Bisher vom Autor bei KBV erschienen:
»Somniferus«
»Hexennacht«
»Das Schattenbuch«
»Hinter der Maske«
»Janus«
Michael Siefener, geb. 1961 in Köln, studierte Rechtswissenschaft und promovierte 1991 über rechtliche Fragen der Hexenprozesse. Seit 1992 ist er freier Autor und Übersetzer. Er lebt und arbeitet heute in Manderscheid/Eifel und Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem im Bereich der phantastischen Literatur. Seit einigen Jahren Mitarbeit an einer geplanten Geschichte der Zauberbücher unter Federführung von Prof. Dr. Marco Frenschkowski, Universität Leipzig.
SCHWARZE EIFEL
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Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
eISBN 978-3-95441-496-3
Für Andrea
(1960 - 2002)
Für Dein Lachen,
Deine Tapferkeit,
Deinen Mut
und Deine Liebe.
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Epilog
Nein, ich glaube nicht an Gespenster, nicht an Übersinnliches und Unerklärbares, doch das, was ich erlebt habe, ist so rätselhaft und verstörend, dass ich mir einfach keinen Reim darauf machen kann. Deshalb habe ich mich entschlossen, die ganze Geschichte niederzuschreiben; vielleicht kann ich auf diese Weise für mich selbst etwas Klarheit in die Sache bringen.
Alles begann mit einem verheißungsvollen Brief. Schon als ich den Absender sah, schlug mein Herz schneller. Ich war wie jeden Tag kurz nach zehn Uhr morgens die vier Stockwerke von meiner winzigen Kölner Dachwohnung hinunter zum Briefkasten gegangen, weil ich – wiederum wie jeden Tag – gehofft hatte, wichtige Post zu erhalten. Wenn man Schriftsteller ist, hofft man immerzu, dass endlich der erlösende Brief von einem der vielen Verlage kommt, denen man seine Manuskripte geschickt hat – der erlösende Brief, an den ein Verlagsvertrag angehängt ist, der einem wenigstens für ein oder zwei Jahre ein von materiellen Sorgen befreites Leben garantiert. Und plötzlich wird der Briefträger der wichtigste Mensch im eigenen Leben – vor allem, wenn man so zurückgezogen und ungesellig dahinvegetiert wie ich. Unnötig zu sagen, dass auch an jenem Morgen nicht der heiß ersehnte Vertrag in meinem zerbeulten Briefkasten lag; nein, es war ein anderes Schreiben, das mich allerdings in nicht minder helle Aufregung versetzte. Der Absender lautete: Notar Heinrich Harder, Abt-Richard-Straße 12, 54550 Daun. Dieser Harder war mir zwar unbekannt, aber nicht weit von Daun entfernt wohnte in dem winzigen Eifelstädtchen Manderscheid mein Erbonkel Jakob Weiler, den ich sofort mit dem hoch amtlich aussehenden Schreiben in Verbindung brachte. Ich muss es schamhaft gestehen: Mein erster Gedanke war, dass Onkel Jakob etwas zugestoßen und ich nun der Erbe seines kleinen Vermögens geworden sein könnte. Ich vermochte nicht zu warten, bis ich wieder in meiner engen Wohnung war; also riss ich den zartblauen Umschlag noch im Treppenhaus auf und las die wenigen Zeilen.
Der Inhalt des Briefes war erregend und enttäuschend zugleich.
Notar Harder bat mich, ihn so rasch wie möglich in seiner Dauner Kanzlei aufzusuchen; eine Erklärung für diese Bitte gab er nicht. Gerade als ich den Brief wieder zusammenfaltete, streckte die alte Müller aus dem zweiten Stock ihren verrunzelten Kopf zur Tür heraus und verzog den zahnlosen Mund zur Karikatur eines Grinsens. Auch das gehörte zum allmorgendlichen Ritual in diesem Haus, von dem ich manchmal den Eindruck hatte, es sei von lauter Verrückten bewohnt, die sich bei einem Anstaltsausflug von der Truppe entfernt und danach gemeinsam ein ganzes Haus in der Kölner Liebigstraße besetzt hatten. Was konnte es Schöneres geben, als diesem Panoptikum wenigstens für einen oder zwei Tage den Rücken zu kehren?
Wie zur Bestätigung meines Wunsches erschien nun Herr Grausner aus dem dritten Stock auf der Treppe – er wohnte unter mir und klopfte manchmal mit dem Besenstiel an seine Zimmerdecke, wenn ich wieder meine »Negermusik«, wie er es nannte, abspielte. Aber bei seinen eigenen »Übungen« am Klavier, die so klangen, als würde eine Katze lebend durch einen Fleischwolf gedreht werden, kannte er nicht die geringsten Hemmungen. Seit ich ihn einmal auf diese Vergewaltigungen der Gehörgänge angesprochen hatte, war zwischen uns eine solide Feindschaft entstanden; daher würdigte er mich keines Blickes, als er an mir vorbeiging. Frau Müller, deren Kopf noch immer wie abgetrennt zwischen Tür und Rahmen schwebte, schleuderte er ein munteres: »Hol dich der Teufel, alte Vettel!« entgegen. Ich war nicht der Einzige, der den Umgang mit Herrn Grausner als etwas schwierig empfand.
