image

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Tief unterm Laub

Spinner

Rabenschwarz

Der neunte Tod

Still und starr

… denn sterben muss David!

Kurz vor Schluss (Kriminalgeschichten)

Malerische Morde

Hart an der Grenze

Ein Viertelpfund Mord (Kriminalgeschichten)

Ein kaltes Haus

Totentänzer

Nacht zusammen (Kriminalgeschichten)

Stimmen im Wald

Voll ins Schwarze (Kriminalgeschichten)

Starker Abgang (Kriminalgeschichten)

Mord und Totlach (Kriminalgeschichten)

Totholz

Schuss mit lustig (Kriminalgeschichten)

Ihr Mord, Mylord

Abendlied

So tot wie nie

Aus finsterem Himmel

Ralf Kramp, geb. 1963 in Euskirchen, lebt und arbeitet als Krimiautor in einem alten Bauernhaus in der Eifel. Für sein Debüt Tief unterm Laub erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-Literatur-Festivals. Seither erschienen mehrere Kriminalromane und zahlreiche Kurzgeschichten. In Hillesheim in der Eifel unterhält er zusammen mit seiner Frau Monika das Kriminalhaus mit dem Deutschen Krimi-Archiv (30.000 Bände), dem Café Sherlock, einem Krimi-Antiquariat und der Buchhandlung Lesezeichen.

www.ralfkramp.de, www.kriminalhaus.de

Ralf Kramp

Eifel-Nacht

SCHWARZE EIFEL

image

© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
eISBN 978-3-95441-497-0

Im Gedenken an Jakob Kneip,
der erst spät die schaurigen Seiten der Eifel entdeckte.

Inhalt

Begegnung in der Nacht

Puckel

Josephine

Onkel Jupp

Im Gulag

Welche Farbe hat das Grauen?

Das Haus

Flockenhölle

Der Matthes

Milchatem

Maarnacht

Aus der Spiegelwelt

Die vier Gesänge des Anubis

image

Es war um die Stunde, als meine Erschöpfung übermächtig wurde, als meine schreckhafte Bewegung das Lenkrad verriss und als das Auto auf dem nassen Asphalt über dem Blätterteppich aus der Spur glitt und quer zur Fahrbahn zum Stillstand kam. Der drohende Schlaf und die Mattigkeit machten mir die Finger taub, pressten mir unsichtbare Fäuste gegen meine Schläfen.

Seit Stunden fuhr ich ohne Ziel und ohne Gefühl für Zeit und Raum durch die Nacht. Die grauen Silhouetten der entlaubten Bäume wanderten aus dem Dunkel auf mich zu; es sah aus, als fahre ich mitten durch eine Kulisse voller riesenhafter Scherenschnitte hindurch.

Wenn ich so weiterfuhr, würde es mich endgültig in irgendeinem Hang aus der Kurve tragen. Vielleicht nicht das Schlechteste. Vielleicht würde mir ein ewiger Schlaf geschenkt werden, so dachte ich, während ich den Wagen erneut startete und zurück auf die Spur lenkte.

Meine Tränen waren schon vor langer Zeit versiegt. Ich fühlte mich verdorrt und geschunden und ließ den Wagen nur noch willenlos rollen, folgte mal dieser, mal jener Abzweigung, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wo mich die Straße hinführen würde.

Das trübe Glänzen einer Leuchtreklame war das Erste, was ich seit vielen Kilometern am Wegesrand wahrnahm, was sich in mein Bewusstsein drängte und mich reagieren ließ.

Ein Hotel.

Die Aussicht auf ein Nachtlager.

Schlaf.

Ich lenkte den Wagen auf einen mit Kies bedeckten Parkplatz und stellte ihn neben vier anderen Fahrzeugen ab. Ein Mainzer, drei Holländer – kein außergewöhnlicher Umstand in der Eifel.

Das Haus war klein, schmutzfarben, hatte eine winzige Terrasse zum Hang hin, an deren Pergola eine Lichterkette baumelte. Sie leuchtete nicht, und die bauchigen Glühbirnen sahen aus wie schwarze Früchte. Alte Bäume beugten sich über das Dach des Gebäudes, mehr um es zu bedrohen, als es zu beschützen, so schien es. Struppige Tujabüsche lehnten sich gegen die Fassade und verdeckten Teile der Fenster im Erdgeschoss.

Ein trauriger Anblick.

