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Von der Autorin bei KBV erschienen:

»Dunkle Schwestern«

»Nebelkind«

Erika Kroell wurde 1958 am Niederrhein geboren und starb 2016 im Ahrtal. Sie arbeitete als Rundfunk-Journalistin und Autorin und verfasste mehrere Krimis sowie phantastische Romane. Sie war Sherlock-Holmes- und Agatha-Christie-Kennerin, eine ausgewiesene Liebhaberin des traditionellen Weihnachtsfestes und interessierte sich für Numerologie. Sie war Mitglied im Deutschen Sherlock-Holmes-Club (DSHC), bei Mensa in Deutschland (MinD), im internationalen Verband der Krimi-Autorinnen Sisters in Crime (sinc) und im Verband Deutscher Schriftsteller (VS).

Erika Kroell

Dunkle Schwestern

SCHWARZE EIFEL

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© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
Redaktion: Nicola Härms, Rheinbach
Satz: Stefanie Scherer, Rheinbach
eISBN 978-3-95441-500-7

Für Georgine, Joachim und Maxine,
die mir Freude und Inspiration sind.

Inhalt

Sonntag, 30. Juni

Montag, 1. Juli

Dienstag, 2. Juli

Mittwoch, 3. Juli

Donnerstag, 4. Juli

Samstag, 6. Juli

Sonntag, 7. Juli

Montag, 8. Juli

Dienstag, 9. Juli

Mittwoch, 10. Juli

Sonntag, 14. Juli

Montag, 15. Juli

Dienstag, 16. Juli

Mittwoch, 17. Juli

Donnerstag, 18. Juli

Freitag, 19. Juli

Samstag, 20. Juli

Irgendwann im Oktober

Sonntag, 30. Juni

All my bags are packed, I’m ready to go …

Die klare, melancholische Stimme versetzte Frederik um fünfzehn Jahre in die Vergangenheit zurück. Damals hatte er dieses Lied auf der Gitarre gespielt, und Carla war beim Refrain mit ihrer dunklen Altstimme eingefallen. Er drehte das Autoradio etwas lauter.

Tess zog die Augenbrauen hoch und blickte ihren Vater überrascht an. Gewöhnlich meckerte er, wenn die Kinder die Musik zu laut machten. Sie lächelte, lehnte entspannt den Kopf gegen die Nackenstütze und lauschte. Bobby, der sich auf dem Rücksitz hinter ihr lümmelte, rollte die Augen und warf sich resigniert über die Sitzbank, schlug mit dem Kopf gegen den Kindersitz aus Hartplastik auf der anderen Seite des Fonds und stöhnte theatralisch.

Fest in ihrem Kindersitz arretiert, beobachtete Natascha durch die Seitenscheibe den Verkehr auf der Überholspur. Rote Autos, schwarze Autos, silberne Autos. Nur ein gelbes bisher. Warum wollten die Leute nur kein gelbes Auto?

So kiss me and smile for me, tell me, that you’ll wait for me …

Frederiks Finger trommelten den Rhythmus auf das Lenkrad. Ein sanftes Lächeln glitt über sein Gesicht. Herrliches Wetter, Super-Musik, die Kinder stritten nicht – was wollte man mehr?

Vor der Ausfahrt setzte er den Blinker. Tess sah ihn an.

»Ich muss noch rasch Geld holen.« Frederik steuerte den Wagen auf die Ausfahrt zum Rastplatz Brohltal-West.

Die Tankstelle des Rastplatzes ließ Frederik rechts liegen und steuerte direkt den weiter hinten gelegenen Rasthof an, lenkte den Wagen in eine freie Parkbucht und zog den Zündschlüssel ab.

»Lass die Schlüssel hier, Papa, dann können wir weiter Musik hören«, bat Bobby.

Frederik steckte den Schlüssel wieder ins Schloss und drehte ihn so weit, dass das Radio ansprang. Dann überprüfte er mit einem Blick in seine Brieftasche, ob die EC-Karte an ihrem Platz war, und stieg aus.

»Bin gleich wieder da. Und spielt nicht mit dem Zündschlüssel ’rum, okay?«

Die Kinder nickten gelangweilt.

Kaum war die Fahrertür ins Schloss gefallen und Frederik auf dem Weg zum Geldautomaten, schoss Bobby durch die Lücke zwischen den Vordersitzen nach vorn und drückte auf den Sendersuchknopf des Radios. Bald löste Anastacias röhrende Rockstimme den seichten Denver-Blues ab, und Bobby fiel erleichtert ins Polster zurück.

»Wo ist Papa hin?«, fragte Natascha, die aus einer Traumwelt zu erwachen schien und sich suchend umsah.

»Geld holen.«

»Kommt er bald wieder?«

»Klar, in ein paar Minuten.«

Beruhigt richtete Natascha den Blick wieder durch das Seitenfenster auf die Außenwelt. Viele Autos standen da auf dem Parkplatz. Aber kein gelbes. Sie schüttelte den Kopf. Warum wollte niemand ein gelbes? Sie versank wieder in eine tiefere Dimension ihrer kindlichen Gedankenwelt und versuchte, das Mysterium der Beziehung zwischen Menschen und gelben Autos zu ergründen.

Jeder Mensch auf dem Parkplatz war ihrer Aufmerksamkeit wert. Sie beobachtete Leute, die aus den Autos stiegen und sich streckten, müde und angespannt vom langen Sitzen. Ein kleiner Junge mit blonden Haaren und fürchterlich vielen Sommersprossen rannte mit einem bunten Ball auf die Straße zwischen den Parkplätzen. Sein Vater schrie hinter ihm her und hob die Hand, um einen Wagen zu stoppen. Der Junge kümmerte sich nicht darum und lief zu einem Kinderspielplatz, der neben dem Rasthof lag.

Aus einem großen, schwarzen Auto, das direkt neben ihrem geparkt hatte, stiegen zwei uralte Leute aus. Die Frau hatte hellblaue Haare, die in schönen Wellen um ihren kleinen Kopf lagen, der Mann gar keine. Natascha fragte sich, ob sie wohl auch zum Kinderspielplatz gingen, aber die alten Leute steuerten langsam den Rasthof an, Arm in Arm, als müssten sie einander stützen.

Mitten über die heiße, graue Straße zwischen den Parkplätzen schritt eine schwarzgekleidete Frau. Natascha hatte nicht gesehen, aus welchem Auto sie gestiegen war. Aber ganz bestimmt hatte sie kein gelbes, soviel war sicher. Die Haare der Frau waren ebenso schwarz wie ihr Kleid. Im Vorübergehen traf ihr Blick auf den Nataschas. Sie runzelte die Stirn und blieb abrupt stehen. Natascha starrte sie an. Ihre Augen verschwammen und schienen in denen der Frau zu versinken. Sie fühlte, wie etwas an ihr zog, zerrte. Langsam hob sie die rechte Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf die Frau. Die zuckte wie unter einem plötzlichen Kopfschmerz zusammen und löste ihren Blick von Natascha. Erleichtert schloss Natascha die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war die schwarze Frau verschwunden.

Anastacias Paid my dues ging langsam dem Ende entgegen. Bobby trommelte wie wild den Rhythmus des Liedes auf seinen Knien mit und warf dabei den Kopf hin und her, als wolle er sich imaginären Staub aus den Haaren schütteln. Tess döste.

