image

image

In Kooperation mit dem Karl-Renner-Institut

Copyright © 2019 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: ÖNB/Wien, 140.631B
ISBN 978-3-7117-2087-0
eISBN 978-3-7117-5407-3

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Adelheid Popp wurde 1869 in eine Arbeiterfamilie geboren. Bereits als Kind war sie gezwungen, in einer Fabrik zu arbeiten. Sie engagierte sich als eine der Ersten für die (Arbeiter-) Rechte von Frauen und gilt als Vorkämpferin der sozialdemokratischen Frauenbewegung.

Sibylle Hamann, geboren 1966 in Wien. Studium u. a. der Politikwissenschaft in Wien, Berlin und Peking. Ab 1990 Mitarbeiterin im Auslandsressort der Tageszeitung »Kurier«, ab 1995 Redakteurin beim Wochenmagazin »profil«. Hamann versteht sich als reisende Reporterin – nicht nur, aber auch in Krisengebieten. Einige Jahre lang war sie auf Afrika spezialisiert, längere Rechercheaufenthalte auch in den USA und in Japan. 1999/2000 Korrespondentin in New York. Hamann ist heute Mutter von zwei Kindern, ständige Kolumnistin bei der Tageszeitung »Die Presse« und freie Autorin. Im Picus Verlag erschien ihre Theodor-Herzl-Vorlesung »Dilettanten unterwegs – Journalismus in der weiten Welt«.

Katharina Prager ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie forscht und publiziert zu Auto/Biografie und Geschlechtergeschichte mit Schwerpunkt auf Wien um 1900 und Exil.

Adelheid Popp

Jugend
einer Arbeiterin

Herausgegeben von Sibylle Hamann

Mit Essays
von Katharina Prager und Sibylle Hamann

Picus Verlag Wien

Inhalt

Sibylle Hamann

Eine muss immer die Erste sein

Katharina Prager

Adelheid Popps (fest-)geschriebenes Leben

Adelheid Popp

Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin

Sibylle Hamann

Adelheid Popp und wir

Literaturverzeichnis

Sibylle Hamann

Eine muss immer die Erste sein

Es ist ja so eine Sache mit den historischen Fotografien. Man blickt in ein Gesicht und meint etwas zu erkennen – einen Charakterzug. Eine Stimmungslage. Eine Botschaft aus einer lang vergangenen Zeit.

Aber dann beschleichen einen Zweifel. Der heilige Ernst, den man in den Augen auf dem Bild zu erkennen glaubt, ist vielleicht gar nicht der politischen Mission geschuldet, sondern bloß der Anspannung im Fotostudio. Und die Ungeduld, die man meint, aufblitzen zu sehen, gilt womöglich gar nicht den Fortschritten in der Frauenfrage, sondern bloß den umständlichen Bewegungen des Fotografen.

Adelheid Popp konnte niemandem ähnlich sehen, als sie als Politikerin für den Fotografen posierte. Weil sie die erste in ihrer Rolle war.

Wenn man die erste ist, gibt es keine Schablonen, in die man hineinpassen, und keine Vorbilder, an denen man sich orientieren könnte. Was ziehe ich an, wie verschaffe ich mir Gehör, wie bewege ich mich, wie reagiere ich auf Untergriffe? Adelheid Popp musste für all diese Fragen Standards setzen. Sie war eine der ersten sieben weiblichen Abgeordneten, die im ersten frei gewählten Nationalrat 1919 angelobt wurden. Sie war die erste Frau, die im österreichischen Parlament eine Rede hielt: Am 3. April 1919 war das, und das Thema war die Abschaffung der Adelstitel in der eben erst gegründeten Republik.

Kann man sagen, dass Adelheid Popp die erste professionelle, bezahlte, angestellte Berufspolitikerin Österreichs war? An dieser Stelle drängt sich Kaiserin Maria Theresia ins Bild und widerspricht energisch: eine Herrscherin immerhin, die zwischen 1740 und 1780 ein Weltreich regierte, Kriege führte und die Schulpflicht für alle österreichischen Kinder anordnete.

Wenn man Bilder von Maria Theresia und Adelheid Popp nebeneinanderlegt, können einem jedoch, oberflächlich betrachtet, tatsächlich Ähnlichkeiten auffallen: Selbstsicher sitzen da beide stets im Zentrum des Geschehens, mit einer stämmigen Statur, die signalisiert: Mich könnt ihr nicht mehr so leicht beiseiteschieben! Jetzt bin ich hier, und ich bleibe auch!