Als ich mich wieder in den Hafen meiner Wohnung gerettet hatte, verlor ich keine Zeit. Ich packte einen alten, abgeschabten Koffer, der noch von meinem Großvater stammte und einfach unzerstörbar war, mit dem Nötigsten für eine zweitägige Weltreise, kratzte aus Hosentaschen, Schubladen, Aktentaschen, Strümpfen und Kaffeedosen meine letzten Groschen zusammen und machte mich auf den Weg zum Bahnhof.
Die Reise nach Daun war ein echtes Abenteuer. Die Bahn AG zeigte sich wieder mal von ihrer besten Seite und brachte mich mit einer Verspätung von nur einer knappen Stunde nach Wittlich-Wengerohr, wo ich wiederum eine knappe Stunde auf den Bus nach Daun warten musste. Also blieb mir genug Zeit für tiefe Betrachtungen über meinen Onkel Jakob, über Sterblichkeit (in Gedanken hatte ich ihn schon unter die Erde verfrachtet) und Ewigkeit (eine Horror-Vorstellung für mich), über den Wert von Sein und Zeit und vor allem den Wert einer warmen Mahlzeit.
Man mag mich hartherzig nennen, weil ich so abfällig über meinen Onkel dachte, aber zu meiner Entlastung möchte ich anfügen, dass er wirklich ein wahres Biest war. Er war der jüngere Bruder meiner Mutter und hatte ihr zwei Dinge nie verziehen: erstens, dass sie unter ihrem Stand geheiratet hatte (mein Vater stammte aus einer in Deudesfeld ansässigen Bauernfamilie) und mit ihrem Mann in das Sündenbabel Köln gezogen war, und zweitens, dass sie sich fünf Jahre nach meiner Geburt von meinem Vater getrennt hatte. Sie war immer wieder von meinem alten Herrn geschlagen worden; er hatte sie gedemütigt und auf alle erdenklichen Arten misshandelt, und schließlich hatte sie es nicht mehr aushalten können. Verwunderlich, dass sie so spät die Konsequenzen aus dieser unerträglichen Situation gezogen hat. An meinen Vater habe ich somit nur sehr verschwommene Erinnerungen: Ich sehe ihn wie einen schwarzen Berg vor mir aufragen, einen Ledergürtel wie einen zitternden Tentakel in der Hand, und ich höre die hohen Schreie meiner Mutter und ihr Weinen und Wimmern. Und ich spüre noch immer das Brennen auf meinem Rücken, wo mich der Gürtel jedes Mal traf.
Du darfst die Familienehre nicht beschmutzen, hatte Onkel Jakob damals zu meiner Mutter gesagt, als sie sich Hilfe suchend an ihn gewandt hatte. Jedenfalls hat sie mir gegenüber diese Antwort ihres Bruders bis zu ihrem frühen Tod vor acht Jahren fast jeden Tag entrüstet und traurig zugleich wiederholt. Du hast ihn geheiratet und damit vor Gott einen Bund mit ihm geschlossen, den nur Gott selbst lösen kann, hatte Onkel Jakob bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen wir ihn in Manderscheid besuchten, stets hinzugefügt. Onkel Jakob musste es wissen, denn er war schließlich lange Zeit Priester und Pfarrer des Ortes gewesen.
Mir war er immer wie ein alttestamentarischer Patriarch vorgekommen – feuerlodernd und zürnend. Als kleines Kind hatte ich Angst vor ihm gehabt. Aber seltsamerweise schien er mich zu mögen. Aus diesem Jungen wird einmal etwas ganz Besonderes, pflegte er zu sagen und mir dabei mit seiner feingliedrigen Hand über das störrische Haar zu streichen; es war eine beinahe zärtliche Geste – die menschlichste, zu der er fähig war. Doch auch diese mir unerklärliche Zuneigung konnte nicht verhindern, dass sich meine Angst vor ihm in Abscheu wandelte, als ich älter wurde. Ich begleitete meine Mutter immer seltener, wenn sie auf der Suche nach ihrer Vergangenheit in die Eifel und zu ihrem Bruder fuhr; stets kehrte sie mit verheulten Augen zurück.
Als Mutter starb, hielt es Onkel Jakob nicht einmal für nötig, zu ihrer Beerdigung nach Köln zu kommen. Das konnte ich ihm einfach nicht verzeihen. Seit jener Zeit hatte ich ihn nicht wiedergesehen und auch kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Um ehrlich zu sein: Ich hatte ihn so gründlich aus meiner Welt entfernt, dass ich ihn vergessen hatte. Bis zu jenem Tag, an dem das Schreiben des Notars in meinem Briefkasten lag.
Schließlich kam der Bus, der sich zu meiner Überraschung als recht modernes Gefährt herausstellte. Dafür aber grenzte der Fahrpreis an Wegelagerei. Ich setzte mich in die hinterste Reihe und nahm mir vor, die Fahrt möglichst intensiv zu genießen.