»Wann kommt Papa wieder?«

»Gleich, Süße«, antwortete Tess matt. Allmählich wurde es heiß im Wagen. Draußen waren es mindestens sechsundzwanzig Grad, und bei ausgeschaltetem Motor lief die Klimaanlage nicht. Eine Fliege summte dicht neben Tess’ rechtem Ohr. Sie schüttelte den Kopf, und das Summen wurde leiser. Ein Schweißfilm bildete sich auf ihrer Stirn und zwischen ihren Brüsten. Sie rieb mit den Fingerknöcheln über ihr Brustbein und wusste im gleichen Moment, dass sie jetzt einen feuchten Streifen auf ihrem T-Shirt verursacht hatte. Das Surren der Fliege näherte sich wieder, diesmal von links. Tess öffnete genervt die Augen, setzte sich auf und blickte nach hinten. Die Süße starrte wie gebannt durch die Frontscheibe hinaus. Ihre Bäckchen leuchteten rund und rot. Bobby trommelte auf seinen Knien herum.

Ein Schweißtropfen rann von Tess’ Haaransatz über die Schläfe in Richtung Ohr. Mit einer ungeduldigen Bewegung wischte sie ihn weg und drückte den elektrischen Fensterheber hinunter. Die erhoffte Brise blieb allerdings aus. Sie lehnte sich über den Fahrersitz und ließ auch dieses Fenster hinab. Jetzt zog ein leichter Wind durch den Wagen, der ihre feuchte Stirn angenehm kühlte.

Die Digitaluhr im Armaturenbrett zeigte 9:51 Uhr.

»Wie lange ist Papa schon weg?«, fragte sie, ohne sich umzusehen.

»Keine Ahnung«, antwortete Bobby.

Natascha runzelte die Stirn und dachte nach. »Sehr lange«, erklärte sie schließlich ernst.

Tess blickte sich erstaunt zu ihr um und überschlug im Kopf die Zeit. Um neun weggefahren, zwanzig Minuten bis zur Raststätte, neun Uhr zwanzig. Demnach war Frederik seit über einer halben Stunde weg. Was machte er bloß so lange?

»Ich hab’ Durst«, sagte Natascha. Tess wandte sich um und strich ihr eine feuchte Locke aus der Stirn.

»Bestimmt kauft Papa noch was zu trinken und braucht deshalb so lange.«

Natascha nickte müde.

Im Radio begann jetzt ein neuer, rockiger Song, und Bobby warf sich nach vorne und drehte lauter.

»Stell das leiser«, schimpfte Tess und drehte selbst am Lautstärkeregler. Allmählich ging ihr die laute Musik auf die Nerven. Wenn Papa nicht bald kam, würden sie im Auto vertrocknen.

Bobby lehnte sich schmollend in den Sitz zurück.

Die Fliege war vor dem Durchzug im vorderen Bereich des Wagens geflohen und kreiste nun um Nataschas Kopf. Lustlos wedelte sie mit ihren kleinen Händen hin und her, bis die Fliege schließlich auf die sonnenbeschienene Fensterscheibe flüchtete.

Die alten Leute, die zu dem schwarzen Wagen nebenan gehörten, kehrten zurück und stiegen mühsam wieder ein. Die Frau legte eine Wasserflasche auf einen Ablageplatz des Armaturenbrettes, während der alte Mann das Auto startete und es mit Hilfe der beiden Außenspiegel, ständig nach rechts und links sichernd, aus der Parklücke manövrierte. Natascha sandte der Wasserflasche einen sehnsüchtigen Blick hinterher.

»Ich hab’ Du-hurst!«, quengelte sie.

Tess versuchte gerade, mit geschlossenen Augen der Schwüle des Wagens in eine erfrischendere Traumwelt zu entfliehen. Darin spielten das Schwimmbad ihrer Schule und ihr Englischlehrer, Mr. Jacobs, zwei Hauptrollen. Natürlich hieß Mr. Jacobs in Wirklichkeit Herr Jakobs, und das Schwimmbad war ein langweiliger, rechteckiger Pool, aber für einen erfrischenden Traum bei Außentemperaturen von sechsundzwanzig Grad reichte es allemal. Mit Trauer im Herzen verabschiedete sie sich von Mr. Jacobs und identifizierte die Worte, die aus Nataschas Mund in ihr Bewusstsein gedrungen waren.

»Ich weiß, Süße. Papa kommt bestimmt gleich.«

Bobby streckte einen Arm aus und hielt ihn direkt vor Nataschas Mund.

»Trink mein Blut.«

»Hör auf, Bobby«, schalt Tess.

»Du Blödmann«, sagte Natascha.

Die Fliege war von ihrem Zufluchtsort zurückgekehrt und krabbelte Nataschas Arm hinauf. Sie verscheuchte sie, doch schon nach wenigen Sekunden kehrte sie surrend zurück und landete diesmal auf ihrem Knie. Natascha beobachtete, wie das schwarze Ungetüm langsam an ihrem nackten Oberschenkel empor kroch, und stellte sich vor, wie sie jeden Moment unter dem Rand ihrer Shorts verschwinden und in ihre Unterhose hineinkrabbeln würde. Dieser Gedanke erschreckte sie so, dass sie kreischte und auf ihr Bein einschlug.

»Was ist los?«

»Die Süße kämpft mit einem Drachen«, grinste Bobby.

»Eine Fliege …« Natascha war dem Weinen nahe. »Ich hab’ Durst, und Pipi muss ich auch.«

»Na, dann kannst du ja …«, setzte Bobby an, doch Tess fuhr dazwischen.

»Hör schon auf, Bobby. Es reicht jetzt.«

Sie stieg aus und genoss den kurzzeitig kühlenden Lufthauch auf ihrem feuchten Körper. Dann schritt sie um den Wagen herum und öffnete die hintere Tür. Natascha streckte ihr die runden Ärmchen entgegen. Tess küsste sie auf die weiche Wange, löste den Haltegurt und hob sie aus dem Wagen.

»Komm, wir gehen mal rüber zum Spielplatz.« Zu Bobby gewandt fügte sie hinzu: »Du bleibst hier, okay?«

Nach ein paar Schritten kehrte sie wieder um, beugte sich über den Fahrersitz und zog den Zündschlüssel ab.

»Damit du keine Dummheiten machst«, sagte sie und ging, Natascha an der Hand, über die Straße.

»Verdammt.« Bobby schlug sich mit der Faust in die Hand, riss die Tür auf und stieg ebenfalls aus. Tess und die Süße ließen ihre Beine bereits auf beiden Seiten einer langen, hölzernen Wippe baumeln, und Tess versuchte, das gegenübersitzende Leichtgewicht auf und ab zu bewegen. Bobby lief hinüber und quetschte sich hinter Natascha auf den kleinen Sitz. Jetzt bildeten er und seine kleine Schwester das Übergewicht, und Tess auf der anderen Seite schoss in die Höhe.

Natascha schien ihren Durst vergessen zu haben, ließ sich vergnügt in die Lüfte heben und sauste mit fliegenden Haaren wieder herab. Tess behielt unablässig den Wagen und die Strecke bis zur Eingangstür des Rasthofes im Auge. Von Frederik war nichts zu sehen.