Wie wird man so? Durch Erfahrungen. Beide Frauen hatten sich ihren Respekt wohl erst mühsam erarbeiten müssen – den Respekt sowohl der männlichen Kollegen als auch des politischen Publikums. Sie hatten sich eine dicke Haut zulegen und alle Empfindlichkeiten abwerfen müssen.

Als zum Beispiel Friedrich Engels, der große alte Mann des Sozialismus, die junge Adelheid Popp bei einem Kongress hörte, schrieb er über sie in einem Brief an seinen Bruder: »Mein eigentliches Schatzerl war doch ein allerliebstes Wiener Fabriksmädel, reizend von Angesicht und liebenswürdig von Manieren.« Solch eine Art Lob muss man erst einmal überwinden lernen.

Dass Popp ein »Fabriksmädel« war, ein echtes Proletarierkind, war der Treibstoff für ihren frühen Ehrgeiz, wie auch für ihre spätere Karriere. Sie kannte das Leben auf den Straßen der Vorstadt, hatte am eigenen Leib gespürt, wie sich Hunger anfühlt, und bot sich allen Menschen, die demselben Milieu entstammten, als Identifikationsfigur an.

Die – oft bürgerliche – Führungsriege der sozialdemokratischen Partei, allen voran Victor Adler, erkannte rasch, wie dringend die Partei genau das brauchte. Systematisch ermunterte er Popp zum Schreiben, zu Auftritten vor Publikum. Emma Adler, seine Ehefrau, nahm Popp unter ihre Fittiche, übte über viele Jahre Grammatik und Rechtschreibung mit ihr, beriet sie in Stil- und Modefragen und wurde zu einer engen Freundin.

Popp durchschaute bald, wie unverzichtbar sie für die Partei in dieser Rolle war – einerseits als authentisches Role Model, andererseits als einzige Frau, die sich vor Männerpublikum auf die Bühne traute, sogar in den verrauchten Hinterzimmern der Wirtshäuser. »Da sich noch wenige Frauen öffentlich betätigten, hatten Rednerinnen immer zu tun«, schreibt sie nüchtern. Doch ging diese exponierte Position keineswegs automatisch mit Macht und inhaltlichen Gestaltungsmöglichkeiten einher: ein Konflikt, der die Geschichte der SPÖ von Beginn an beschäftigt – bis heute.

»Die meisten sich als Sozialdemokraten definierenden Männer sahen in Frauen keine potentiell gleichberechtigten Genossinnen«, schreibt die Historikerin Gabriella Hauch über die Anfangszeit der Partei in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Das Vereinsgesetz der Monarchie verbot Frauen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen; generell attestierte man ihnen »Politikunfähigkeit« und begründete das mit der Biologie. Bei den ersten Parteitagen durfte die zweiundzwanzigjährige Popp bloß als »Gast« dabei sein.

Als die Parteifrauen die Gründung einer eigenen Zeitung, der Arbeiterinnen-Zeitung, forderten, ätzte Victor Adler: »Zeigen Sie uns eine Genossin, die die Fähigkeit hat, das Blatt herzustellen.« Mit nur drei Jahren Volksschulbildung erkämpfte sich Popp im Alter von dreiundzwanzig die Leitungsfunktion. »Wir haben es satt, immer nur als geduldete Personen oder als Dekorationsstücke zu fungieren«, würde die Zeitung bald schreiben. Kommt uns dieser Konflikt, aus hundert Jahren Abstand, irgendwie bekannt vor?

Um einen Fuß in die Tür zu bekommen, brauchte es flammende öffentliche Reden und zähes Taktieren hinter den Kulissen, Boykottaufrufe, eiskalte Drohungen gegen das Parteiestablishment, und gleichzeitig Schmeicheleien und informelle Deals. »Popps Strategie war eine Mischung von Appell, Angriff und Kompromiss«, schreibt Hauch. Als Fünfzigjährige schließlich, mit ihrem Einzug in den Nationalrat, hatte sie sich als fixe Größe in der Partei endlich etabliert.

Popp steckte viel Herzblut in die Parlamentsarbeit. Mit Gesetzen, so lautete die Hoffnung der Genossinnen und Genossen, würde man endlich die wilden, brutalen Kräfte der kapitalistischen Produktionsweise zähmen können. Erste Meilensteine waren denn auch der Achtstundentag, die Einführung von Arbeitsinspektoraten, die die Arbeitsbedingungen in den Fabriken kontrollieren sollten, und Schutzgesetze für Schwangere und Mütter.

