Bernd Roeck
Der Morgen der Welt
Geschichte der Renaissance
C.H.Beck
Die Renaissance war eine Revolution, die erst Europa und dann die ganze Welt für immer veränderte. In seinem grandios erzählten Buch entfaltet der Historiker Bernd Roeck ein beeindruckendes Panorama dieser dramatischen Zeit. Zugleich erklärt er im Horizont der Globalgeschichte, wieso es ausgerechnet in Europa zu dieser einzigartigen Verdichtung von weltbewegenden Ideen und historischen Umwälzungen, von spektakulären Entdeckungen und künstlerischen Meisterleistungen kommen konnte.
Die Renaissance war die wohl faszinierendste Epoche der europäischen Geschichte. Keineswegs entstand sie allein aus der Wiederbelebung antiker Traditionen. Ihre Wurzeln liegen ebenso im europäischen Mittelalter, der arabischen Welt und anderen, ferneren Kulturen. Mit analytischer Schärfe beschreibt Bernd Roeck die Voraussetzungen der Renaissance, mit darstellerischem Glanz lässt er die Epoche vor den Augen des Lesers lebendig werden: die große Kunst, die unter Italiens Himmel entstand, und die Ideen der Humanisten ebenso wie die Religionskriege und die Anfänge der Unterwerfung fremder Erdteile. Er erzählt von Kaufleuten und Dichtern, Kaisern und Päpsten, klugen Frauen und monströsen Männern, von den Großen der Zeit und den Kleinen, die fern der Paläste mit Krankheit und Hunger kämpften. Schließlich zeigt dieses Opus magnum, dass die Renaissance mit ihren Innovationen nicht nur Sehnsuchtsorte der Schönheit und des Geistes schuf, sondern auch die Fundamente für unsere moderne Welt.
Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance. Bei C. H.Beck sind von ihm u.a. erschienen: «Als wollt die Welt schier brechen. Eine Stadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges» (1991), «Florenz 1900. Die Suche nach Arkadien» (22004) und «Mörder, Maler und Mäzene. Piero della Francescas ‹Geißelung›» (52010).
1. Europas großes Gespräch
Das Gemälde der Welt
Geschichte einer Möglichkeit
Tiefe Geschichte eines welthistorischen Aufbruchs:
Die sieben Säulen der Moderne
I.: Grundlagen: Von den Anfängen
bis zur Jahrtausendwende
Eurasien und
das griechisch-römische Erbe
2. Vom Glück der Geographie
Phönix’ Flug beginnt
Europa lernt buchstabieren
3. Griechenland: Gedankenflüge und Kritik
Am Anfang war die Polis
Vorsokratische Splitter: Kosmos, Götter und Menschen
Dialog und Kritik
Denker für Jahrtausende: Platon und Aristoteles
Der Garten des Epikur und die Stoa
Alexandria
4. Rom: Weltmacht und Mythos
Der Phönix fliegt nach Westen
Roms hellenische Sehnsucht
Ein Reich ohne Grenzen
Der griechische Christus
Untergang
5. Erbschaften
Reich und Republik
Städte, Statuen, Statuten
Honig und Gift: Das Erbe Christi
Überlieferungen, Übertragungen
6. Neue Mächte, schreibende Mönche
Anfänge eines kaleidoskopischen Kontinents
Die letzten Römer
Gebrochene Traditionen
Schreiben, daß die Nachkommen lernen
Die islamische Weltmacht
Byzanz am Abgrund, Aufstieg der Franken
7. Erste Wiedergeburten, Ringen um Ordnung
Phönix im Frankenreich: Karolingische Renaissance
Blaupausen Staateneuropas
Romsucht: Renaissance einer Idee
Christus in den Wäldern:
Staatsbildung und Christianisierung im Osten und Norden
Reanimation einer Supersprache
8. Arabischer Frühling, byzantinischer Spätsommer
Die Städte des Propheten
Im Haus der Weisheit
Schüler der Welt, Lehrer Europas
Erste Kontakte
Makedonische Renaissance?
II.: Entfaltung der Möglichkeiten: 1000–1400
Wendezeiten
9. Die Mitten der Welt: Indien, Japan, China
Asiens Mittelmeer und seine Anrainer
Die Mitte der Mitte: China
Chinesische Renaissance
10. Take-off unter der Sonne
Europa beginnt zu fliegen
«Tiefe Geschichte»: Der gezügelte Eros
Urbanisierung
11. Lateineuropas Weltordnung zerbricht
Ringen um Reinheit
Klosterreform
Erdbeben: Der Investiturstreit
Kreuzzugszeiten: Anfänge des Okzidentalismus
Das jüngere Europa
Magna Carta
12. Vertikalen, Horizontalen
Lehnswesen
Zünfte, Kommunen, Städtebünde
Parlamente, Ständeversammlungen
Universitäten und Roms Recht
Triumph des Tintenstaats
13. Anfänge einer «großen Divergenz»
Mongolensturm
China: Eingemauerte Freiheit
Ein Muslim im Vatikan
Byzanz: Wissenschaft im Weihrauchdunst
14. Erste «Renaissancen»
Eine Revolution des Redens, Lesens und Schreibens
Frau Welt in antikem Gewand: Die Renaissance des 12. Jahrhunderts
Vernunft, Glauben und das Neue
Ein Tausendblumenteppich der Frömmigkeiten
Siziliens Renaissance
Die Kraft der Philosophie und Gottes Allmacht
15. Neue Horizonte, neue Dinge
Individualität und Freiheit
Italien nach dem Sturz der Staufer
Das Reich und seine Nachbarn
Könige in Mitternacht und ein Fürst an der Moskwa
Die Welt wird größer: Nach Asien!
