TONIO SCHACHINGER
I’m my only competition so I’m battling with myself.
Gucci Mane
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Wer keinen Bugatti hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie angenehm Ivo gerade sitzt. Er streckt die Beine aus und schaut durch seine Sonnenbrille nach draußen auf den Platz vor dem Merkur, wo nichts ist, nur eine Telefonzelle und ein leerer Käfig. Er hätte gar nicht mit dem Bugatti kommen sollen, aber er ist froh, es gemacht zu haben, weil durch den Bugatti alles besser wird, die Fahrt her, die Fahrt zurück und sogar das Warten. Bugattis sind Autos für Leute, die nicht warten, und sie alle, die, die keinen Bugatti haben und die, die keine Zeit haben, in ihrem zu warten, verpassen etwas. Ivo würde gerne für immer so in seinem Bugatti sitzen.
Die Mittagshitze sieht durch die verdunkelten Scheiben aus wie früher Abend und die 33 Grad, die es draußen angeblich hat, erreichen den Innenraum des Autos nicht. Ivo stellt sich vor, wie das von außen aussieht, ein schwarzer Bugatti, ganz alleine irgendwo im 20. Bezirk, wie ein Raumschiff aus einer anderen Welt, das von der Sonne nicht berührt wird; eine Black Box, die alle anschauen, ohne reinsehen zu können, eine Fata Morgana in der heißen, flimmernden Luft. Wer jetzt aus dem Merkur kommt und ihn sieht, wird glauben zu träumen, außer es ist Jessy, die wird Ivo sagen, dass er nicht mit dem Bugatti hätte kommen sollen. Ivo lässt seinen Blick über den Platz schweifen. Für einen Moment rinnen ihm die Hitzewellen als Kälteschauer über den Rücken, und er lehnt sich noch weiter zurück.
Die Türen vom Merkur gehen auf und heraus kommt nicht Jessy, sondern ein Mann, irgendein fades Opfer mit Stoffsackerl, und natürlich schaut er her, aber nicht wie jemand, der mitten in der Wüste eine Oase sieht, sondern wie jemand, der Scheiße riecht. Er hält sich eine Hand vor die Stirn, als würden die goldenen Felgen ihn blenden, und verzieht seinen Mund. Soll das ein Lachen sein? Ivo setzt sich ein bisschen auf und kneift die Augen zusammen, um ihn besser zu sehen, aber das hätte er nicht machen müssen. Er könnte sogar noch 30 Meter weiter weg stehen und ein Brett vor dem Kopf haben und würde trotzdem das Gleiche wissen: dass dieser Typ einfach ein Hurenkind ist. Er sieht es an der Art, wie der den Mund seitlich verzieht, wie er lacht, ohne ein Geräusch zu machen. Er sieht, dass der Typ nicht echt ist.
Der Mann holt sein Handy heraus, lehnt sein Stoffsackerl gegen die Wand, macht ein Foto, und Ivo sieht seinem Gesicht an, dass er überlegt, was er Witziges dazuschreiben soll, bevor er es hochlädt. »Du Hurenkind«, sagt Ivo, und die Entspannung fällt von ihm ab, »du dummes, dummes Hurenkind.« Er würde gerne das Fenster eine Handbreit runterfahren, nur damit dem Typen sein schiaches Lächeln vergeht, damit er sieht, dass er beobachtet wird und Angst bekommt vor dem, der da im Auto sitzt, der Ivo, aber genauso gut auch ein Mafiaboss sein könnte, und vor einer ganzen Welt, die er nie betreten wird.
Die Türen gehen wieder auf, ein Kind kommt heraus und stellt sich neben den Mann. Es schreit sofort auf, als es das Auto sieht, möchte näherkommen, aber der Vater hält es zurück, mit einem verächtlichen Ausdruck im Gesicht und diesem dummen, seitlichen Grinser. Der Vater deutet mit seinem Arm zum Merkur und Ivo spürt eine Körperspannung, einen Impuls, den Mann niederzuschlagen, vor seinem Sohn und irgendwie auch für seinen Sohn, ihn mit nur einem präzisen Schlag auszuknocken, als eine lächelnde Frau den Merkur verlässt, auf den Mann und das Kind zugeht und schon in dem Moment, bevor Ivo sie erkennt, hebt ihn dieses eine Gefühl, das sich immer wieder neu anfühlen kann, aus seinem Sitz. Er sieht Mirna und es ist wie früher am Admiralsturm im Prater, in dem Moment, wo man ganz nach oben geschossen worden ist und noch Energie übrigbleibt, die einen weitertreibt, obwohl die Plattform schon eingerastet ist. Dann ruht kurz das ganze Panorama der Stadt und nur die Bügel an den Schultern verhindern, dass man weiter hinausfliegt. Warum fliegt man nicht einfach weiter? Ivo sieht Mirna zu, wie sie lächelt, wie sie sich bewegt, und sie schaut in seine Richtung, ohne dass sich ihre Blicke treffen. Ivo verlässt seinen Körper und sein Auto und schlittert in ein Flashback von Mirnas geschürzten Lippen in einer der Gassen hinter der Neuen Donau, vor über zehn Jahren, durch verschiedene Bilder, die an ihm vorbeirasen, und er glaubt kurz einen Ständer zu kriegen, so unvermittelt, wie er sie damals bekommen hat, aber es ist nicht sein Schwanz, der hart wird, sondern seine Brust oder sein Herz.
Als die Beifahrertür aufgeht und die Hitze, der wütende Schrei seiner Frau und das Licht gemeinsam in sein Auto eindringen, zuckt er zusammen.
»Ich hab dir gesagt, du sollst nicht mit dem Bugatti kommen!«
Der Bugatti hat keinen Kofferraum und keine Rückbank, also muss Jessy sich mit 20 Knoblauchbaguettes und Lena auf den Beifahrersitz quetschen, und Ivo darf auf dem kurzen Weg über die Nordbrücke nach Floridsdorf nicht einen Stundenkilometer schneller fahren als erlaubt. Jessy schimpft über seine Gedankenlosigkeit und das Fahren ohne Kindersitz, und Ivo antwortet, um sie nicht noch mehr gegen sich aufzubringen, stellt ihr ein paar Fragen, verstummt dann aber immer mehr.
