Wladimir Megre
Anastasia
Band 1:
Tochter der Taiga
aus dem Russischen übersetzt von
Helmut Kunkel
Govinda-Verlag
Herausgegeben von Ronald Zürrer
Alle Titel von Wladimir Megre zu Anastasia:
Band 1: Anastasia – Tochter der Taiga
Band 2: Anastasia – Die klingenden Zedern Russlands
Band 3: Anastasia – Raum der Liebe
Band 4: Anastasia – Schöpfung
Band 5: Anastasia – Wer sind wir?
Band 6: Anastasia – Das Wissen der Ahnen
Band 7: Anastasia – Die Energie des Lebens
Band 8.1: Anastasia – Neue Zivilisation
Band 8.2: Anastasia – Die Bräuche der Liebe
Band 10: Anastasia – Anasta
Hinweis zur Nummerierung: Gemäß dem Autor soll Band 9 im Laufe der Zeit aus Texten von Lesern und Bewohnern von Familienlandsitzen zusammengestellt werden.
Kontaktadresse des Verlages:
Govinda-Verlag, Postfach, 8462 Rheinau | info@govinda.ch
govinda.ch
Offizielle Website des Autors (Informationen über Wladimir Megre, seine Bücher, Leserveranstaltungen und weltweiten Projekte):
www.vmegre.com
© 2003/2013 Govinda-Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten.
Originaltitel: Анастасия
Übersetzung aus dem Russischen: Helmut Kunkel
Lektorat: Dania Asfandiarowa
Gestaltung Umschlag: Ronald Zürrer
Umschlagbild: © Kursiv
Erstausgabe als E-Book – August 2019
ISBN 978-3-905831-55-9 (E-Book)
ISBN 978-3-905831-17-7 (gedruckte Ausgabe)
Inhalt
1 Perestroika
2 Die klingende Zeder
3 Die Begegnung
4 Tier oder Mensch?
5 Was für Menschen sind das?
6 Ein Schlafzimmer im Wald
7 Anastasias Morgen
8 Anastasias Strahl
9 Ein Konzert in der Taiga
10 Wer einen neuen Stern entzündet …
11 Anastasias Vorliebe für Kleingärtner
12 Einige von Anastasias Ratschlägen
Heilende Samen
Wen die Bienen stechen …
Morgenstunde, sei gegrüßt!
Das abendliche Waschritual
Der innere Ratgeber
13 Träumen unter dem eigenen Stern
Die Sternenfrau
14 Natürliche Kindeserziehung
15 Das Waldgymnasium
16 Aufmerksamkeit gegenüber den Mitmenschen
17 Fliegende Untertassen? Nichts Besonderes!
18 Das Gehirn, ein Supercomputer
19 «In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen …»
20 Eine andere Weltanschauung
21 Eine Todsünde
22 Wie im Paradies
23 Wer soll unseren Sohn aufziehen?
24 Ein seltsames Mädchen
25 Es kribbelt und krabbelt
26 Träume erschaffen die Zukunft
27 Die Entrückung aus dem Zeitalter der Dunkelmächte
28 Starke Menschen
29 Wer bist du, Anastasia?
Über den Autor
1
Perestroika*
Mit dem Beginn der Perestroika in Russland im Jahre 1990 war es den Menschen plötzlich erlaubt, sich selbstständig zu machen und ein eigenes Unternehmen zu gründen. Für die Bürger der Sowjetunion, wo das Unternehmertum strafbar war und sogar mit Gefängnis geahndet werden konnte, war diese Entscheidung revolutionär.
Etwa ein Drittel der Bevölkerung, besonders in den Hauptstädten und Metropolen, träumte von einer selbstbestimmten Zukunft und einem Leben wie dem westlicher Millionäre.
Nowosibirsk, mein damaliger Wohnort, war dreitausend Kilometer von Moskau entfernt, aber selbst dort tat man sein Bestes, um den Menschen in der Hauptstadt der Sowjetunion in nichts nachzustehen, was die Gründung von privaten Unternehmen betraf.