Eine traurige Unterkunft für einen traurigen Mann …

Die Eingangstür war abgeschlossen, doch als ich zurücktrat, um im Schein der Leuchtreklame das Zifferblatt meiner Uhr zu erkennen, glomm hinter dem gelben Milchglas ein Licht auf.

Eine alte Frau öffnete. Ihr kleiner rundlicher Körper steckte in einem Morgenmantel von undefinierbarer Farbe, und ihre weißen Haare wurden von einem Haarnetz an den kleinen Kopf gepresst. Durch ihre dicken Brillengläser hindurch musterte sie mich sorgenvoll.

»Haben Sie eine Panne?« Ihre Stimme klang sanft und verständnisvoll.

»Nein, ich …« Meine Uhr zeigte Null Uhr zwanzig an. Keine Zeit, zu der man an fremde Türen klopfen sollte.

»Verfahren? Haben Sie sich verfahren?« Sie öffnete die Tür ein Stück weiter und deutete mit einer kleinen Hand ins Innere des Flurs. »Kommen Sie erstmal rein.«

»Ich möchte schlafen«, sagte ich matt. »Nur schlafen.«

Sie lächelte gütig. »Ich habe noch drei Zimmer frei. Ich gebe Ihnen die Nummer 8. Die geht zum Hof raus, da haben Sie morgen früh nicht soviel Verkehrslärm, und Sie können ausschlafen. Sie sehen furchtbar müde aus.«

Das Zimmer war genau das, was man erwarten konnte, wenn man das Hotel zum ersten Mal von außen gesehen hatte. Die letzten Jahrzehnte schienen nahezu spurlos an dem Raum vorbeigezogen zu sein. Auf dem grauen Linoleumboden dämmerte ein ehemals bunter Wollteppich seiner endgültigen Auflösung entgegen, es gab Möbel aus glänzend lackiertem honigfarbenem Holz, eine flache, kleine Kommode mit dreiteiligem Spiegel, den großformatigen Druck eines Landschaftsgemäldes, das nahezu nur noch aus bläulichen Schattierungen bestand. Ein Wandschmuck aus verstaubten Trockenblumen, ein Radiowecker mit schwarzweißen Klappzahlen, eine Deckenlampe mit großer Glasschale, in der die Schatten toter Fliegen zu erkennen waren.

»Kein Gepäck, junger Mann?«, fragte meine Gastgeberin und schob mich in das Zimmer. »Es ist gut, dass Sie eine Pause machen. Ruhen Sie sich aus, das Bett ist frisch bezogen.«

Das Plumeau war enorm, die Bettwäsche hatte ein zartes Muster aus braunen und ockerfarbenen Rauten. Mir wurde erneut das Herz schwer.

Ein trauriges Zimmer für einen traurigen Mann.

»Das Formelle erledigen wir morgen früh. Wann möchten Sie frühstücken?«

»Gegen neun?«, fragte ich. »Wenn es möglich wäre …«

»Sicher, sicher. Gute Nacht.« Ihr Kopf war das letzte, was im Türspalt verschwand, bevor sich die Tür schloss.

Ich setzte mich ein paar Augenblicke auf die Bettkante und sog die abgestandene Luft des Zimmers ein, bevor ich den Schlüssel im Türschloss drehte.

Beim Badezimmer handelte es sich ebenfalls um ein trostloses Zeugnis vergangener Tage: grünblaue Kacheln mit gelb angelaufenen Fugen, ein quadratischer Spiegel mit abgerundeten Ecken über einem klobigen weißen Becken, in dem sich bräunliche Schatten um die Abflussöffnung für immer in die Porzellanfläche gefressen hatten.

Eine Badewanne.

Erst jetzt spürte ich die Kälte, die mich gemeinsam mit der Müdigkeit so lange in unerbittlicher Umklammerung gehalten hatte. Sie hatte meine Finger taub gemacht, meine Füße schmerzen lassen.

Ich ließ Wasser ein, heißes Wasser. Dass ich damit meine möglichen Zimmernachbarn in ihrer Nachtruhe stören könnte, kam mir in diesem Moment nicht in den Sinn.

Ich dachte daran, dass ich keinerlei Kosmetiksachen mit mir führte. Keine Zahnbürste, kein Rasierzeug, nichts.

Auf dem weißen Porzellanbord am unteren Rand des Spiegels lag ein Stückchen verpackter Seife neben einem Wasserglas.