Papier, Brillen und das Diesseits: Eine Bestandsaufnahme
Erste Lichter, die Kälte und der Tod: Das 14. Jahrhundert
16. Italienische Ouvertüre
Der Auftritt der Notare
Die ersten Humanisten
Zwischen den Zeiten: Göttliche Komödie
Dantes Kaiser, Päpste in Avignon und ein Gebannter in München
Die modernste Stadt der Welt
Anfänge Bildereuropas
Geistige Gipfelwanderungen: Petrarca
17. Mentalitätsbruch
Triumph des Todes
Spaltung in der ganzen Welt
Ein Kaiser in Prag
Die englische Schlange,
der Florentiner Patient und ein doppelköpfiges Papsttum
Westen, Osten und Norden im späten 14. Jahrhundert
Moskau, Mongolen, Osmanen
18. Vor der großen Renaissance
Decamerone, Canterbury Tales
Am Vorabend einer neuen Naturwissenschaft
Schießpulver und Kapital
Anfänge des mechanischen Zeitalters
Im Jahrtausend des Odysseus
Europas Vielfalt und die Grenzen des Glaubens
Starke Frauen
19. Abend im Morgenland
Ming-Chinas Anfänge
Der Niedergang der arabischen Wissenschaften
III.: Verwirklichung der Möglichkeiten: 1400–1600
Künstler und Humanisten,
Kriege und Konzilien: 1400–1450
20. Florenz im Morgenlicht
Anfänge der monumentalen Renaissance
Republikanische Werte, Antikenromantik
Die morsche Republik
21. Von Konstanz nach Konstantinopel
Konstanz
Vertagte Reformen
Wende und Ende des Hundertjährigen Krieges
Burgundischer Hochsommer: Das Spiel des Realismus
Italienische Rochaden
22. Die Diskursrevolution entläßt ihre Kinder
Pädagogik, rhetorische Revolution und Textkritik
Italienisch-griechische Netzwerke
Archäologie der Weisheit
Die Wahrheit schreit auf der Gasse: Cusanus’ Konkordanzen
Die Gründe der Dinge erkennen: Epikurs Rückkehr
Alberti: Fenster zur Welt
Ein Ritter gegen die Moderne
Über Italien hinaus: Anfänge des europäischen Humanismus
Erste Akademien, Dichter der Städte
Konkurrenz und Kreativität:
1450–1500
23. «Le tens revient»
Konstantinopels letzter Kampf
Nach 1453
Das italienische Mobile
Der europäische Rahmen
Patronageland Italien
In Platons Himmel
Am Ende schöner Tage
24. Medienrevolution
Aufbruch in Mainz
Der Gutenberg-Kontinent
25. Neue Welten
Nanjing, Ceuta: Eine welthistorische Wende
Geburt eines katholischen Imperiums
Kolumbus: Westwärts nach Osten
1492
Spanien, reines Land
26. Hexen, Hochfinanz und Staatsgewalt
Höllenfeuer
Hexenhammer
Trendwende: Bevölkerung, Wirtschaft
Silber, Eisen, Papier: Die Festigung des Tintenstaats
Vater eines Weltreichs: Maximilian I.
Größtkapital: Die Fugger
«Hochrenaissance»
27. Die Stunde der Staatsräson
Triumph der Hierarchie: Renaissancepäpste
Machiavelli
28. Reisen nach Utopia, Kunstwelten
Schöne Städte
Träume von Arkadien
Orte in Nirgendwo
Utopia Urbino: Castiglione und der Prozeß der Zivilisation
Der Kunstmarkt
Der Gottlose: Leonardo
Die Göttlichen: Michelangelo und Raffael
Die italienische Leitkultur
29. Südwind: Die Renaissance erobert Europa
Wege der Kunst und der Gedanken: Westeuropa, Osteuropa
«O tempora, o mores!»: Humanismus im Heiligen Reich
Hochhumanismus: Erasmus von Rotterdam
Neue Reiche, neues Wissen, Glaubensspaltung
30. Imperien und Weltherrscher
Das Osmanische Reich im Zenit
Moskau: Vor der imperialen Wende
Konquistadoren
Über die Hoffnung hinaus
Habsburgs Universalmonarchie
31. Religionsrevolution
Luther
Ein deutscher Möglichkeitsraum
Schatten der Endzeit: Bauernrevolution
Römische Graffiti und der Gesang der Nachtigall
Spaltung und Spaltung der Gespaltenen: Wittenberg, Zürich, Münster
Englische Scheidungen: Die Reformation Heinrichs VIII.
Abgeschnittene Reformationen
Gottes Hirtenhund: Calvin
Krieg und Konzil
Luthers Erbe, Humanismus und Renaissance
32. Revolution der Himmelssphären
Prometheus
Paradigmenwechsel
Die Musik der Ewigkeit: Der alte Himmel
Kopernikus
Gottes Bücher
33. Die große Kette des Seins
Renaissance-Magie: Die Macht der Worte und Dinge
Die Macht der Steine und der Sterne: Alchemisten und Astrologen
Gelehrte, Scharlatane, Wissenschaft
34. Die Zergliederung des Menschen
Der Aufbruch des Medicus
Lebensgeister, ganzheitliche Medizin: Fernel, Paracelsus
Revolution der Anatomie: Vesalius
Eisige Zeiten
35. Europäische Tableaus I: Westeuropa – Konfessionen, Kriege, Zukunftsländer
Klimawandel, Hunger, Hexenpanik
Von Augsburg nach Trient
Katholische Renaissance
Frankreichs Nacht: Die Hugenottenkriege
Spanischer Abend
Batavischer Morgen
Frauenmacht: Elisabeth I.