Der Luftzug durch das Auf und Ab der Wippe kühlte sie angenehm ab, und allmählich gelang es Tess, die Lethargie des heißen Sommertages abzuschütteln. Sie trug keine Armbanduhr, schätzte aber, dass seit ihrem Blick auf die Uhr im Armaturenbrett noch einmal zwanzig Minuten vergangen waren. So lange brauchte kein Mensch, um Geld an einem Automaten zu ziehen und etwas zu trinken zu kaufen.

Natascha hatte sich erholt und lachte und jauchzte jedesmal, wenn sie den höchsten Punkt der Wippe erreicht hatte. Wieder unten angekommen, versuchte sie, mit ihren kurzen Beinchen den Boden zu erreichen, um sich noch kräftiger abzustoßen, aber gegen Bobbys wesentlich längere Beine hatte sie keine Chance.

Tess sah, dass Bobbys Augen suchend über den Parkplatz streiften. Endlich traf sein Blick auf ihren, und er zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. Tess zuckte leicht mit den Schultern.

»Ich gehe mal mit der Süßen Pipi machen«, sagte sie schließlich und stieg vorsichtig von der Wippe, als Bobby sie herabgelassen hatte, hielt den runden Stamm fest und ließ ihn nur ganz langsam wieder nach oben gleiten. Bobby hob Natascha hoch und stellte sie auf die Wiese.

»Ich will aber noch schaukeln«, verkündete Natascha, und Tess nickte. »Wenn wir zurückkommen.«

Sie nahm Nataschas Hand in ihre und wandte sich in Richtung Rasthof.

»Du bleibst hier, okay?«

Bobby nickte stumm und blieb auf der Wippe sitzen.

Hinter den automatischen Eingangstüren umfing die beiden Mädchen eine fast schockierende Kühle. Tess atmete tief durch und blickte sich um. Dem Eingang direkt gegenüber lag ein kleiner Kiosk mit Süßwaren und Zeitschriften. Ein dicker Mann mit buntem Hawaiihemd und Shorts bezahlte gerade eine Flasche Cola und zwei Eis am Stiel.

Rechts vom Kiosk stand in einer Nische ein verwaister Geldautomat. Ihm gegenüber führte eine doppelflügelige Glastür in das Restaurant. Tess trat näher und musterte durch das Glas die Menschen, die an den Tischen saßen oder an der Theke mit Salaten, Sandwiches und Getränken entlanggingen. Von Frederik keine Spur. Mit der freien Hand schob sie die eine Hälfte der Tür auf und zog Natascha hinter sich in den Gastraum. Langsam schritten die beiden Mädchen durch die Tischreihen.

»Kaufen wir was zu trinken?«, flüsterte Natascha. Tess nickte und steuerte die rechtsgelegene Theke an, während ihre Augen Tisch für Tisch nach dem Gesicht ihres Vaters absuchten. Hin und wieder begegnete sie den Blicken der Gäste, deren Aufmerksamkeit sie auf sich zogen, halb neugierig, halb mitleidig. Sie fasste Nataschas Hand fester. Ein feister Kerl, der allein an einem Tisch hockte, starrte sie unverhohlen an. Tess überlief augenblicklich eine Gänsehaut. Die Lippen des Fetten glänzten feucht und öffneten sich ein wenig. Hastig wandte Tess den Blick ab.

Die rundliche Frau an der Kasse blickte sie erwartungsvoll an. »Ein … zwei Wasser, bitte«, stammelte Tess.

»Da hinten«, sagte die Frau und wies mit dem Kinn nach links. Tess entdeckte einen Kühlschrank mit Glastür, die den Blick auf Reihen voller Getränkedosen freigab. Sie nahm drei herrlich kühle Dosen mit Mineralwasser heraus und trug sie zur Kasse. Während sie Münzen aus der Hosentasche fischte und bezahlte, überflog sie den Raum hinter der Kassiererin. Auch dort kein Frederik.

Tess musterte die Kassiererin. Sie war etwa vierzig und hatte ein gewöhnliches, aber angenehmes Gesicht mit braunen Augen und runden Wangen. Tess stellte sich vor, dass sie mehrere Kinder hatte, die zu Hause ungeduldig auf sie warteten.

»Wir suchen unseren Vater«, sagte sie leise. Die Frau schaute neugierig auf.

»Er war vorhin hier im Rasthof und wollte Geld holen. Seitdem ist fast eine Stunde vergangen, und er taucht nicht wieder auf.«

Die Frau nickte, starrte Tess aber völlig verständnislos an.

»Haben Sie ihn vielleicht gesehen? Er ist groß und schlank und trägt Shorts…«

Der gerunzelten Stirn und dem ins Leere gerichteten Blick entnahm Tess, dass die Frau ernsthaft nachdachte. Nach einer Weile schüttelte sie aber den Kopf.

»Nein, tut mir Leid. Ich kann mich an niemanden erinnern, der mir besonders aufgefallen wäre.«

Tess wandte sich ab und strebte dem Ausgang zu.

»Vielleicht ist er ein bisschen spazieren gegangen«, rief die Kassiererin hinter ihnen her.

Tess wandte sich um, nickte und lächelte. Völlig ausgeschlossen, dachte sie.

Im Vorraum öffnete sie eine der Dosen und gab sie Natascha, die sie sofort an die Lippen setzte. Dann trank Tess ebenfalls ein paar köstliche, eiskalte Schlucke. Ihr Blick fiel auf ein Schild mit der Aufschrift Toiletten. Sie folgten ihm eine Treppe hinunter in den Keller. Damen rechts, Herren links. Tess schob Natascha durch die offene Tür in die Damentoilette.

»Geh schon mal, ich komme gleich nach.«

Natascha verschwand in einer der Kabinen.

»Und schließ nicht ab«, rief Tess. Im gleichen Moment hörte sie das Schloss einrasten.

Zwei Männer in hellen Anzügen kamen die Treppe herab und betraten die Herrentoilette. Tess versuchte, durch die offene Tür einen Blick auf etwaige Benutzer zu erhaschen, aber es war niemand zu sehen.

»Ich bin fertig«, rief Natascha aus ihrer Kabine.

»Dann komm raus.«

»Geht nicht. Ich krieg’ die Tür nicht auf.«

Tess stöhnte. Auch das noch.

»Herrgott, ich hab’ extra gesagt, du sollst nicht abschließen«, schimpfte sie und rüttelte an der Türklinke. Das Besetztzeichen leuchtete rot unter einem absolut glatten Knauf, den sie von außen auf keinen Fall würde drehen können.

Mit einem raschen Blick taxierte sie die Kabinentür. Glattes, graues Plastik, etwa zwei Meter hoch. Darüber eine Lücke von vielleicht vierzig Zentimetern. Sie musste versuchen, auf die Klinke zu steigen und durch die Lücke in die Kabine zu klettern.

»Warte, ich klettere über die Tür«, rief sie und versuchte, einen Fuß auf die Klinke zu schwingen. Ihr Turnschuh rutschte sofort wieder ab, und sie stolperte ein paar Schritte rückwärts.

