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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

»Sommer der Hexen«

»Wolfsherbst«

»Dämonenwinter«

»Schattenschrei«

Georg Miesen, Jahrgang 1962, hat mit seinem 2002 erschienen Roman Hexensommer in der Eifel den Reigen der fantastischen Eifelliteratur eröffnet. Es folgten drei weitere im KBV Verlag veröffentlichte Romane (Wolfsherbst, Dämonenwinter, Schattenschrei), die mit einer Neuauflage seines ersten Werks unter dem Titel Sommer der Hexen ihren vorläufigen Abschluss fanden.

Er ist Mitglied des FDA und leitet gemeinsam mit Andreas Züll die Schreibwerkstatt Nettersheim und die Lesereihe Zümiesmus.

Georg Miesen

Dämonenwinter

SCHWARZE EIFEL

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© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Für
Elke, Miriam, Anna und Sebastian

Inhalt

Der Weg der dreizehn Tode

Prolog

Tod eines Touristen

Gabriels Gabe

Ungereimtheiten

Michaelas Traum

Hedwigs Nachlass

Der dreizehnte Tod

Gerädert

Mordkommission

Hedwigs Tagebuch

Vergessen

Rudloffs Abteilung

Ein erster Hinweis

Alina

Freundinnen

Onkel Gabo

Geheimnisse

Hexenprozess

Unheimlicher Besuch

Ausflug in die Eifel

Kein Kontakt

Elsas Leiden

Verfolgt

Schatten

Söhns

Dämonenbilder

Erwachen

Nur eine alte Frau

Gabriels Geschenk

Verraten

Michaelas Dämon

Söhns’ Ende

Eingesperrt

Kontakt

Gabriels Dämon

Der letzte Kampf

Eine Überraschung für Rudloff

Epilog

Dementi

Danksagung

Der Weg der dreizehn Tode

 

Dreizehn sei der Tode Zahl
suchest du Dämonenmacht
zwiefach sie und frei die Wahl
führt dich aus der ew’gen Nacht

Eins

der Atem dir genommen

Zwei

den Galgen hoch erklommen

Drei

das Schwert tut seine Pflicht

Vier

das Rad die Knochen bricht

Fünf

zerteilet dir die Glieder

Sechs

kennst deinen Leib nicht wieder

Sieben

bist des Feuers Mahl

Acht

durchstoßet dich der Pfahl

Neun

wird auf dem Rost dich schmoren

Zehn

den Leib mit Feuer bohren

Elf

säget dich entzwei

Zwölf

du wünschst den Tod herbei

Dreizehn

nimmer endend Pein
die Seele zieht zur Hölle ein.

 

Dann, so ist all das vollbracht
öffnet sich das Tor zur Welt
durchströmet dich des Lebens Pracht
nimmer dich der Tod behält

Aus dem internen Protokoll der BKA Abteilung Okkulte Straftaten,
Aktenzeichen BKA-OkS-Ru 11/05

Deckname »Dämonenwinter«

Prolog

Selbst durch das grobe Leinen des Sacks, den man ihm über den Kopf gestülpt hatte, konnte Horatio de Alba die wärmenden Strahlen der Wintersonne auf seiner Haut spüren. Er würde den Stern niemals wieder zu Gesicht bekommen. Dies war sein letzter Gang.

Der Alchimist und geheime Forscher der dunklen Künste schaffte es für einen kurzen Augenblick, seine Gedanken und Ängste zurückzudrängen, um nur noch die wohltuende Wärme zu genießen. Doch der derbe Stoß des Henkers, der ihn weiter vorantrieb, unterbrach jäh diesen winzigen Glücksmoment. Den letzten in seinem Leben.

Horatio hatte das Risiko gekannt. Von dem Moment an, als er sich dem Studium der verbotenen Künste hingegeben hatte, war ihm klar gewesen, dass es einst so enden musste – mit seiner Hinrichtung.

Die Menschen hatten schon immer den Drang, das, was sie nicht verstanden, zu zerstören.

In seinem Fall kam noch eine panische Angst hinzu. Angst vor den suggestiven Kräften, die er entdeckt hatte. Vor dem, was die Leute als den bösen Blick bezeichneten.

Bei seiner Verhaftung wurden ihm sofort die Augen verbunden. Während der Folter, unter der man ihm seine Geheimnisse zu entreißen versuchte, hüteten sich seine Peiniger, auch nur in Richtung seiner verborgenen Augen zu schauen, so groß war ihre Angst vor der zwingenden Kraft seines Blickes.

Sie taten gut daran, denn hätten sie ihn auch nur für einen Augenblick direkt angesehen, wäre er jetzt frei.

Horatio spürte plötzlich aufkeimenden Ärger über seine eigene Dummheit.

Hätte er auf die Warnungen seiner Verbündeten gehört, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, sich dem Zugriff des Stadtrates zu entziehen. Aber er war an einem entscheidenden Punkt seiner Studien angelangt und wollte seine Arbeit nicht unterbrechen.

Seit dreißig Jahren folgte er einer Spur, die ihn zu den Geheimnissen des ewigen Lebens führen sollte. Stück für Stück hatte er die verborgenen Bestandteile eines bizarren Rituals gesammelt, das ihn für immer vor dem Zugriff der knochigen Hände des Todes bewahren sollte. Er hatte gerade die fertigen Kontrakte aus der Buchdruckerei erhalten, als die Büttel an seiner Tür klopften. In den wenigen Minuten die ihm blieben, bis sie sich gewaltsam Zutritt verschafften, gelang es ihm, sie sicher zu verstecken. Ein Freund, der für diesen Notfall instruiert war, würde sich später darum kümmern.

Aber was nutzte ihm das? Nun, wo fast alles in die Wege geleitet war, sollte ein schmählicher Tod am Galgen die Arbeit von Jahrzehnten mit einem Schlag zunichte machen. Horatio de Alba hatte es nicht glauben wollen. Selbst während der peinlichen Befragung hatte er sich immer noch als Herr der Lage gefühlt. Sie konnten ihn noch so grausam foltern, niemals würde er seine wahren Geheimnisse preisgeben. Das war auch gar nicht nötig. Horatio wusste genau, was seine Peiniger hören wollten. So erzählte er ihnen das Lügenmärchen vom Pakt mit dem Teufel, vom Hexenflug und Schadenszauber. Billiger Aberglaube! Die Wahrheit lag so viel tiefer und war doch so offensichtlich. Aber diese Narren würden sie nie erkennen.