Sie redet, und er schaut sie aus den Augenwinkeln an, während der Motor sein niedertouriges Grollen über die Donau verbreitet. Er sieht ihre perfekten Brüste, ihre Augenbrauen und ihr langes, platinblondes Haar, das Tattoo von einem Strumpfband, das unter ihrem Rocksaum hervorragt. Er fühlt nichts.
Ivo hatte einen seltsamen Traum: Er ist eine Straße hinuntergegangen, einen Weg, den er schon unzählige Male davor gegangen ist. Seine Beine waren leicht und er ist nicht gelaufen, aber die abschüssige Straße hat ihn fast fliegen lassen, seine Schritte breit und langsam wie die eines Astronauten gemacht, immer weiter bergabwärts Richtung Gürtel, unter einem weiten, pinken Himmel. Die Stadt unter ihm hat sich nach allen Seiten ausgebreitet, mit Brücken und Schluchten und unten hat jemand gewartet, der ihm genau so vertraut war wie der Weg. Ivo hat seine Sporttasche weggeschleudert und wirklich zu laufen begonnen, zu fliegen, um schneller unten zu sein. Er ist in jemanden hineingerannt und hat ihn geküsst, jemanden mit großen braunen Augen, der nach Juicy Fruit geschmeckt hat, der aber irgendwie kein Mensch war, sondern ein menschliches Reh.
Ivo liegt nackt und verschwitzt in seinem Bett, das Leintuch irgendwie um seinen Körper gewickelt, hat eine Hand auf seinem Ständer und spürt diesem Gefühl von etwas Süßem nach, das nur kurz andauert, bevor es zu etwas Schiachem wird.
Plötzlich steht Jessy im Zimmer, mit ihrem weit ausgeschnittenen, türkisen Kleid und einer gelben Schürze, und war nicht auch sie in Ivos Traum, auf ihm drauf, wie eine Turmspringerin, die hin und her wippt? Sie ist gefallen, hat sich aus zehn Metern runtergestürzt und Ivo war wie die Wasseroberfläche, so glatt wie Beton. War das auch gerade eben erst?
Jessy erkennt Ivos Zustand, lächelt und setzt sich auf ihn drauf, mit dem Selbstbewusstsein von denen, die wissen, dass sie ihr Gegenüber in zwei Minuten zum Kommen bringen können. »Bitte zieh dich schnell an und geh runter, es warten schon alle auf dich«, sagt sie, als sie damit fertig ist, und Ivos Augen zucken.
Nachdem er sich gewaschen hat, schaut er sich im Spiegel an. Jaja, da unten warten alle auf ihn, aber während sie warten, stopfen sie sich natürlich schon seine Steaks und seine Ripperl rein, und wahrscheinlich fällt ihnen gar nicht auf, dass er noch nicht da ist. Ivo hat überhaupt keine Lust, mit irgendwem zu reden oder irgendwelche Leute zu sehen. Am liebsten würde er wieder in seinem Bugatti sitzen und warten, aber nicht auf Jessy, sondern auf gar nichts.
Der Garten ist schon voller Menschen, Männern, die um den Grill stehen und mit Ivos Bruder übers Grillen fachsimpeln, Kindern, die durch das Labyrinth aus Beinen rennen, Frauen an Tischen, Frauen mit Kindern im Pool, mit Gläsern in der Hand. »Ivo, Bruder!« Ivo umarmt jemanden, bevor er noch im Garten ist und ohne ihm allzu nahe zu kommen. Zwei Klopfer auf den Rücken, zwei Sekunden und der andere, einer von seinen österreichischen Onkeln, umarmt ihn ein bisschen zu lange zurück. »Du, was war da los bei der EM?« Ivo hört nicht hin und dreht eine Runde, begrüßt alle, sagt manchmal Servas, manchmal Bruder, schlägt ein, tätschelt Kindern grob über den Kopf, klatscht auf Rücken und gibt Bussis, hantelt sich so durch, bis er endlich am Grill steht, bei seinem Freund Nuri und Kurt, seinem Bruder. Er nimmt zwei winzige Biere aus der Kühlbox, dreht beide auf, ext eines, ohne auf seine Umgebung zu achten und schiebt einen ordentlichen Schluck vom anderen nach, das dann auch schon halb leer ist. »Gemma?«
Kurt übergibt die Grillgabel seinem 11-jährigen Sohn, der ihnen zugeschaut hat und Nuri macht sich einen Spaß daraus, die Gefahren des Grillens und die Verantwortung als Grillmeister übertrieben darzustellen, was das Gesicht des Buben glänzen und seine Hände zittern lässt. »Als Grillmeister musst du immer zu 100 Prozent konzentriert sein, damit nichts passiert und keines von den Kindern in die Kohle rennt, weil egal, was am Grill passiert, es ist immer die Schuld vom Grillmeister. Du bist jetzt wie ein Polizist, oder ein Feuerwehrmann.« Der Neffe schluckt, schaut mit ängstlichen Augen auf die kleineren Kinder und sieht deshalb nicht, wie Kurt einem der anderen Erwachsenen ein Zeichen gibt, damit er aufpasst, dass nichts passiert. Der Neffe schreit ein Kind an, das vier Meter vom Grill vorbeiläuft, verletzt fast ein anderes mit der Grillgabel, mit der er herumfuchtelt, und Ivo, Kurt und Nuri gehen ums Eck in die Werkstatt, so wie es ihre Väter früher gemacht haben. Nuri dreht den Fernseher auf, Kurt holt seine Zigaretten aus dem Versteck und weil Ivo, ohne ein Wort zu sagen, einen Wodka aus dem Gefrierfach nimmt und daran zieht, fragt Nuri: »Ivo, was ist los?«
Ivo kann es eigentlich selbst nicht sagen. Er würde gerne mit Kurt und Nuri in Erinnerungen an Mirna schwelgen, wieder Geschichten hören und über die Unbeschwertheit lachen, mit der sie sie alle toll fanden, weil sie dachten, eh keine Chancen bei ihr zu haben, überzeugt, dass sie es war, die bauchfreie Leiberl erfunden hatte und braune Haare und schöne Augen vielleicht auch, aber er möchte gleichzeitig nicht, dass die anderen wissen, wie es für ihn war, sie wiederzusehen. Man kann mit Freunden über Frauen reden, aber nicht über solche Gefühle, genauso wie er ihnen das Gefühl von davor, als er für einen Moment komplett zufrieden war, weil er nur alleine in seinem Auto gesessen ist, nicht beschreiben könnte.