»Verdammt«, zischte sie und nahm einen neuen Anlauf. Diesmal landete der Fuß auf dem Griff der Klinke, drückte ihn herunter und glitt sofort wieder zu Boden. Tess wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte wütend auf die Tür. In diesem Moment hörte sie ein leises Klicken, und die Toilettentür öffnete sich einen Spalt. Nataschas große, blaue Augen tauchten auf, und ein zartes Stimmchen verkündete: »War nur ’n Joke!«

»Sehr witzig, wirklich«, knurrte Tess wütend, aber auch erleichtert und zog Natascha aus der Kabine und auf den Flur hinaus.

Dort blieb sie unschlüssig stehen. Die beiden Männer müssten längst fertig sein. Vielleicht sollte sie mal einen Blick riskieren …

Vorsichtig öffnete sie die Tür zur Herrentoilette und steckte den Kopf durch den Spalt.

»Papa?«

Keine Antwort. Sie versuchte es noch einmal etwas lauter.

»Papa?!«

Nichts.

Resigniert und nun auch ein wenig ängstlich wandte sie sich wieder um. Natascha musste ihre Besorgnis wohl gespürt haben, denn sie schien den Tränen nahe zu sein.

»Wo ist Papa denn?«

»Keine Ahnung, Schatz«, antwortete Tess, hob Natascha hoch und trug sie die Treppe hinauf. Vor dem Geldautomaten zappelte Natascha und ließ sich auf den Boden stellen.

»Papa war hier«, sagte sie leise. Tess nickte. »Ja, ich weiß.«

»Und die Frau auch.«

»Welche Frau?«

»Die schwarze Frau vom Parkplatz.« Nataschas Blick starrte ins Leere, als sähe sie in eine andere Welt hinein.

Tess schüttelte müde den Kopf. Sie konnte sich an keine schwarze Frau erinnern, aber letztlich spielte das auch keine Rolle. Sie zerrte Natascha nach draußen.

Bobby saß ganz oben auf dem bunten Klettergerüst und winkte ihnen zu. Natascha hob wie zum Gruß die beiden verbliebenen Wasserdosen, und Bobby sprang mit einem Satz auf den Boden und lief ihnen entgegen.

»Gott sei Dank, ich verdurste fast.« Er riss eine Dose auf und trank sie in einem Zug fast zur Hälfte leer. Dann goss er sich ein wenig Wasser in die Hand und warf es sich ins Gesicht.

»Ich auch«, kreischte Natascha und bildete mit beiden Händen eine kleine Kuhle. Bobby füllte sie mit Wasser, und Natascha kühlte ihre heißen Wangen.

»Und?« Bobby sah Tess fragend an. Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab’ ihn nirgends gefunden.«

Bobby ließ sich auf die Wiese fallen und streckte sich aus. »Vielleicht hat er einen Bekannten getroffen und labert jetzt irgendwo herum«, mutmaßte er.

Tess setzte sich neben ihn ins Gras. »Dann hätte er uns wenigstens Bescheid sagen können«, murrte sie. »Wie spät ist es?«

Bobby hob den Arm und hielt ihn gegen die mittlerweile recht hoch stehende Sonne.

»Halb elf.«

»Dann ist er schon eine Stunde weg«, stellte Tess fest, und in ihrer Stimme schwangen Erstaunen und Angst mit.

»Was soll’s?« Bobby verschränkte die Arme unter dem Kopf und schloss die Augen. »Ohne uns kann er nicht wegfahren. Du hast ja den Schlüssel.«

Rasch tastete Tess ihre Hosentasche ab und fühlte erleichtert die scharfen Kanten der verschiedenen Schlüsselbärte.

Natascha hatte der Unterhaltung stumm zugehört und beschloss jetzt, das Ganze ebenso locker wie Bobby zu sehen.

»Ich geh schaukeln«, verkündete sie und stapfte langsam davon. Auf unebenem Boden wie dieser Wiese fiel ihr das Laufen noch schwerer als sonst. Mühsam zog sie das rechte Bein nach und geriet mehrmals ins Straucheln, wenn der Fuß an einem Grasbüschel hängen blieb. Endlich erreichte sie die Schaukel, kletterte hinauf und begann das linke Bein heftig vor- und zurückzuschwingen, bis sie allmählich zu schaukeln begann.

Die Sonne brannte gnadenlos. In der Ferne ballten sich Wolken zu einer dunklen, fast kompakt scheinenden Masse zusammen. Da kam ein Gewitter auf sie zu. Das würde wenigstens für etwas Abkühlung sorgen.

Tess tastete nach der Wasserdose, bekam sie zu fassen und stellte fest, dass sie leer war. Müde richtete sie sich auf. Bobby lag immer noch mit geschlossenen Augen neben ihr. Natascha hatte sich zwischen ihren Geschwistern ausgestreckt und schlief fest. Ihre der Sonne zugewandte Wange leuchtete rot und heiß. Tess rutschte ein Stück vor, um mit ihrem Körper einen Schatten auf Natascha zu werfen.

Mit zusammengekniffenen Augen überblickte sie den Parkplatz. In der Mittagshitze schienen die Geräusche seltsam gedämpft, fast wie ein gleichmäßiges Summen, und ihre von der Sonnenglut getrübten Augen erfassten nur mühsam die Details ihrer Umgebung. Ihr Auto stand nach wie vor am gleichen Platz. Tess tastete wieder nach dem Autoschlüssel.

Von Frederik keine Spur. Hinter dem Zaun, der den Spielplatz umgab, stand im Schatten der Bäume ein Mann. Tess zwinkerte ein paarmal und versuchte, die Schatten zu durchdringen. Frederik war es nicht. Dieser Mann war wesentlich dicker als Papa. Langsam verzogen sich die Schleier vor ihren Augen, und Tess erkannte den Fetten aus dem Restaurant. Er beobachtete sie. Wer weiß wie lange schon. Tess spürte ein flaues Angstgefühl im Magen. Ohne den Fetten aus den Augen zu lassen, rüttelte sie an Bobbys Schulter. Er reagierte mit einem Grunzen und rollte sich auf die Seite. Der Fette drehte sich um und verschwand zwischen den Bäumen. Tess atmete erleichtert auf.

Mit beiden Händen wischte sie über ihr Gesicht und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollten sie bloß tun? Wo war Papa nur abgeblieben? Ihr fiel nicht der Hauch einer Antwort auf diese Frage ein, so sehr sie auch grübelte. Wenn er einen Bekannten getroffen hätte, so würde er die Kinder doch nicht stundenlang im Auto sitzen lassen. Zumindest hätte er ihnen Bescheid gesagt oder sie ins Restaurant gebracht. Vielleicht war ihm schlecht geworden oder er hatte einen Herzinfarkt. Aber nein, auch das schied aus. Einen Krankenwagen hätte Tess auf keinen Fall überhört.

Sie verschränkte die Arme um die Knie und legte den Kopf darauf. Da sie den Autoschlüssel hatte und das Auto ja nachweislich noch dort stand, wo er es abgestellt hatte, musste er sich noch auf dem Rastplatz befinden. Es sei denn, er hätte ein Taxi genommen.

So ein Quatsch, dachte Tess. Warum sollte er wohl ein Taxi nehmen?