Wie lange war ich nicht mehr in der Eifel gewesen! Ich betrachtete aufmerksam die Gegend, durch die wir fuhren. Zuerst war es eine langweilige, breite Straße, die nach Wittlich führte. Dann war es ein Gefühl aus behaglicher Ruhe und gleichzeitiger Lebendigkeit, als der Bus den Ort durchquerte. Und schließlich war es wie ein Eintauchen in eine Welt, die nur in meinen Träumen und Geschichten existiert. Die Straße führte über die Orte Minderlittgen und Großlittgen, vorbei an dichten Wäldern und über Höhenzüge, von denen aus man einen weiten Blick in das Land hatte. Doch dann stürzte sie in ein enges Tal und schlängelte sich in vielen Serpentinen hinunter in den dunklen und feucht wirkenden Grund, in dem Welt und Traum zu einem Ende gekommen zu sein schienen. Erst als der Bus langsam und brummend wieder in die Höhe stieg, wich die seltsame Beklemmung, die mich in diesem Talgrund befallen hatte. Nach ungeheuer steilen und engen Kurven, die eher in die Alpen als in die Eifel passten, erreichte der Bus die Höhe; der Wald wich zu beiden Seiten zurück und machte Feldern Platz, über die sich links in einiger Entfernung der Mosenberg erhob, dessen charakteristischen Kraterkegel ich sofort wiedererkannte. In der Ferne waren schon die ersten Häuser von Manderscheid zu sehen, einem der vielen Orte auf der Strecke nach Daun.
Verwundert stellte ich fest, dass es für mich fast wie eine Heimkehr war. Wie eine Heimkehr aus der Verbannung. Ich war als Kind und Jugendlicher nicht oft in Manderscheid gewesen, doch die Erzählungen meiner hier geborenen und aufgewachsenen Mutter waren für mich noch immer wirklicher, als es eigene Erinnerungen hätten sein können.
Der Bus streifte den Ort nur. Ich sah, dass man am Ceresplatz einen Kreisverkehr angelegt hatte, um den sich das lange Gefährt mühsam herumwand, um dahinter nach links in die bergauf führende Dauner Straße einzubiegen und kurz darauf an dem kleinen Wartehäuschen anzuhalten, neben dem zwei ältere Frauen standen. Die vordere Tür des Busses glitt zischend zur Seite, die Frauen stiegen ein und wechselten mit dem Fahrer ein paar Worte in Eifeler Platt. Obwohl ich nichts davon verstand, empfand ich ein Glücksgefühl, das mich verwirrte.
Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl.
Bald hatte der Bus wieder die Hochfläche erreicht, von der ich als Kind so gern in die Richtung des Liesertales hinabgerodelt war, wenn wir im Winter auf einige Tage zu Besuch bei Onkel Jakob waren. Er hatte mir dann immer den alten Schlitten geliehen, der das ganze Jahr über in der Scheune neben seinem Haus an der Wand hing, aber nicht ohne mir einzuschärfen, dass ich vorsichtig mit diesem alten Museumsstück umgehen sollte; wenn er zu Bruch gehe, würde ich dafür in der Hölle schmoren. So, wie er das sagte, glaubte ich es ihm aufs Wort. Daher waren meine Rodelpartien stets mit einer gehörigen Portion Angst durchsetzt gewesen.
Bleckhausen, Üdersdorf, dann hinunter nach Weiersbach. Und immer wieder der Gedanke an das, was mich erwarten mochte. Geld, ein sorgenfreies Leben? Oder etwas völlig anderes, Unvorhersehbares? Je näher der Bus Daun kam, desto nervöser wurde ich.
Im Ortszentrum von Daun stieg ich aus, gleich neben der Post. Ich hatte keine Ahnung, wo die Abt-Richard-Straße war; also fragte ich den erstbesten Passanten, der in seiner Bundhose und seinem karierten Hemd wie ein Einheimischer aussah. Zu meiner Enttäuschung handelte es sich jedoch um einen ortsunkundigen Kölner Wanderfreund.
Erst beim dritten Versuch geriet ich an einen Dauner, der eher wie ein großstädtischer Versicherungsagent wirkte. Er erklärte mir, dass ich bereits in der Abt-Richard-Straße sei und die Nummer 12 sich etwas weiter bergauf befinde, noch hinter dem Fernsehgeschäft. Bald stand ich vor dem zweistöckigen, weiß getünchten Haus, neben dessen Tür ein frisch geputztes Messingschild mit folgender Aufschrift hing:
Heinrich Harder
Notar
Termine nach Absprache
Ich hatte mein Ziel erreicht. Zumindest glaubte ich das damals.
Die Sekretärin wusste sofort, worum es ging. Sie bat mich, einen Augenblick im Vorzimmer zu warten, bot mir einen komfortablen Sessel an und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Ich beobachtete sie verstohlen. Sie war unbestreitbar hübsch. Ob sie naturblond war? Einmal sah sie auf und unsere Blicke kreuzten sich. Sofort brannte auf meinen Wangen ein mir nur zu gut bekanntes Feuer. Angestrengt betrachtete ich meine nicht mehr ganz sauberen Fingernägel. Dann öffnete sich die Tür rechts neben dem Schreibtisch der Sekretärin und ein mittelgroßer Mann um die fünfzig kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Er trug einen dunkelblauen Zweireiher mit Nadelstreifen, die dasselbe Silbergrau wie sein glatt nach hinten gekämmtes, volles Haar hatten.
Mit einer dunklen, angenehmen Stimme sagte er: »Sie sind Ralf Weiler? Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, auch wenn der Anlass leider nicht sehr erfreulich ist.«
Ich stand auf und ergriff seine ausgestreckte Hand. Sie war kalt, der Händedruck fest.