»Weißt eh, in einer Woche muss ich wieder voll da sein, Laktattests, Training und so weiter, und ich packs irgendwie nicht. Ich pack einfach die Menschen nicht, mir geht die Familie am Oasch und eigentlich will ich überhaupt nicht mit ihnen und meinen Eltern nach Spanien.«
Komisch, dass man mit Nuri, der keine Kinder und keine Frau hat, so gut über Familienprobleme reden kann, besser als mit Kurt und besser als mit Jessy. Nuri erklärt, dass er Ivo versteht und dass es sein gutes Recht ist, keine Lust zu haben, und obwohl er das Gespräch eigentlich nur begonnen hat, um davon abzulenken, wie viel zu schön es gewesen ist, Mirna zu sehen, und obwohl er nicht von diesem Nichts erzählt hat, das er beim Anblick von Jessys perfekten Brüsten gespürt hat, beruhigen ihn Nuris Worte.
»Ja, Familie ist oasch, aber auch super«, sagt Nuri eine Viertelstunde und einige winzige Biere später, und Kurt, der sich in letzter Zeit immer mehr als Hüter der Moral aufspielt, nickt missbilligend. Jetzt kann Ivo es sagen. »Ah ja, und ich glaub, ich hab heute die Mirna gesehen.«
Nuri grinst sein Nurigrinsen. »Und, habts geschmust, seids jetzt fix zam?«
Zehn Jahre ist es her und Nuri verkraftet noch immer nicht, dass Mirna damals mit Ivo geschmust hat, bevor er reich und berühmt war, und nicht mit ihm, der noch immer nicht wirklich reich und berühmt ist, und deshalb weiterhin so tut, als wäre es nicht passiert.
»So fix wie deine Mama eine Hure ist, Nuri.«
Eigentlich hat Ivo sich abgewöhnt, das zu sagen, aber er ist ja wirklich nicht fix zam mit Mirna, deshalb kann er das sagen, ohne Nuris Mutter überhaupt zu beschimpfen.
»Ganz ehrlich, eigentlich ist es inzwischen eh wurscht, aber ich glaubs dir noch immer nicht. Hast du mal Fotos von dir gesehen, wie du mit 17 ausgeschaut hast? Ein viel zu gebräunter Prolet mit Irokese. Hast du Fotos gesehen, wie die Mirna damals ausgeschaut hat? Eine fucking Göttin. Niemals hat sie mit dir geschmust und ich werde es dir noch beweisen. Weißt eh, Ivo, Lügen haben kurze Beine!«
»So wie deine Mama.«
Nuri und Kurt lachen und Ivo freut sich, seinen Bruder zum Lachen gebracht zu haben. Nuri schaut so, als ob er eine Idee hätte.
»Ist nicht der Boki heute da?«
»Welcher Boki?«
»Welcher Boki, der Ljubičić Boki, Mirnas Cousin, oida!«
Es stimmt, Ivo hat sein Gesicht irgendwie im Kopf und weil er nie an den Boki denkt und ihn auch länger nicht gesehen hat, kann es wirklich sein, dass er hier ist.
»Dann klären wir das ein für alle Mal. Ich hol den Boki her, wir fragen ihn nach Mirnas Nummer und dann finden wir raus, ob du ein Lügner bist und vergiss nicht: Ich schimpf dich immer, wenn du lügst. Eine Lüge und ich schimpf dich sofort!«
Boki ist merkbar eingeschüchtert, als er mit Nuri in die Werkstatt kommt und sieht, dass sie nur zu viert sind, so als hätte er Angst, dass sie ihn verprügeln, während Ivo Angst hat, dass Nuri oder Kurt ihn gleich auf Mirna ansprechen, weil er ihnen nicht gesagt hat, sie sollen das nicht tun, aus Angst, das könnte sein unangebrachtes Interesse verraten und Boki würde sich sofort bei Jessy oder bei irgendwem anderen verplappern.
»Boki, Bruder, komm her!«
Mirnas Mailadresse, von Boki als Notiz in Ivos Handy getippt, ihr neuer Name, zu wissen, dass sie öfter in London arbeitet, das alles liegt wie ein Gewicht auf Ivo, ein Geheimnis, aber kein schiaches, wie das Knacken eines Nasenbeins oder das Herzrasen bei einer Vollbremsung, von der man niemandem erzählt. Es ist schwer, aber so, wie ein gutes Messer oder ein goldbesetztes Handy schwer sind, schwer wie die Dinge, die Reichen gehören, wie Ivos Handy oder Ivos Messer.
Er hat ihr noch nicht geschrieben, weil er es bis zum Äußerten hinauszögern will, schauen, wie lang er damit warten kann.
Ivo sitzt am Klo der Suite und sieht fast nichts, weil es vorher draußen so hell war, dass jetzt drinnen alles unterbeleuchtet wirkt, weil er keine Sonnenbrille getragen hat, beim Laufen am Strand, in der spanischen Sonne. Er versucht, nicht daran zu denken, wer vorgeschlagen hat, er solle am Strand laufen, damit er auch mal was von der Sonne hat, statt immer nur drinnen in der Kraftkammer zu sein oder draußen mit Sonnenbrille im Schatten am Pool. In der Früh am Strand laufen, OK, aber der Strand kann ganz schön gefährlich sein. Jessy hätte sich vorstellen sollen, wie er mit einem Bein in ein Loch fällt, das irgendwelche Kids gegraben und zugedeckt haben und sich das Kreuzband reißt und das Schienbein bricht. Gleichzeitig. Er findet, er sollte ihr das nicht sagen müssen, das muss sie selber wissen.
Die Sonne kann man in England leicht vergessen, auch wenn man wie Ivo ein Jahr in Spanien gelebt hat. Man vergisst, wie sie blendet und einen aussaugt, und wenn man dann in der Früh am Strand laufen muss, ohne Sonnenbrille, und praktisch blind zurückkommt, könnte man auf den Stiegen über seine eigenen Füße stolpern und sich weiß Gott was brechen, weil es drinnen so saudunkel ist. Ivo erhöht die Helligkeit seines Displays aufs Maximum und streicht mit seinem Daumen über das Notizblocksymbol, wischt mehrmals drüber, hält dann so lange drauf, bis es zu zittern beginnt und man es mit einem Antippen mitsamt aller Notizen löschen könnte, und drückt wieder auf die Home-Taste, die Sicherheit. Ohne dass vorher Schritte zu hören waren, bewegt sich plötzlich ruckartig die Türschnalle. Ivo grunzt unzufrieden. »Ivo?« Sie weiß, dass er es hasst, mit ihr durch die Klotür zu reden. »Ivo?« Er lässt sein Handy in die Tasche gleiten, wischt sich zweimal wütend über den Arsch, spült, knallt den Deckel auf die Muschel und reißt die Tür auf, ohne sich die Hände zu waschen. »WAS?«
Dann streiten Jessy und er, so wie alle streiten, wegen nichts, nur weil einer wütend ist, mit Worten, für die sie nicht nachdenken müssen, die ihnen einfach so zufliegen, weil man sie schon kennt, und am Ende weint Jessy.