Die Betriebe der ersten sibirischen Geschäftsleute waren zunächst klein. Sie boten Dienstleistungen an, wurden im Einzelhandel tätig oder eröffneten Cafés und kleine Geschäfte. Wer es schaffte, sich gebrauchte, aber funktionstüchtige Ausrüstung und Maschinen zu besorgen, sie im Keller aufzustellen und den damals modischen Plastikschmuck zu produzieren, galt praktisch schon als Industrieller.
Ich hatte Glück. Mir gelang es, die drei größten Passagierschiffe der westsibirischen Flussschifffahrtslinie zu chartern. Ich benutzte eines von ihnen – einen Dreidecker mit Restaurant, Bar und Konferenzsaal – für Vergnügungsfahrten und veranstaltete auf ihm Tagungen für sibirische Unternehmer.
Ich war damals gewählter Präsident einer überregionalen Vereinigung von Unternehmern, die sich «Sibirische Genossenschaft» nannte. Ich hielt mich für einen aufstrebenden, erfolgreichen Unternehmer. Allerdings gab es auch ernste Probleme. So manchem waren die neuen Geschäftsleute ein Dorn im Auge.
Zu Beginn der Perestroika spaltete sich die russische Bevölkerung in zwei scheinbar unvereinbare Teile. Einige wollten sich selbstständig machen, und da sie nichts Schlechtes im kapitalistischen System sahen, wollten sie in einer Gesellschaft nach westlichem Vorbild leben. Auf der anderen Seite gab es die Kriegsveteranen und Traditionalisten, die die neuen Entwicklungen im Land ablehnten. Auch ihr Standpunkt war durchaus nachzuvollziehen.
Vor dem Beginn der Perestroika konnte ein älterer Mann – viele waren Frontveteranen oder sozialistische Arbeitshelden – an einem Feiertag seine Medaillen anlegen und in einer Parade mitmarschieren. Er wurde zu Vorträgen vor Schülern eingeladen. Nach eigenem Ermessen hatte er ein ehrenhaftes und sinnvolles Leben geführt, zum Besten der sozialistischen Gesellschaft. Nun jedoch hatte sich alles drastisch geändert, und die einstigen Helden sollten auf einmal am Aufbau einer falschen Gesellschaftsform mitgearbeitet haben. Sie hätten eine kapitalistische – nicht eine sozialistische – Gesellschaft errichten sollen. Es sei ein Fehler gewesen, 1917 den russischen Zar abzusetzen und seine gesamte Familie zu töten. Die Auszeichnungen des zuvor geehrten Mannes bezeugten jetzt nicht mehr seinen Mut, sondern zeigten, dass er in erster Front an etwas mitgearbeitet hatte, was die Gesellschaft nicht brauchte. Wie konnte ein solcher Mann jetzt seinen Kindern und Enkeln in die Augen schauen? Solche Leute nahmen zu Beginn der Perestroika an Kundgebungen und Demonstrationen teil.
Eines Tages geriet ich mitten in eine solche Massenversammlung.
Während meiner Verhandlungen mit Geschäftsleuten aus der Türkei teilte mir mein Sekretär mit, dass sich in der Nähe der Büroräume des Nowosibirsker Regionalkomitees der Kommunistischen Partei spontan eine größere Menschentraube bildete und dass die Leute empört Parolen gegen Unternehmer ausriefen. Ich entschuldigte mich bei der türkischen Delegation und beschloss, mit ein paar meiner Kollegen dorthin zu gehen. Wir befürchteten, dass die Leute nach der Demonstration private Schaschlikstände und kleine Läden zertrümmern würden. «Du solltest deine Kleidung wechseln», riet mir einer meiner Kollegen. «Wenn die Leute uns in unseren Geschäftsanzügen sehen, werden sie umso ungehaltener sein.»