Doch, was nutzte ihm das jetzt? Auch wenn er sich durch sein Geständnis vor dem Flammentod bewahrt hatte, für ihn war der Weg hier zu Ende.

Mit einem Mal meldeten sich Zweifel und Ängste bei Horatio zu Wort. Hier draußen, vor der Unerbittlichkeit des Todes gab es für ihn nichts, über das er sich erheben konnte, um die Ausweglosigkeit seiner Lage zu kaschieren.

Seine Füße stießen an etwas Hartes. Horatio stolperte und drohte zu stürzen, aber eine starke Hand packte ihn grob am Ärmel und riss ihn hoch. Dann wurden seine Hände an das raue Holz einer Leiter geführt. Er hatte den Galgen erreicht und wurde hinaufgetrieben. Horatio wusste, dass der Henker auf einer zweiten Leiter neben ihm mit hinaufstieg.

Oben angekommen streifte er Horatio die Schlinge über den Kopf und zog sie fest um seinen Hals, ohne ihm den Sack vom Kopf zu nehmen. Sollte er sich nicht bei dem Sturz das Genick brechen, würde das seinen Todeskampf verlängern. Der Alchimist spürte dennoch eine grimmige Zufriedenheit. Selbst jetzt noch, wo er ihnen völlig hilflos ausgeliefert war, hatten sie Angst vor seiner Macht. Wie wäre es gewesen, wenn er sein Ziel erreicht hätte?

Dann, ohne Vorwarnung, wurde er von der Leiter gestoßen.

Im Fallen merkte Horatio, dass seine Angst plötzlich verschwunden war. Stattdessen füllte eine klare, strahlende Erkenntnis sein Denken aus. Dieser Tod war noch nicht sein Ende. Er konnte noch immer das Ritual der dreizehn Tode vollziehen und Unsterblichkeit erlangen. Allerdings würde er sich vorher in etwas verwandeln müssen, dass nicht mehr menschlich wäre. Etwas, vor dem sich selbst die Geister fürchten. Wenn er dann scheiterte, würde ihm das nicht nur das Leben, sondern seine unsterbliche Seele kosten. Ein Risiko, dass er im Moment seines Todes einzugehen gewillt war. Auf ihn wartete schließlich die Unsterblichkeit.

Tod eines Touristen

Mit schlurfenden Schritten schlich die Gruppe der Touristen hinter Tanja Sinkel, der Fremdenführerin der Bad Münstereifeler Kurverwaltung, her.

»Hier an diesem Ort, meine Damen und Herren, befand sich einst die Hinrichtungsstätte unserer kleinen Stadt. Genau wie die Strafe am Pranger, den ich Ihnen vor unserem gotischen Rathaus gezeigt habe, wurden auch die Hinrichtungen am Galgen als ein öffentliches Ereignis vollzogen. Das Schauspiel sollte der Abschreckung dienen und die Bürger gemahnen, stets auf den Pfaden der Tugend zu wandeln.«

Ein älterer Herr in schlecht sitzender Outdoor-Kleidung, dessen Touristenstatus deutlich an der silbern blitzenden, vor dem gewölbten Bauch pendelnden Digicam zu erkennen war, meldete sich mit nasaler Altmännerstimme zu Wort. »Sagen Sie mal, Fräulein, wo kann man hier denn gut bürgerlich essen gehen?«

Tanja, die gerade den Mund geöffnet hatte, um einige gruselige Details zu diesem historischen Ort zu äußern, wandte ihren Blick von dem dunklen, rissigen Holz des Galgens ab und schaute den Mann ungläubig an. Wie konnte man an einem solchen Ort ans Essen denken? Sie schluckte den galligen Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, herunter und antwortete stattdessen in beherrschtem Tonfall. »Ich kann Ihnen nachher gerne einige wirklich ausgezeichnete Restaurants empfehlen.« Vorher versuche ich nur noch rasch, Ihnen den Appetit zu verderben. Den letzten Teil behielt sie natürlich für sich.

Tanja war im Allgemeinen bekannt für ihre Geduld, aber heute hatte sie sich mehrmals dabei erwischt, ihrer Kundschaft statt der gewünschten Freundlichkeit düstere Gedanken entgegenzubringen.

Irgendetwas lag in der Luft. War es die plötzliche Kälte, die am Morgen die Wiesen und Bäume mit weiß schimmerndem Raureif überzogen hatte, oder waren es die dunklen Wolkenfetzen, die seit dem Mittag wie heraufziehende Geisterheere über den Himmel jagten? Der Herbst hatte sich in diesem Jahr in seiner ganzen farbigen Pracht entfaltet, doch nun schien er dem heranziehenden Winter weichen zu müssen. Es war Mitte November, und die Luft roch nach Frost und Schnee.

Tanja hatte heute Morgen schon beim ersten Luftzug gespürt, dass dieser Tag die Wende bringen würde. Sie hasste den Winter, seinen frostigen Atem, der die Menschen in den Häusern hielt, das Autofahren erschwerte und für jeden Gang nach draußen eine Vermummungsorgie notwendig machte, wollte man sich nicht alles Mögliche abfrieren. Am Schlimmsten traf sie die lange Zeit der Dunkelheit, die kurzen Tage, dürftig nur erleuchtet von einer meist wolkenverhüllten, kalten Sonne, die unendlich ferne zu sein schien. Die nicht enden wollenden Nächte, wenn man im Dunkeln zur Arbeit fuhr und im Dunkeln wieder nach Hause kam, trieben sie jedes Jahr aufs Neue in trübselige Depressionen, denen sie mit Bergen von Süßigkeiten und Dauerfernsehen vergeblich zu entkommen suchte.

Hinzu kam, dass die Besucher des heutigen Tages anscheinend vergessen hatten, wozu sie hier war. Kaum jemand wollte ihr zuhören. Dabei gab sie sich wirklich Mühe, die Geschichte des kleinen Eifelstädtchens anschaulich zu erklären.