Am nächsten Tag liegt die ganze Familie am Strand, so wie Jessy es wollte, und abgesehen davon, dass sie nicht alle bepackt sind mit Sonnenschirmen und Kühltaschen, weil das Hotel eh alles hat, und davon, dass es Sand gibt, der vom Körper abrieselt statt kleiner, harter Steine, ist alles gar nicht so anders wie Ivos Urlaube als Kind in Kroatien: Die Mutter blättert in einer Zeitschrift, von den Kindern wird erwartet, dass das Meer ihnen Unterhaltung genug ist und der Vater macht gar nichts, starrt nur hinaus auf die Wellen.
Möwen haben keine Angst vor Menschen, aber auch keinen Respekt. Möwen denken nur an ihr eigenes Überleben und das ihrer Frau und ihrer Kinder, sie sind die Overachiever der Meere. Aber man muss bei ihnen gar nicht von Potenzial reden, dem geflügelten Wort schlechthin, dem Wort, das Ivo schon sein ganzes Leben lang begleitet, obwohl es nichts bedeutet. Möwen sind nicht wie Stefan Maierhofer, von dem damals gesagt wurde, er hätte das absolute Maximum aus sich herausgeholt, indem er als absolut untalentierter Schweinskicker 19 Spiele fürs Nationalteam gemacht hat. Stefan Maierhofer wäre eher ein verwirrter Storch, der aus unerklärlichen Gründen am Meer oder in einem Freibad landet und dort gegen jede Natur eine Nische findet. Möwen sind noch schlimmer als der Maierhofer, Möwen sind wie die seelenlosen Maschinen, die jedes Jahr aus den deutschen Akademien strömen, ohne eine Ahnung von der Welt oder von sich selbst, die 500 Pässe spielen können mit einer Quote von 94 %, aber keinen einzigen, der ihnen selbst einfällt. Max Mayer ist eine Möwe oder Leon Goretzka oder Timo Werner. Möwen sind witzlos, wie die Menschen im 21. Jahrhundert sein sollen, rotäugig und rücksichtslos aus purer Ignoranz, Einzelgänger, die keine Rudel bilden, keine richtigen Familien, keine Gemeinschaft. Sie nisten nur am selben Ort und nicht gemeinsam, sie jagen oder betteln in Gruppen, aber sobald es etwas zu fressen gibt, geht es jeder gegen jeden. Möwen sind purer Zweck, wie die Passquotenroboter, die das deutsche U21-Team füllen, für die Fußball nur ein Vehikel ist, die genauso gut Unternehmensberater oder Marktforscher sein könnten, während Ivo nichts anderes auf der Welt machen könnte, als Fußball zu spielen. Manuel Neuer ist die Protomöwe, momentan sicher der beste Torwart der Welt, aber wenn man ihm was anderes aufgetragen hätte, würde er es genauso gut machen; er wäre dann die beste Möwe, der beste Ellenbogen, der beste, schlimmste Deutsche.
Ivo dreht sich auf seinem Liegestuhl, um die fünf Möwen zu beobachten, die hinter seiner Familie herumschleichen. Sie nähern sich, den Blick ganz ungeniert auf den leeren Sandwichteller gerichtet, hacken schon, bevor sie die Krümel überhaupt erreichen, mit den Schnäbeln aufeinander ein, flattern mit den Flügeln. Da läuft ein kleines Mädchen, nicht älter als Jelena, von einer der anderen Liegen los. Man hört die Mutter noch auf Holländisch etwas hinterherrufen, so, dass man versteht, das Kind solle etwas nicht machen, aber so, dass man auch merkt, dass es ihr eigentlich egal ist und das kleine Mädchen nimmt direkten Kurs auf die Möwen, die zuerst nur am Boden ein paar Hüpfer weg von ihr machen, aber dann, als sie noch näher kommt, keine andere Möglichkeit haben, als aufzugeben und wegzufliegen. Alle internen Streitigkeiten, alles, was die Möwen gerade noch beschäftigt hat, spielt auf einmal keine Rolle mehr, wegen einem einzigen Kind, das spielen will.
Ivo versucht, sich Tiere vorzustellen, die so groß sind, dass ein einziges Jungtier fünf erwachsene Männer bei der Jagd aus purem Spaß daran vertreiben kann, Bisons, so groß wie Mammuts, Elefanten, so groß wie Wale und dann verfällt er wieder in Gedanken an Möwen und wie lächerlich und dumm sie sind, bevor sein Blick dem Kind zurück zur Liege folgt, dessen Mutter streift und auf dem dicken schwarzen Buch hängenbleibt, das auf dem Tisch neben der Liege liegt und einen alten weißen Mann zeigt und unter anderem ein Wort, das Ivo lange nicht mehr gesehen hat: Kapitalismus. So denkt er wieder an Mirna, ohne genau zu wissen, warum, vielleicht, weil Kapitalismus ein Wort ist, das jemand wie sie verwenden würde, und er beschließt, ihr am Abend zu schreiben.
Was die Leute nicht verstehen, die Trottel, die sagen, Ivo hätte zu viel an andere Sachen gedacht und so seine Karriere beschädigt, ist, dass manche einfach an zwei Sachen, sogar an zwei Menschen gleichzeitig denken können. Oder gar nicht denken, aber halt eine Sache machen und an eine andere denken. Das Eine liegt ja eh genau vor Ivo. Dem Anderen, der Anderen, den unsichtbaren Linien muss der Körper nur folgen wie einstudierten Laufwegen.
