit verächtlich-zorniger Stimme und blickte dabei Conrad dreist in die Augen. Doch der ließ sich von den Provokationen nicht beeindrucken oder versuchte zumindest äußerlich die Ruhe zu bewahren. Wortlos händigte ihm der Wirt seinen Krug mit Wein aus und nahm Conrads Geld an sich. Mit einem leichten Kopfnicken bedankte er sich für das großzügige Trinkgeld. Als Conrad dann in Richtung Ausgang lief, plärrte der Alte ihm hinterher: »Man hört, die österreichische Armee sei im Anmarsch! Von Dresdens Festungswällen kann man ihr Lager deutlich sehen! Die werden euch am Arsch kriegen! Verlasst euch drauf!« Conrad verließ die Spelunke scheinbar ungerührt, doch war er innerlich zutiefst beleidigt und verunsichert. Der alte Invalid äffte Conrads Art zu laufen mit einigem schauspielerischen Talent nach und spuckte dann mitten in der Wirtschaft aus, um seine Verachtung vor den preußischen Besatzern zu zeigen. Mit lautem Gejohle kommentierten die anderen Gäste den Vorfall und baten den Alten wieder an seinen Platz, damit er weiter von vergangenen Heldentaten der sächsischen Armee erzählen könne. »Ihr wisst, wo der jetzt hingeht?«, fragte der Kriegsinvalid mit hämisch grinsendem Gesicht. »Nein? Na, dann will ich euch mal auf die Sprünge helfen. Der marschiert geradewegs in so eine Schneiderwerkstatt in der Nähe von hier. Schneider Besenbrecht! So ’n mieser Geldsack, hat früher für die feinen Pinkels vom Hof gearbeitet und heute schneidert der Uniformen für Preußens. Und seine Tochter, das miese Luder, verdingt sich unseren Feinden als Hure. Ja, als Hure!« – »Es ist eine Schande, wie viele Verräter es in unserer Stadt gibt«, setzte ein anderer mit wichtiger Miene hinzu. Der Alte wurde plötzlich merklich leiser in seiner Stimmlage, sodass die anderen ihre Köpfe enger zusammenstecken mussten, um etwas zu verstehen. »Und ich sage euch! Die Österreicher kommen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, und für den Tag spare ich mir meine Wut auf! Dann werden wir den sogenannten Schneiderladen hochgehen lassen! Was sagt ihr? Versprochen? Hand drauf?« Mit feierlichem Getue reichten die Saufbrüder einander die Hände und blickten sich gegenseitig verschwörerisch in die Augen.

In der Werkstatt Besenbrecht stand zur selben Zeit ein reicher Kunde, in diesen schweren Zeiten ein seltener Glücksfall. An dem kursächsischen Hofbeamten schienen die vergangenen drei Kriegsjahre nahezu spurlos vorübergegangen zu sein. Er war gut gekleidet und genährt. Unter seiner grauweißen Lockenperücke erschien ein fahles, zur Maske erstarrtes Gesicht. Er war geschminkt und roch stark nach Duftessenzen. Caroline und ihr Vater hefteten mit Stecknadeln Rock und Hose passgerecht an den Körper des Mannes, der unterdessen unablässig in den großen Spiegel der Werkstatt schaute, sich drehte, bückte und wie ein Wasserfall daherredete. »Ich kann nicht sagen, wie froh ich bin, noch diesen kostbaren Seidenstoff mit Brokatmustern bekommen zu haben. Echte Vorkriegsware«, sprach er mit affektierter Stimme in die Werkstatt hinein. »Und wir sind froh, dass der Herr Geheimrat Baron von Pinkel unsere Werkstatt nach wie vor mit der Anfertigung seiner Kleider beauftragt«, antwortete der Vater Besenbrecht, indem er einige Bücklinge vor seinem Kunden vollführte. Caroline, die das aus dem Augenwinkel genau gesehen hatte, biss sich vor Wut auf die Lippen. Sie mochte es nicht, wenn ihr alter Vater sich vor diesen Hofschranzen erniedrigte. »Ach! Es geht ihm mit seiner Schneiderei