»Kommen Sie bitte mit in mein Büro.« Er ließ mir den Vortritt und schloss die Tür hinter uns. Dann wies er auf einen Sesselkubus, der unmittelbar vor dem schwarzen, polierten Schreibtisch stand. »Bitte setzen Sie sich.«
Ich folgte seiner Aufforderung und warf einen kurzen Blick in die Runde, während sich der Notar hinter seinem Schreibtisch niederließ.
Alles hier atmete Gediegenheit und Geld, allerdings ohne protzig zu wirken: die bücherstarrenden Regale an den Wänden, die zwei Ölgemälde, die Landschaftsszenen aus der Eifel darstellten und unschwer als Werke Fritz von Willes zu erkennen waren, der alte, dicke Perserteppich, die seidenen Fenstervorhänge mit stilisiertem Lilienmuster …
»Es freut mich, dass Sie Zeit finden und so schnell kommen konnten«, sagte Harder und holte mich damit in die Gegenwart zurück. Er lächelte mich an.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Schließlich hatte ich immer Zeit, denn ein erfolgloser Schriftsteller besitzt keinen Terminkalender. Die wichtigsten Termine sind für ihn die monatliche Überweisung der Sozialhilfe und des Wohngeldes, aber das brauchte ich dem Notar nicht auf die Nase zu binden. Also schwieg ich und wartete ab, was Harder mir mitzuteilen hatte.
Endlich fuhr er fort: »Vielleicht haben Sie es sich schon gedacht: Es geht um Ihren Onkel Jakob Weiler.«
»Was ist mit ihm?« Plötzlich spürte ich widerstrebende Gefühle in mir. Bisher hatte ich mir ausgemalt, wie schön es wäre, sein Erbe zu sein, doch was war, wenn er wirklich nicht mehr lebte? Er war schließlich mein letzter Verwandter.
»Es ist eine etwas merkwürdige und verwirrende Angelegenheit«, sagte Harder, faltete die Hände und sah aus dem Fenster. Eine Amsel saß in der Birke, deren dünne Zweige bis an die Scheibe heranreichten, und zwitscherte lautstark. Dann flog sie unvermittelt unter lautem Protestgeschnatter davon. Irgendetwas hatte sie gestört. Eine Katze? »Wie Sie vielleicht wissen, war ich so etwas wie ein Freund Ihres Onkels.«
Ein vager, von juristischer Vorsicht geprägter Ausdruck. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Onkel Jakob echte Freunde gehabt hatte. Eher »so etwas wie Freunde«. Seine Gemeinde wird ihn mehr gefürchtet als geliebt haben. Seit seiner Pensionierung vor ein paar Jahren muss sein Leben sehr einsam gewesen sein, schoss es mir durch den Kopf. Paradoxerweise stellten sich bei mir Schuldgefühle ein.
Nach einer längeren Pause redete Harder weiter: »Ich war sein Berater in juristischen Angelegenheiten.«
»War?«, fragte ich vorsichtig.
»Das Ganze ist auch für mich sehr verwirrend und unverständlich«, sagte Harder. »Ich kannte Ihren Onkel persönlich – wenn man ihn überhaupt kennen konnte, denn Sie wissen ja, dass er eine recht verschlossene Person war.«
Ich nickte.
»In der letzten Zeit hatte sich sein Verhalten verändert. Ich bemerkte Züge an ihm, die mir vorher fremd gewesen waren. Er wurde ängstlich und nervös; es war, als lauere er auf etwas. Immer wieder sprang er auf und lief im Zimmer umher, dann lauschte er, als erwarte er, von fern ein bestimmtes Geräusch zu hören. So ging es eine Weile, ohne dass ich den Grund für sein Verhalten herausfinden konnte. Und die Angst in seinem Blick! Einmal habe ich es gewagt, ihn auf sein merkwürdiges Verhalten anzusprechen, doch ich erhielt eine harte Abfuhr. Und dann kam der Tag, an dem er mich anrief und mit einem unerträglichen Flehen in der Stimme anbettelte, ich möge sofort zu ihm kommen.« Harder sah mich an und schüttelte den Kopf.
»Was wollte er denn von Ihnen?«, fragte ich ungeduldig. Ich saß wie auf einem glühenden Bratrost.
»Das ist das Merkwürdigste an der ganzen Sache«, meinte Harder. Er schaute noch immer in meine Richtung, aber jetzt blickte er wie durch mich hindurch. »Er sagte, er wolle sein Testament machen.«
»Was ist daran merkwürdig?«, wollte ich wissen und rutschte unruhig auf dem bequemen Ledersessel hin und her.
»Streng genommen gar nichts«, gab der Notar zu. »Aber das, was er mir sagte, während ich sein Testament formulierte, ist dafür umso merkwürdiger. Das Testament selbst war sehr einfach und bestand eigentlich nur aus einem einzigen Satz. Als ich jedoch hörte, was Ihr Onkel vorhatte, musste ich ihn darüber aufklären, dass ein Testament nicht die richtige Form war. Ich habe natürlich mit allen Mitteln versucht, ihn von seiner Entscheidung abzubringen, aber Sie selbst wissen bestimmt noch besser als ich, wie halsstarrig er war.«
Wusste ich das? Was wusste ich schon?