«Hast schon recht, aber dafür ist jetzt keine Zeit.»
Wir fuhren also in zwei Autos zur Massenversammlung, einem importierten Mercedes und einem russischen UAZ-Jeep. Wir stiegen in eleganten Anzügen und weißen Hemden mit Krawatte aus den Autos, wobei ich mit meinem extravaganten weißen Anzug wie ein Londoner Dandy aussah. Wir standen dort, beobachteten die Menge und wussten nicht, was zu tun war.
Die Versammlung bestand aus etwa 1500 oder 2000 Menschen. Rote Flaggen wurden über den Köpfen der Menge geschwenkt. Dazu hörten wir die Parolen: «Nein zum Kapitalismus!», «Unternehmer saugen das Blut der Menschen», «Zieht die Verräter der Partei zur Rechenschaft!» Ein älterer Mann mit Medaillen auf der Brust sprach in Rage und Verzweiflung auf einer improvisierten Bühne.
«Unsere Generation wurde betrogen! Unsere gesamte Generation! Wir haben in Schützengräben Blut gelassen. Wir haben die Faschistenschweine davon abgehalten, unsere Heimat zu überrumpeln. Wir litten Hunger und lebten in Zelten, aber wir erbauten Fabriken und Manufakturen. Wir haben Städte erbaut. Wir haben den Sozialismus aufgebaut und träumten vom Kommunismus.»
Gelegentlich fiel ein Invalide auf Krücken beipflichtend ein: «Wir haben uns nicht geschont.»
Zwei alte Frauen riefen vereint: «Rente! Rente!»
Es war offensichtlich, dass die Menge den Sprecher aufstachelte.
«Wir werden den Blutsaugern und Spießern Einhalt gebieten. Es gibt auf dem Markt nicht einmal mehr Fleisch zu kaufen, weil sie alles für ihre Schaschlikstände aufgekauft haben. Lasst uns ihre Fressbuden zerschlagen wie Schlangennester!», forderte er.
Nun erklangen Sprechchöre: «Schlagt sie kaputt! Schlagt sie kaputt! Schlagt sie kaputt!»
«Wir haben unser Leben für unsere Kinder aufgebaut, nicht für die da!», rief er und deutete gestikulierend auf unsere Gruppe.
Alle Demonstrationsteilnehmer schauten nun in unsere Richtung. Es wurde totenstill. Die Menge schien bereit, über uns herzufallen. Da ergriff ich ein Megaphon und kletterte aufs Dach des Jeeps, ohne recht zu wissen, was ich sagen würde. Ich begann also ohne einleitende Worte.
«Wie ihr sagt, habt ihr für eure Kinder gearbeitet – nun, hier sind wir, eure Kinder. Wir haben beschlossen, Unternehmer zu werden. Und ein Leben zu führen, das dem in Amerika in nichts nachsteht. Das Gesetz erlaubt es uns jetzt, private Geschäfte zu betreiben. Vielen Dank für eure Bemühungen, aber was ihr aufgebaut habt, ist einfach nicht nach unserem Geschmack, und wir wollen uns etwas Eigenes schaffen. Wenn ihr aber unsere Verkaufsstände zertrümmert, werdet ihr keine Rente bekommen, denn wir sind es, die das Geld für eure Rente bezahlen. Unternehmer sind keine Blutsauger. Unternehmer sind Leute, die versuchen, für ihr Land Gutes zu tun – und natürlich auch für sich selbst.»
Der Sprecher auf der Bühne hatte kein Megaphon, also musste er schreien, um mich zu unterbrechen.
«Da ist er, seht her! Der Anführer all derer, die das Blut der Leute saugen. Sie sind diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass unsere Lebensmittelregale leer sind. Sie sind es, die das Fleisch aufgekauft haben und es jetzt als Schaschlik zum dreifachen Preis verkaufen. In nur drei Tagen ist uns das Fleisch ausgegangen.»