wohl auch gar schlecht? Tja, diese verdammten preußischen Blauröcke ruinieren unser ganzes Land. Ich könnte ihm da einiges erzählen, was ich von meinem gnädigen und ebenso großmütigen wie genialen Gönner und Herrn, dem Premierminister Graf Heinrich von Brühl, weiß«, sprach der Beamte in gekünstelter Art weiter. »Aber der ist doch mit dem König in Warschau«, entgegnete ihm der alte Besenbrecht mit unsicherer Stimme. »Wir korrespondieren per geheimen Boten. Ich bin nämlich sein engster Vertrauter hier in Dresden. Aber das ist wie gesagt alles völlig geheim. Da darf ich gar nicht weiterreden. Wenn er wüsste …«, entgegnete der Kunde und nahm nun eine Haltung ein, als wolle er zum Tanze schreiten. Ein Bein blieb als Stand und das andere setzte er leicht nach vorn und wiegte dabei in den Hüften, worauf Caroline einen unterdrückten Lacher hören ließ. Der böse, vernichtende Blick des Geheimrats von Pinkel traf sie sofort und plötzlich herrschte eisige Stille in der Schneiderei. Von nun an sollte das Gespräch einen unersprießlichen Verlauf nehmen. Der Kunde schaute zu Caroline hinüber, die stand auf und vollführte demütig einen Hofknicks als Entschuldigung. Sie war gerade mal 21 Jahre alt, hatte ein schönes, ebenmäßiges Gesicht voller Liebreiz, braune Augen und eine leicht gebogene Nase, was ihrer Schönheit aber keinen Abbruch tat. Das lange schwarze Haar hatte sie zu einer fantasievollen Frisur aufgesteckt. Auf diese Weise waren Hals, Nacken und Ohren frei, und sie konnte ungestört arbeiten. Auch ihr Kleid war so geschneidert, dass sie sich darin bequem bewegen konnte. Den tiefen, spitz zulaufenden Ausschnitt vor der Brust hatte sie mit einem elegant um den Hals geschlungenen weißen Tuch verdeckt. Der Hofbeamte musterte sie mit Verachtung und Begierde zugleich. Er wusste offenbar nicht, wie er nun auf die entstandene Situation reagieren sollte. Nach kurzem Nachdenken entschloss er sich, Verachtung zu zeigen. Mit säuerlicher Miene drehte er seinen Kopf in Richtung des alten Schneiders Besenbrecht, der mit seinen zum Zopf gebundenen grauweißen Perückenhaaren angstvoll durch die kleinen, runden Gläser seiner Brille schaute. Seine besorgt in Runzeln gezogene Stirn passte irgendwie zur leicht gebückten Haltung des Oberkörpers. Er erwartete nichts Gutes, am allerschlimmsten wäre es, wenn der Auftrag verloren ginge. Denn die mühsam erarbeiteten Ersparnisse der Familie waren längst aufgebraucht und Schulden drückten auf seinen Schultern. »Hatte ich ihm eigentlich schon die Geschichte von der Porzellanfigur eines Dresdner Schneiders erzählt?«, sprach der Höfling in unerwartet versöhnlich klingendem Tonfall weiter und lächelte Besenbrecht geheimnisvoll an. »Nein? Dann höre er mal! Ein Dresdner Schneiderlein, ein Kollege also«, begann der Hofbeamte mit gekünsteltem Lächeln zu erzählen. Auf dümmliche Art wollte er seine Überlegenheit zur Schau tragen. »Nun, jener Schneider war von unserem Premierminister Graf Heinrich von Brühl über Agenten beauftragt worden, einen prachtvollen Justaucorps samt Hosen, Weste und allem, was dazugehörig, anzufertigen. Als dann die erste Anprobe anstand, wurde das Schneiderlein ins Brühlsche Palais beordert«, erzählte der Höfling mit hinterhältigem Lächeln im Gesicht. »Na, das muss man sich mal vorstellen, so ein Schneiderlein sieht zum ersten Mal in seinem langweiligen Leben ein herrschaftliches Haus von innen. Diese großartig inszenierten Interieurs: Gemälde, Kristallleuchter, Vorhänge aus kostbarem Material