»Es war also unmöglich, ihn umzustimmen, und deshalb habe ich ihm vorgeschlagen, Vollmachten auszustellen und mir zu übergeben.«
Ich hielt es nicht mehr aus. »Nun reden Sie doch nicht so lange um den heißen Brei herum! Was ist denn passiert?«
»Ich verstehe Ihre Unruhe. Die Antwort ist: Ich weiß selbst nicht genau, was passiert ist. Ihr Onkel hat mir an jenem Tag gesagt, dass er gedenke, Selbstmord zu begehen.«
»Selbstmord?« Ich war entsetzt und verwirrt. Das klang gar nicht nach Onkel Jakob.
»Ich war genauso erschrocken wie Sie. Wie gesagt, habe ich versucht, ihn von diesem irren Plan abzubringen, doch es war unmöglich. Er sagte, er habe bereits alles arrangiert, seine Leiche werde man allerdings niemals finden.«
»Was soll denn das bedeuten?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber dieser Umstand veranlasste mich dazu, von einem Testament Abstand zu nehmen, denn wenn keine Leiche existiert, kann auch kein Totenschein ausgestellt werden; daher gilt die betreffende Person von Gesetzes wegen nur als verschollen. Erst zehn Jahre nach der Feststellung des Verschollenseins kann ein Totenschein beantragt werden. Das war Herrn Weiler zu lange und deshalb hat er schließlich die Vollmachten ausgestellt.«
Ich verstand kein Wort mehr. Warum wollte Onkel Jakob sich umbringen? Und warum so, dass man seine Leiche niemals finden würde? Hatte er seine Drohung wahr gemacht? Was steckte dahinter? Mir lief es kalt den Rücken hinunter.
Der Notar zog eine Schublade seines Schreibtischs auf und holte einige Papiere hervor. »Es war Jakob Weilers Wille, dass Sie als sein einziger noch lebender Verwandter in den Genuss all dessen kommen sollen, was ihm gehörte.« Er nahm zwei BKS-Schlüssel aus einem ansonsten leeren Umschlag und schob sie mir zu. »Das ist der Haustürschlüssel in zweifacher Ausfertigung.« Aus einem anderen Umschlag zog er einen weiteren Schlüssel; dieser war altertümlich, klobig und angerostet. »Und das ist der Schlüssel zum Scheunentor. Alle anderen Schlüssel stecken in den Türen innen im Haus. Ihr Onkel hat wirklich an alles gedacht.« Er schluckte; es war ihm deutlich anzumerken, dass ihm die ganze Sache nahe ging. »Das Haus ist nicht Ihr Eigentum, das heißt, Sie können es nicht verkaufen und sich nicht als Eigentümer im Grundbuch eintragen lassen. Das wird erst im Erbfall, also in zehn Jahren möglich sein. Aber das ist in unserem Fall ja nur eine Formalie.« Er drehte den Scheunenschlüssel nachdenklich einige Male in den Händen herum, bevor er ihn mir übergab.
Ich steckte die drei Schlüssel in die Außentasche meiner Windjacke. Sie fühlten sich gut an. Aber trotzdem war ich weit davon entfernt, zufrieden zu sein. Die Situation war einfach zu verworren.
Harder öffnete einen weiteren Umschlag und entfaltete einige Blätter. »Das hier sind eine Bankvollmacht für Jakob Weilers Guthaben bei der Kreissparkasse Manderscheid sowie ein Kontoauszug und sein Sparbuch.« Er reichte mir alles herüber.
Ich warf einen Blick auf die Zahlen. Auf dem Konto befanden sich nur noch 250 Euro, doch als ich das Sparbuch aufschlug, wurde mir schwindlig. Ich wusste, dass Onkel Jakob immer sehr knauserig gelebt hatte. Aber dass man als Priester so viel Geld sparen konnte, hatte ich nicht gewusst. Es war knapp eine halbe Million – genug für ein sorgenfreies Leben, wenn ich vorsichtig damit umging. Ein dreifaches Hoch auf den guten, alten Onkel Jakob – was immer aus ihm geworden sein mochte. »Ist er denn wirklich – verschwunden?«, fragte ich mit belegter Stimme.
Harder nickte. »Schon einen Tag, nachdem ich bei ihm zu Besuch war und er diese Vollmachten ausgestellt hat. Das war vor einem Monat, wie Sie an dem Datum der Vollmacht sehen können. Ich wollte erst ganz sichergehen, dass er es sich nicht doch noch anders überlegt hat und wieder auftaucht, bevor ich mit Ihnen Kontakt aufgenommen habe. Aber es scheint, dass er seinen Plan ausgeführt hat.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie … auf welche Weise …«
Der Notar schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Vorstellung davon. Ich weiß nur eines: Dies hier ist noch viel seltsamer, als wir es uns jetzt vorstellen können.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
Harder sah mich an. In seinem Blick lag ein merkwürdiges Flehen – fast als wolle er sich bei mir für etwas entschuldigen. Für was? Die ganze Sache wurde immer undurchsichtiger. »Ich will gar nichts damit andeuten«, murmelte er ausweichend.
»Wissen Sie nicht vielleicht doch mehr, als Sie mir sagen wollen – oder sagen dürfen?«
Darauf gab er keine Antwort.