Vielleicht hat er uns verlassen. Sie riss den Kopf hoch. Nein – sie entspannte sich wieder –, das war ausgeschlossen. Dazu würde er sie wohl nicht erst ins Auto packen, zwanzig Kilometer bis zum nächsten Rastplatz fahren und dann mit einem Taxi verschwinden. Das hätte er an jedem beliebigen Wochentag einfacher haben können als ausgerechnet an diesem Sonntag, den sie für einen Ausflug in den Tierpark nutzen wollten.

Außerdem liebte ihr Vater sie, und zwar alle drei. Tess verscheuchte den letzten schrecklichen Zweifel aus ihren Gedanken. Nein, es musste ihm irgendetwas zugestoßen sein. Mit dieser Überzeugung konnte sie nicht länger einfach hier herumsitzen und abwarten.

Wieder stieß sie Bobby an. Er regte sich, wälzte sich auf den Rücken und schlug träge die Augen auf. Tess legte einen Finger auf die Lippen.

»Die Süße schläft«, flüsterte sie. Bobby hob den Kopf und entdeckte Natascha an seiner Seite. Vorsichtig zog er seinen schlaksigen Körper ein Stück zurück und setzte sich auf.

Tess tippte mit dem Zeigefinger auf ihr Handgelenk. Bobby blickte auf seine Armbanduhr.

»Viertel vor zwölf«, flüsterte er und starrte Tess an. Sie schüttelte den Kopf.

Mit einem Schwung stand er auf und klopfte seinen Hosenboden ab. »Ich gehe noch einmal suchen.«

Tess nickte. Während Bobby mit großen Schritten dem Rasthof zustrebte, korrigierte sie ihre Sitzposition, um Natascha den schützenden Schatten zu erhalten.

Ihre Gedanken kreisten unablässig um Frederik. Wo war Papa bloß geblieben? Irgendetwas Schreckliches musste ihm zugestoßen sein. Auf keinen Fall würde er sie einfach so verlassen, freiwillig! Nein, ausgeschlossen.

Womöglich lag er irgendwo hinter einem Busch, war beim Pinkeln ohnmächtig geworden. Oder irgendein Wahnsinniger hatte ihn zusammengeschlagen, seine Brieftasche geklaut und ihn einfach liegen lassen?!

Sobald Bobby wieder da war, würde sie den bewachsenen Randstreifen durchkämmen.

Je länger Tess über Frederiks Verschwinden nachdachte, desto größer wurde ihre Angst. Was sollten sie nur tun, falls Papa nicht mehr wiederkam? Sie hatten niemanden außer ihm. Keine Verwandten, keine Tanten oder Omas, kaum erwachsene Freunde …

Ganz tief unten in ihrem Magen begann sich ein Gefühl zu entwickeln, das verdammt einer Panik glich. Und es kroch von Sekunde zu Sekunde höher.

Bleib ruhig, mahnte sie sich selbst. Bleib ganz ruhig. Panik bringt uns nicht weiter. Ich muss nachdenken. Ruhig und klar nachdenken.

Zwischen den Bäumen tauchte die Gestalt des Fetten wieder auf. Mit feuchten Augen und leicht geöffneten Lippen beobachtete er die beiden Mädchen, die schon lange, sehr, sehr lange, allein auf dem Spielplatz saßen.

Wie vor ihm seine Schwestern genoss auch Bobby die überraschende Kühle des Rasthofes. Nur wenige Menschen befanden sich in der Eingangshalle. Die Frau hinter dem Tresen des Kiosks beobachtete ihn unter halb geschlossenen Lidern. Bobby tastete seine Hosentaschen ab und fühlte einige Münzen. Mit einem Blick schätzte er deren Wert ab und trat zum Kiosk. »Eine Flasche Wasser, bitte.«

Die Frau öffnete ohne aufzustehen einen Kühlschrank an der Seite und nahm eine Flasche heraus.

»Einsfuffzig«, schnarrte sie. Bobby zählte die Münzen ab und legte sie auf die abgewetzte Plastikschale inmitten der Zeitungsauslage.

»Haben Sie vielleicht in den letzten zwei Stunden einen Mann gesehen mit einem hellblauen T-Shirt und einer abgeschnittenen Jeans?«

Die Frau lehnte sich stöhnend in ihrem Stuhl zurück, und Bobby registrierte, dass sie einen enorm dicken Bauch hatte.

»Kleiner«, schnaufte sie, »ich habe in den letzten zwei Stunden hunderte von Männern gesehen. Und was sie anhatten, interessiert mich nicht.«

Bobby nickte und griff nach der Flasche.

»Er hat wahrscheinlich Geld am Automaten geholt«, versuchte er es noch einmal.

Statt einer Antwort stierte die Frau gleichgültig an ihm vorbei.

»Herzlichen Dank auch«, sagte Bobby und wandte sich ab.

»Den hab’ ich gesehen, glaub ich«, sagte die Frau zu Bobbys Überraschung. Rasch drehte er sich wieder um.

»So’n großer, hübscher, was? Mit dunklen Haaren?«

Bobby nickte eifrig.

»Ja, hab’ ich gesehen.« Zur Bekräftigung nickte die Frau heftig mit ihrem aschblonden Lockenkopf. »Ist schon ’ne Zeit lang her.«

»Haben Sie gesehen, wo er danach hingegangen ist?« Vor Aufregung legte Bobby seine schweißnassen Hände auf die Illustrierten und beugte sich über die Theke.

»He, Kleiner«, die Frau wedelte ihn zurück. »Du machst mir die Zeitschriften kaputt.«

»Entschuldigen Sie.« Bobby wischte seine Hände an der Hose ab und starrte die Frau gespannt an.

Mit gerunzelter Stirn dachte sie nach. Schließlich schüttelte sie zu Bobbys großer Enttäuschung den Kopf. »Ne, hab’ ich nicht. Ich hatte dann mit Kunden zu tun. Und danach war er weg.«

Bobby dankte ihr nochmals und blieb unschlüssig vor dem Kiosk stehen.

»Ist er abhanden gekommen?«, fragte die Frau. Bobby nickte und konnte nicht verhindern, dass Tränen in seine Augen stiegen. Verlegen senkte er den Kopf.

»Na, na, der wird schon wieder auftauchen«, tröstete ihn die Frau. »Wo soll er denn geblieben sein!«

Genau das ist die Frage, dachte Bobby, nickte der Frau noch einmal zu und setzte sich neben den Geldautomaten mit dem Rücken an der Wand auf den kalten Fußboden.

Wo kann er geblieben sein? Durch seinen Kopf zogen die gleichen Gedanken, die sich seine Schwester vor nicht allzu langer Zeit gemacht hatte, und seine Überlegungen blieben ebenso ergebnislos wie ihre.

»Wo ist denn dein Bruder geblieben?«

Tess schreckte hoch und sah sich um. Direkt hinter ihr stand der fette Kerl, so nahe, dass sie mit ausgestrecktem Arm seine Beine hätte berühren können. Sofort spürte sie wieder das Angstgefühl, das sein Anblick schon vorhin ausgelöst hatte. Hastig rutschte sie ein Stück zur Seite.

»Der holt was zu trinken«, sagte sie und blickte sich nach anderen Erwachsenen um. Direkt in der Nähe befand sich niemand, aber in der dritten Parkreihe stieg gerade eine Familie aus einem Wagen.