und auf dem glänzend-glatten Parkett standen Möbel mit Intarsien und Vergoldungen. Das wird den armen Kerl verwirrt haben«, sprach der Geheimrat und zuckte resignierend mit den Schultern. »Denn nur so ist erklärlich, wie er sich schließlich erdreisten konnte, unseren gnädigen und ebenso großmütigen wie genialen Premierminister Graf Heinrich von Brühl zu bitten, er möge ein gutes Wort bei Ihro Königlich-Kurfürstlichen Majestät einlegen, damit er einmal in seinem Leben mit an der Tafel unseres Landesherren speisen dürfe«, redete er weiter, während sein Gesichtsausdruck nichts als Gehässigkeit ausstrahlte. Da die erwartete Reaktion seiner Zuhörer nicht in gewünschtem Umfang ausfiel, setzte er noch einmal hinzu: »Wohlgemerkt! Es handelte sich hierbei um einen miesen, kleinen Schneider, der mit dem Landesherren speisen wollte!« Der Geheimrat hatte seine Froschaugen mit gespieltem Entsetzen weit aufgerissen und blickte herablassend auf den alten Schneider Besenbrecht, der gerade dabei war, die Hose zur Anprobe vorzubereiten. Währenddessen Caroline weiter mit dem Abstecken seines Rockes beschäftigt war und gar nicht dergleichen tat, blickte ihr Vater mit gespieltem Interesse auf den Geheimrat, der mit der Wirkung seiner Erzählung noch immer nicht zufrieden schien. »Größenwahn! Nichts als Größenwahn hatte ihn erfasst! Typisch für Leute aus unteren Bevölkerungsschichten. Zeige denen einmal Prunk und Luxus, das verdirbt ihren Charakter vollends. Aber mein Gönner und Herr, der Premierminister Graf Heinrich von Brühl, entschloss sich, dem vorwitzigen Kerl eine Lektion zu erteilen«, sprach der arrogante Baron von Pinkel nun wieder selbstzufrieden lächelnd weiter und hob dabei seine Stimme, um die Pointe der Geschichte einzuleiten. »Er ließ in der Manufaktur von Meißen eine kleine, nette Miniatur unseres Schneiderleins in Porzellan anfertigen, die bei genauem Hinsehen mit der Lupe durchaus porträthafte Gemeinsamkeiten mit seinem Original offenbarte«, erzählte der Hofbeamte schadenfroh lächelnd weiter. »Ich meine schon, gewisse Ähnlichkeiten mit seinem Gesicht, Herr Besenbrecht, erkannt zu haben. War er wohl dieser Scheider?«, setzte der Höfling gehässig lachend seine Rede fort und sah dabei Vater Besenbrecht erwartungsvoll an. Sein geschminktes Gesicht war zur Grimasse verzogen. Als der angesprochene alte Schneider hilflos lächelnd mit den Schultern zuckte, redete der Hofbeamte weiter drauflos. »Na ja, diese Figur stand jedenfalls von da an zu jeder Mahlzeit von Ihro Königlich-Kurfürstlicher Majestät mit auf dem Tisch. Derselbe aber soll sie nie beachtet haben. Zu klein, zu nebensächlich schien sie ihm. Doch dem kleinen, anmaßenden Schneider ist zu seinem Glück verholfen worden. Fortan gehörte er zum Inventar des Schlosses«, beendete der Geheimrat mit dünner Stimme seinen Vortrag und zuckte Bedauern heuchelnd mit den Schultern. Doch erstarb seine Rede ganz plötzlich und wandelte sich zu einem Schmerzensschrei, denn Caroline hatte ihn mit einer der Stecknadeln kräftig in den Hintern gestochen. Der Getroffene schrie auf und suchte Halt an einem in der Nähe stehenden Tisch. »Oh Gott, was ist ihnen! Herr Baron von Pinkel?«, brachte Vater Besenbrecht sogleich in Sorge hervor. »Da, ihre Gehilfin oder gar Tochter«, er zeigte mit entsetzt aufgerissenen Augen auf Caroline und stammelte weiter. »Ein meuchelmörderischer Angriff auf mein Leben war das!