Das heiße Wasser biss mir in meine steif gefrorenen Zehen. Es dauerte eine Weile, bis ich meinen Körper an die Temperatur gewöhnt hatte und mich in der Wanne ausstrecken konnte. Die Wärme hüllte mich ein. Ich schloss die Augen, alles würde gut werden. Ich atmete den leicht metallischen Geruch des Wassers ein und spürte, wie eine betörend schöne Ruhe in meinem Körper einzog.

Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen hatte, als sich plötzlich ein leise flüsterndes Geräusch in mein Ohr stahl. Ohne die Augen zu öffnen interpretierte ich es als das leise Wispern des grau gemusterten Kunststoffvorhangs, der am Wannenrand vorbeistrich.

Aber es war eine leise Stimme.

»Es wäre schade, wenn Sie jetzt einschliefen.«

Sofort war ich hellwach, schrak zusammen. Das Wasser plätscherte, als ich die Arme mit einem Ruck nach vorne bewegte.

Durch den Nebel, der in blassen Wirbeln über der Badewanne tanzte, erkannte ich eine Gestalt, die zwischen Tür und Waschbecken an der Wand lehnte. Eine Frau. Sie hatte ihre Arme auf dem Rücken verschränkt. Rotes Haar fiel ihr über die Schultern. Zwei hellblaue Augen fixierten mich neugierig.

»Bitte schlafen Sie nicht ein. Sie sind doch gerade erst angekommen.«

Ich bäumte mich auf, versuchte meine Blöße zu bedecken.

»Wie sind Sie hereingekommen?«

Sie starrte mich unverhohlen an. Ihre schwarz umrandeten Augen leuchteten geradezu vor Neugier und Freude, so schien es.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«

»Mit Ihnen reden. Nur reden.« Sie trat näher. Ein cremefarbener Morgenmantel aus Satin floss um ihren schlanken Körper. Die Hände behielt sie auf dem Rücken verschränkt. Ihre Gesten waren die eines scheuen, unsicheren Mädchens.

»Ich warte schon so lange auf jemanden, der mit mir reden kann.«

Sie deutete mit dem Kinn auf den Wannenrand, und als ich keinen Laut des Protestes hervorbrachte, ließ sie sich nieder. »Haben Sie bitte keine Sorge, dass es mir etwas ausmachen könnte, Sie so zu sehen. Und es sollte Ihnen auch überhaupt nicht unangenehm sein, mich so zu sehen.«

Stumm schnappte ich nach Luft und presste meine angewinkelten Knie gegen die Brust.

»Bitte«, sagte ich kraftlos. »Verlassen Sie das Zimmer. Ich bin wirklich nicht in der Stimmung, um …«

»Das geht nicht.« Sie lächelte entwaffnend. »Ich wollte, ich könnte es. Glauben Sie mir, ich wollte, ich könnte nur ein einziges Mal hier heraus. Sagen Sie mir Ihren Namen?«

»Ich bitte Sie. Ich möchte wirklich jetzt alleine …«

Als sie bedauernd den Kopf schüttelte, wogte das rote Haar hin und her. »Glauben Sie mir. Es geht nicht. Mein Name ist Lene. Es hätte unser zehnter Hochzeitstag werden sollen, den wir hier in diesem Zimmer verbrachten, mein Mann und ich. Das ist einunddreißig Jahre her.«

»Einunddreißig …?« Ich rechnete. In den Siebzigern.

»Nein, halt, zweiunddreißig! Ich verliere den Überblick.«

»Sie und Ihr Mann …«

Sie nickte, und ein bitterer Zug grub sich um ihren Mund herum in die blasse Haut. Ihre Hände nestelten am Knoten ihres Stoffgürtels herum. Was tat sie?

»Wirklich, hören Sie, ich möchte Sie noch einmal bitten, augenblicklich …«

Unbeirrt schob sie in der Höhe ihres Herzens die Revers des Mantels auseinander, gerade soweit, dass es noch schicklich war. Was ich erkennen konnte, war unglaublich, entsetzlich. Ich musste träumen! Mitten zwischen den Ansätzen ihrer beiden Brüste klaffte eine tiefe, schwarze Öffnung mit bizarr verkrusteten Rändern in ihrem Brustkorb. »Ein Messer hat er in mich hineingestoßen, der Wahnsinnige. Gestochen und herumgedreht, gerissen und gefetzt. So ein Verrückter«, plauderte sie und betrachtete die abscheuliche Wunde. »So ein grässlicher Kerl. Wieder und wieder das Messer. Ich habe auch Verletzungen am Bauch, in der Seite. Wir kennen uns noch nicht gut genug, mein Herr, sonst … Er war so schrecklich eifersüchtig. Völlig ohne Grund, das müssen Sie mir glauben.« Sie raffte ihren Bademantel wieder zusammen und legte die Stirn in Falten. Ihre schwarz getuschten Wimpern flatterten wie kleine Schmetterlinge. »Einunddreißig plus dreiundvierzig … Ob er noch lebt? Ob sie ihn wohl mittlerweile freigelassen haben, was meinen Sie?«

In den Siebzigern … Ihre Frisur … Diese grauenhafte, durch und durch tödliche Verletzung … Was geschah hier mit mir?