36. Europäische Tableaus II:
Der Norden, der Osten, die Mitte und Italien
Patrioten
Um das Baltische Meer und Sibirien
Das Heilige Römische Reich
Geschichte einer Mythologie: Italien
37. Jenseits der Säulen des Herkules
Der Zorn Gottes
Amerikanische Renaissance, traurige Tropen
Spaniens Griff nach Ostasien
Die Magie der Kaps
Geschichte und Wahrheit
38. Herbst der Renaissance
Gärten der Melancholie
Malerei des Ich: Montaigne
«Manierismus»: Die Künste in der Welt
Fülle und Ordnung des Wissens
Gigantensturz
Winterreise in die Unendlichkeit: Giordano Bruno
Wintermärchen: Shakespeare
Wissenschaftsrevolution
39. Beobachten, experimentieren, rechnen
1600: Unter dem Vulkan
Experimentalwissenschaft, Großforschung
Gegen Galen
40. Sonnenaufgang im Westen
Tycho Brahe: Vom Glück der Patronage
Keplers Sieg über Mars
Gott als Mathematiker
Die Erfindung des Fernrohrs
Galileis neue Physik
Der Prozeß
Phönix in Europa
Vor der Moderne
41. Im Zeitalter des Leviathan
Leben zwischen Renaissance und Barock: Streiflichter
Die Entzauberung der Politik
Machtspiel um die Welt
Leviathans Triumph
Morgen der Zivilgesellschaft
42. Die Weltmaschine
Erfindungslust
Verlorene Mitte
43. Archäologie des Neuen
Das große Auseinanderdriften
Von Schrauben und Menschen:
Die Vollendung eines alexandrinischen Projekts
Der Flügelschlag des Schmetterlings
IV.: Ausblicke: Der «Westen» und der Rest
44. Vertikalen, himmelhoch
Rußland: Zaren und Patriarchen
Der kranke Mann am Bosporus
45. Pastoralmacht: Staat, Gesellschaft, Religion
Schmerzhafte Scheidungen, lähmende Liaisons
Worte aus Wachs
Kant kam nicht bis Bagdad
Kein Bürgertum, nirgends
Apoll kam nur bis Gandhara: Religion, Kunst, Anatomie
46. Verwehte Kulturen, eigensinnige Staaten
Jenseits von Leviathans Reich
Parallelen, Divergenzen: Zentralasien, Südostasien
Indien
Japan: Tokugawa-Renaissance?
47. Warum nicht China?
Träume von Ruhe, hektischer Handel
Ein arroganter Gigant
Stoa, nicht Drama
48. Tiefe Geschichte: Echolote
Vom Glück des Glaubensstreits
Demographische Regimes: Leben, Überleben, Sterben
Bürgermacht
Der lange Atem der Geschichte
49. Epilog
Auf den Schultern von Riesen
Von der Einzigartigkeit der europäischen Renaissance
Abend eines Fauns
Die Welt ein Traum
Anhang
Nachwort
Nachwort zur Neuausgabe
Anmerkungen
1. Europas großes Gespräch
2. Vom Glück der Geographie
3. Griechenland: Gedankenflüge und Kritik
4. Rom: Weltmacht und Mythos
5. Erbschaften
6. Neue Mächte, schreibende Mönche
7. Erste Wiedergeburten, Ringen um Ordnung
8. Arabischer Frühling, byzantinischer Spätsommer
9. Die Mitten der Welt: Indien, Japan, China
10. Take-off unter der Sonne
11. Lateineuropas Weltordnung zerbricht
12. Vertikalen, Horizontalen
13. Anfänge einer «großen Divergenz»
14. Erste «Renaissancen»
15. Neue Horizonte, neue Dinge
16. Italienische Ouvertüre
17. Mentalitätsbruch
18. Vor der großen Renaissance
19. Abend im Morgenland
20. Florenz im Morgenlicht
21. Von Konstanz nach Konstantinopel
22. Die Diskursrevolution entläßt ihre Kinder
23. «Le tens revient»