« – »Verzeiht, ich rutschte ab«, gab die Beschuldigte kleinlaut und einen Hofknicks vollführend zu. Doch das besänftigte den Gestochenen keineswegs. »Sie, sie ist ein kleines hinterhältiges Insekt«, schrie er sie an. Sein Gesicht hatte sich zur bösen Grimasse verformt. »Sofort hole er mir eine Sänfte, ich bin es satt. Ich entziehe ihm den Auftrag«, brüllte er weiter herum. Vater Besenbrecht machte Anstalten, in Richtung Altmarkt rennen zu wollen, um eine Sänfte samt Träger zu organisieren. »Lasst, Vater, wegen des Krieges werden ab 18 Uhr nur noch wirklich wichtige Personen befördert«, rief Caroline mit gespielter Besorgnis. »Pah, was meint sie mit wirklich wichtig! Will sie als gemeines Bürgerweib es drauf ankommen lassen und mich, den Geheimrat Baron von Pinkel, erniedrigen?!«, antwortete der Hofbeamte mit herausfordernder Stimme und stemmte dabei beide Fäuste in die Hüfte. Einen quälend langen Augenblick herrschte dann eisiges Schweigen in der Schneiderwerkstatt. Offenbar wartete der Geheime Rat auf eine Entschuldigung mit demütigen Gesten der Reue. Aber nichts dergleichen geschah. Unvermittelt warf er sich seinen Umhang über, nahm den Dreispitz und machte Anstalten zu gehen. »Der Auftrag ist entzogen, Meister Besenbrecht! Und wenn dereinst Ihro Königlich-Kurfürstliche Majestät und der Graf von Brühl wieder in Dresden residieren sollten, werde ich den ganzen Hof von diesem Vorfall in Kenntnis setzen. Dann kann er seinen albernen Laden dichtmachen. Wenn er überhaupt diesen Krieg überlebt«, schnarrte der Hofbeamte weiter herum. Doch auch der alte Besenbrecht hatte nun endgültig den Kanal voll. Er öffnete dem Hofbeamten die ins Freie führende Haustür und rief so laut, wie Caroline ihren Vater noch nie vernommen hatte: »Ja! Dann gehe er doch zu einem anderen Schneider. Hier in der Stadt wimmelt es nur so davon. Wegen des Krieges sind fast alle in den Bankrott gestürzt worden. Da wird er seine Klamotten wohl selber schneidern müssen! Und nun hinaus mit ihm! Auf Nimmerwiedersehen, Herr Baron von Pinkel!« Bei der Nennung dieses Namens musste der Vater Carolines unwillkürlich lachen. Als er dann die Tür zugeschlagen und der Kunde sich weit genug vom Haus entfernt hatte, lachten sich Vater und Tochter alle Sorgen der letzten Jahre von der Seele. Dem Vater standen gar Freudentränen in den Augen, als er endlich die Werkstatt abschloss und beide über die hölzerne Treppe zum Wohnbereich des Hauses emporstiegen. Dabei spielte Caroline den arroganten Geheimrat nach. Sie stolzierte mit wackelnden Hüften die Stufen hinauf, hielt sich mit einer Hand die Nase zu und sprach mit verstellter Stimme zu ihrem Vater: »Ich bin der Baron von Pinkel und ich sage ihnen, es würde ihren Charakter vollends verderben, ließe ich sie in meine prunkvoll eingerichtete Wohnung hinein!«

Der Vater Besenbrecht lief lachend und kopfschüttelnd hinter seiner schauspielernden Tochter her. Er verzieh ihr so manches, denn sie war sein Lieblingskind. Caroline war mit Abstand das älteste seiner Kinder, denn die beiden nächsten jüngeren Geschwister waren durch Krankheit bereits im Kindbett verstorben. Sie erwies sich als geschickte und geschäftstüchtige Schneiderin und hatte stets ein mitfühlendes Herz für andere, aber auch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Solche Menschen gab es nicht oft, das wusste er als Unternehmer nur zu gut. Wenn sie nur eines Tages die Schneiderei übernehmen könnte! Doch die Zünfte waren in dieser Angelegenheit unerbittlich. Sie würden es nie gestatten, dass eine Frau zur Inhaberin und Chefin einer Werkstatt würde.