Tanja versuchte gerade, den verlorenen Faden wieder aufzunehmen, als sie plötzlich ein lautes Röcheln und ein Krachen wie von brechenden Knochen hörte. Dem folgte ein dumpfes Geräusch, als einer der Reisegäste leblos zu Boden fiel. Bevor sie registrieren konnte, was da passiert war, gellte ihr schon der erste Schrei in den Ohren.

»Mein Gott, er ist tot!«

Gabriels Gabe

Gabriel war vier Jahre alt, als ihm zum ersten Mal bewusst wurde, dass es etwas gab, was ihn von den anderen unterschied. Er hatte festgestellt, dass niemand außer ihm die schemenhaften Gestalten, die in unregelmäßigen Abständen an ihm vorbeihetzten, sehen konnte.

Seine Eltern hatten das Plappern des Kleinkindes über die »eiligen Onkel und Tanten« nicht ernst genommen. Eine harmlose Marotte, die sich irgendwann auswachsen würde. Als Gabriel mit den Jahren jedoch immer noch darauf bestand, dass er sie wirklich sehen konnte, fingen sie an, sich Sorgen zu machen.

Im Kindergarten machte er dann die Erfahrung, dass ihn seine Besonderheit zum Außenseiter stempelte. Nachdem er auch hier unbefangen von den unsichtbaren Leuten erzählte, wurde er ausgelacht und als Lügner und Wichtigtuer gemieden.

Schließlich fiel er der Kindergärtnerin auf, die seinen Eltern riet, einen Psychologen zu konsultieren. Der Mann war Gabriel von Anfang an nicht geheuer. Er stellte seltsame Fragen und schaute ihn an, als wolle er seine Gedanken lesen. Irgendetwas sagte ihm, dass er ihm gegenüber nichts von den Leuten verraten durfte, die nur er sehen konnte. Aus einem Grund, den er nicht verstand, schien seine Gabe nicht richtig zu sein. Vielleicht sogar ein Grund, ihn von seinen Eltern zu trennen und in ein Heim zu schicken, wie es ihm einer der älteren Kinder einmal angedroht hatte.

Dies war einer der vielen Wendepunkte auf seinem Weg in die Einsamkeit.

Von da an gab es ein Geheimnis in seinem Leben, das er mit niemandem teilen konnte. Ein wunder Punkt, ein Riss in der Seele des Kindes, der es in ständige Angst vor der Entdeckung seines Makels versetzte.

Mit der Zeit wurde Gabriel immer schweigsamer. Er mied seine Altersgenossen, deren unbeschwerte Lebensfreude er nicht mehr teilen konnte, und wurde zum Einzelgänger. Daran änderte auch der Schuleintritt nichts. Die Erwachsenen konnte er leicht täuschen, sie sahen nur das, was sie sehen wollten. Aber die Kinder seiner Umgebung merkten immer recht schnell, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

In den folgenden Jahren vertiefte sich der Riss in seiner Seele und wurde zu einer schwärenden Wunde, die Bitternis aussandte und seine Welt verfinsterte. Zu Anfang versuchte er, die Ursache für sein Unglück loszuwerden und die Unsichtbaren zu ignorieren. Tatsächlich schien er allmählich sogar Erfolg damit zu haben. Die Unsichtbaren rückten mehr und mehr in den Hintergrund. Zum Glück beachteten sie ihn nicht, ja schienen ihn nicht einmal sehen zu können.

Meist wirkten sie verstört, so als hätten sie sich verlaufen oder als versuchten sie, etwas Verlorengegangenes wiederzufinden. Einige stapften mit stur geradeaus gerichtetem Blick an ihm vorbei. Nur ab und zu fiel ihm einer von ihnen auf, wenn er abrupt stehen blieb und suchend in seine Richtung schaute.

Dann passierte etwas, das ihn erkennen ließ, woher diese unsichtbaren Menschen kamen. Es war an einem hellen, freundlichen Tag im Juni, als sein Großvater vor ihm auftauchte.

Gabriel mochte ihn, denn er schien ihn als Einziger zu verstehen. Jedenfalls ließ er ihn so sein wie er war, nahm ihn sogar in Schutz, wenn Gabriels Eltern sein Eigenbrötlerleben kritisierten. Der alte Mann war ein Geschichtenerzähler, besonders wenn es um die alten Sagen und Legenden ging, in denen es von Geistern, Teufeln und Dämonen nur so wimmelte. Gabriel ging auf den Großvater zu, um ihn zu begrüßen, aber dieser reagierte nicht auf ihn. Irritiert und ein bisschen verärgert stellte sich Gabriel ihm in den Weg.

Da ging der Großvater einfach durch ihn hindurch.

Gabriel hob erschrocken die Hände, aber das Einzige, was er von dem alten Mann wahrnahm, war ein eigenartiges Gefühl, so als würde er für einen kurzen Moment den Boden unter den Füßen verlieren.

Zu Hause nahm ihn sein Vater beiseite. Er brauchte ihm die traurige Nachricht eigentlich nicht mehr zu berichten. Gabriel, der sich auf dem Heimweg immer wieder die Tränen aus den Augen gewischt hatte, wusste bereits, dass sein Großvater gestorben war.

In den nächsten Wochen hielt er intensiv Ausschau, ob er seinen Großvater ein weiteres Mal unter den Unsichtbaren ausmachen konnte, aber er sah ihn nie wieder. In der Zeit danach beschlich ihn jedes Mal ein Schaudern, wenn er wieder einen der Unsichtbaren wahrnahm. Aber auch das ging vorüber.

Dann kam sein dreizehnter Geburtstag. Schon seit einiger Zeit verspürte er eine seltsame Unruhe, die ihn hinaus aus seinem Zimmer zu stundenlangen Spaziergängen in die Natur trieb. Die beginnende Pubertät setzte ein Gefühlskarussell in seinem Inneren in Gang, das die Welt gleichzeitig in einen Ort der Wunder und der gefährlichen Schlangengruben verwandelte. Alles schien sich neu zu formieren, die Gegenwart wurde zu einer Bühne, auf der die Zukunft Gestalt anzunehmen begann.

Gabriels Seele öffnete sich und machte ihn verletzbar. Aber noch etwas anderes veränderte sich und markierte eine weitere Wende auf seinem Weg.