24. Medienrevolution
25. Neue Welten
26. Hexen, Hochfinanz und Staatsgewalt
27. Die Stunde der Staatsräson
28. Reisen nach Utopia, Kunstwelten
29. Südwind: Die Renaissance erobert Europa
30. Imperien und Weltherrscher
31. Religionsrevolution
32. Revolution der Himmelssphären
33. Die große Kette des Seins
34. Die Zergliederung des Menschen
35. Europäische Tableaus I: Westeuropa – Konfessionen, Kriege, Zukunftsländer
36. Europäische Tableaus II: Der Norden, der Osten, die Mitte und Italien
37. Jenseits der Säulen des Herkules
38. Herbst der Renaissance
39. Beobachten, experimentieren, rechnen
40. Sonnenaufgang im Westen
41. Im Zeitalter des Leviathan
42. Die Weltmaschine
43. Archäologie des Neuen
44. Vertikalen, himmelhoch
45. Pastoralmacht: Staat, Gesellschaft, Religion
46. Verwehte Kulturen, eigensinnige Staaten
47. Warum nicht China?
48. Tiefe Geschichte: Echolote
49. Epilog
Abkürzungen
Quellen und Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Für Gabi,
Tassilo, Martin und
Priscilla
Stefano della Bella, Aristoteles, Ptolemäus und Kopernikus, aus: Galileo Galilei, «Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo», Florenz 1632, Titelblatt, Florenz, Biblioteca Nazionale
Venedig, im Sommer 1630. Ein langer Tag neigt sich dem Ende zu. Von der Lagune her streift Abendwind über die noch warmen Dachziegel. Der Lufthauch kühlt drei Männern, die sich in einem der Paläste der Stadt zusammengefunden haben, die Stirnen. Den Tag hatten sie mit Gesprächen über ein großes Thema verbracht. Die beiden «bedeutendsten Weltsysteme» waren diskutiert worden: das seit der Antike geglaubte Modell des Claudius Ptolemäus, das die Erde im Zentrum des Universums sah, und die damals noch kein Jahrhundert alte Lehre des polnischen Astronomen Nikolaus Kopernikus, von der die Erde zu einem die Sonne umkreisenden Planeten degradiert worden war. Herr Sagredo, der Gastgeber der Runde, beschließt die Diskussion mit einer Ruhmesrede auf die Schärfe des menschlichen Geistes, auf die Künste und Wissenschaften der vergangenen Epoche. Er rühmt die Fertigkeit, von einem Stück Marmor die überflüssigen Teile zu entfernen, um die schöne Figur zu entdecken, die darin verborgen ist, und die Fähigkeit, Farben zu mischen, sie über eine Leinwand zu verteilen und so alle sichtbaren Dinge darstellen zu können, wie es ein Michelangelo, ein Raffael, ein Tizian verstanden hätten. Nicht aufhören könne er zu staunen, meint Sagredo – über die musikalischen Kompositionen, über Dichtung, Architektur, über die Kunst der Seefahrt. Eine aber überrage alle anderen bewunderungswürdigen Erfindungen: der Buchdruck. «Welche Größe des Geistes hatte jener, der eine Methode erfand, seine verborgensten Gedanken einer beliebigen anderen Person mitzuteilen, selbst wenn er durch einen gewaltigen Abstand von Zeit und Raum von ihr getrennt ist? Mit jenen zu sprechen, die in Indien sind, ja mit noch nicht Geborenen und denen, die noch nach tausend und zehntausend Jahren nicht geboren sein werden? Und mit welcher Leichtigkeit – mit den unterschiedlichen Anordnungen von zwanzig kleinen Buchstaben auf einem Papier …»[1]
Hinter der fiktiven venezianischen Szenerie verbirgt sich ein großer Autor, nämlich Galileo Galilei. Sie findet sich in dem 1632 in Florenz publizierten «Gespräch über die zwei vornehmlichsten Weltsysteme». Als seinen Statthalter läßt Galilei darin den Gelehrten Salviati auftreten, auch er ein Verteidiger des kopernikanischen Weltbildes. Der Gastgeber hat die Rolle des Moderators. Er ist aber wie Salviati Anhänger des Kopernikus und damit selbst ein wenig Galileo. Als Fürsprecher des alten ptolemäischen Systems und der aristotelischen Wissenschaft begegnet der pedantische Simplicio, das heißt «Einfaltspinsel». Er wird mit Ironie abgefertigt. Galileis Traktat sprüht vor Witz, trieft von Sarkasmus. Der Autor will ein gebildetes Publikum überzeugen und bietet daher Rhetorik, nicht Mathematik. Die Argumente, die sein «Sprecher» Salviati ins Feld führt, sind nicht neu, und sie treffen keineswegs immer ins Schwarze (zum Beispiel meint er, den Gezeitenwechsel als Beweis dafür, daß sich die Erde bewege, anführen zu können). Die Eleganz des Arguments ist wichtiger als der empirische Befund.
Darauf aber kommt es uns nicht an. Galileis «Dialogo» steht für einen Stil gelehrter Diskussion, wie ihn in dieser Form zuerst und für lange Zeit ausschließlich Europa mit seiner Wissenskultur pflegte: Geprägt von den Tugenden neugierigen Fragens und gelassenen Bezweifelns, scheut er Streit, ja donnernde Polemik nicht. Dank der Druckerpresse konnte ein halber Kontinent am großen Gespräch teilnehmen. Galileis Text spiegelt diesen welthistorisch einzigartigen Vorgang. Sein Verfasser hatte nicht einfach Neues entdeckt. Er argumentierte auf eine neue Weise.[2] Gleichwohl entstammte das Muster, der «ciceronianische Dialog», tiefer Vergangenheit. Seine Wurzeln hatte er in einer Praxis des Diskutierens, die Sokrates im 5. vorchristlichen Jahrhundert vorgemacht hatte. Aus dessen Art, Weisheit zu suchen, war eine Methode geworden, wissenschaftliche Erkenntnis zu gewinnen. Sokrates und Cicero hatten sich denn auch als stille Gäste zu dem Symposion an jenem venezianischen Sommerabend, von dem Galilei fabuliert, eingefunden.