Es ist das erste Spiel der Saison, zu dem alles hingeführt hat: die Vorbereitung mit ihren endlosen Fitnesstests und Besprechungen, die Testspiele und irgendwie sogar der Urlaub, dessen Sinn ja nur darin liegt, ausgeruht zurückzukommen, um möglichst gut zu spielen. Ivo macht kein gutes Spiel, aber das liegt nicht daran, dass er an Mirna denkt. Hat er überhaupt an Mirna gedacht?
Nein. Beim Spielen denkt Ivo nicht. Das Spiel ist ein Scheinwerfer, der keinen Stillstand duldet, der einen, solange er strahlt, für alles blind macht, außer den Ball, für alles, was nicht direkt vor einem ist, und das Einzige, was man machen kann, ist, sich in die Bewegung fallen zu lassen.
Ja, weil wenn nicht an Mirna, woran hat er sonst gedacht?
Eigentlich ist es sogar umgekehrt, denkt Ivo in der Kabine, wo der Trainer seine auf dem Platz zurückgehaltene Wut rauslässt. Eigentlich ist es sogar besser, schon an was anderes zu denken, etwas zu haben, das wichtiger ist, damit man nicht verkrampft. Ivo denkt an seine Führerscheinprüfungen, die erste, bei der er zu nervös war und der Prüfer ein Hurenkind, selbst schon Sohn eines berüchtigten Prüfers und böse auf Ivo, weil er noch alle Finger an beiden Händen hat. Die zweite, bei der er nur an sein Date danach mit Miss Irgendwas gedacht hat und gefahren ist wie jemand, dem die Meinung der anderen egal ist. Wie ein Dachs ist er gefahren, wobei das mit dem Dachs nur gerade so ein Gedanke ist, den er hat, weil er vor Kurzem in der Nacht einen gesehen hat.
Währenddessen schreit der Trainer weiter und seine Worte prallen an Ivo ab. Was ist, wenn wir uns gegenübersitzen und uns nichts zu sagen haben? Was, wenn wir nur über unsere Leben reden, über Familien und Jobs?
»Erinnerst du dich noch, dass du mir mal von deiner BE-Lehrerin an der Hauptschule erzählt hast?«
Ivo ist überfordert und kann nicht antworten, weil Mirna jetzt wirklich da sitzt, echt und direkt gegenüber von ihm. Alles ist anders, als er es sich vorgestellt hat und deshalb bringt ihm seine Vorbereitung auf den Moment überhaupt nichts. »Frau Santos-Egger oder so, eine Portugiesin. Ich glaub, du warst damals echt stolz, obwohl du es natürlich nicht so erzählt hast. Sie hat gesagt, dass du Talent hast, dass deine Zeichnungen etwas Expressives haben.«
»Eh klar«, redet Mirna ohne Pause weiter, »damals hast du es so erzählt, dass ihr euch alle drüber abgefetzt habt, wie du wütend geworden bist, als ihr schon wieder mit Bleistiften zerknüllte Papierbemmerl zeichnen solltet, dass es dir wieder nicht so gelungen ist, wie du wolltest. Also hast du rote Farbe drübergeschmiert, daran rumgerissen und das Ergebnis mit Kleber auf ein anderes Blatt gepickt. Du bist vorgegangen, hast es der Lehrerin auf den Tisch geknallt und den Raum ohne ein weiteres Wort verlassen. Du hast es mir ganz genau erzählt. Du hast es ins Lächerliche gezogen, als wär es dumm von der Santos-Egger gewesen, dir künstlerisches Talent zuzuschreiben, aber allein daran, wie du es erzählt hast, habe ich gemerkt, wie wichtig es dir war. Ich kann es mir genau vorstellen, wie der kleine Ivo, der mit dem schmalen Gesicht und der Räubernase, aus dem Zimmer stapft und versucht, seinen ganzen Körper zu einer großen Faust zu machen. Deine Freunde haben gedacht, du würdest eine schlechte Note bekommen, vielleicht eine Klassenbucheintragung, und als sie erfahren haben, dass die Santos-Egger begeistert war, haben sie sich beschwert. Sie haben nicht verstanden, dass du die Aufgabenstellung nicht befolgt hast und trotzdem gelobt wurdest. Wenn wir das gewusst hätten, haben sie gesagt, dass man die Regeln brechen kann, dann hätten wir es auch gemacht. Aber sie haben es nicht gemacht und du schon. Du hast das Papier zerrissen und die Santos-Egger hat dir gesagt, dass du Talent hast fürs Malen, dass in deinem Bild Licht und Schatten und Bewegung sind. Ich weiß sogar noch genau, wo du es erzählt hast, auf der Höhenstraße, ich weiß, dass du ihren Satz im Kopf hattest und ich hab ihn mir für dich gemerkt, dass Bewegung in der Kunst sehr selten ist und du, Ivo, hast sie hineingebracht in dein Bild.«
Mirna atmet tief ein, lehnt sich zurück, streicht rot angelaufen über ihr aus den Haaren herausschauendes Ohr und nimmt einen Schluck aus dem Bierglas. Ivo hat die ganze Zeit nur ihr Gesicht angeschaut, wie sich ihre Mundwinkel und Nasenflügel bewegen und einmal, beim Wort Höhenstraße, an seinem Bier gezogen. Aber irgendwie hat er schon verstanden, was sie sagt und weiß wieder, wie er sich gefühlt hat, vielleicht sogar besser als damals. »Na, ich kann mich nicht erinnern«, sagt er mit einem Lächeln, das lieb und entspannt wirken soll, von dem er aber sofort denkt, es könnte wie das Lächeln von jemandem aussehen, der sonst nichts hat. »Also an die Santos-Egger schon, aber nicht an das, was du jetzt gesagt hast mit der Zeichnung. Aber ich versteh, was du meinst.« Und Mirna versteht, was Ivo meint, das sieht er. »Manche reden halt und ich spiele«, sagt Ivo.
Das Wort »spiele« klingt lange aus und Mirnas Lächeln, das sich verändert hat, zeigt, dass sie trennen kann, was Ivo sagt und wie er es meint. Eine Weile lang lächeln beide sinnlos, Ivo vielleicht noch ein bisschen mehr, und sie sagen nichts, woraufhin Ivo auffällt, wie lange er jetzt schon ganz ruhig gesessen ist, ohne mit den Beinen zu zappeln.
Wir könnten über alles reden, denkt er, und sie ist noch schöner geworden, denkt er noch viel mehr, aber wenn sie ein bisschen weniger schön wäre, dann wäre alles einfacher.