Als eine fremde Frau in seltsam antiquierten Kleidern ihn zaghaft ansprach, bemerkte er es fast gar nicht. Sie fragte ihn, ob er ihre Kinder gesehen hätte. Irritiert verneinte er und wandte sich schnell ab, als ihm bewusst wurde, dass sie eine der Unsichtbaren war.

Plötzlich war er für sie sichtbar geworden!

Als Gabriel sich von seinem ersten Schock erholt hatte, versuchte er, sich auch daran zu gewöhnen. Er lernte, dass es besser war, die Annäherungsversuche zu ignorieren. Die Unsichtbaren waren schnell verunsichert und ließen ihn bald wieder in Ruhe.

Bis zu dem Tag, als jemand auftauchte, den er nicht ignorieren konnte. Er sah aus wie einer von ihnen, aber er war anders, er war ein Dämon.

Doch als Gabriel das feststellte, war es bereits zu spät. Dies war der vorletzte Wendepunkt vor seinem endgültigen Abstieg in das Verderben.

Ungereimtheiten

Ich verstehe das nicht, Frau Stark, da muss es sich um einen Irrtum handeln. Herr Bartusch ist nach den Zeugenaussagen während einer Führung in Bad Münstereifel zusammengebrochen. Er war mit einer Reisegruppe aus Essen unterwegs. Alles alte Leutchen, von denen niemand die Kraft gehabt hätte, ihn zu erwürgen, geschweige denn, ihm das Genick zu brechen.«

»Aber der Bericht des Pathologen …«

»Muss falsch sein! Ein Versehen, vielleicht haben Sie da irgendetwas vertauscht. So etwas passiert.«

Jochen Reinders, Polizeibeamter der Dienststelle Euskirchen, schaute seine Kollegin von der Kripo Bonn an und überlegte, was falsch gelaufen war. Er befand sich in einer prekären Lage. Der von ihm verfasste Bericht über den Todesfall Leonard Bartusch und das Ergebnis der pathologischen Untersuchung der Leiche widersprachen sich in einer Weise, dass man ihm, dem Beamten, der als Erster vor Ort ermittelt hat, grobe Fahrlässigkeit unterstellen konnte. Daher war er sofort nach Bekanntgabe des Obduktionsergebnisses nach Bonn gefahren, um die mit den weiteren Ermittlungen beauftragte Hauptkommissarin Stark, die »eiserne Michaela«, wie man sie in Kollegenkreisen hinter vorgehaltener Hand nannte, davon abzubringen, ihm Ärger zu bereiten.

Es war ein ruhiger Freitagnachmittag gewesen, als der Anruf einging. Die Information kam von der Rettungsleitstelle in Euskirchen. Ein Notfall in Bad Münstereifel. Der Notarzt traf unmittelbar vor ihm ein. Er konnte nur noch den Tod feststellen. Die Todesursache wollte er noch nicht genau benennen. Infarkt oder Schlaganfall, etwas in der Art. Auf jeden Fall schloss er eine äußere Gewaltanwendung aus. Die Zeugen standen unter Schock, machten aber dennoch bereitwillig ihre Aussagen.

Der Notarzt hatte in der Zwischenzeit Kontakt zu dem Hausarzt des Toten aufnehmen können und erfahren, dass er unter einer Herzschwäche litt.

Jochen fand bei der Ermittlung nicht den geringsten Hinweis darauf, dass es sich hier um ein Verbrechen handeln könnte. Daher hatte er die Zeugen, nachdem er ihre Personalien aufgenommen hatte, entlassen und darauf verzichtet, die Kripo einzuschalten. Anschließend verfasste er seinen Bericht und machte sich auf den Weg nach Hause.

Dann am nächsten Tag kam der Anruf vom Beerdigungsinstitut. Die Mitarbeiter dort hatten bei der Leiche Spuren am Hals entdeckt, die der Notarzt wohl übersehen haben musste. Jochen erinnerte sich, dass der Tote ein Halstuch getragen hatte. Die Meldung beunruhigte ihn nicht weiter, vielleicht hatte der Tote irgendeine Hautkrankheit gehabt. Ein Verbrechen kam für ihn zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht in Betracht. Alles, was er bisher zu dem Fall aufgenommen hatte, sprach dagegen. Er ergänzte lediglich seinen Bericht um eine kurze Notiz und nahm sich vor, bei Gelegenheit nachzufragen.

Es war die Tochter des Toten, die den Ärger verursacht hatte. Sie verlangte eine Obduktion und sorgte dafür, dass die Mordkommission eingeschaltet wurde.

Das Ergebnis der pathologischen Untersuchung traf Jochen wie einen Schlag ins Gesicht. Die Spuren am Hals des Toten stammten von einem groben Seil, das mit großer Kraft zugeschnürt worden war. Todesursache war ein Bruch der Halswirbel, wie ihn nur ein kräftiger Ruck mit einer Schlinge um den Hals verursachen konnte.

Bartusch war offensichtlich erhängt worden.

»Das kann einfach nicht sein!« Verzweifelt schüttelte Jochen den Kopf.

Die klaren Augen der Hauptkommissarin nagelten ihn trotz seiner Beteuerungen unbarmherzig fest. »Herr Reinders, ich habe persönlich mit dem untersuchenden Arzt gesprochen und mir die Leiche selber angesehen, es gibt keinen Grund, den Obduktionsbericht anzuzweifeln. Andererseits habe ich die Angaben Ihres Berichtes überprüft und keine Fehler gefunden. Bis auf unseren kleinen Widerspruch. Mit den uns jetzt zur Verfügung stehenden Informationen scheint die Todesursache tatsächlich im krassen Widerspruch zum Tathergang zu stehen. Wenn da nicht der Genickbruch wäre, würde ich behaupten, dass unser Kandidat gewissen SM-Praktiken nachging. Das würde jedenfalls die Würgemale am Hals erklären.«

Jochen Reinders schüttelte zweifelnd den Kopf. »Der Mann war weit über sechzig und sah alles andere als … nun ja, extravagant aus.«

Michaela sah sich den Polizisten noch einmal genauer an, dann entspannte sie ihre Gesichtszüge. Sie hatte sich vorher über ihn informiert und konnte sich nicht vorstellen, dass er bewusst wichtiges Beweismaterial zurückgehalten hätte. Offensichtlich war er einfach nur ratlos. Ihn allein für den Schlamassel verantwortlich zu machen, wäre unfair. Er hatte sich lediglich auf die Aussage des Notarztes verlassen. »Ich denke, Sie wissen genauso wie ich, dass unter uns Menschen nichts unmöglich ist. Kennen Sie das Ratespiel, bei dem scheinbar unmögliche Situationen zu erklären sind?«