Viele der Entwicklungen, die er rühmt, lassen sich unter das starke Schlagwort «Revolution» bringen. Erste Schritte hin zur Mechanisierung der Welt im 13. Jahrhundert kamen einem fundamentalen Umbruch gleich. Gutenbergs Erfindung setzte eine Medienrevolution in Gang; vorausgegangen war ihr, was wir «Diskursrevolution» nennen wollen – eine sich erst allmählich, dann rasch und rascher vollziehende Ausfächerung der Themen des Redens und Schreibens, die Weltliches, im besonderen Antikes ergriff. Mit der Reformation folgte ihr eine religiöse Revolte. Kopernikus, Kepler und Galilei revolutionierten schließlich Kosmologie und Physik. Zusammengenommen, veränderten diese Revolutionen die Welt. Sie machten, was wir Moderne nennen, genauer: ihre westliche, weltweit wirkende Variante.
Ohne das Gespräch mit der Antike, das die Kultur der Renaissance – Thema unserer Darstellung – zum Zentrum hat, wären diese Umbrüche undenkbar gewesen. Ohne die Möglichkeit, miteinander und gegeneinander zu reden, kritisch zu diskutieren, öffentlich zu räsonieren, wäre weder die Demokratie entstanden noch jene Fülle technischer Neuerungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse hervorgebracht worden, die unsere Zeit prägen, im guten wie im schlechten. «Ein Hauch unsres Mundes wird das Gemälde der Welt, der Typus unsrer Gedanken und Gefühle in des andern Seele», meint der deutsche Dichter Johann Gottfried Herder (1744–1803). «Von einem bewegten Lüftchen hangt alles ab, was Menschen je auf der Erde Menschliches dachten, wollten, taten und tun werden.»[3] Unser Buch handelt von diesem großen Gespräch, vom Austausch von Wissen, Ideen und Praktiken, durch den sich die Renaissance formte. Sie war weitgehend Sache einer männlichen Elite. Doch veränderte, was jene «Kreativen» erdachten, die Welt für alle. Unser Bericht möchte rekonstruieren, wie die Renaissance möglich werden konnte, und erwägen, welche Folgen sie hatte. Ohne ihre Gedanken und Erfindungen wäre unsere Moderne vielleicht keine schlechtere Moderne, sicher aber eine andere.
Wollen wir wissen, wie wir wurden und was wir sind, sind weite Reisen zu absolvieren. Vergleiche mit anderen Regionen sollen Annäherungen an Gründe ermöglichen, aus denen der lateinische Teil Europas eine Entwicklung durchmachte, die seiner Kultur Weltwirkung verschaffte: ein winziges Gebiet, das nicht einmal zwei Prozent der Erdoberfläche ausmacht. In drei Himmelsrichtungen grenzt es an Meere, nach Osten hin an die russisch- und griechisch-orthodoxen Kulturen, wo seine Ränder heute von den baltischen Staaten, Polen, Ungarn und weiter südlich dem Balkan markiert werden.
Die Pflege der Kunst der Konversation und mit ihr das «Prinzip Streit» zählen zu den bedeutenden Errungenschaften der Renaissance. Im Streit zeigen sich Schwachstellen der Argumentation und Risse in den Fundamenten wissenschaftlicher Kathedralen; kritische Dialoge begleiteten technische Fortschritte von jeher. Vorangetrieben und begleitet wurde die Kunst des Streits von intellektuellen Umbrüchen: einem methodischen Paradigmenwechsel, der unter das Stichwort «Scholastik» gebracht zu werden pflegt, und dazu, Ausdruck des veränderten intellektuellen Stils, der Ausbreitung der von der Antike erlernten Rhetorik, die auch Galileis Traktat trägt. Renaissance, das heißt: Antikes in Fülle aufgreifen, es weiterdenken, Neues daraus entwickeln, schließlich das Alte überwinden. So gut wie alle Gebiete des Wissens erfuhren Umwälzungen. Das Mittelalter hat gewiß nicht nur Heiliges diskutiert – die Renaissance aber trieb die großflächige Eroberung profaner Gebiete voran. Über die verschiedensten Medien, durch Bücher, Bilder, durch Predigen und Diskutieren, erfaßte das große Gespräch alle nur denkbaren Gegenstände. In den Hörsälen der Universitäten, in Patriziervillen und Fürstenschlössern, selbst in Klöstern und im Herzen der katholischen Macht, im Vatikan, entfaltete sich ein Dialog von einzigartiger Dimension, was Themen und Teilnehmerzahl anbelangt. Bezeichnenderweise wurde während der Renaissance die Kunst der Konversation selbst als Thema entdeckt.[4]
Das Anwachsen der «Lichtungen» für Denken, Reden und Schreiben vollzog sich in einer Welt, deren Komfort uns armselig schiene, wo der Kampf ums Überleben oft jede Kultur vergessen ließ und der Streit um die Religion immer wieder alles Räsonieren unter sich begrub. Warum es dennoch zum «europäischen Wunder» (Eric Jones) kam und damit zum «großen Auseinanderdriften» (Kenneth Pomeranz) des «Westens» – wir meinen damit, wertneutral, in erster Linie Teile Europas und Amerikas – und des Rests der Welt, ist eine der am heftigsten umstrittenen Fragen der Geschichtswissenschaft.[5] Ist der «Erfolg» Europas vor allem Konsequenz von Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus und damit nur schändlicher Profit aus der Ausbeutung anderer? War sein Treibstoff das Blut geknechteter Völker?[6] Sind die Europäer passive Profiteure des Niedergangs der asiatischen Wirtschaft seit dem 17. Jahrhundert? Haben sie selbst also gar kein Verdienst an ihrer Hegemonialstellung 200 Jahre darauf?[7]
Dieses Buch, soviel vorweg, sieht die Dinge völlig anders. Es hält die wissenschaftlichen und technischen Umbrüche des Spätmittelalters ihrerseits für notwendige Bedingungen der industriellen Revolution. Der Gang der Geschichte Europas wird dabei keinesfalls als Triumphmarsch gefeiert. Abkömmlinge des «christlichen Abendlandes» haben rund um den Globus fremde Völker versklavt, gemordet, Kulturen zerstört. Im 19. Jahrhundert, das wie kein anderes «Europas Jahrhundert» war, zeigt die Bilanz allerdings starke Posten auf der Habenseite: zum Beispiel Demokratie, Überwindung von Hunger, Siege über Krankheiten und nützliche Technik. Vieles davon wurde exportiert, mit nicht nur schlechten Folgen für andere Erdteile.[8] Die Frage, ob all das den Preis rechtfertigt, der dafür bezahlt werden mußte – auch von Europa selbst, das Blutland blieb bis an die Schwelle unserer Tage –, stellt sich nicht. Wir wollen nicht richten, sondern berichten. Unsere Absicht ist lediglich, ein möglichst facettenreiches Bild der Epoche zu entwerfen.