»Und wo sind eure Eltern?«

Das geht Sie gar nichts an, wollte Tess sagen, entschied dann aber, dass es besser sei, irgendwo vorhandene Eltern vorzutäuschen.

»Die essen im Restaurant. Wir … wir hatten keinen Hunger.«

Sie stand auf. Die Angst ballte sich in ihrem Magen zu einem Kloß zusammen. Die Familie stand immer noch an ihrem Auto. Der Kofferraum war geöffnet, und der Vater kramte darin herum. Tess hoffte inständig, die Kinder würden den Spielplatz entdecken.

»Deine Eltern lassen sich viel Zeit beim Essen, was?« Die feuchten Lippen des Fetten verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. »Und dein Bruder wohl auch.«

Er weiß Bescheid, dachte Tess und spürte, wie der Angstkloß langsam nach oben kroch und ihre Luftröhre abschnürte. Wer weiß, wie lange der Kerl sie schon beobachtet hatte.

Die Familie bewegte sich jetzt von ihrem Auto fort, allerdings nicht, wie Tess gehofft hatte, in Richtung Spielplatz, sondern auf eine Sitzgruppe am Ende des Parkplatzes zu.

Sie musste zusehen, dass sie mit der Süßen hier wegkam. Hastig beugte sie sich zu Natascha hinab und schüttelte sie heftig. »Komm, wir gehen!«

Natascha erwachte nur mühsam wie aus einem sehr tiefen Schlaf und starrte Tess verständnislos an. Dann erinnerte sie sich offenbar wieder. »Ist Papa wieder da?«

Verzweifelt nickte Tess. »Ja, wir gehen jetzt zu ihm. Komm schon.«

Sie zog Natascha vom Boden hoch und nahm sie auf den Arm. Der Fette beobachtete sie aus zusammengekniffenen Augenschlitzen und schien sich an ihrer Angst zu weiden. Tess rannte, so schnell sie mit dem noch halb schlafenden Kind auf dem Arm konnte, in Richtung Rasthof.

»Wir sehen uns sicher noch«, rief der Fette hinter ihnen her, und Tess konnte seinen Blick im Rücken spüren.

Nach einer Weile, die zwei oder zwanzig Minuten lang gewesen sein mochte, raffte Bobby sich wieder auf und durchstreifte das Restaurant, den Keller und die Toiletten.

Dann wagte er sich wieder in die glühende Hitze hinaus, die sich sofort bleischwer auf seine Schultern legte, und schritt am Spielplatz vorbei. Tess und Natascha waren nicht mehr da. Bobby blickte sich um, konnte sie aber nirgends entdecken. Auf einer Bank am hinteren Zaun des Spielplatzes saß ein dicker Mann, der ihn interessiert beobachtete. Bobby ging langsam weiter in Richtung Tankstelle und blickte sich immer wieder nach allen Seiten um. Vielleicht hatte Tess beschlossen, dort nach Papa zu suchen, während er das Restaurant durchkämmte.

Weder im Verkaufsraum noch in den Toiletten der Tankanlage stieß er auf einen Hinweis auf seinen Vater oder seine Schwestern. Der Tankwart konnte sich an keinen Mann in Shorts und hellblauem T-Shirt erinnern, und die beiden Mädchen hatte er auch nicht gesehen.

Vergeblich versuchte Bobby, den Kloß in seinem Hals hinunter zu schlucken. Tränen der Verzweiflung brannten in seinen Augen. Was war das nur für ein Scheißtag. Erst verschwand Papa spurlos, und jetzt waren Tess und die Süße auch noch weg.

Noch einmal betrat er die Herrentoilette, drehte einen Wasserhahn auf und warf sich Hände voll kalten Wassers ins Gesicht, bis er die Tränen zurückgedrängt fühlte.

Mit vor Anstrengung zitternden Knien ließ Tess Natascha im Vorraum des Rasthofes auf den Boden hinab. Sie war schweißgebadet und keuchte. Mit einem Blick überzeugte sie sich, dass der Fette ihnen nicht gefolgt war.

Natascha sah ängstlich und verwirrt zu ihr auf. »Wo ist Papa denn?«

»Ich weiß nicht, Süße.« Tess Stimme zitterte vor Erschöpfung. »Wir sehen jetzt noch mal überall nach.«

Nataschas Mundwinkel verzogen sich, und Tränen flossen aus ihren Augen. »Aber du hast gesagt, Papa wäre wieder da. Du hast gelogen.« Sie begann laut zu heulen. Eine Frau, die vor dem Kiosk stand und eben bezahlen wollte, drehte sich nach ihnen um. »Alles in Ordnung?«, fragte sie laut.

Tess nickte und ging rasch neben Natascha in die Hocke, nahm sie in den Arm und flüsterte: »Hör auf zu heulen! Bitte! Wir finden Papa, ganz bestimmt!«

Die Frau sah immer noch zu ihnen herüber. Mit letzter Kraft hob Tess Natascha wieder auf den Arm und betrat das Restaurant. Natascha weinte immer noch, allerdings so leise, dass es nicht sofort aller Aufmerksamkeit auf sie zog. Mit den letzten Münzen aus ihrer Hosentasche kaufte Tess eine Limo und setzte sich mit Natascha in die hinterste Ecke des Raums. Während die Kleine unter Tränen die Limo schlürfte, hielt Tess verzweifelt die Eingangstür im Blick.

Die Sonne brannte heiß herab. Bobbys Kopf begann zu schmerzen, und seine Augen brannten. Langsam schritt er den Rand des Parkplatzes ab und spähte zwischen Bäume und Büsche. Vielleicht war Papa beim Pinkeln ohnmächtig geworden und lag jetzt hier irgendwo. Vielleicht waren auch die Mädchen mal kurz ins Gebüsch verschwunden.

Hinten seinen Augen begann es vor Anstrengung zu pochen bei dem Versuch, das schattige Dunkel zu durchdringen.

Mit jedem Schritt näherte er sich wieder dem Spielplatz. Vage hoffte er, die Mädchen seien mittlerweile wieder zurückgekommen. Aber der Spielplatz war verwaist. Auch der dicke Mann saß nicht mehr auf der Bank. Verzweifelt ballte Bobby die schweißnassen Fäuste und blieb vor dem Zaun zum Spielplatz stehen. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er jetzt tun sollte. Die Tränen, die schon die ganze Zeit in seinen Augen brannten, ließen sich nicht länger zurückhalten. Schluchzend setzte er sich auf den Bürgersteig und legte den Kopf auf die Knie.

»Sieh mal, da ist Bobby«, rief Natascha, als sie an Tess’ Hand aus der Kühle des Hauses wieder in die glühende Sonne hinaustraten. Tess beschattete mit einer Hand ihre Augen und spähte in die Richtung, in die Nataschas Zeigefinger wies. Bobby hockte auf dem Bürgersteig vor dem Spielplatz. Natascha riss sich los und humpelte, so schnell sie konnte, die wenigen Stufen zur Straße hinunter. Tess folgte ihr.

»Bobby!«, schrie Natascha schon von weitem. »Huhu!«

Bobby hob den Kopf, entdeckte die Mädchen, sprang auf und rannte ihnen entgegen. Noch im Laufschritt schnappte er Natascha und riss sie hoch, drückte und küsste sie. Tess lief herbei und ließ sich überrascht von Bobby umarmen.