Jochen zog die Stirne kraus. Worauf wollte die Stark heraus? »Sie meinen so etwas wie die Geschichte mit dem Toten in der Wasserlache, bei dem man keine Tatwaffe hatte finden können?«

»Richtig. Der Eiszapfen, mit dem er erstochen wurde, war geschmolzen. Genauso wie bei dem Unglücklichen in der Wüste, den ein gefrorener Klumpen aus der Toilette eines vorbeifliegenden Flugzeuges erschlagen hatte. Jedes Rätsel hat eine natürliche Lösung. Man muss nur seinen Grips ein wenig anstrengen.«

Jochen spürte Erleichterung, so wie sie sich anhörte, wollte die Stark ihm wohl keinen Strick aus der Sache drehen.

»Sie können jetzt gehen«, entließ sie ihn kurz darauf. »Wenn ich Sie brauche, werde ich mich melden.«

Jochen nickte dankbar und verließ eilig das Büro, heilfroh so glimpflich davongekommen zu sein.

Michaela gingen bereits andere Gedanken durch den Kopf. Sie sah immer noch den entsetzten Ausdruck im Gesicht des Toten. Was war da wirklich passiert?

Sie war gerade dabei, die Unterlagen einzupacken, als das Telefon klingelte. Der Anrufer war ein Arzt des Krankenhauses, in dem auch Bartusch untersucht worden war. Seine Stimme klang unsicher, und er druckste eine Weile herum, bevor er mit der Nachricht herausrückte.

Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, saß Michaela eine ganze Weile stumm und mit Augen, deren Blick sich im Nirgendwo verlor, an ihrem Schreibtisch.

Sie liebte Rätsel, je kniffliger, desto besser. Aber die Fragen, die sich ihr jetzt stellten, wollten ihr überhaupt nicht gefallen. Bartusch war möglicherweise kein Einzelfall. Es hatte bereits einen früheren Todesfall gegeben, der auch zunächst nach einem Herzinfarkt ausgesehen hatte. Der Mann war in einem Restaurant zusammengebrochen. Dann fand man bei der Leiche Hinweise auf einen grausigen Erstickungstod. Der Mund des Toten war mit Lehm ausgefüllt. Es gab in diesem Fall keine Angehörigen, die Fragen stellten, und der Chefarzt hatte entschieden, dass es sich um einen schlechten Scherz gehandelt haben musste, den sich vielleicht einer der Medizinstudenten mit dem Toten geleistet hatte.

Die Sache wurde nicht weiter verfolgt und geriet in Vergessenheit – bis jetzt. Der untersuchende Arzt von damals hatte die Spuren an Bartuschs Leiche gesehen und seine Schlüsse gezogen.

»So weit, so gut«, seufzte Michaela schließlich, »aber was fange ich jetzt damit an?«

Michaelas Traum

Michaela! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht so zappeln, wenn du im Auto sitzt. Du machst den Papa ganz nervös. Am Ende bauen wir noch einen Unfall. Setz dich gerade hin und schnall dich an.«

»Ja, Mama.«

Straßenlaternen, Strommasten, Bäume und Sträucher huschen als konturlose Schatten vorbei.

Regen.

Wolkenverhangener, grauer Himmel, trübe Schleier, die zu Boden schweben, Wassertropfen, die im Fahrtwind über die Scheiben des Fahrzeugs laufen. Das ewig monotone Flapp-Flapp der Wischer.

Papa, der flucht, weil sie die Windschutzscheibe nicht freikriegen.

Mama, angespannt, nervös.

Die Musik im Radio wird unterbrochen für eine Gefahrenmeldung.

»Mama?«

»Kind, nicht jetzt.«

»Mama, ich muss mal.«

»Ruhe verdammt! Gerda, hast du gehört, was die gerade gesagt haben? Da war doch was von einem Geisterfahrer.«

»Ja, kann schon sein. Aber doch nicht hier auf der A 1.«

»Mama, ich muss ganz dringend.«

»Und wenn doch? Sorg’ doch endlich dafür, dass das Kind still ist. Ich werde noch ganz nervös.«

»Michaela, bitte. Wir sind in einer halben Stunde zu Hause, so lange kannst du noch aushalten.«

»Nein! Wir müssen anhalten. Sofort!«

»Wir sind hier auf der Autobahn. Da kann man nicht einfach anhalten.«

»Hier ist etwas Schlimmes. Mama, ich hab Angst. Ich will raus.«

»Herrgott noch mal! Spinnt das Kind jetzt total?«

»Michaela … Um Himmels willen, Kind. Was ist los? Du zitterst ja wie Espenlaub. Hans, wir sollten beim nächsten Parkplatz anhalten. Die Kleine sieht gar nicht gut aus.«

»Es gibt keinen Parkplatz mehr vor unserer Abfahrt. Da können wir genauso gut direkt nach Hause … Scheiße noch mal, was ist das?«

Michaela starrt entsetzt auf den Schatten, der den Sitzplatz neben ihr eintrübt. Es sind nicht ihre Augen, die die Erscheinung wahrnehmen. Die Sinne, die sie erkennen, sitzen in einer Region ihres Körpers, in der ihre schlimmsten Ängste beheimatet zu sein scheinen. Verzerrte Gesichtszüge schälen sich aus dem konturlosen Körper, ein grinsender Mund, tief schwarze, funkelnde Augen, eine Hand, die nach vorne zeigt.

Michaela folgt ihrem Wink, schaut an der Schulter ihres Vaters vorbei und öffnet ihren Mund zu einem entsetzten Schrei.

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Als Michaela feststellte, dass sie schon wieder demselben Albtraum erlegen war, saß sie bereits aufrecht in ihrem Bett. In der Dunkelheit ihres Schlafzimmers konnte sie noch den Nachhall ihres Schreis vernehmen.

Das Geschehen, das sie nacherlebt hatte, lag schon achtundzwanzig Jahre zurück. Sie war damals fünf Jahre alt gewesen. Der kurze Moment ist das Einzige, was von dem fürchterlichen Unfall in ihrem Gedächtnis haften geblieben ist.