Die Frage nach der Bedeutung der Renaissance in der Vorgeschichte einer zwiespältigen Moderne ist nicht die einzige, die dieses Buch stellt, aber die wichtigste. Die Folgefrage aufzuwerfen, aus welchen Gründen Vergleichbares anderswo ausblieb, bedeutet nicht, zu behaupten, eine alternativlose westliche Moderne habe dem «Rest» die Bahn für ähnliche Entwicklungen, die sich nun mit Notwendigkeit auch in anderen Weltgegenden vollziehen müßten, gebrochen.[9] Mit diesem Vorbehalt läßt sich fragen, warum die industrielle Revolution weder Afrika, Neuguinea noch Südamerika befreite, während sich in Australien eine blühende Ökonomie entwickelte.[10] Warum machte die Not – wenig Land, viel Wasser und viele Überschwemmungen – die Niederländer erfinderisch, die Indianer des Amazonas-Deltas und die um den Yangzi siedelnden Bauern aber nicht? Antworten darauf lassen sich nicht finden, wenn man allein auf die unmittelbaren Vorgeschichten der Moderne blickt. Die wissenschaftliche und die industrielle Revolution, ihre Voraussetzungen, wurden nur unter Bedingungen möglich, die sich über sehr lange Zeit einstellten. In ihrer Gesamtheit waren sie offenbar spezifisch europäisch.
Am Ende unseres Berichts werden sich allenfalls Wahrscheinlichkeiten benennen lassen. Was sich beschreiben läßt, sind zeitlich wie geographisch definierbare Möglichkeitsräume: Gegebenheiten unterschiedlichster Art, die bestimmte Denkweisen und Handlungen erlaubten. Das historisch sichtbare Ergebnis, zum Beispiel eine Erfindung, eine Revolution oder ein Kunstwerk, zeigt sich so als Verwirklichung einer Chance: Aus Vermögen wurde, mathematisch gesprochen, Ereignis. Voraussetzungen und Bedingungen bezeichnen die unübersteigbaren Mauern des Möglichkeitsraumes. Er umgreift, was denkbar ist und was geschehen kann, aber eben nicht muß. Auch der Zufall, Resultat komplexer, nicht überblickbarer Ketten von Ursachen und Wirkungen, wird durch ihn umschlossen, ebenso das Nebensächliche, nicht Notwendige, Unbeabsichtigte. Allein das Wunder könnte seine Mauern sprengen. Zu berechnen, was darin mit Gewißheit Ereignis wird, vermögen wir nicht. Denn im Verbund mit anderen «Strömen», die im Möglichkeitsraum zusammenfließen, kann Kontingentes – etwas, das geschieht, aber auch anders oder gar nicht hätte geschehen können – als Strang eines Ursachenbündels größte Bedeutung gewinnen.
Möglichkeitsräume, in ständigem Wandel begriffene Gebilde, sind Resultate von oft in Jahrhunderten entstandenen Strömen und individuellen Handlungen. Ereignisse finden in einem zeitlich begrenzten «Gelegenheitsfenster» statt.[11] Eine schöpferische Leistung kann darin bestehen, daß verschiedenartige Ströme ineinandergeleitet werden. Im Ergebnis entsteht Neues, das den Möglichkeitsraum erweitert, bis er dem alten kaum noch gleicht. Man könnte das mit dem Begriff der «Emergenz», des «Auftauchens», «Zum-Vorschein-Kommens» fassen. Aus dem Zusammenspiel verschiedener Elemente eines komplexen Systems ergeben sich dank des Wirkens einer unsichtbaren Hand Resultate, die «aus dem System» heraus, aus der Summe von Einzelursachen, weder vollständig erklärbar noch vorhersagbar sind.[12]
Dieses Buch verfolgt zunächst die Formierung des Möglichkeitsraumes, in dem die Renaissance samt den weltumstürzenden Neuerungen, die sie mit sich brachte, entstand. Wir schreiten ausgedehnte kulturelle, politische, soziale und ökonomische Felder ab, auf denen gerungen und gekämpft wurde und sich Chancen boten. Manchmal wurden sie auch ergriffen; Zwangsläufigkeiten jedoch gibt es in diesem Szenario ebensowenig wie Monokausalität. So wichtig zum Beispiel der Kapitalismus für die Genese der westlichen Moderne gewesen sein mag[13], war er doch nur ein Faktor unter mehreren, die miteinander in komplexen Wechselbeziehungen standen. Man mag Europas «Aufstieg» mit «Killer-Kriterien» begründen, zu denen etwa «Konkurrenz», «Rechtssicherheit», «wissenschaftliche Revolution», «medizinischer Fortschritt» oder «Freiheit» zählen.[14] Damit ist aber noch nicht gesagt, warum diese und andere Faktoren in ihrer Gesamtheit allein im «Westen» wirkten. Welche Umstände ermöglichten sie? Immer wieder wird in diesem Buch auch von Umwegen, Verlangsamungen und Gegenbewegungen zu erzählen sein: von Kämpfen zwischen kalter Vernunft und glühendem Glauben, zwischen Freiheit und hochfahrendem Herrschaftsanspruch. Wenn gelegentlich von «Rückständigkeit» gesprochen wird, bezieht sich das immer auf objektive Sachverhalte zum Beispiel ökonomischer oder technischer Art. Die Menschen anderswo waren ja nicht dümmer als die Einwohnerschaft Lateineuropas, und einige Kulturen – so die chinesische oder die islamische – erlebten verheißungsvolle Aufbrüche, dann freilich Stagnation, während im «Westen» wissenschaftliche Revolution und Industrialisierung stattfanden.