Außerdem leuchteten speziell die weiblichen Abgeordneten eine Tabuzone der Arbeitswelt aus, die die bürgerliche Gesellschaft bis dahin stets im privaten Bereich versteckt hatte: die Dienstmädchenfrage nämlich. Über die Parteigrenzen hinweg arbeiteten Parlamentarierinnen das Dienstbotengesetz aus, das Zehntausenden im Haushalt beschäftigten Frauen erstmals verbriefte Rechte gab.

Es gab viel zu tun auf dem weiten Feld der Gleichstellungspolitik – die Frauen mussten um ein modernes Familienrecht ringen (was bis in die siebziger Jahre dauern sollte), oder um die Straffreiheit von Abtreibungen (was ebenso langwierig war). Allerdings hätte es auch in allen anderen Politikbereichen viel zu tun gegeben. Doch hier verstrickten sich die Politikerinnen in ein Dilemma, das sie von den Anfängen der Bewegung bis heute begleitet: Gern wurden Frauen in der SPÖ nämlich stets für Frauenfragen verantwortlich gemacht – in der Hoffnung, dass sie sich dort still beschäftigen und in allen anderen Fragen Ruhe geben würden. Und keinesfalls die Machtfrage stellen.

Auf der politischen Ebene wiederholen sich damit die privaten Zuständigkeiten: Daheim kümmert sich die Mama ums Naseputzen, im Parlament kümmert sich die Politikerin um die Kinderbetreuungsgesetze. Popp durchschaute diese Logik. So wichtig ihr sozialpolitische Reformen waren, so ärgerlich empfand sie es, dass die Genossen Fürsorge- und Sozialpolitik stets als »Weibersache« abtaten.

Man kann Popp beinahe dabei zuschauen und zuhören, wie über die Jahre ihr Ärger anschwoll. 1928, in den großen Zeiten des Roten Wien, meinte sie noch, den Rückenwind der Geschichte zu spüren: »Die Frau geht ihren Weg immer weiter aufwärts, sie geht ihn heute Seite an Seite mit dem Manne. Mit Riesenschritten holt sie nach, was sie in vergangenen Jahrhunderten ohne ihre Schuld versäumt hat!«

Ein Jahr später setzte sie bereits eine Warnung ab: »Solange die Frauen nicht das Gefühl haben, in der Partei gleichwertig zu sein«, dürfe man sich nicht wundern, wenn sie die Partei nicht wählen.

1931 klang sie schon ein bisschen genervt: »Wir haben die staatsgrundgesetzlich gewährleistete Gleichberechtigung der Frau, wenn wir auch überall sehen und fühlen, wie man versucht, den Frauen von der Position, die sie sich errungen haben, wieder ein Stück wegzunehmen … wenn auch nicht direkt und auf geradem Wege«, sagte sie im Parlament.

Bis sie im Februar 1933, ebenfalls in einer Parlamentsrede, dann schon ins Grantige kippt: »Mich trifft das Schicksal, dass ich Jahr für Jahr zum gleichen Thema reden muss, ohne darauf hinweisen zu können, dass sich irgendetwas zum Günstigeren verändert hätte – im Gegenteil, ungünstiger sind die Zustände geworden!«

Sie sollte recht behalten. Ein paar Wochen später wurde das Parlament ausgeschaltet, und das Unheil des Faschismus nahm seinen Lauf. Mit ihrer Lebenserfahrung, einer scharfen Analyse der Machtverhältnisse sowie ihrem feinen Sensorium für gesellschaftliche Stimmungen hatte Adelheid Popp untrüglich gespürt, dass die Entrechtung von Menschen meistens mit der Entrechtung von Frauen beginnt. Und dass keine gesellschaftspolitische Errungenschaft in Stein gemeißelt ist, sondern täglich neu mit Leben gefüllt werden muss, um Bestand zu haben.

Wir schauen dieser Frau also ins Gesicht und haben das Gefühl, dass sie zurückschaut, über hundert Jahre hinweg, skeptisch, wachsam, unerschrocken. Was sie wohl denken würde über unsere aktuellen Konflikte, unsere Kämpfe, unsere Zweifel? Würde sie sie wiedererkennen? Würde sie lachen? Man würde sie jedenfalls gern um Rat fragen.