Das Auto war frontal mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammengestoßen. Ein »Geisterfahrer«. Michaelas Eltern waren auf der Stelle tot, der Fahrer des anderen Wagens schwer verletzt, ihr war wie durch ein Wunder nichts geschehen.

Ein ganzes Jahr lang wurde sie daraufhin jede Nacht von diesem schrecklichen Albtraum heimgesucht. Dann verschwand er plötzlich, und Michaela, die von ihrer Großmutter aufgezogen wurde, konnte ein halbwegs normales Leben führen.

Bis zu ihrem dreizehnten Geburtstag. Ihre Großmutter fand, dass es nun an der Zeit war, ihrer Enkelin die Geheimnisse des »Gesundbetens«, die in ihrer Familie seit Jahrhunderten von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden waren, anzuvertrauen. In der schwach strukturierten und armen Eifelregion, in der es kaum Ärzte gab, war diese Art des Heilens weit verbreitet. Sie kam vor allem den Menschen zugute, die sich einen Arzt nicht leisten konnten. Es war eine Hilfe, die ohne Gegenleistung erbracht wurde. Wer die Gabe besaß, hatte sie unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Mit ihr Gewinn anzustreben, kam einem Frevel gleich, der unweigerlich eine Gottesstrafe nach sich zog.

Es gab unzählige Geschichten und Gerüchte um die Gesundbeter. Sie konnten nicht nur heilen, die Menschen fürchteten ihren Fluch, dem man eine besondere Kraft zusagte.

Nicht jeder war begeistert, zu den Auserwählten zu gehören, so mancher verbarg lieber sein Talent, um ungestört leben zu können. Michaela hatte davon gehört, zeigte sich interessiert und lernte sehr schnell. Dann sollte sie den ersten Kunden behandeln.

Ihre Großmutter war völlig überrascht, als ihre Enkelin mitten in der Behandlung zusammenbrach. Als die Alte das Kind in den folgenden Nächten schreien hörte, machte sie sich große Vorwürfe, denn ihr war sofort klar, dass Michaelas Albtraum zurückgekehrt war.

Michaela brauchte Jahre, bis sie endlich ihre nächtliche Ruhe wiederfand.

In der Folge lehnte sie alles ab, was ihr nicht natürlich erschien. Eine Haltung, die einen schmerzhaften Keil zwischen sie und ihre Großmutter trieb. Aber sie war den Albtraum los. Jedenfalls hatte sie das angenommen, bis er jetzt wieder zurückgekehrt war.

Wieso?

Wieso jetzt? Es gab nichts in ihrem Leben, das eine solche Reaktion hervorrufen musste. Alles lief in ruhigen, geregelten Bahnen. In relativ ruhigen Bahnen, wenn man von den gelegentlichen Turbulenzen absah, die ihr Beruf als Kommissarin bei der Kripo Bonn mit sich brachte.

Stöhnend rappelte sich Michaela auf und tappte auf nackten Füßen zum Badezimmer. Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel. »Mein Gott, ich sehe mal wieder total scheiße aus.«

Das helle Licht des Bads zeichnete ein schonungsloses Bild in das reflektierende Glas. Rote Striemen liefen ihr quer über das Gesicht, dort, wo sie auf den Falten ihres Kissens gelegen hatte. An den Rändern ihrer Augen und ihres Mundes verrieten winzige Fältchen und Grübchen, dass auch an ihr die Zeit nicht spurlos vorüberging. Die lockige Pracht ihrer blonden Haare war wüst zerwühlt und wirkte, als führe sie ein Eigenleben. In einem Anfall von Masochismus starrte Michaela minutenlang ihr unvorteilhaftes Konterfei an. »Was tust du mit deinem Leben?«

Es war nicht das erste Mal, dass Michaela diese Niedergeschlagenheit verspürte. Dieses Gefühl, jahrelang in die falsche Richtung gegangen zu sein. Jedes Mal schien sich der sichere Boden unter ihren Füßen, der sie sonst wie selbstverständlich trug, buchstäblich in nichts aufzulösen. Ein Schwächeanfall zwang sie, sich mit beiden Händen am Waschbecken festzuhalten.

Trotzdem blieben ihre Augen starr auf ihr Spiegelbild gerichtet, während ihr Mund die nächste Frage formulierte. »Was in aller Welt habe ich falsch gemacht?«

Wie die Blockbuchstaben einer Zeitschrift zog das Resümee ihres Lebens an ihr vorbei:

Michaela Stark, zweiunddreißig Jahre, erfolgreiche und angesehene Kriminalhauptkommissarin, ledig, keine Kinder, ein paar Freunde, die jedoch nur sehr wenig von ihr wussten, hin und wieder eine Affäre, sportlich, gut aussehend, wenn sie nicht gerade um drei Uhr morgens in den Spiegel schaute, einsam und unzufrieden.

Nicht gerade das, was man ein glückliches Leben nannte.

Im gleichen Moment meinte sie, die mahnende Stimme ihrer Großmutter zu hören. »Michaela, wann wirst du endlich begreifen, dass du von unserem Herrn reich beschenkt worden bist?«

»Ja, Oma«, flüsterte Michaela mit einem bitteren Tonfall in ihrer Stimme. »Ich bin unglaublich reich. Und ich führe Gespräche mit Menschen, die schon lange tot sind.«

Sie setzte noch einen lautlosen Fluch hinterher, löschte das Licht und ging wieder zu Bett. Bis zum Klingeln des Weckers blieben ihr noch knapp zwei Stunden.

Hedwigs Nachlass

Es war eine traurige Angelegenheit, die Alina heute zu erledigen hatte. Sie musste den Nachlass ihrer Großtante sichten, um zu sehen, was sie von dem ganzen Plunder behalten wollte.

Traurig und seltsam zugleich. Die alte Frau hatte in ihrem Testament festgelegt, dass jeder der Hinterbliebenen sich drei Teile aus ihrem Besitz aussuchen sollte, die er oder sie, unabhängig vom Wert der Gegenstände, behalten durfte. Der Rest wurde zugunsten eines Waisenheimes versteigert. Sie hatte alles genau festgelegt, den Tag, an dem das zu geschehen hatte, und, um Streitigkeiten zu vermeiden, die Reihenfolge, in der ihre Verwandtschaft das schmucke Häuschen aufsuchen sollte, in dem sie die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Alle waren überrascht, als sie erfuhren, dass Alina als Erste hineingehen sollte, aber es kam noch merkwürdiger.