»Es ist so schön, dass Sie da sind, mein Herr«, sagte sie leise. »Ihren Namen werde ich schon noch erraten. Sagen Sie bitte Lene zu mir. Bitte, sagen Sie es nur ein einziges Mal … Lene …« Ein flehentlicher Blick, bebende Lippen.

»Lene«, flüsterte ich zaghaft.

Ihre Mundwinkel kräuselten sich, und langsam streckte sie eine weiße Hand aus, um mich an der Wange zu berühren. Ich spürte nichts als einen eisigen Lufthauch.

»Danke. Sie sind sehr freundlich. Nicht so wie der andere …«

»Der andere?«

Sie machte einen erklärenden Wink mit dem Kopf hinter sich. »Na, er. Die alte Nervensäge.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich, Sie schamlose Person!« Eine polternde, dunkle Stimme kam von der Tür. »Sich so an den fremden Herrn ranzumachen. Dass Sie sich nicht schämen!« Im Türrahmen war ein bulliger Mann mit grauem, militärisch kurz geschnittenem Haar und buschigem Schnurrbart erschienen. Noch bevor ich einen Protestruf ausstoßen konnte, war er eingetreten und baute sich breitbeinig am Fußende der Badewanne auf. »Sie gestatten, Oberstleutnant Drews. Bin überaus erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Ratlos suchte ich den Blick aus den strahlend blauen Augen zu meiner Rechten. Lene zog einen Schmollmund und zupfte ihren Morgenmantel zurecht. »Ich dachte mir, dass wir nicht lange alleine sind«, seufzte sie. »Der Herr Leutnant glaubt immer noch, herumkommandieren zu können, wie bei der Armee. Ich glaube, sein Unfall hat ihm nicht besonders gut getan.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, ohne dass der Andere es sehen konnte.

Ich spürte, wie mir im heißen Badewasser kalt wurde. Das alles war ein Albtraum, eine Halluzination, hervorgerufen durch …

Die Stimme des Leutnants drängte sich wieder in mein Bewusstsein. »Ihre spitzen Bemerkungen können Sie sich sparen, junge Frau. Glauben Sie mir, dass ich mein Leben auch lieber auf dem Feld der Ehre gelassen hätte.«

»Unfall?«, sagte ich zögernd. »Ein Unfall? Hier im Hotelzimmer?«

Er nickte bitter und ließ sein Kinn auf der Brust ruhen. »Juli Dreiundreißig. Der verfluchte Teppich. Bisschen Cognac. Bin schnurstracks in die Spiegelkommode gerasselt. Halsschlagader. Vorbei. Meine Frau hat das ganze Hotel zusammengeschrien.« Er reckte den Hals und wandte mir sein Profil zu. Schnitte und Narben bildeten ein hässliches Netz von schwarzen Linien auf seiner Haut.

Dann beugte er sich mit gespielter Vertraulichkeit vor. »Endlich nicht mehr allein mit zwei Weibern.« Sein Daumen wies in Richtung des angrenzenden Zimmers. Als ich mich ein wenig vorbeugte, konnte ich durch die Türöffnung hindurch schemenhaft das verhärmte Gesicht einer Dame mittleren Alters mit streng zurückgekämmtem Haar erkennen, die auf der Bettkante hockte, wo ich vorhin noch gesessen hatte. Ohne meine Frage abzuwarten, erklärte der Leutnant: »Fräulein Brohl. Unglückliche Liebe. Kurz nach der Eröffnung des Hotels, Mai Einundzwanzig. Aufgehängt an der Gardinenstange. Mit einem Kälberstrick. Feige, wenn Sie mich fragen.«

Aus dem Nebenraum kam kein Protest. Fräulein Brohl summte etwas vor sich hin. Lene an meiner Seite schnaubte verächtlich.