Katharina Prager

Adelheid Popps (fest-)geschriebenes Leben

Schreiben

Ist »Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin« eher eine Agitationsschrift oder eine Autobiografie? Diese Frage ist wahrscheinlich nie ganz zu klären und doch nicht aus dem Kopf zu verlieren. Adelheid Popp schrieb selbst, es gehe ihr darum, »zahlreichen Arbeiterinnen, die mit einem Herz voll Sehnsucht nach Betätigung lechzen, aber immer wieder zurückschrecken, weil sie sich die Fähigkeit nicht zutrauen etwas leisten zu können, Mut zu machen«. (133) Ihr Leben an sich sei dabei keineswegs etwas »individuell Bedeutsames«, erklärte sie in ihren Vorworten, im Gegenteil, es sei »das von hunderttausend Frauen und Mädchen des Proletariats«. Wenn Adelheid Popp sich selbst zum Fallbeispiel erklärte, dürfte sie kaum Wert darauf gelegt haben, ihre Geschichte faktisch korrekt zu erzählen, oder doch? Sie legte selbst offen, dass sie in der ersten Ausgabe der »Jugendgeschichte einer Arbeiterin« um ihrer Anonymität willen Spuren verwischte. Nun sind aber die Unterschiede zwischen der ersten und den späteren Ausgaben nicht sehr groß. War also tatsächlich gar nicht so viel falsch dargestellt worden oder war es ihr sogar recht, wenn eine gewisse Unklarheit darüber bestehen blieb? War sie sich bewusst, dass sie die späteren Darstellungen ihres Lebens durch diese Jugendgeschichte entscheidend mitbestimmen würde? Bis heute wird die Jugendgeschichte der Adelheid Popp fast ausschließlich in Berufung auf ihre eigenen Worte erzählt und so festgeschrieben – nicht zuletzt sicher auch deshalb, weil ihr Nachlass fast gänzlich zerstört wurde. Die Forschung konzentrierte sich naheliegenderweise vorerst auf Popps Karriere, die aus anderen Quellen gut erschlossen werden konnte. Gerade bei Frauen stehen Herkunft und Familie oft allzu zentral und es war insofern sehr legitim, diese nicht wieder in den Mittelpunkt zu stellen. All das führte allerdings dazu, dass die biografischen Daten der Frau, die als erste im österreichischen Parlament das Wort ergriff, nach wie vor meist unvollständig bis falsch vorliegen. Namen und Daten ihrer Eltern und ihrer beiden Söhne fehlen in den meisten biografischen Darstellungen, während ohne Überprüfung von fünfzehn Geschwistern ausgegangen wurde und ihr lange fälschlicherweise ein dritter Sohn (ein Politiker) zugeordnet wurde.

Auch über die Hintergründe von Popps Arbeit an ihrer Jugendgeschichte wurde bisher wenig nachgedacht. Es sei nicht einmal ihre Idee gewesen, die Geschichte aufzuschreiben, schrieb sie 1922. Ihr Kollege Adolf Braun, der 1907 als Redakteur der Arbeiter-Zeitung in Wien war, habe sie dazu angeregt, ja, habe sie geradezu überzeugen müssen. Sonst gibt es wenige Hinweise, aber tatsächlich spricht vieles dafür, dass sie den Text relativ rasch in den Jahren 1907/08 niederschrieb. Der Jänner dieses Jahres hatte mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer einen Höhepunkt der sozialdemokratischen Erfolge gebracht. Es war aber kein ungetrübter Erfolg für Adelheid Popp, die seit den 1890ern und als Erste auch öffentlich für das Frauenwahlrecht eingetreten war. Erst 1905 hatte sie sich der Parteidisziplin untergeordnet und diese Forderung zugunsten der Durchsetzung des Männerwahlrechts zurückgestellt. Das war nun also erreicht und vielleicht reizte die Idee, autobiografisch zu schreiben, Popp gerade jetzt, weil sie hoffte, dass ihre geteilten Erfahrungen erneut agitatorisch auf die Arbeiterinnen wirken würden. 1907 dürfte zugleich eine etwas ruhigere Phase in Popps Leben begonnen haben. Sie lebte als »Redakteurin und Witwe«1 mit ihren beiden Söhnen, die sieben und elf Jahre alt waren, in einer Wohnung in der Döblinger Hauptstraße 70.2 Seit fünf Jahren war sie alleinerziehend und dabei ebenso selbstverständlich wie notwendigerweise berufstätig. Einige Jahre zuvor hatte noch ihre Mutter, Anna Dwořak, bei ihr gewohnt, doch 1907 war sie bereits tot3 und das war für Popp womöglich eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt autobiografisch schreiben zu können. Diese Mutter war im Leben ihrer Tochter dauerhaft und auf durchaus ambivalente Weise präsent gewesen, und so wurde sie zu einer der wichtigsten Figuren der Jugendgeschichte. Interessant ist auch, sich zu vergegenwärtigen, dass Popps Söhne Julius und Felix um 1907 noch die Schule besuchten und damit eine ganz andere »Kindheit« erlebten als ihre Mutter, in deren Welt man mit spätestens sieben Jahren aufhörte Kind zu sein und zur Arbeitskraft wurde.