Morgens um Viertel vor acht stand Alina in Begleitung ihrer Eltern mit klopfendem Herzen vor Hedwigs Haus. Der Notar erwartete sie mit einer Kiste, in der sich für jeden ein mit Namen versehener Briefumschlag befand. Sie sollte die darin enthaltene Nachricht erst beim Betreten des Hauses lesen.

Hineingehen musste sie alleine, so verlangte es das Testament. War sie erst einmal drinnen, hatte sie genau eine halbe Stunde Zeit, den Brief zu lesen und sich ihre drei »Erbstücke« auszusuchen.

Der Notar sah sie mit unverbindlichem Lächeln an. Sein dunkler, makellos sitzender Anzug, die perfekt geknotete Krawatte, der Glanz seiner Lederschuhe, alles an ihm sollte Verlässlichkeit und Kompetenz ausstrahlen, tatsächlich verstärkte seine Präsenz die Unwirklichkeit der ganzen Situation.

Alina trug wie immer einen weiten, schwarzen Rock, darunter schwarze Lederstiefel und einen dicken Pullover, auch er schwarz. Ihre Haare hatte sie für diesen Anlass nachgefärbt – schwarz.

Ringe, teils aus echtem, teils aus imitiertem Silber, zierten mehrere ihrer Finger. Aus Silber waren auch die zahlreichen Ringe und Stecker in ihren Ohren. Ihr Schmuck hatte eins gemeinsam, er zeigte meist religiöse und magische Zeichen der Kelten oder das, was man dafür hielt.

Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte Alina ein Faible für diesen Stil. Für sie bedeutete er jedoch mehr als nur eine Vorliebe für modische Accessoires. Sie war fasziniert von der mit Geistern, Hexen und Naturmächten belebten Sagen- und Legendenwelt der früheren Naturvölker Europas.

Ein paar Schritte weiter, umgeben von der Stille des verlassenen Hauses, die ihr schon im Windfang begegnete, mit dem geöffneten Brief ihrer Großtante in der Hand, musste sie feststellen, dass ihre Marotte keineswegs ein Einzelfall war.

Liebe Alina,

ich habe mich entschieden, dir als Erste die Wahl zu überlassen, welchen Teil meiner selbst du übernehmen willst, weil du mir von all meinen Verwandten am nächsten gestanden hast. Ich weiß, was du jetzt denkst, wir kannten uns kaum, haben fast nie miteinander gesprochen, und ich habe sicherlich nicht gerade begeistert auf deinen Bekleidungsstil reagiert. Aber das sind alles nur Äußerlichkeiten. Wer wie ich gelernt hat, seine Mitmenschen als Ganzes zu sehen, der braucht keine langen Gespräche, um zu erkennen, wie es in dem anderen aussieht.

Du und ich, wir stehen in einer langen Reihe, wir sind Magierinnen, wenn auch auf eine andere Weise, als die Allgemeinheit dieses leider so abgegriffene Wort versteht. Wir haben die Gabe, mit dem inneren Auge sehen zu können. Das ist ein seltenes und überaus wertvolles Talent, das jeden Tag aufs Neue gepflegt werden will. Wenn du mir folgen und in die Tradition in unserer Familie eintreten willst, benötigst du drei Gaben, die ich dir jetzt anbieten möchte. Wissen, Schutz und Verantwortung. Das heißt, eigentlich sind es vier Dinge, denn die Liebe ist unerlässlich, um den Lebensweg des Menschen zu einem guten Ende zu führen.

Doch diese brauche ich dir nicht zu geben, du besitzt sie bereits im Überfluss. Ja, ich weiß, du empfindest das meist ganz anders, aber glaube mir, denn ich kann, wie schon gesagt, mit dem inneren Auge sehen.

Nun zurück zu den drei Gaben. In meinem Nachlass befinden sich zwei Bücher und ein Amulett, ich habe sie gut versteckt, sodass nur diejenige sie finden kann, für die sie bestimmt sind.

Das Amulett soll dir Schutz gewähren, es ist nicht nur sehr wertvoll, sondern auch überaus wirksam. Trage es immer, denn du hast es von nun an bitter nötig.

Das eine der beiden Bücher ist mein altes Tagebuch. Ich habe dort nicht nur die Stationen meines Lebens festgehalten, ich habe es auch mit dem Wissen gefüllt, das ich im Laufe der Jahre erworben habe. Du wirst überrascht sein über seine Form. Es ist weder eine eurer Kladden noch ein eingebundener Prachtschinken. Es ist ein Laptop, ein modernes und hilfreiches Gerät der neuesten Technik. Wenn du die dort gespeicherten Dateien durchschmökerst, wirst du wissen, wieso ich alte Schachtel auf so etwas zurückgegriffen habe.

Das andere Buch, denke ich, entspricht schon eher deinen Vorstellungen vom Nachlass einer alten Dame. Es ist ein uralter Band, geschrieben in altdeutscher Sprache. Wenn du dich bemühst, kannst du es lesen. Ich habe eine Übersetzungshilfe in den Dateien des Laptops gespeichert.

An dieser Stelle darfst du dir einen zweifelnden Seufzer deiner Großtante vorstellen. Liebend gerne hätte ich dieses Werk eines gefährlichen Irren verbrannt, aber ich befürchte, dass es eines Tages dringend gebraucht wird, um dem Wahnsinn eines grausamen Dämons ein Ende zu setzen.

Wie du jetzt vielleicht schon bemerkt hast, liegt in diesem Erbe die Verantwortung, von der ich eingangs gesprochen habe. Mehr will ich dazu nicht sagen. Wenn du das Buch gefunden hast, musst du schon selber nachsehen, was es beinhaltet.

Nun kommt der schwierigste und unsicherste Teil. Der Notar, den ich mit der Regelung des Nachlasses beauftragt habe, hat einen ausgezeichneten Ruf, dennoch möchte ich sicher gehen, dass kein Unbefugter dieses Schreiben an sich reißt und das Buch, von dem ich eben sprach, entwendet. Du musst jetzt zeigen, dass du die Gabe besitzt. Geh einfach los und höre, was dein Gefühl dir sagt. Du wirst alles finden, da bin ich mir sicher.