Der Leutnant warf sich wieder in die Brust und sagte dröhnend: »Nun, wie dem auch sei, schön, mal ein bisschen frisches Blut hier zu haben. Sie verzeihen, den kleinen Scherz …« Er lachte kollernd, während Lene begann, die blutigen Scherben des Trinkglases vom Wannenrand aufzulesen.

So, nun habe ich Ihnen die ganze Geschichte erzählt. Wie ich hierher gekommen bin, und was so alles hier passiert ist. Ich bin ja noch nicht sehr lange hier, gemessen am Schicksal der anderen. Die paar Jahre. Trotzdem gehen mir alle drei auf die Nerven. Wogegen habe ich nur meine Trauer eingetauscht!

Der Leutnant ist furchtbar laut und macht ständig schale Witze, Fräulein Brohl summt die liebe lange Nacht Kinderlieder vor sich hin, und Lene … nun ja, Lene sagt, die Wunden an meinen Handgelenken würden sie nicht im Mindesten stören, aber ich ekle mich vor den grausigen Kratern in ihrem Körper.

Schön, dass Sie jetzt da sind. Endlich ein Zuwachs in unserer kleinen Gemeinschaft. Erzählen Sie mir etwas von sich. Was sind das für Tabletten, die Sie da vorhin geschluckt haben?

image

Es lag eine herzzerreißende Traurigkeit in dem Blick seiner großen blauen Augen. Es war ein stummes Fragen nach dem Sinn des Unerklärlichen. Die geweiteten Augen hefteten sich forschend an das verkniffene Gesicht der Mutter, die danebenstand und gleichfalls schweigend betrachtete, wie der Körper des ehemals stolzen Hahns mit panisch flatternden Schwingen in unregelmäßigen Kreisen über den schlammigen Hof schoss, wieder und wieder gegen die Bretter der Stalltüre, das Mauerwerk des Wohnhauses rannte, torkelte und schlingerte, während der dazugehörige Kopf mit blutverschmiertem Halsgefieder schlaff und leblos auf dem Holzklotz lag.

Mit einem Büschel Stroh rieb der Vater die Klinge der Axt sauber und hustete trocken und unbeteiligt. Seine Rechte fegte mit einem kraftvollen Wisch den verbliebenen Kopf in die Nähe des Misthaufens. Wenig später machte er sich daran, den Körper aufzusammeln, dessen hektische Bewegungen weniger und weniger geworden waren, bis er schließlich zuckend, dreck- und blutbesudelt in einer Ecke des Hofes liegenblieb. Die prachtvollen Federn hatten ihren Glanz verloren, die stolzgeschwellte Brust war in sich zusammengefallen.

Stumm verfolgte der Junge die Szene. Speichel tropfte aus seinem rechten Mundwinkel, der unnatürlich schief nach unten stand. Seine Mutter strich sanft mit der Hand über seinen missgestalteten Körper und hielt seine kleine Hand. »Der Hahn kütt jetz en de Himmel«, murmelte sie. »Do hätt der et vell besser. Dämm deet jetz nüüs mie wieh.«

image

Er war gewachsen. Größer und schneller, als man es hätte erwarten können. An den niedrigen Zimmertüren musste er sich bücken, um nicht anzustoßen, was die hässliche Erscheinung seines unförmigen Rückens noch verstärkte. »Puckel«, riefen sie im Dorf und lachten, wenn er versuchte, ihren Steinwürfen auszuweichen.

Nur seine Mutter hatte Trost für ihn, strich mit ihrer rauen Hand über seine stoppeligen Wangen und blickte gütig in seine Augen, die die gleichen tiefblauen Seen geblieben waren wie vor Jahren.

Der Vater schlug ihn. Er tat es gerne und oft. Der »Puckel« war zu nichts nütze. Die einfachsten Handgriffe waren ihm nicht beizubringen, und mit seiner unbändigen Kraft hätte er doch sicherlich zwei Lohnarbeiter ersetzen können. An ihm war nichts zu verdienen, und das Einzige, was er verdiente, war eine Tracht Prügel dann und wann.

Das Blut vom Ochsen hatte er in die Küche tragen sollen. Wieder einmal hatte er fassungslos mit angesehen, wie ein Tier getötet worden war, wie das Leben einfach aus dem Körper wich und einen seelenlosen Kadaver zurückließ. »Der kütt jetz en de Himmel«, hatte die Mutter wieder gemurmelt, so, als müsse sie es ihm wieder und wieder erklären, so als sei er immer noch das kleine, verständnislose Kind. Jetzt war er der große Junge, aber verständnislos war er geblieben.