«So, so, interessant – aber ich glaube, Sie meinen eigentlich etwas anderes: Ihr habt geschuftet und geschuftet, und trotzdem hattet ihr nur Fleisch für drei Tage.»
Die Zwischenrufe aus der Menge verebbten. Die Menschen hörten jetzt unserem Dialog zu, wobei sie ihre Blicke immer dem jeweiligen Sprecher zuwandten. Der Mann auf der Bühne versuchte es nicht, mein Argument zu erwidern. Statt zu antworten, rief er laut: «Holt ihn runter von seinem Auto, den Blutsauger des Volkes! Schaut nur, wie diese Bastarde angezogen sind!»
Alle möglichen Gegenstände flogen jetzt aus der Menge auf mich zu. Zwei eingelegte Tomaten und ein Ei zerplatzten auf meinem weißen Anzug. Eine weitere Tomate landete an meinem Kopf. Die anwesenden Polizeibeamten bildeten eine Absperrung zwischen der Menge und dem Auto, auf dem ich stand. Der Polizeikommandant rief mir zu: «Steig von deinem Auto und hau ab. Wir können die Menge nicht zurückhalten.»
Ich wollte aber nicht klein beigeben, sondern schrie ins Megafon: «Wollt ihr, dass eure Kinder in Lumpen herumlaufen wie ihr? Ist es das, wofür ihr kämpfen wollt?»
Ein paar Leute lösten sich aus der Menge, durchbrachen die Polizeibarriere, rannten auf mein Auto zu und fingen an, daran zu rütteln. In diesem Augenblick – ich weiß selbst nicht genau, wie es geschah – begann ich Majakowskis Gedicht über Lenin** zu zitieren:
Es ist Zeit …
von Lenin
zu sagen heb ich an.
Aber nicht,
weil Welt und Leid
vergangen wären.
Es ist Zeit,
weil unser herber Gram
begann,
sich zum hell bewussten Schmerz
zu klären.
Zeit,
heb wieder
Lenins Losung in den Wirbelwind!
Sollten wir
an Tränenpfützen
trüb erschlaffen?
Lenin
ist heut lebender,
als die am Leben sind.
Er verleiht uns
Wissen, Kraft
und Waffen.
Die Menge erstarrte vor Staunen. Die Leute, die an dem Auto geruckelt hatten, hielten inne und hoben den Kopf. In dem Augenblick kam von der Seite her langsam ein Wodka-Lieferwagen über das Gras herbei, und ich und meine Kollegen beschlossen, zusammenzulegen und die Menge mit Wodka zu beschwichtigen. Während sich das Fahrzeug mir näherte, rezitierte ich weiter:
Menschen und Boote.
Wenn auch zu Lande.
Während man so
seine Tage verlebt,
mancherlei
sudlige Menschengirlande
rau
an unsere Flanken
sich klebt.
Dann, wenn es gelang,
sich bösen Stürmen
zu entbalgen,
kehrt man
auf sein Sonnenplätzchen heim,
setzt sich,
schabt ihn ab,
den grünen Bart der Algen,
der Medusen himbeerfarbnen Schleim.
Ich
säubere mich
unter Lenins Sonne,
um in der Revolution
dann vorwärts zu schwimmen.
Als der Lieferwagen mit Wodka ganz dicht an mein Auto herangekommen war, sprang ich auf die Ladefläche des Lieferwagens herüber und sagte: «Nur hatten wir leider Pech, Leute. Jedem seine eigene Revolution!»
Der Sprecher rief wieder dazwischen: «Seht ihr nicht, er macht sich über uns lustig! Er hat das Gedicht über Lenin rezitiert, damit wir alle aufhören, klar zu denken. Und genau das habt ihr auch getan.»
«Ich habe mir große Mühe gegeben, in der Schule Gedichte zu lernen. Auch strengte ich mich sehr an, sie aufsagen zu können, um zu beweisen, dass unsere Generation die Bestrebungen unserer Vorväter kennt.»