Sich vor diesem Hintergrund auf die Spurensuche zu machen und Popps autobiografische Erzählung quellenkritisch zu lesen, ihre blinden Flecken, Auslassungen und Erinnerungslücken zu finden, hat nicht zum Ziel, Adelheid Popp vorzuführen. Es geht vielmehr darum zu verstehen, wie sie auf ihre Kindheit und Jugend in Niederösterreich zurückschaute, was sie erinnerte und was nicht, was ihr selbstverständlich war und was bedeutsam. Außerdem wird dabei deutlich, wie schwer es ist, die Geschichte einer nach wie vor als »unbedeutend« geltenden Arbeiterfamilie in den Tauf-, Sterbe- und Heiratsbüchern nachzuvollziehen. Während in Inzersdorf, wo Adelheid Popp im Februar 1869 geboren wurde, heute noch Straßennamen, Denkmäler sowie das Bezirksmuseum ausführlich auf Fabriksherren wie Heinrich Drasche verweisen, blieben die Spuren der Familie Dwořak (auch Dworschak oder Dvorak) quasi unsichtbar.4 Die folgende Skizze ist ein Versuch, auf Basis der inzwischen digital zugänglichen Pfarrbücher sowie wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Arbeiten ein neues Bild als Ergänzung zum (fest-)geschriebenen Leben der Adelheid Popp zu gewinnen. Nicht alle Funde waren überraschend, nicht alle Fragen konnten letztgültig geklärt werden. Doch diese Daten führen uns – auf einem anderen Weg als der Text – auf eine Zeitreise in die sich industrialisierende Gegend um den Wienerberg.

Leben

Am Montag, dem 15. Februar 1869 wurde ausnahmsweise nur ein Kind in der Pfarrkirche St. Nikolaus, im Zentrum von Inzersdorf, getauft. Normalerweise taufte der Pfarrprovisor Jacob Prigl, der seit drei Monaten den Pfarrer vertrat, drei bis vier Kinder an einem Tag. Dieses war das fünfte Kind, das der damals dreiundfünfzigjährige Webergeselle Adalbert Dwořak und seine fünfundvierzigjährige Frau Anna zur Taufe in die Inzersdorfer Pfarrkirche trugen, seit sie – wahrscheinlich um 1858 – nach Inzersdorf gezogen waren. Taufpatin war Magdalena Pavlik, eine »Webersehegattin« aus Inzersdorf Nr. 141. Sie hatte bereits im Februar 1867 die Patenschaft für die erste Tochter des Paares, die nunmehr zweijährige Magdalena, übernommen. Wie die meisten anderen Patinnen im Taufbuch konnte Frau Pavlik nicht schreiben. Sie setzte drei Kreuze neben ihren Namen im Taufbuch, den der Lehrer Karl Wurst als »Namensfertiger« hineingeschrieben hatte. Karl Wurst war vermutlich ein Sohn des in Inzersdorf bekannten und sehr aktiven siebenundsechzigjährigen Oberlehrers Franz Wurst, der – wie auch sein Nachfolger Georg Freund – die Bildungsangelegenheiten der Gemeinde verwaltete. Nur wenige Wochen nach dieser Taufe sollte das neue, fortschrittliche Reichsvolksschulgesetz in Kraft treten, das die achtjährige Schulpflicht und die Abschaffung des Schulgelds brachte. Die Aufgabe der Oberlehrer war es auch, dafür zu sorgen, dass die Arbeiterkinder in die Schule und nicht in die Arbeit gingen – und das führte zu Konflikten.