»Nun bin ich also reich«, sagte ich, »aber ich bin es auf eine Art und Weise geworden, die mir nicht sehr lieb ist. Für meinen Geschmack weben sich zu viele Geheimnisse um mein neues Vermögen.«
Es wirkte, als gebe sich Harder einen Ruck. Er setzte sich plötzlich gerade in seinem Sessel auf, strich mit der Hand über die dichten, silbernen Haare und sagte leise: »Es bleibt Ihnen noch immer die Wahl. Sie müssen dem Willen Ihres Onkels nicht folgen.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Sie müssen seine Verfügungen nicht annehmen. Sie haben immer noch die Freiheit, jetzt aufzustehen, sich von mir zu verabschieden und nach Köln zurückzureisen.«
»Würden Sie mir dazu etwa raten? Ein Haus und eine halbe Million Euro in den Wind zu schreiben und mein elendes Leben weiterzuführen?«
Der Notar saß wie eine Statue da. Nichts an ihm zeigte, dass er noch lebte. Kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Er war der perfekte Pokerspieler. Ich überlegte. Nun gut, die Umstände waren mehr als seltsam. Aber heißt es nicht, dass sich das Glück manchmal absonderlicher Wege bedient? Sollte ich wirklich mein Glück von mir stoßen? Sollte ich als verkannter Schriftsteller weiterleben und jeden Morgen bang vor Hoffnung und Angst zum Briefkasten schleichen? Sollte ich weiter die Klavierstunden des Herrn Grausner, das dreckige Lachen der Frau Müller und die Ekelhaftigkeiten all der anderen Hausbewohner ertragen? Hier bot sich die einmalige Gelegenheit, aus meinem Leben – und aus mir selbst – auszubrechen, und war es nicht das, was ich mir in meinen verrücktesten Träumen immer vorgestellt hatte? Nun gut, ich hatte in diesen Träumen mein Ziel auf völlig anderen Wegen erreicht, aber sagt man nicht auch, dass Gottes Wege unergründlich sind?
Ich tastete in der Tasche meiner Windjacke nach den drei Schlüsseln. Sie fühlten sich so gut an, schienen geradezu in meine Hand zu springen und sich an die Haut zu schmiegen. In ihnen – und in der Bankvollmacht – lag meine Zukunft.
Aber was für eine Zukunft würde es sein? War sie wirklich so rosig, wie das Geld und das Haus es versprachen? Warum war der Notar so zögerlich? Was wusste er? »So sagen Sie doch etwas«, forderte ich ihn auf.
Er räusperte sich, dann meinte er fest: »Es ist Ihre Entscheidung. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Also gut, ich nehme dieses Pseudoerbe an.«
Er stand auf und streckte mir die Hand entgegen. Ich erhob mich ebenfalls und ergriff sie. »Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte er.
Es klang sehr ehrlich. Und es klang so, als würde ich dieses Glück dringend benötigen.
Ich machte mich sofort auf den Weg nach Manderscheid. Im Bus stellte ich mir vor, wie ich von meinem neuen Haus Besitz ergreifen würde, und alle Bedenken waren bald vergessen. Die Neugier fraß mich unbarmherzig auf.
Ich stieg am Ceresplatz aus und ging langsam die Kurfürstenstraße hinunter, die in die Richtung des alten Ortskerns und der Kirche führt. Die Eifeler Bauernstuben waren noch da; dorthin hatte Onkel Jakob uns jedes Mal zum Essen eingeladen. Die Stunden in diesem Restaurant waren die Glanzlichter unserer Treffen gewesen. Doch vieles andere hatte sich gewandelt: Die Post gab es nicht mehr, auch nicht mehr den Delta-Supermarkt gegenüber dem Hotel Zens, das allerdings als erstes und ältestes Haus am Platze noch immer mit seinem wunderbaren Glyzinienbewuchs prunkte. Das Hotel Fischer-Heid hingegen war verschwunden; es war zu Wohnungen umgebaut worden. Der Platz vor dem Rathaus im zaghaften Eifeler Renaissancestil kam mir verändert vor, und dort, wo die Kurfürstenstraße scharf nach rechts abbog und als Grafenstraße auf Niedermanderscheid zuführte, war keine Metzgerei mehr, sondern ein Imbiss. Ich lief die steil abfallende Kurfürstenstraße weiter geradeaus, überquerte die Mittelstraße und bog schließlich nach rechts in die Burgstraße ein, hinter der nur noch ein paar Gärten über einem zerklüfteten Abhang lagen, der zum Tal der Lieser hinunterführte.
Das Haus mit der Nummer 16 auf der linken Straßenseite war mein Ziel. Es war noch genauso, wie ich es in Erinnerung hatte: ein zweistöckiges, weiß getünchtes Gebäude mit den eifeltypischen roten Sandsteineinfassungen um die Sprossenfenster; das letzte in der Reihe, an das sich rechts der Stall mit dem großen Scheunentor anschloss. Daneben lag eine kurze Stichstraße, die als Parkplatz für das letzte Haus der Straße – eine der vielen Pensionen des Ortes – benutzt wurde.