Die Zeit steht und fliegt. Sie reden über Eltern, die älter werden, Krebs, der sie daran hindert, und Mirnas im Barlicht schwarze Augen werden so perfekt eingerahmt von ihrem Gesicht und den darüberliegenden Umrissen von Vögeln. Ivo hat alles ausgeblendet, von der Umgebung angefangen, und nur, wenn er seine Frau umgehen muss, die in jeder seiner Geschichten steckt, die, wie ihm jetzt erst richtig auffällt, bei allem immer das Erste ist, woran er denkt, spürt er so ein unangenehm drehendes Gefühl, bis er sie wegformuliert hat. »Ich habe gehört«, »Mein Freund Nuri sagt immer«, »… dann hat Kurt gesagt«, und schon ist Jessy draußen und er kann wieder nach vorne schauen in Mirnas Augen.
Bei jeder Zigarette, die Mirna aus der Packung zieht, in den Mund steckt und anzündet, bekommt Ivo ein warmes Gefühl im Bauch und ein Verlangen, auch zu rauchen, obwohl er es seit sechs Jahren, als ein Foto von ihm mit Zigarette im Mund auf seiner Jacht durch die Medien gegangen ist, nicht mehr gemacht hat. Bei der ersten Tschick ist er noch nüchtern und hat ganz bewusst keine geraucht, aus Angst, dass ihn wieder jemand dabei fotografieren könnte, aber auch, um Mirna nicht gleich alles nachzumachen. Nachher ist er zu abgelenkt von dem, was Mirna sagt und von der Art, wie sie die Augen beim Anzünden zukneift, wie ein Detektiv mit Hut und hochgeschlagenem Mantelkragen.
Irgendwann ist es drei und Ivo sollte schon längst im Hotel zurück sein, aber er würde das nie sagen. Er ist schon betrunken, sieht im Klospiegel seine roten Wangen und zurück am Tisch Mirnas glühendes Gesicht. »Wir sollten jetzt fahren.« Sie steigen gemeinsam ins Taxi und Ivo sucht durch das Fenster nach einer Bar, einer Ausrede, um weiterzumachen. In Spanien oder Italien wäre alles einfach, denkt er, sie würden irgendwo Bier kaufen oder eine Flasche Wein und in einen Park gehen, dort schmusen, weil das eigentlich das Leichteste auf der Welt ist. Aber in London regnet es natürlich, Scheißland.
Wo sie fahren, sind nur unbeleuchtete Büroblocks und Mirna nimmt Ivos Hand, ohne ihn anzusehen, während er schon überlegt hat, was er beim Verabschieden sagen soll, und niemand bis auf das Taxameter könnte messen, wie lange sie so dasitzen, bevor das Auto in einer Straße mit niedrigen Einfamilienhäusern ausrollt. Ivo steigt mit aus, lässt den Taxler warten und geht mit zur Tür. Schläft ihr Mann da oben? Die Tür kommt ihnen entgegen, deshalb addieren sich die Geschwindigkeiten, deshalb stehen sie schon davor und Ivo weiß, was er jetzt macht, nein, er kann nur was sagen. »Mirna, ich hab dich ur gern.« Und Mirna kann sich nicht entscheiden zwischen Umarmung und Bussi und gibt ihm beides. Dann sehen sie sich von sehr nah in die Augen und es ist klar, dass Mirna weiß, was Ivos ur heißt, dass es wirklich ein UR ist und dass er nicht mehr sagen kann als das, aber dass er mit diesem ur eh alles sagt, was er kann. »Gute Nacht, Ivo, bis bald.« Gute Nacht, denkt Ivo, Mirna, denkt er immer wieder, so betrunken, dass er nicht mehr denken kann und es überrascht ihn, wie nach der Tür auch sein Hotelbett sich ihm entgegenbewegt und wie sauber und streng es ist.
Der nächste Tag beginnt mit weißem, grausamem Licht und Ivo hantelt sich ohne einen Gedanken an etwas anderes als sein kurzfristiges Überleben aus dem Bett, aus dem Zimmer, durchs Buffet und ins Taxi. Dort schnauft er durch und hat nur einen kurzen Moment der Entspannung, bevor er merkt, dass in der Stille alles schlimmer wird. »Can you turn up the music?« Ein Kinderchor im Radio heult auf.
Ivo sieht aus dem Fenster, wo die Gebäude genauso unbeteiligt vorbeiziehen wie in der Nacht davor. Sie wissen nicht, wer er ist und wer er gestern war und schon gar nicht können sie seine Gefühle sehen, seine Aufregung und sein Kopfweh. Gut, dass er nicht mit Mirna geschlafen hat.
Gleichzeitig haben der weiche Körper, den er bei der Halbumarmung gespürt hat, und der Ausdruck in ihrem lachenden Gesicht nur dazu geführt, dass er noch mehr mit ihr schlafen will. Und Mirnas Hand auf seiner im Taxi sagt ihm, dass es ihr genauso geht. Ich bin ein freier Mensch, ich kann treffen, wen immer ich will. Aber Jessy darf es nie erfahren. Sie fände es vielleicht sogar schlimmer, dass Ivo nicht mit Mirna geschlafen hat, sie, die am besten weiß, wie notgeil er ist, wie übersexualisiert, vom zu frühen Pornoschauen, wie sie sagt. Das wär, wie wenn ein Alkoholiker in eine Bar geht und dort einen ganzen Abend lang Spaß hat, ohne zu trinken. Nein, es wäre noch schlimmer, wenn er mit Mirna geschlafen hätte. Es wäre schlimmer, als nur zu reden, und trotzdem ist nur mit Mirna zu reden eigentlich schlimmer, als egalen Sex mit irgendwelchen 20-jährigen Models zu haben.
Ivo lässt sich nach hinten sinken und gerät in einen stressigen Traum, wo er jemanden ganz nah an dessen Gesicht mit explosionsartigem Zorn anschreit oder dieser Jemand ihn, bevor er gefühlte zwei Sekunden später in einer lang ausgleitenden Kurve einer Autobahnabfahrt aufwacht. Er checkt den Inhalt seiner Taschen und richtet alles so zurecht, dass die Musik genau dann einsetzt, wenn er mit seinem Rollkoffer in der Hand losgeht.