»Bin ich froh, dass ihr wieder da seid«, lachte Bobby unter Tränen. »Ich hab’ mir solche Sorgen gemacht.« Tess blickte ihn schuldbewusst an. Keine Sekunde hatte sie darüber nachgedacht, wie Bobby auf den leeren Spielplatz reagieren könnte. Er musste furchtbare Angst gehabt haben. Sein Gesicht war tränenverschmiert.

Rasch legte Tess beide Arme um ihn und Natascha. »Das tut mir Leid. Aber wir mussten flüchten!«

Sie berichtete von ihrer Begegnung mit dem fetten Kerl. Bobby nickte. »Den hab’ ich auch gesehen. Aber jetzt ist er weg.«

Vorsichtig stellte er Natascha wieder auf den Boden.

»Und Papa ist auch immer noch weg«, fügte er ernst hinzu.

Um Natascha abzulenken, betraten sie wieder den Spielplatz. Natascha hockte sich in den Sandkasten und begann, mit den Händen den Sand zu einem Hügel zusammenzuschieben.

»Was sollen wir denn jetzt machen?« Bobby dämpfte seine Stimme, damit Natascha ihn nicht hören konnte.

Tess antwortete lange Zeit nicht. Ihre gerunzelten Augenbrauen und der zusammengekniffene Mund sprachen Bände, und Bobby wartete ab, was sie ausbrütete.

Schließlich hob sie den Kopf und sah ihn an. »Wir müssen die Polizei rufen.«

Bobby nickte. »Vielleicht ist Papa entführt worden.«

»Oder liegt irgendwo zusammengeschlagen in einer Ecke«, flüsterte Tess. Bobby schüttelte den Kopf. »Ich hab’ das ganze Gelände abgesucht. Er ist nirgendwo.« Seine Stimme zitterte.

»Was werden sie mit uns machen?«

Tess sah ihn fragend an. »Mit uns? Keine Ahnung …«

Beide starrten vor sich hin und dachten nach. Sie waren allein. Außer Papa gab es niemanden, der sich um sie hätte kümmern können. Seltsam, dachte Tess, dass wir gar keine Verwandten haben. Bisher hatte sie sich noch nie ernsthafte Gedanken darum gemacht. Ihre Großeltern waren tot. Die Kinder hatten sie nie kennen gelernt und wussten auch nicht viel über sie. Aber dennoch hatte man normalerweise irgendwelche Verwandtschaft, Tanten, Onkel, Cousinen oder so etwas. Aber sie hatten nichts dergleichen.

»Ich schätze, sie werden uns in einem Heim unterbringen, bis Papa wieder da ist«, flüsterte sie.

Bobby starrte sie entsetzt an. »In einem Heim? Ich will nicht in ein Heim. Außerdem …«, er sah zu Natascha hinüber, die friedlich im Sandkasten spielte. »… werden wir dann getrennt. Willst du das etwa?«

»Natürlich nicht!«, antwortete Tess so laut, dass Natascha den Kopf hob und zu ihnen herüber sah. Tess winkte ihr zu. Beruhigt spielte das Kind weiter.

»Natürlich nicht«, wiederholte sie leiser. »Aber was sollen wir denn machen? Sie werden uns doch nicht mit Natascha allein zu Hause lassen!«

»Ich will nicht in ein Heim«, wiederholte Bobby verzweifelt und versuchte, nicht schon wieder loszuheulen. Tess griff nach seiner Hand.

»Ich auch nicht. Aber dann können wir Papa nicht vermisst melden. Jedenfalls nicht sofort. Wir müssen uns erst etwas ausdenken. Jemanden finden, der sich um uns kümmert. Zumindest offiziell.«

Wieder versanken beide in grübelndes Schweigen. Endlich straffte Tess die Schultern und hob den Kopf.

»Wir fahren erst einmal nach Hause«, verkündete sie. »Wer weiß, was passiert ist. Vielleicht ist er ja schon zu Hause, oder er kommt später oder …«

Energisch sprang sie auf. »Egal, wir fahren jedenfalls jetzt.«

Bobby starrte sie mit offenem Mund an.

»Was soll das heißen: Wir fahren. Etwa mit dem Auto?«

Tess nickte und winkte Natascha zu sich.

»Willst du etwa das Auto fahren?« Bobbys Stimme schnappte vor Aufregung fast über. »Bist du verrückt geworden? Und was ist, wenn Papa doch wiederkommt und wir sind nicht mehr da?«

Tess sah ihn mit finsterem Blick an. »Hast du vielleicht eine bessere Idee? Wir sitzen hier seit drei Stunden herum. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich bin davon überzeugt, dass Papa nicht mehr kommt. Nicht hierhin, jedenfalls. Vielleicht ist er schon zu Hause oder auf dem Weg dorthin. Was weiß ich! Und ich kann fahren, das weißt du doch. Oder willst du lieber zu Fuß zwanzig Kilometer nach Hause laufen? Mit Natascha auf dem Arm?«

Sie streichelte Nataschas Wange, die mit großen, angsterfüllten Augen zu ihr aufsah.

»Komm, Süße, wir fahren nach Hause.« Tess legte einen Arm um Nataschas Schultern und einen unter ihre Kniekehlen, hob sie mit einem tiefen Atemzug hoch und marschierte in Richtung Parkplatz.

Natascha schlang beide Arme um ihren Hals und drückte sie. »Ist Papa denn wieder da?«

»Papa ist bestimmt schon zu Hause«, antwortete Tess und versuchte, ihren eigenen Worten zu glauben.

An der Fahrerseite des Wagens blieb sie stehen. »Mach mal auf!«

Bobby öffnete die hintere Tür, und Tess ließ Natascha in den Kindersitz gleiten.

Mit bebenden Knien setzte sich Tess hinter das Steuer und orientierte sich: Schaltung, Gas, Bremse, Kupplung. Alles klar.

Erst nach dem dritten Versuch gelang es ihr, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken, so sehr zitterten ihre Hände. Sie hatte eine Scheißangst, vor dem Fahren, vor dem, was mit Papa passiert sein mochte und vor dem, was mit ihnen geschehen würde, falls Papa nicht wieder auftauchte.

Bobby ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen und griff nach ihrem Arm.

»Tess, bitte, sei vernünftig. Du bist den Wagen bisher nur auf den Weinbergswegen gefahren. Mit maximal dreißig Stundenkilometern. Und hier sind wir auf der Autobahn. Wir sind schon tot, bevor wir die Fahrspur erreicht haben.«

Bobbys beschwörender Ton und die unleugbare Wahrheit seiner Worte ließen Tess’ mühsam aufrechterhaltene Schutzmauer zusammenbrechen. Sie begann zu weinen. Die Angst, die ihr seit Stunden die Luft abzuschnüren schien, brach jetzt mit voller Wucht aus ihr heraus. Bobby legte einen Arm um ihre Schultern. Unbeholfen und ein wenig verlegen streichelte er Tess’ Wange. Er konnte sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Eigentlich war sie ein harter Knochen. Aber er konnte nur zu genau nachfühlen, welche Verzweiflung sie empfand, und bemühte sich angestrengt, nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen. Natascha fing jetzt auch wieder an zu weinen.

Mit beiden Händen rieb Tess ihre Augen und räusperte sich.