«Auf einen Schlag hat er mit seinem Gedicht alle übertölpelt, dieser Ausbeuter, dieser Blutsauger des Volkes. Was steht ihr da so belämmert herum? Zerquetscht diese Hydra, schlagt sie zu Brei. Er hat sich hinter Lenin und Gedichten verkrochen.»
Einige in der Menge riefen laut aus und versuchten erneut, die Polizeikette zu durchbrechen.
«Ich habe Gedichte vorgetragen, damit wir eine normale Unterhaltung anfangen können. Kommt her, genehmigt euch ein Glas und lasst uns vernünftig weiterreden, wie es sich für Russen gehört!»
Ich öffnete die Seite des Lieferwagens, setzte mich auf eine Kiste, öffnete eine Flasche Wodka, dann eine zweite und goss Wodka in kleine Plastikbecher. Ich hob einen Becher und nahm einen Schluck. Dann wandte ich mich an diejenigen, die die Polizeibarriere durchbrochen und meinen Jeep durchgeschüttelt hatten. Sie standen bereits um den offenen Lieferwagen herum.
«Na los, genehmigt euch auch einen, Leute. Lasst uns einen heben, sonst können wir uns nicht richtig unterhalten.»
Die Männer begannen nach den Bechern zu schnappen.
«Warum haben wir uns eigentlich so aufgeregt? Man kann sich doch auch normal unterhalten», bemerkte ein kleiner bärtiger Mann, und sein Freund fügte hinzu: «Warum sprechen wir nicht darüber, unter welchen Umständen ein Unternehmen etwas Gutes sein kann?»
Einer der Männer, die sich bereits einen Drink genehmigt hatten, wandte sich an die Polizisten und sprach: «Leute, haltet noch ein wenig aus, sonst bricht die Menge durch und hindert uns daran, normal zu reden.»
«Stimmt genau! Was für eine Unterhaltung kann man mit der Menge führen? Das gäbe nur einen Riesenlärm, sonst nichts», meinte ein anderer.
«Wir genehmigen uns noch einen, dann helfen wir euch.»
«Ihr solltet lieber den Soldaten helfen. Schenkt nach.»
Ich füllte weitere Becher mit Wodka.
«Was für Gedichte kennst du sonst noch?», fragte ein sehr großer, barhäuptiger Mann mit Bassstimme.
«Auswendig? Nur was ich in der Schule gelernt habe», antwortete ich.
«Gut, dann sag ein Gedicht von der Schule auf, und ich werde dazu ins Mikro singen. Immer wenn ich trinke, komme ich in Stimmung zu singen.»
«Einsam glänzt ein weißes Segel in des Meeres blauem Nebel!», rezitierte ich, und der Kahlkopf begann in mächtiger Bassstimme einzustimmen, verstärkt durch das Megafon:
Einsam glänzt ein weißes Segel
In des Meeres blauem Nebel!
Von der Fremde, was verlangt’s?
Was verblieb am Heimatstrand? ***
Die Menge durchbrach die Polizeisperre. Eine größere Menschengruppe, zumeist männlich, rannte auf den Lieferwagen zu.
Der robuste Kahlköpfige hörte auf zu singen und rief mit sonorem Bass: «Stellt euch an, wie es sich gehört! Das hier ist eine normale Unterhaltung, kein lärmender Aufruhr.»
Die Neuankömmlinge stellten sich in einer Warteschlange an.
Der Sprecher auf der gegenüberliegenden Bühne redete nun weiter, an die vor ihm stehenden Menschen gewandt: «Seht, er macht die Leute betrunken. Frauen! Er macht eure Männer betrunken.»
Ein Wirrwarr unzufriedener Stimmen machte sich breit, größtenteils Stimmen älterer Frauen.