Booming blablabla like I’m blue well sexman like blue well 2 girls and they get along like I’m (blue) elle like I’m blue elle I just got the new deal I am in the Matrix and I just took the blue pill. Die Bässe helfen Ivo, sich schwerelos durch diesen abweisenden Flughafen zu bewegen, als wären sie nur für diesen Moment gemacht worden. Tu nur so arrogant, denkt Ivo dem Flughafen entgegen, du öffnest dich mir so leicht, dass ich nie an dir anstreifen muss, als hätte ich eine goldene Keycard mit größerer Reichweite als meine Beine, eine Aura, die alle Türen aufschwingen lässt. No hoe shit no fucking hoe shit save that for yo shit I don’t need no fucking body I run my own shit. In der Lounge nimmt Ivo die Kopfhörer ab und schläft, während ihn jemand ganz leicht an den Schultern massiert. Er wird gerufen, angeflüstert, und geht die leeren Gänge des Parallelflughafens, den Leute wie er benützen, entlang, bis zum Gate, wo er eine weitere Lounge passiert und dann doch eine Minute warten muss, in dem Schlauch, der zum vorderen Teil des Flugzeugs führt. Er sieht sich um, ein paar Businessficker, ein paar Schnösel und eine Familie, deren Kindern man schon jetzt ansieht, dass sie zu reich aufwachsen, um nicht komplett nutzlose Lebewesen zu werden. Dann, sitzend, Tomatensaft in der Hand, die Beine gespreizt und an den richtigen Stellen mit perfektem Halt abgestützt, sieht er aus seinem Fenster. Der Schlauch für die von hinten ist aus Glas, als würden sie so besser aufs Flugzeug sehen, während sie eigentlich selber durchsichtig werden. Die allerersten sind natürlich Pensionisten, so wie immer die Alten das Gefühl haben, sie müssten sich am meisten beeilen und dann alle anderen aufhalten. Direkt hinter ihnen steht ein Student in zu kleinen H&M-Shorts und einem ebenfalls zu kleinen, kurzärmeligen Hemd, dessen Knöpfe auf dem chubby Körper spannen und sogar von so weit weg die Haut dazwischen, das überschüssige Fett, freilegen. Niemand hat je mehr wie ein Student ausgesehen als dieser Typ, er könnte im Wörterbuch stehen neben dem Eintrag zu Student. Er ist wie das Wort Studentenfutter, wie Nüsse und Rosinen. Ist es gescheit, Studentenfutter zu essen, weil es gesund ist und die Nüsse viel Magnesium und Kalzium enthalten oder ist es eigentlich saudumm, weil man stattdessen Chips essen könnte, die viel besser schmecken?
Das macht wahrscheinlich so richtige Studenten aus, dass sie Nüsse und Rosinen wirklich leckerer finden als Chips. Ivo hakt das Thema ab und trinkt ohne hinzuschauen den letzten Schluck seines Tomatensafts, in dem sich das Salz, das ihm vorher gefehlt hat, staut. Ein Schauer an der Wirbelsäule. Dass er wegen Mirna über Studenten nachdenkt und nicht wegen diesem Typen, der wie ein Pombär ausschaut, das ist Ivo schon klar. Schließlich ist Mirna eigentlich die Einzige, die er kennt, die wirklich studiert hat, in diesem Studenten-Sinn. Also nicht Wirtschaft, Sportmanagement oder Maschinenbau, sondern eben dieses Studieren, wo man dann gar nichts kann, außer über etwas zu reden, was niemanden wirklich interessiert. Naja, ihn interessiert es schon, auch wenn er nicht immer alles versteht. Mirna hat auch nie ausgeschaut wie eine Studentin. Dieser Typ von dem deutschen Studentenfußballmagazin, das Ivo vor Kurzem auf dem Cover hatte – vor seinem Bugatti stehend mit der Überschrift »Die neue Bescheidenheit« –, der hat schon ausgesehen wie ein Student, mit seinen Button-up und seinen schwarzen Brillen. Früher hätte man gesagt, er schaut aus wie ein Streber oder wie ein Piefke oder wie eine Schwuchtel, heute sagt man wie ein Student oder wie eine Kartoffel oder wie ein Alman. Hat Mirna nicht sogar irgendwas über dieses Magazin gesagt?
Die Leere vom Restalkohol feiert ein Comeback in Ivo. Er weiß überhaupt nichts mehr. Nicht, wie das Magazin heißt, nicht, was Mirna alles gesagt hat. Aber gut, das Magazin hat sicher einen blöden Namen und das, was Mirna gesagt hat, gehört zu gestern. Wenn jemand alles mitgeschrieben hätte, was sie gestern geredet haben, und es jetzt vorlesen würde, dann wäre es eine Lüge. Sogar wenn es 1 : 1 abgetippt und mit ihren Stimmen vorgelesen werden würde, wäre es nicht echt, weil das, was gesagt wurde, in den Moment gehört, in dem es gesagt wurde und jetzt ist schon ein ganz anderer Moment, der nichts damit zu tun hat.
Mirna ist wirklich scheißklug, denkt Ivo nicht zum ersten Mal, und auch nicht zum ersten Mal zieht er daraus den Umkehrschluss. Mirna muss glauben, dass ich scheißdumm bin, weil ich nicht mal verstehe, was sie studiert hat. Und eine Angst von früher erfüllt ihn, dass es eine Distanz zwischen Mirna und ihm gibt, ein Styropor, das sie voneinander isoliert und dass sie sogar, wenn sie gemeinsam über etwas lachen, was er gesagt hat, eigentlich über verschiedene Sachen lachen. »Sie lachen nicht mit dir, Ivo, sondern über dich!«
Es gibt Schweinsmedaillons mit Spargel und während der Steward das Tablett lächelnd hinstellt, versucht einer der Businessficker auf der anderen Seite des Gangs, Augenkontakt herzustellen. »Fliegen Sie zum Nationalteam?« Ivo macht eine lange Pause, schaut auf sein Essen, wieder rüber zum Businessficker und sagt, so gleichgültig wie möglich: »Ja.« Der Typ lehnt sich beleidigt wieder zurück und Ivo stopft sich sein Essen rein, ohne es genießen zu können. Es kommt ihm so vor, als wäre dieser grindige Sack, dem man schon richtig ansieht, dass er sogar zu seinen Callgirls noch extra deppert ist, nur geschickt worden, um ihn an etwas zu erinnern, woran er lang nicht mehr gedacht hat: Österreich.