Zum Schluss bleibt mir nur noch zu sagen, dass ich dir alles Glück der Welt für dein Leben wünsche, du wirst es, fürchte ich, bald nötig haben. Aber sei dir gewiss, wenn du einsam bist und verzweifelt, wenn die Dunkelheit dich zu ersticken droht und du nicht ein noch aus weißt, du bist niemals alleine. Suche Zuflucht in deinem Inneren. Ich werde dort auf dich warten, ich und all die anderen, denn wir sind stets bei dir.

In Liebe,

Hedwig

Alina starrte wie in Trance auf das Blatt, das in ihren Händen zitterte. Erst als ihr der Brief aus der Hand fiel, kam sie wieder zu sich.

Wie viel Zeit blieb ihr noch? Schnell blickte sie auf ihre Uhr. Nur noch zwanzig Minuten, dabei hatte das Haus mindestens zehn Räume. Wie sollte sie da alles finden können?

Höre auf dein Herz.

Alina schüttelte den Kopf, bis er wieder klar war, dann ging sie los. Schon nach den ersten Schritten zog sie etwas nach links, die Treppe schien plötzlich nach ihr zu rufen. Schnell sprang sie hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend. Das Badezimmer? Würde sie dort das Amulett finden?

Nein!

Die Stimme war so laut in ihrem Kopf, dass sie sich automatisch nach dem Verursacher umsah. Aber da war natürlich niemand.

Wie ging es weiter?

Die Kammer dort. Ein begehbarer Kleiderschrank. Geräumig und erstaunlich modern. Alina streifte mit ihren Fingerspitzen an den aufgehängten Kostümen, Blusen und Kleidern entlang, bis sie ein Kribbeln fühlte. Eilig durchsuchte sie die Taschen des Sakkos, das sie gerade in der Hand hielt.

Tatsächlich, da war etwas.

Eine goldene Kette mit einem einzelnen eingefassten Stein, geschliffen in der Form eines fünfzackigen Sterns. War das nicht ein Zeichen des Teufels?

Nein, mein Kind, das Pentagramm war schon immer ein Schutzzeichen.

Fasziniert schaute sich auf das schillernde Licht, das von den perfekt geschliffenen Flächen des Steins ausging. Es war unmöglich, seine Farbe zu bestimmen, sie wechselte ständig. Mal war er grün, dann wieder blau, dann rot, dann lila. Vorsichtig streifte Alina die Kette über und schob das Amulett unter ihren Pullover. Es fühlte sich angenehm warm an auf ihrer Haut.

»Schnell, weiter, der Laptop«, trieb sie eine innere Stimme an. Es war dieselbe wie vorhin. Alina trat auf den Flur und wurde wie von unsichtbaren Fäden in das Schlafzimmer gezogen. Als sie den ersten Schritt in den durch schwere Vorhänge abgedunkelten Raum gemacht hatte, blieb sie abrupt stehen.

Hier hatte Hedwig ihre letzten Atemzüge gemacht. Ihre Präsenz schwebte noch immer im Raum, wie die letzten Schleier des Morgennebels, den die aufsteigende Sonne auflöste.

Plötzlich fühlte Alina eine seltsame Traurigkeit. Sie hatte ihre Großtante nie besucht, und wenn diese selbst einmal bei ihr zu Hause war, hat sie sich schmollend in ihr Zimmer verzogen. Sie hatte sich der alten Dame gegenüber immer hilflos und schuldig gefühlt, obwohl sie ihr nie etwas getan hatte.

Der Anblick des Laptops riss sie aus ihren Gedanken. Er lag aufgeklappt auf dem Bett. »Na, das ist ja wohl ein tolles Versteck«, murmelte sie, klappte ihn zu und wollte gerade gehen, als das Gerät laut piepste.

Erstaunt klappte sie es wieder auf und sah, dass der Laptop eingeschaltet war. Auf seinem Bildschirm prangte eine seltsame Botschaft.

Das Versteck des Buches kannst du nur von mir persönlich erfahren.

Irritiert kramte Alina den Brief hervor – hatte sie irgendeinen Hinweis übersehen? Aber auch als sie ihn das zweite Mal durchgelesen hatte, konnte sie keinen Anhaltspunkt finden, der sie zum Versteck des Buches geführt hätte.

Besorgt schaute Alina auf ihre Uhr. Ihr blieben nur noch knapp fünf Minuten. Da fiel ihr der letzte Satz ihrer Großtante ein. Wir sind stets bei dir. Meinte sie das damit? Unsicher schloss Alina die Augen und atmetet mehrmals tief ein.

»Was mache ich hier?«, drängte eine Frage in ihr hoch, die sie jedoch entschlossen beiseite schob. Bis hierher hatte es genauso geklappt, wie Hedwig es angekündigt hatte. Trotzdem löste der Zweifel etwas aus.

Ihr wurde plötzlich bewusst, warum sie ihre Großtante bisher gemieden hatte. Hilflosigkeit und Schuldgefühle, das hatte sie immer gespürt und war davor geflohen. Dabei wollte Hedwig ihr nur zeigen, wer sie wirklich war.

Auch jetzt ging es nicht darum, teure Güter zu erben. Ihre Großtante wollte ihr etwas viel Wertvolleres hinterlassen, eine Aufgabe, eine Bestimmung für ihr Leben. Diesmal war sie jedoch bereit und willens alles zu tun, um sich dessen würdig zu zeigen. Als Alina das erkannt hatte, vernahm sie plötzlich laut und klar die Stimme ihrer Tante, die ihr verriet, wo sich das Buch befand, für das sie die Verantwortung übernehmen sollte.

Als der Notar wenige Minuten später die Tür öffnete, um Alina zu verkünden, dass ihre Zeit abgelaufen war, stand sie bereits in der Diele und drückte ihren Besitz fest an die Brust.

Dem Mann fiel der veränderte Ausdruck in den Augen des Mädchens auf, aber er verbarg seine Verwunderung. Auch dafür hatte er genaue Anweisungen bekommen.

Der dreizehnte Tod

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