Wenig später saß die ganze Familie Besenbrecht mit dem unterdessen eingetroffenen Conrad im Speisezimmer ihres Hauses. Während im Erdgeschoss die schon erwähnte Werkstatt war, nutzte die Familie die oberen drei Etagen als Wohnung. Jetzt am Abend läuteten die Glocken vom mächtigen Turm der Kreuzkirche. Ihr dumpfer Klang tönte durch alle Gassen der Altstadt. »So, Zeit für das Abendbrot!«, gab der Vater Besenbrecht im ganzen Haus bekannt und sogleich kamen Johanna, Elisabeth, die zwei halbwüchsigen Schwestern Carolines und Karl, ihr jüngerer Bruder, über die alte knarrende Holztreppe nach unten getobt. »Onkel Conrad, hast du uns was mitgebracht?«, überfielen sie sogleich den am Fenster stehenden Offizier. »Hört ihr auf! Marsch auf eure Plätze!«, rief die Mutter ihre Kinder sogleich zur Ordnung. Sie wirkte wesentlich jünger als ihr Mann und war temperamentvoller als er, trug daheim immer ein robustes Kleid von derbem Leinenstoff und darüber eine Schürze, denn sie hantierte selbst in der Küche, seit sie sich kein Personal mehr leisten konnten. Sie schwitzte unter ihrer Haube und die blonden Locken klebten ihr an der Stirn, als sie das Essen in Form einer großen Terrine auf den langen rechteckigen Tisch stellte. Vater Besenbrecht zündete gleich darauf die Kerzen der silbernen Tischleuchter an. »Es ist bereitet! Zu Tisch, zu Tisch!«, rief er noch einmal ins Haus. Nach einem Gebet reichten sich alle die Hände und begannen dann ihren Eintopf zu löffeln. Nur die Kinder schienen mit dem Essen nicht zufrieden zu sein. »Immer gibts olle Suppe! Die mag ich überhaupt nicht!«, stieß Johanna, eine der jüngeren Schwestern Carolines, hervor und verschränkte aus Protest ihre Arme vor der Brust. »Du stehst nicht eher vom Tisch auf, als du den Teller aufgegessen hast«, mit diesen energisch vorgetragenen Worten füllte die Mutter sogleich Johannas Teller mit einer riesigen Kelle. Das Gesicht Johannas nahm daraufhin trotzige Züge an, und sie zappelte wie wild mit den Beinen unter dem Tisch herum. »Du fliegst gleich raus und löffelst deine Suppe in der Küche, Madame!«, rief die Mutter nun in lautem, ungehaltenem Ton. Vater Besenbrecht, der sich anschickte etwas Versöhnliches zu sagen, wurde sogleich in seine Schranken gewiesen. »Du sei ja ruhig! Sei froh, wenn überhaupt noch was auf den Tisch kommt. Das Angebot auf dem Altmarkt wird von Mal zu Mal dürftiger. Aber davon wisst ihre alle hier natürlich nichts. Es ist selbstverständlich, dass eure Mutter und Hausfrau was zu essen organisiert. Die Alte wird das schon machen! Stimmts?«, sagte sie zweideutig lächelnd in die Tischrunde und keiner wagte es, nun noch etwas darauf zu erwidern. Die einzigen Geräusche im großen Esszimmer der Familie Besenbrecht waren nun das Schlürfen der Suppe und das leise Schluchzen von Johanna, die noch immer nicht essen wollte. Nach einer ganzen Weile fasste sich Vater Besenbrecht ein Herz und brach als Erster das Schweigen. »Conrad, du hast heute etwas verpasst. Deine Caroline hat einem kursächsischen Höfling aus Versehen eine Stecknadel in den Hintern gestochen. Daraufhin hat er die Flucht ergriffen. Das hättest du sehen sollen!« Alle drei Kinder nahmen das Gesagte zum Anlass, sofort laut loszulachen und dazu jede Menge Albernheiten von sich zu geben. »Na ja, der Auftrag ist jedenfalls futsch. Aber der Mann war so unsympathisch und arrogant«, sprach der Vater kopfschüttelnd weiter und biss dabei von einer Brotscheibe ab. »Ich hab das nicht mit Absicht getan! Wirklich!«, entrüstete sich Caroline sogleich. »Nein, nein, das behauptet ja auch niemand, mein Töchterchen. Einerlei, man kann sich nicht sein ganzes Leben lang immerzu demütigen lassen. Davon werden unsere Seelen krank und unsere Rücken krumm«, sprach der Vater in ruhig gefasstem Ton in die Tischrunde. »Soll das etwa heißen, der einzige Auftrag, den wir seit langem hatten, ist nicht mehr?«, empörte sich sogleich Mutter Besenbrecht. »Mama, wir werden es überleben«, entgegnete ihr Caroline mit genervter Stimme. »Jaja, so ist es recht! Die Lieblingstochter des Herrn Vater und ganz nach ihm geraten. Wie schön. Aber wie sollen wir jetzt unsere Ausgaben und