»Schon gut«, flüsterte sie, »es geht schon wieder.«

Sie lehnte sich über den Fahrersitz nach hinten und tröstete Natascha. »Du musst nicht weinen, Süße. Siehst du, ich habe auch schon wieder aufgehört.« Die Kleine schniefte und schluchzte, aber während Tess ihre Wange streichelte, versiegten die Tränen allmählich. Ihre Augen wurden klein, und Tess sah, dass sie bald vor Erschöpfung einschlafen würde.

Sie wandte sich wieder nach vorn.

»Du hast Recht«, sagte sie dann mit etwas festerer Stimme. »Wir können auf keinen Fall über die Autobahn fahren.«

Mit wackligen Knien stieg sie aus und blickte sich nach allen Seiten um. Direkt hinter der Einfahrt auf die Autobahn schwang sich eine Brücke über sämtliche Fahrspuren. Tess betrachtete sie nachdenklich und versuchte, ihrem weiteren Verlauf zu folgen. Hinter der Raststätte wuchsen jedoch hohe, dicht belaubte Bäume, die den Blick auf eine etwaige Straße dahinter verbargen.

»Diese Brücke da«, sie deutete mit dem Finger, »da muss es eine Straße oder einen Weg hin geben.«

Bobby folgte ihrem Blick und nickte. »Ich schau mich mal um.« Er sprang aus dem Wagen und lief in Richtung Tankstelle am Rand des Parkplatzes entlang.

Tess setzte sich wieder auf den Fahrersitz und beobachtete ihren Bruder. Bald entschwand er ihren Blicken. Mit jeder Sekunde, die verstrich, spürte sie ihre Panik wieder größer werden. Wenn Bobby nun auch nicht wiederkam? Ihre Hände verkrampften sich um die Sitzkanten; ihre Beine, die sie aus dem Auto heraushängen ließ, begannen zu zittern.

Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es schien, tauchte Bobby wieder auf. Er rannte trotz der Hitze auf sie zu und winkte.

»Okay«, stieß er keuchend hervor, als er sich in den Sitz fallen ließ. »Ich weiß, wo es langgeht.«

Ein Blick in Tess’ Gesicht erschreckte ihn. Sie war kreidebleich, und Schweiß stand auf ihrer Stirn.

Rasch griff er nach der Wasserflasche, die er am Kiosk erstanden hatte, und schraubte sie auf. »Trink erst mal einen Schluck.«

Mit zitternden Fingern griff Tess danach und trank, als sei sie am Verdursten. Schließlich gab sie ihm die Flasche zurück und lehnte erschöpft den Kopf gegen das Sitzpolster. Bobby schüttete etwas Wasser in seine Hand und benetzte Tess’ Stirn und Wangen.

»Geht’s wieder?«

Tess nickte und rang sich ein Lächeln ab.

»Nur ein kleiner Schwächeanfall, Herr Doktor«, flüsterte sie, »nichts Ernstes.«

Etwas Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, der panische Gesichtsausdruck verschwand und machte einer verzweifelten Entschlossenheit Platz.

Gott sei Dank. Er hätte zwar auch selbst den Wagen fahren können. An den Fahrübungen auf den Weinbergswegen hatte Mama sie beide gleichermaßen beteiligt. Aber ihm war völlig klar, dass niemand ihm die achtzehn Jahre abnehmen würde. Tess sah immerhin schon einigermaßen erwachsen aus. Vor allem, dachte er, wenn sie so dreinblickte wie jetzt.

Tess erinnerte kurz die verschiedenen Handlungsschritte zum Starten des Wagens, trat die Kupplung, drehte den Zündschlüssel und legte den Rückwärtsgang ein. Der Wagen ruckte an, und der Motor erstarb sofort wieder. Sie versuchte es noch einmal, und diesmal setzte sich das Auto in Bewegung. Ganz langsam ließ sie es aus der Parkbucht rollen, wechselte den Gang und folgte Bobbys Anweisungen.

»Hier links herum, dann da vorne bis zur Tankstelle. Der Weg führt hinter der Tankstelle ins Feld.«

Im Schritttempo lenkte Tess den Wagen über den Parkplatz, bremste abrupt, wenn ein anderes Fahrzeug ihren Weg kreuzte, und fuhr ein wenig ruckelig wieder an, sobald die Straße frei war. Der Weg hinter der Tankstelle war auf den ersten Metern asphaltiert und führte hinab zu einem Getreidefeld, auf dem hohes, gelbes Korn wuchs. Parallel zum Feld verlief ein ungeteerter Weg mit von der Hitze bröckeligen, tief ausgefahrenen Treckerspuren.

Tess spürte Rinnsale von Schweiß ihren Rücken hinabrinnen, als sie in den Weg einlenkte. Den Fuß hielt sie vorsichtshalber ständig auf der Bremse, um nicht durch einen Fehler im Feld zu landen.

Im Schneckentempo bog sie nach links in den Feldweg ein und sah, was ihr bisher durch die Bäume verborgen geblieben war. Der Feldweg führte steil hinauf bis auf eine etwa zweihundert Meter entfernte Kuppe. Ihr Fuß wechselte nach rechts auf das Gaspedal. Der Motor heulte laut auf, und sie riss den Fuß rasch wieder zurück.

»Die Kupplung«, erklärte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Ein zweiter Versuch, diesmal mit langsam nachlassender Kupplung, war erfolgreicher. Der Wagen kroch die Anhöhe hinauf und rumpelte durch die tiefen Reifenspuren. Einmal knirschte es irgendwo hinten. Tess zuckte zusammen.

Bobby klebte mit weit aufgerissenen Augen fast an der Windschutzscheibe und ließ den Fahrweg keine Sekunde aus den Augen. Natascha war zum Glück eingeschlafen. Ihr Kopf war zur Seite gerutscht, und schweißnasse Löckchen kringelten sich um ihre Stirn. Sie lutschte im Schlaf an ihrem Daumen, etwas, was sie sich eigentlich schon vor langer Zeit abgewöhnt hatte.

Plötzlich sank der Wagen vorne rechts tief hinunter, und unter Tess’ Füßen krachte es erbarmungslos. Verzweifelt sah sie Bobby an und zog die Handbremse.

»Wir müssen nachsehen, was passiert ist«, flüsterte sie heiser.

Sie nahm den Gang heraus und ließ den Motor im Leerlauf weitersurren. Beide stiegen aus und betrachteten das rechte Vorderrad. Es hing etwa zwanzig Zentimeter tief in einer der Treckerspuren, berührte aber nicht den Boden. Durch die starke Neigung des Wagens hatte auch das linke Vorderrad die Bodenhaftung verloren. Tess wischte über ihre Augen.

»Vielleicht kann ich den Wagen rückwärts wieder herausrollen lassen.« Sie flüsterte immer noch, obwohl Natascha sie auf keinen Fall hätte hören können.

Bobby nickte. »Ich bleibe hier und schiebe«, erklärte er.

Tess stieg wieder ein, trat die Kupplung und legte den Rückwärtsgang ein. Langsam ließ sie die Kupplung kommen, aber der Wagen schaukelte nur kurz, und die Räder drehten durch.

Bobby stellte sich vor den rechten Scheinwerfer und legte beide Hände auf die Motorhaube.