Ich blickte die Straße hinauf und hinunter. Einige Autos standen eng an die Häuser gedrückt; irgendwo bellte ein Hund; ansonsten war es sehr still hier. Auch aus dem Restaurant gegenüber meinem neuen Haus drang kein Laut. Aber es war eine gelassene, eine heitere Stille. Die kleine Pension neben dem Restaurant hatte einen schier unglaublichen Geranienschmuck angelegt, der Himmel über der Straße war frühlingsblau und nur mit einigen Wattewölkchen durchtupft, der Geruch von Braten lag in der Luft. Er machte mir meinen Hunger bewusst; ich hatte heute noch nichts gegessen.
Ich holte den BKS-Schlüssel aus meiner Windjacke und schloss die moderne, verglaste Aluminiumtür der Nummer 16 auf.
Dann trat ich in ein anderes Leben. In die Dunkelheit.
Eine Woche lang lebte ich wie ein Märchenfürst. Das Haus meines Onkels hielt einige Überraschungen bereit. Als ich mich nach meinem ersten Eintreten an die dunklen Tapeten und Holztäfelungen gewöhnt hatte, sah ich immer neue Wunder. Ich entdeckte die enge Kapelle, auf deren bleiverglastem Fenster der Sturz der Engel dargestellt war. Ein kleiner Altar mit einem schmalen gotischen Triptychon darauf stand vor der Rückwand des Raumes und wurde von einer Betbank sowie einem Lektionar in der Form eines Adlers flankiert. Es roch nach Weihrauch. Ich konnte mich nicht erinnern, als Kind je in diesem Raum gewesen zu sein. Auch die Bibliothek, durch deren Fenster ich in der Ferne die Ruinen der Oberburg und der Niederburg sah, war als Kind für mich tabu gewesen. Ich schlich an den Regalen entlang und fühlte mich wie ein Eindringling. Sollte all das jetzt wirklich mir gehören? Und dann kamen die Fragen zurück, die mich schon bei dem Notar bedrängt hatten. Warum hatte Onkel Jakob Selbstmord verübt? Warum hatte er alles so arrangiert, dass seine Leiche nicht gefunden werden konnte? Warum hatte er mich als seinen »Erben« eingesetzt, wo wir uns doch seit so langer Zeit nicht mehr gesehen und nie ein sehr gutes Verhältnis zueinander gehabt hatten?
Die Bücher meines Onkels verwunderten mich ein wenig. Natürlich fand ich etliche theologische Werke, zum Teil in sehr alten und seltenen Ausgaben, aber ein weitaus größerer Teil seiner Bibliothek war anderen, dunkleren Themen gewidmet. Ich entdeckte bei einer sehr oberflächlichen Durchsicht viele Werke über Hexenwesen, Magie, Alchimie und Gespenstererscheinungen, über Werwölfe und Vampire und all die anderen Schreckgestalten, mit denen längst vergangene Generationen ihre Ängste vor der Dunkelheit und vor dem ihnen unverständlichen Leben ausgedrückt hatten. Was hatte Onkel Jakob in diesen absonderlichen Büchern gesucht?
Schließlich wurde mein Hunger stärker als meine Neugier und ich hörte auf, das Haus weiter zu durchstöbern. Ich hatte zwar kein Geld mehr – der Bus nach Manderscheid hatte den letzten Rest meiner bescheidenen Barschaft aufgefressen –, aber ich besaß ja die Vollmachten für das Sparbuch und das Konto meines Onkels. Also machte ich mich auf den Weg zur Manderscheider Kreissparkasse.
»Sie sind der Neffe? Was sagen Sie da? Umgebracht? Das kann ich einfach nicht glauben. Warten Sie bitte einen Augenblick.«
Der junge Sparkassenangestellte verschwand in einem Hinterzimmer der kleinen Filiale und kam nach wenigen Minuten mit einem älteren Herrn mit Hornbrille und einem etwas verstaubten Aussehen wieder an den Schalter zurück. Der Herr mit der Hornbrille hielt mir über dem Tresen die Hand hin und sagte: »Es tut mir Leid, dass wir uns unter so unschönen Umständen bekannt machen müssen, Herr Weiler.«
Ich schüttelte seine kalte und beinahe knirschend trockene Hand.
»Wie konnte das geschehen? Ich habe Ihren Herrn Onkel nicht gerade sehr gut gekannt, aber er machte auf mich nicht den Eindruck eines Selbstmordkandidaten.«
Ich erklärte dem Filialleiter, dass auch mir die ganze Angelegenheit ein Rätsel sei.
Darauf sagte er: »Ihr Herr Onkel war – wie soll ich mich ausdrücken? Er war bei uns nicht allzu beliebt. Ich habe ihn noch als Pfarrer erlebt. Er war etwas – streng, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, gab ich zurück und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Für Onkel Jakob hatte die Menschheit aus zwei Klassen bestanden: aus derjenigen, die in die Hölle kam – worunter er beinahe die gesamte Bevölkerung dieses Planeten zählte – und aus jener, der der Himmel versprochen war: aus Geistlichen wie ihm selbst und einigen wenigen anderen Auserwählten. »Meine Familie hatte ihre liebe Not mit ihm. Kann ich denn nun sein Geld haben oder nicht?« Der Hunger machte mich ein wenig ungeduldig.