Doch bleiben wir vorerst bei der Taufgesellschaft. Das erst vier Tage alte Mädchen wurde auf den Namen Adelheid getauft – ein Name, den vorher noch niemand in ihrer Familie getragen hatte, obgleich es durchaus üblich war, Namen mehrfach zu vergeben und durch Namen zu bekannten Personen in Beziehung gesetzt zu werden. Die Eltern und die Patin hatten – wahrscheinlich ohne die fünf Geschwister des Säuglings, die zwischen zwei und zwölf Jahren alt waren – die etwa eineinhalb Kilometer von ihren Häusern an der heutigen Triester Straße ins dörfliche Zentrum von Inzersdorf in der Winterkälte zurückgelegt. Inzersdorf war in den vergangenen zwei Jahrzehnten rasch angewachsen – die Hausnummern über 100 verwiesen auf die Arbeiterwohnungen, die in großer Anzahl »an der Straße« zu den Wienerberger Ziegelwerken gebaut worden waren. Die Bewohnerinnen und Bewohner des nach wie vor ländlich idyllischen »Dorfes« grenzten sich nicht nur sprachlich von dem dort wie auf einer Insel lebenden Industrieproletariat, den sogenannten »Straßlern« oder »Ziegelböhm«, nach Kräften ab. Man klagte, dass der Adel aufgrund der verpesteten Luft nicht mehr auf Sommerfrische komme, man hatte Vorurteile: Diebisch seien die dort, moralisch verkommen und nicht zuletzt in Bezug auf Sanität ließen »diese Massenquartiere freilich noch manches zu wünschen übrig«. Machen könne man aber wenig gegen diese Missstände, aufgrund der »besonderen Eigenschaften der Arbeiterbevölkerung, mit welchen hier gerechnet werden muss«. Letzteres steht in der Festschrift der Ziegelwerke aus dem Jahr 1873.

Spätestens in den 1850er Jahren, mit dem Bau des Wiener Arsenals, hatten die – um 1820 von dem mährischen Unternehmer Alois Miesbach übernommenen – Wienerberger Ziegelwerke zu boomen begonnen und waren mit etwa viertausendfünfhundert Arbeiterinnen und Arbeitern bald die größte Ziegelfabrik des Kontinents. Die Mechanisierung der Arbeit ging allerdings nur langsam voran – auch deshalb, weil die Arbeiterinnen und Arbeiter aus den bäuerlichen Gegenden in Böhmen und Mähren so billig waren. Die Pfarrmatriken von Inzersdorf sind voll mit slowakischen und tschechischen Namen wie eben Dwořak und Pavlik – Menschen, die in dieser Zeit zu Hunderten nach Inzersdorf kamen, um hauptsächlich in den Ziegelfabriken zu arbeiten. Während die sozialen Einrichtungen des patriarchal und feudal geprägten Alois Miesbach in Form von Wohnhäusern, Krankenhäusern und einer »Kinderbewahrungsanstalt« etc. noch durchaus bemerkenswert waren, begann sein Erbe Heinrich Drasche, der ab 1857 das Unternehmen leitete, schon viel klarer ein kapitalistisches Unternehmertum umzusetzen, dem es vornehmlich um Produktionssteigerung ging. Bis etwa 1867 waren die Lebens- und Arbeitsbedingungen noch tragbar, ja, verbesserten sich sogar, doch in den folgenden Jahren zeigt eine hohe Sterberate (wie auch eine erneut sehr hohe Kindersterblichkeit), dass es zu einer deutlichen Verschlechterung der Umstände gekommen war. Die zunehmend verschärfte Ausbeutung und daraus resultierende soziale Not hatte nicht zuletzt mit dem Übergang der Wienerberger Ziegelfabriks- und Baugesellschaft in den Besitz einer Aktiengesellschaft im Geburtsjahr von Adelheid Dwořak zu tun. Inzersdorf war zwar nicht Manchester, doch »die Straße« zu den Werken mit ihren Satellitensiedlungen kam wohl den Vorstellungen am nächsten, die schlagwortartig mit der Industrialisierung im frühen 19. Jahrhundert assoziiert werden: Schmutz, Rauch, Gestank und Lärm der Fabriken, ununterbrochene Aktivität Tag und Nacht, schlecht gekleidete, erschöpfte, betrunkene, kranke Menschen, eine tägliche Arbeitszeit von zwölf bis sechzehn Stunden, Seuchen, Verletzungen aller Art, Unbildung, Gewalt, unbetreute, oft ungewollte Kinder, selbstverständliche Kinderarbeit und Frauen, die so hart wie Männer arbeiteten und noch die Hausarbeit und Kinderversorgung erledigen mussten. Friedrich Engels beschrieb 1844 in »The Condition of the Working Class in England« die Rohheit des Lebens in Manchester. Etwa vierundvierzig Jahre später verschaffte sich Victor Adler heimlich Zutritt zu den Werken und Wohnungen der Ziegelarbeiter und Ziegelarbeiterinnen in Inzersdorf und beschrieb deren Elend in ähnlichen Worten und Bildern:

»Der Hunger und das Elend, zu dem sie verdammt sind, wird noch entsetzlicher durch die Wohnungen, in welche sie von der Fabrik […] zwangsweise eingepfercht werden. […] In einem dieser Schlafsäle, wo 50 Menschen schlafen, liegt in einer Ecke ein Ehepaar. Die Frau hat vor zwei Wochen in demselben Raum in Gegenwart der 50 halbnackten, schmutzigen Männer, in diesem stinkenden Dunst entbunden! Sprechen wir nicht von der Schamhaftigkeit, sie ist ein Luxus, den sich nur die Besitzenden gestatten können. Das Leben der Mutter ist durch eine Geburt unter solchen Umständen bedroht. Aber was liegt an einem armen Weibe!«

Es ist interessant, dass Adelheid Popp, obwohl sie mitten unter ihnen lebte, die Ziegelarbeiterinnen und Ziegelarbeiter, die den Kern der Inzersdorfer Unterschicht bildeten, in ihren Erinnerungen nicht erwähnt. Das könnte daran liegen, dass diese durch die Unterstützung Victor Adlers zur Zeit der Entstehung der Autobiografie bereits gewerkschaftlich viel durchgesetzt hatten und kein brennendes Thema mehr waren. In ihrem Inzersdorf kommen sie jedenfalls nicht vor, obgleich die Weberfamilie Dwořak im Haus 163 an »der Straße« (Triester Straße) inmitten der Lebenswelt der Fabrik wohnte, wo nichts verborgen blieb und die Erfolge und Niederlagen der Bewohner inmitten einer unübersichtlichen Umgebung für alle Nachbarn stets sichtbar waren.

Und so stellt sich auch die Frage, ob Adelheid Popps Geburt am 11. Februar 1869 ähnlich aussah wie jene, die Victor Adler später beschrieb? Wahrscheinlich ist es nicht. Die Familie dürfte zwar kein Haus, aber doch ein Zimmer für sich allein bewohnt haben. Abseits der geprüften Hebamme Franziska Kaurzil waren also wohl hauptsächlich Familienmitglieder anwesend, als Anna Dwořak ihr letztes Kind auf die Welt brachte. Möglicherweise waren der zwölfjährige Bruder Carl Wenzl5 und der zehnjährige Engelbert6 bereits arbeiten und der siebenjährige Franz7 in der Schule. Der fünfjährige Albert8 und die zweijährige Magdalena9 waren vielleicht bei Nachbarn, vielleicht aber auch nicht. Immerhin war es Anna Dwořaks zwölfte nachweisbare Geburt. Ihre Tochter schrieb später, dass sie »unter schrecklichen Verhältnissen alle zwei Jahr ein Kind geboren hatte, das sie dann sechzehn bis achtzehn Monate an ihrem Busen nährte, um länger vor einem neuen Wochenbett bewahrt zu bleiben«. (123f.) Die religös-puritanisch wirkende Anna Dwořak wusste also offenbar einiges über Emfängnisverhütung, soweit diese im 19. Jahrhundert gegen kirchliche und politische Widerstände praktiziert werden konnte. An anderer Stelle sprach Adelheid Popp auch von sich als dem fünfzehnten Kind, das ihre Mutter »im Alter von 47 Jahren« geboren habe. (67) Folgt man den Pfarrmatriken, so war Anna Dwořak zwei Jahre jünger und es lassen sich insgesamt »nur« zwölf Kinder nachweisen – eines davon verstarb »gleich nach der Geburt« oder war womöglich sogar eine Totgeburt, die allerdings wie üblich falsch ausgewiesen wurde, um noch eine Nottaufe und ein kirchliches Begräbnis zu ermöglichen.10