Der Flieger berührt mit den Rädern den Boden, Ivo wacht auf, schaut aus dem Fenster und ein »Oida« liegt da, bereit, von ihm ausgesprochen zu werden. »Oida.« Wien ist die schönste Stadt der Welt. Schon die Landebahn mit diesen gelben Schildern und den gelben Plastiklichtern, das Gefühl, in Wien zu landen, der Himmel, der einfach wie ein Himmel ausschaut, der Typ am Steuer vom Kofferwagerl mit der 80er-Matte und dem grauen Fu-Manchu-Bart.
Gut, dass Ivo eingeschlafen ist, bevor er zu lange über Österreich oder den Businesstypen nachgedacht hat. Er hat die faden Hügel, mit denen sich Österreich von Bayern kommend ankündigt, mit den Augen gestreift, sich von ihnen aber in lose Träume leiten lassen, statt in Vorstellungen, was so eine Landschaft mit Menschen macht. Er hat geschlafen, statt dem unguten Gefühl nachzugehen, das alle Wiener spüren, wenn sie mit Restösterreich konfrontiert werden. Jetzt nur Wien, Beč, Liebe. Ivo ist ganz von Neuem geil auf die Stadt.
Obwohl er nicht beim alten Terminal mit den Bullaugen rauskommt, sondern beim neuen schwarzen Klotz, der überall auf der Welt stehen könnte, kitzeln ihn seine Organe. Nirgendwo ist Wiener sein schöner als ihn Wien. Er denkt an die Donauinsel im Sommer, Leute schauen, von der Brücke springen, an den Park, die aufgeheizten Käfige, die klaren Nächte. Ivo muss nicht lächeln, um glücklich zu sein.
Den Mann, der ihn erwartet, hat Milo, Ivos Berater, organisiert und er steht nicht mit einem Schild bei den anderen Fahrern, sondern weiß einfach, durch welche Tür Ivo kommen wird und fährt genau im richtigen Moment vor, verlädt die Sachen in seine Mercedes-Limousine und redet kein einziges Wort. Ivo setzt sich breitbeinig hin und zieht den Zettel vom ÖFB aus der Tasche, wo draufsteht, wann er wo sein muss. Montag Ankunft im Teamhotel, Dienstag 9 Uhr Regenerationseinheit, 12 Uhr gemeinsames Mittagessen, danach Mittagsruhe, 14 Uhr Taktikeinheit. Weiter liest Ivo nicht. Eine Nachricht von Nuri: »ich hol dich um 7 ab «. Es ist drei und Ivo schickt nur das doppelt unterstrichene 100er-Emoji zurück und freut sich auf den Fernseher in seinem Zimmer.
Vielleicht, denkt Ivo, als er Nuri später vor seinem BMW stehen sieht, wäre es doch besser gewesen, mit Mirna zu schlafen, um das Ganze zumindest mit den Freunden besprechen zu können.
Die Ampel vor dem Parlament zeigt rot und Nuri dreht die Musik leise, um zu telefonieren. Ivo lässt seinen Blick von einer Seite zur anderen schweifen und hört ein knackendes Mikro und sieht eine kleine Bühne mit Transparenten und ein paar verwahrlosten Leuten davor. Jemand steigt gerade aufs Podest und sagt etwas Unverständliches, nur das Wort Donau ist auszumachen, woraufhin jemand auf der Seite von Ivos Fenster über den ganzen Ring hinüberbrüllt, so laut, dass Ivo und Nuri beide zusammenzucken: »Wien liegt ned an der Donau, du Scheißpiefke, die Donau liegt an Wien!«
Und während Nuri weitertelefoniert, kommt das Gefühl wieder, das Ivo am Flughafen gespürt hat, und er freut sich, dass seine Stadt niemanden ernst nimmt. Diese geile Arroganz. Diese Arroganz rettet Wien davor, zu werden wie der Rest der Welt, wie Deutschland. Und es stimmt ja, die Donau liegt wirklich an Wien, so sehr wie an keiner anderen Stadt, mehr als an Belgrad, obwohl das die Serben nicht gerne hören, und mehr als an Prag oder Budapest. Die Donau gehört Wien, weil Wien die beste Stadt ist. »Ich hab eine Überraschung für dich, Orhan ist da«, sagt Nuri beim Auflegen. Orhan. Ivo hat ewig nicht an ihn gedacht.
Es gibt Küsse und leichte, freundschaftliche Watschen, Shish-Kebab und Witze, von denen sich ein paar auf Menschen oder Sachen beziehen, die Ivo nicht kennt, die ihn aber alle zum Lachen bringen. Orhan schaut ziemlich fertig aus, sehr alt und mit faltigen Spuren von Unglück im Gesicht, das von vorne aber doch noch das Leuchten von früher hat. Es ist alles normal, bis zu dem Punkt, wo das Gespräch stockt und beide nicht mehr wissen, was sie erzählen sollen. Orhans Stirn legt sich in Falten. Sie können die Stille nicht Stille sein lassen und Orhan redet über die Kosten, ein Haus in Banja Luka zu bauen und welches Baumaterial er für wie viel bekommen hat und Ivo über Werbeverträge und Berater, Schienbeinschoner und Autos, bis sie beide von anderen Leuten in naheliegendere Gespräche gezogen werden.
Die Gruppe wächst an und über den Zeitraum von drei Stunden zeigt sich, was alles in wenigen Jahren anders geworden ist bei denen, die hier geblieben sind, darin, wie sie darüber reden, was irgendein Opa von irgendwem, der mit irgendwem in der Klasse war und mit irgendwem gekickt hat, beim Kartenspielen über Zdravko Čolićs Haarausfall oder Jelena Karleušas Muttermale behauptet hat. Wien ist gut zu seinen Söhnen, aber vor allem zu denen, die weggegangen sind und es geschafft haben. Für sie macht die Stadt sich noch extra schön, wie eine Ex, die sich für das Wiedersehen auftusst, obwohl sie eh die allerschönste Frau der Welt ist. Sie schaut einen auffordernd an, weil sie weiß, wie gut sie aussieht, weil sie den Blick sehen will von dem, der weggegangen ist und ihm zeigen möchte, was er verpasst. Sie sagt: Ich werde immer so schön bleiben, wie als wir beide 16 waren. Und dann verschwindet die Stadt, tritt hinter die zurück, die hiergeblieben und aneinander verbittert sind.
bin dir nachgeflogen