»Aber selbstverständlich«, beeilte sich der Filialleiter zu sagen. »Sie können sowohl über das Sparbuch als auch über das Girokonto Ihres Onkels verfügen.«
Ich entschied mich zunächst für das Konto, denn ich wollte die schöne, hohe Summe auf dem Sparbuch noch nicht anbrechen. Ich erhielt das Geld, man wünschte mir alles Gute und bald stand ich wieder auf der Kurfürstenstraße.
Am liebsten hätte ich in den Eifeler Bauernstuben gegessen, doch es war bereits Nachmittag und das Restaurant war bis zum Abend geschlossen. Also blieb mir nur der Imbiss unten im Ort.
Ich bestellte eine Gyros-Pita (auch hier hatte die moderne Esskultur Einzug gehalten) und während die junge Frau hinter der Theke das Fladenbrot wärmte, fragte sie mich: »Im Urlaub hier?«
»Nein, ich habe im Ort ein Haus geerbt. Ich weiß noch nicht, ob ich für immer hier bleiben werde.« Dabei hatte ich mich eigentlich schon entschieden. Nach Köln und in meine stickige Dachwohnung brachten mich keine zehn Pferde mehr zurück, solange auch nur noch ein Euro auf dem Sparbuch meines seligen Onkels lag.
»Sie Glückspilz!« Die junge Frau rieb sich die Hände an der Schürze und säbelte dann Fleisch vom Drehspieß ab. Dabei beugte sie sich zur Seite und fuhr fort: »Sie werden sehen, dass es hier sehr nett ist, wenn man Ruhe, gute Luft und die Natur mag. Wenn nicht, kann es einem allerdings ganz schön auf den Wecker gehen.«
Ich vermutete, dass sie eher zur zweiten Kategorie gehörte.
»Welches Haus haben Sie denn geerbt?«
»Das von Jakob Weiler in der Burgstraße. Er war mein Onkel.«
Beinahe wäre ihr das Messer aus der Hand gefallen. Mit einer geschickten Drehung fing sie es auf, legte es dann beiseite und wandte sich mir zu. »Doch nicht das von dem alten Priester?«
Mir wurde langsam unwohl zumute. »Doch, genau das. Stimmt etwas nicht damit?«
»So würde ich das nicht ausdrücken. Aber Sie werden schnell merken, dass Ihr Herr Onkel bei uns nicht sehr beliebt war. Ich wusste gar nicht, dass er gestorben ist. Aber jetzt, wo Sie es sagen, fällt mir auf, dass ich ihn schon lange nicht mehr gesehen habe. Er kam nämlich oft hier vorbei und er hat immer Blicke in meinen Imbiss geworfen, als wolle er mich mitsamt der ganzen Ladeneinrichtung fressen. Keine Ahnung, warum. Vielleicht war ihm ein Imbiss zu modern.«
»Ihm war eigentlich alles zu modern, was aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammt, um vom einundzwanzigsten ganz zu schweigen«, erwiderte ich.
Ich nahm mein Essen mit nach Hause, setzte mich an den alten, schwarzen Küchentisch, der mir noch wohl vertraut war, und mümmelte genüsslich meine Pita. Sie schmeckte hervorragend; das Fleisch war zart, die Soße würzig, das Brot knusprig. Bei dem Gedanken daran, was Onkel Jakob wohl sagen würde, wenn er mich mit diesem Imbissessen in seiner Küche sehen könnte, musste ich lächeln. Aber sofort fühlte ich mich ertappt. Ich hatte tatsächlich den Eindruck, als lauere der alte Priester in einer Ecke hinter mir und warte nur darauf, mich zu bestrafen. Unwillkürlich drehte ich mich um.
Natürlich war da niemand.
Schnell aß ich den Rest auf und warf die nach Knoblauch duftende Tüte in den Abfalleimer, in dem sich nicht einmal ein Papierschnipsel befand. Mein Onkel hatte vor seiner seltsamen Verzweiflungstat offenbar gründlich aufgeräumt. Vielleicht würde der Duft des Knoblauchs den merkwürdigen Geruch von Weihrauch, Moder und warmem Staub vertreiben.
Nach dem Essen machte ich einen Spaziergang. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind gern den Lieserpfad entlanggegangen war, diesen wurzeldurchsetzten, schmalen Weg, der sich am Hang der steil zur Lieser hin abfallenden Berge von Daun über Manderscheid bis nach Wittlich zog. Ich hatte die knorrigen Eichen und moosbewachsenen Buchen so gern gehabt, die im Sommer einen erfrischenden Schatten spendeten. Jetzt, im späten Frühling, war die Luft noch nicht sehr warm – in den letzten Wochen hatte es überdurchschnittlich viel geregnet und es war sehr kalt gewesen –, aber trotzdem war es ein angenehmes Gefühl, als ich auf dem Lieserpfad in Richtung Wittlich den lichten Wald betrat. Immer wenn ich hier mit meiner Mutter und Onkel Jakob spazieren gegangen war, hatte ich mich von Mutters Hand losgerissen und war vorausgelaufen, bis ich sie und ihren Bruder nicht mehr sehen konnte. Dann hatte ich erst einmal tief durchgeatmet. Hier draußen war alles Dunkle, das aus meinem Onkel zu strömen schien, fort und vergessen. Die Schatten hier waren wohlwollend, liebkosend und durch sie hindurch flüsterten mir die Bäume köstlichen Trost zu.
Und nun war ich zurückgekehrt.