Wir werden uns zunächst mit den ältesten Voraussetzungen des europäischen Weges auseinandersetzen: mit geographischen und klimatischen Bedingungen. Sie stellten eine erste, vorentscheidende Bedingung alles Weiteren dar.[15] Eine zweite notwendige Voraussetzung der Karriere Lateineuropas war, daß es schon im Mittelalter zu einem Kontinent staatlicher Vielfalt, politischer und kultureller Konkurrenz wurde. Und ebenfalls schon im Mittelalter zeigen sich drei weitere der sieben Säulen, die den großen Dialog der Renaissance hauptsächlich trugen.
Europas Herrschaftsgebilde waren, was Rationalität der Organisation, wirtschaftliche Kraft, Technologie und militärische Macht anbelangt, vielen Staaten Asiens hoffnungslos unterlegen gewesen. Den «Barbaren aus dem Norden», so urteilte ein muslimischer Gelehrter im Toledo des 11. Jahrhunderts, «fehlt es an Schärfe des Verstands, Klarheit des Geists; sie sind voller Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Dummheit».[16] Das änderte sich: Der «Sattel» zwischen Mittelalter und Neuzeit[17] stieg zunächst sanft, dann immer steiler an. Die wirtschaftlichen Bedingungen verbesserten sich, der demographische Körper Europas erstarkte. Die europäische Stadt gewann Gestalt. In ihr entfalteten sich im globalen Vergleich einzigartige Sozialverhältnisse. Die städtischen Mittelschichten und der Einfluß der Horizontale auf den verschiedensten Gebieten wurden zur dritten Säule der Renaissance. Horizontale Strukturen der Macht werden als idealtypischer Gegensatz zu deren vertikaler Organisation verstanden. Beides kommt in reiner Form kaum vor. Immer wird sich selbst in Diktaturen und absoluten Monarchien gegenüber der auf ein Individuum konzentrierten Herrschaft Widerständiges ausmachen lassen. Umgekehrt finden sich auch in Zivilgesellschaften viele Spuren des Vertikalen, die sich zum Beispiel aus ökonomischer Ungleichheit oder aus dem natürlichen Gewicht von Exekutiven ergeben. Das eingeräumt, macht sich hier jene Horizontale vielfach geltend. In Europas Gesellschaften kam sie früher und ungleich häufiger vor als irgendwo sonst.
Daß Bürger in verhältnismäßig großer Freiheit schreiben und diskutieren konnten, war neben anderem der Eindämmung der Religion und damit der vierten Säule zu danken; der doppelsinnige Titel unseres Buches, in dem die «Welt» auch als Gegenpol zum Himmel und zum Sakralen genommen wird, spielt darauf an. Eben diesen Aspekt hat schon die französische Aufklärung als wesentliches Signum der Renaissance hervorgehoben.[18] Das Christentum an sich war nicht wissenschafts- oder fortschrittsfeindlich; religiöse Institutionen hatten im Mittelalter überragende Bedeutung für die Bewahrung und Mehrung von Wissen. Was Europas Gespräch aber begünstigte, war, daß Übermaß vermieden wurde und die Macht der Priesterschaft eingehegt blieb. Das kritische Gespräch mit der antiken und der arabischen Philosophie und Wissenschaft wurde zur fünften Voraussetzung für die Umbrüche der beginnenden Neuzeit. Allein Europa konnte aus dem Reservoir zweier Weltkulturen schöpfen, der griechisch-römischen und der arabischen, die beide ihrerseits Wissen weiterer Kulturkreise bewahrten – Mesopotamiens, Ägyptens, Persiens, Indiens, ja selbst ein wenig Chinas. Daß sich die Möglichkeit zum Dialog mit den klugen Heiden des Altertums und den Muslimen überhaupt eröffnet hatte, hing an den gerade angesprochenen drei ersten Voraussetzungen der europäischen «Karriere». Ohne die «Wiedergeburt» des Wissens um die Praktiken antiken Redens und Schreibens ist eine Diskurskultur, wie sie sich während des ausgehenden Mittelalters in Lateineuropa herausbildete, nicht vorstellbar. Zwar war der Strom der Überlieferung nie versiegt und damit auch das «große Gespräch» mit den Alten nicht völlig verstummt, doch weitete sich der Antikendiskurs seit dem 12. Jahrhundert dramatisch aus. Zeigte man ihn in Gestalt einer Kurve, sie würde ab diesem Punkt steil ansteigen.