Aus dem Blut sollte Wurst gemacht werden und kräftige Blutsuppe. Aber seine eigenen Beine hatten ihm wieder einmal im Weg gestanden, und die große Schüssel stürzte mitsamt dem schweren, ungehobelten Körper zu Boden, schepperte und tönte blechern, und das kostbare Blut saugte der trockene, sonnengewärmte Staub des Hofes rasch und durstig auf. Mit fahrigen, ungelenken Bewegungen versuchte der Junge rasch den schwarzroten Schlamm in die metallene Schüssel zurückzuschöpfen, aber die Flüssigkeit war schon versickert. Weinend blickte er auf seine blutschlammigen Hände und seine hünenhafte Gestalt kniete gebeugt, bucklig und zitternd inmitten des Hofes.

Der erste Tritt seines Vaters traf ihn in den Magen, der zweite in den Rücken. Sie kamen mit solcher Wucht und jagten eine solche Springflut des Schmerzes durch seinen deformierten Körper, dass er die weiteren, rasch nacheinander folgenden Hiebe und Tritte kaum noch wahrnahm. Gegen das gleißende Licht der unbarmherzigen Sonne beobachtete er, dass seine Mutter versuchte einzugreifen, und Anstalten machte, ihren mageren Körper zwischen den ihres Sohnes und den ihres Mannes zu werfen.

Der Vater schob sie wütend zur Seite, packte das Hemd des Jungen in der Höhe des Buckels und zerrte ihn auf die Beine. Dann stieß er ihn brutal und rücksichtslos zu dem kleinen Schuppen, der halbverdeckt hinter der Scheune im Schatten stand, und schleuderte ihn hinein. Es war finster und stickig, und durch den Schleier seiner Tränen versuchte er mit seinen tiefblauen Augen das ihn umgebende Dunkel zu durchdringen.

Von draußen drang erneuter Lärm in sein Gefängnis. Er hörte seine Mutter, die dafür bezahlen musste, dass sie versucht hatte, ihr Kind zu schützen. Wie schon so oft zuvor.

Er hörte dumpfe Schläge, lautes Klatschen und das Scharren der Füße im Staub. Aber er hörte keinen einzigen Ton des Schmerzes. Kein Jammern, kein Weinen. Sie ertrug es still.

image

Der alte Tünn war gestorben. Mit eingefallenen Wangen und tief in die Höhlen zurückgesunkenen Augäpfeln, über die sich weiß und ledern die Augenlider spannten, hatte sein Leichnam nun schon einen Tag und eine Nacht in der Stube gelegen. Viel hatte er nicht mehr tun können in den letzten Monaten. Seine Kräfte hatten ihn verlassen, und eine unerbittliche böse Krankheit hatte ihm Qualen und Schmerzen bereitet, hatte ihn von innen heraus zerfressen, so wie der Holzwurm kräftiges Holz mürbe macht und bricht.

Aus sicherem Abstand, schützend umrahmt vom blassbraunen Rechteck des Türrahmens hatte er dagestanden und den Leichnam im Kerzenschein betrachtet, hatte versucht, das heitere Bild der Erinnerung an das rotwangige Gesicht des freundlichen alten Knechts mit dem Labyrinth aus toten Schatten und gelblich-wächsernen Wölbungen in Einklang zu bringen, das dort über dem viel zu großen Hemdkragen im Halbdunkel ruhte. Es gelang ihm nicht, und als die Mutter ihm von hinten zurief, er solle die Türe schließen, bevor die Fliegen in das Zimmer hinein konnten, da sah er sie ängstlich an und fragte schwerfällig und unartikuliert: »Himmel?« Und seine Mutter nickte. Dankbar versuchte er ein schiefes Lächeln und schloss die Türe. Am Tag der Beerdigung, an einem Herbstmorgen unter schiefergrauem Eifelhimmel, da stand er, halbverdeckt von seinen Eltern, am Grab und lächelte immer noch.

image

Der kleine, polnische Kriegsgefangene lag wimmernd hinter der Scheune, und drei der Jungen aus dem Dorf lachten ihn aus und bewarfen ihn mit Schneebällen. Sie trafen ihn an manchen Stellen, an denen der Bauer ihm vor wenigen Minuten erst im Suff zahlreiche schmerzhafte Wunden beigebracht hatte. Er rieb sich das rechte Bein, hob gleichzeitig schützend den Arm, um das Schneebombardement abzuwehren und heulte und fluchte auf Polnisch und hatte Hände und Arme zu wenig.