Ich ergriff erneut das Megafon und wandte mich an die Frauen: «Verzeihen Sie, meine Damen, ich hab es einfach verschwitzt zu sagen: Auf der anderen Seite des Platzes steht ein Lieferwagen mit importierten Hähnchenkeulen, ein Geschenk an Sie alle von der Genossenschaft der Unternehmer. Das ist nicht als Bestechung gedacht, sondern als kleine Aufmerksamkeit, damit wir eine Verschnaufpause haben können und Sie unsere Diskussion nicht stören. Natürlich reicht eine Wagenladung nicht für alle, das gebe ich zu, aber zumindest einige von Ihnen werden etwas umsonst bekommen.»
Eine größere Gruppe von Frauen – einige schnell gehend, andere laufend – eilte zum Lieferwagen mit den Hähnchenkeulen. Auf diese Weise waren die Protestler in zwei Gruppen geteilt: eine beim Wodkalaster, die andere beim Hähnchenkeulenlaster. Ich stellte fest, dass die Menge sich beruhigt hatte. Meine Kollegen und ich stiegen in die Autos ein und fuhren zurück zu meinem Schiff.
Während ich mich von den Wodkatrinkern entfernte, hörte ich jemand sagen: «Gar kein schlechter Typ, und wir hätten ihn fast zum Krüppel geschlagen.»
Solange das Schiff vor Anker lag, wurde es als Club für Unternehmer genutzt. Ältere und jüngere Leute trafen sich dort oft, sprachen über das Geschäftsleben und tauschten Erfahrungen aus. Fast jeder hatte das Gefühl, dass ein ungewöhnlich schönes Leben im Anzug war. Bisweilen versuchte ein Skeptiker, den anderen diese herrlichen Träume zu vergällen. Eines Tages kam der Mann, der auf der Kundgebung gesprochen hatte, zum Schiff. Der Wächter wollte ihn nicht einlassen, doch der Mann forderte, mit mir zu sprechen. So kam ich heraus, und wir stellten einander vor. Er hieß Pjotr Iwanowitsch und bat um Erlaubnis für den Besuch unseres Clubs.
«Was wollen Sie denn in unserem Club, Pjotr Iwanowitsch, wenn Sie gegen Unternehmer und gegen Privateigentum sind?»
Er entgegnete: «Ich bin gegen alles Absurde im Leben. Ich möchte Ihnen, der Avantgarde von heute, meine Meinung sagen. Oder fürchten Sie sich davor, sich andere Ansichten anzuhören?»
Einer meiner Kollegen schlug vor: «Lass ihn ruhig herein, sodass er sich den Kummer von der Seele reden kann. Das ist doch besser, als wenn sie wieder eine Kundgebung abhalten und die Leute kirre machen.»
Ich war einverstanden.
Pjotr Iwanowitsch kam Woche für Woche. Wir hatten vereinbart, dass er nicht länger als fünf Minuten sprechen sollte. Wie es sich herausstellte, hatte er früher Geschichte und Philosophie unterrichtet. Seine Reden im Unternehmerclub stießen auf herzlich wenig Interesse, doch hin und wieder brachten sie mich dazu, lange über den Sinn des Lebens nachzugrübeln.
Eines Tages trat er wieder ans Mikrofon und sprach zu den an den Restauranttischen sitzenden Unternehmern: «Wieso glauben Sie eigentlich, in Zukunft glücklich sein zu können? Drüben in Amerika gibt es schon sehr lange private Unternehmer, und sie haben dort viel mehr Geschäftsleute als wir hier in Russland. Vielleicht können wir in zwanzig Jahren den amerikanischen Lebensstandard erreichen, aber in diesen zwanzig Jahre werden sie uns noch weiter voraus sein als jetzt. Es wird dann zwar mehr Unternehmer in Russland geben, aber das heißt noch lange nicht, dass es auch mehr glückliche Menschen hier gibt.»
Damals, zu Beginn der Perestroika, haben sich unsere Unternehmer der ersten Stunde keine Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht. Wir wollten einfach ein gutes Leben.