Die sechste Säule der europäischen Moderne war die durch Gutenberg ausgelöste Medienrevolution. Ihr Erfolg spiegelte den hochmittelalterlichen Umbruch im Reden und Denken. Mit den neuen Techniken verfügte Lateineuropa über Kommunikationsmöglichkeiten, wie sie in keiner anderen Kultur gegeben waren (oder benutzt wurden). Durch sie gewann das Gespräch der Renaissance weltumstürzende Bedeutung. Das europäische Denkkollektiv war das bis dahin bei weitem größte der Erde.
Siebtens schließlich bedarf es für echte Paradigmenwechsel sehr langer Zeiträume. So versteht sich dieses Buch nicht zuletzt als Manifest gegen das, was der Afrika-Historiker Richard Reid «Präsentismus» genannt hat: die Vorstellung, man könne Gegenwart verstehen, wenn man sich mit ein paar Jahrzehnten Vergangenheit beschäftigt, darüber aber die Tiefenstrukturen des Historischen vergißt.[19] Unser Unternehmen könnte daher «Archäologie» oder «tiefe Geschichtsschreibung» genannt werden[20]; das Zwielicht des Morgens ist ja von jeher eine beliebte Jagdzeit der Historikerinnen und Historiker. «De-Sedimentationen» (Jacques Derrida) vorzunehmen, liegt nahe, war die Renaissance doch eine Kultur, deren Essenz im Rückgriff auf antike Ideen und Formen liegt. Der Begriff «Archäologie» soll im übrigen hier das genaue Gegenteil dessen bedeuten, was der listige Worteroberer Michel Foucault darunter verstand.[21] Wir stellen den Begriff vom Kopf auf die Füße und nehmen ihn als geeignetes Sprachbild für das traditionelle Geschäft der Geschichtswissenschaft: Ihre Archäologie richtet das Echolot in die Tiefe und gräbt dann Schicht um Schicht auf. Sie nimmt Worte und Artefakte als staubige Überreste von etwas, das einst Idee, Heimsuchung, Macht, Arbeit und Krieg, Leben also, war. Sie interessiert sich für die Umstände von Kultur und geht der Frage nach, wie sich aus dem Chaos von Kriegen, Staatsbildungen, aufsteigenden und zerfallenden Imperien etwas so Wunderbares wie ein rationaler, freier Dialog entwickeln konnte.
Unsere Archäologie fragt nach Voraussetzungen und Ursprüngen, obwohl sie weiß, daß sich aller Anfang in endlos scheinenden Kausalketten, im Goldschimmer des Mythos oder im Dunst der Metaphysik verliert. Monokausale Erklärungen – etwa die, das Christentum sei der für den «Aufstieg des Westens» entscheidende Faktor[22] – sind für die Einsicht in die Voraussetzungen historischer Großphänomene nicht hilfreich. Auch die provokativ vorgetragene und elegant begründete Idee, die Renaissance habe mit der Entdeckung eines einzigen Textes, Lukrez’ «De rerum natura», begonnen, wäre einem gelernten Historiker kaum in den Sinn gekommen.[23] In den Umbrüchen, die am Anfang der Moderne stehen – den Revolutionen Gutenbergs und Kopernikus’ etwa, der wissenschaftlichen und der industriellen Revolution –, gipfeln sich überlagernde Entwicklungen, die sehr unterschiedliche Ausgangspunkte hatten: Stränge von Ursachen und Wirkungen, die ihrerseits in Beziehung zueinander gerieten und sich wechselseitig beeinflußten.
Die Moderne, nach deren Wurzeln wir graben, ist ein widersprüchliches Unternehmen.[24] In globaler Sicht kennt es die Kommunikationsgesellschaft und die Zensur, Staatskapitalismus und Pluralismus ebenso wie Rationalität und Säkularisierung, Fundamentalismus und Differenzierung. Unsere Erzählung versucht, einige seiner Voraussetzungen zu erfassen, mit einem Bild Aby Warburgs die «Entpuppung des Schmetterlings» zu beobachten.[25] Im Zentrum steht die Geschichte eben jenes großen Gesprächs mit der europäischen Antike und den islamischen Hochkulturen, das in der Renaissance seine Höhe erreichte. Die Weltgeschichte hätte einen anderen Gang genommen, hätte die antike Erbschaft nicht Wege ins mittelalterliche Lateineuropa gefunden. Deshalb werden wir diesen Wegen nachspüren, dazu den geistesgeschichtlichen Zusammenhängen und kulturellen Transfers großes Gewicht einräumen.
Wir beginnen mit einer Besichtigung der tiefen Vorgeschichte der «großen Renaissance», richten Blicke auf die Voraussetzungen der Vielfalt Europas, seiner bunten Bilderwelten, seiner Erinnerungsorte und Mythen, die mit Epen aus grauer Vorzeit ihren Anfang nahmen und im Mythos Roms eine besonders geschichtsmächtige Erzählung fanden. Dabei nimmt unsere Erkundung ihren Ausgang von den geographischen Gegebenheiten, den kaum veränderbaren Fundamenten allen Geschehens.
I.