Detlef Klewer (Hrsg.)

BIOMECHANOMICON

Lovecraft in Space – Eine Horror-SF-Anthologie

 

AndroSF 101

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Juli 2019

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild & Illustrationen: Detlef Klewer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: IWO

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 162 4

 


Tobias Habenicht
Die Sprache der Alten

 

Detlef Klewers Illustrationen in BIOMECHANOMICON


Wir fallen. Mit jedem Ruck, jedem Hammerschlag, der unser Landungsboot trifft, pressen mich die Gurte etwas mehr zusammen. Die »Nocturno« wird hin und her geworfen, wie eine Maus von einer übermütigen Katze. Das ist keine Landung, das ist ein mühsam kontrollierter Absturz. Das kalte Schwarz des Weltraums ist längst einem brüllenden Inferno gewichen, durch die Sichtluken scheinen die Flammen bis ins Cockpit kriechen zu wollen. Das Schiff bockt und taumelt, Fetzen dichterer Atmosphäre rammen uns auf ihrem Weg ins All, während wir uns Kilometer um Kilometer abwärts kämpfen, der leblosen Oberfläche eines Planeten entgegen, auf dem wir eigentlich nicht landen dürfen.

Gormon IV gibt sich keine Mühe, einladend zu erscheinen. Sein schwaches Magnetfeld setzt dem Sonnenwind keinen nennenswerten Widerstand entgegen, und das blaue Gestirn dieses Systems zeigt kein Erbarmen. Der Partikelstrom hämmert auf den Planeten ein, zerrt an seiner Atmosphäre und wühlt ihre oberen Schichten zu einem ewigen, den ganzen Planeten umfassenden Hurrikan auf. Es ist, als wisse diese Welt um die Direktive des obersten Technokratikums der Solaren Hegemonie, die es unter schwerste Strafe gestellt hat, ihn anzufliegen. Warum wir es trotzdem tun? Ich wusste es mal. Aber das war, bevor wir in Gormons Atmosphäre eingetreten sind, wie eine lebensmüde Schiffsratte, die einem vielzähnigen Torg ins offene Maul springt.

»Meister?«, brülle ich, im vergeblichen Versuch, das Tosen des Windes und das Heulen der überlasteten Triebwerke zu übertönen. Er reagiert nicht. Lordscriptor Echnon Varus sitzt ganz entspannt neben mir, die Augen auf einen Holoschirm geheftet, als gingen ihn die Unannehmlichkeiten der planetaren Landung gar nichts an. Drei heftige Schläge schütteln das Schiff und werfen mich wie eine Gliederpuppe hin und her. Varus bleibt kerzengerade sitzen, als sei er fest in seinen Sitz eingebaut, ein Block aus Stahl und Plastik, wie jedes andere Schiffsaggregat. Ich kann meinen Blick nicht von seiner Gestalt nehmen. Weshalb kommt mir dieser Vergleich gerade jetzt erstmalig in den Sinn?

Als ich ihn kennenlernte, noch als Student, da hatte er seine Konversion schon hinter sich. Arme, Beine, die gesamte Rumpfmuskulatur – nichts war mehr aus Fleisch und Blut. Manche sprachen von einer unheilbaren Krankheit, die seine Muskeln atrophieren ließ, aber nicht wenige argwöhnten, der verkopfte Scriptor Magnus, der er damals noch war, habe lediglich versucht, soviel des unzuverlässigen Fleisches loszuwerden, wie gerade noch möglich war, ohne seine Menschlichkeit ganz zu verlieren. In den folgenden Jahren, in denen ich ihn als sein Schüler begleitete, versagte ein Organ nach dem anderen und musste ersetzt werden, bis nichts als Hirn und Herz übrig blieben. Dabei zeigte Varus nie eine Regung des Bedauerns, sondern nahm alles mit Gleichmut hin.

Inzwischen ist auch das Herz entfernt worden, prophylaktisch, wie die Medomechaniker sagten. Sein Körper ist nichts mehr als ein komplexes Lebenserhaltungssystem für ein außergewöhnliches Gehirn. Flexomere sorgen für Beweglichkeit, das interne Sensor- und Steuersystem, das all die Technik überwacht, integriert deren Komponenten. Ein Carboplastgitter durchzieht seinen Körper, gibt ihm Halt und Festigkeit, während Schwärme von personalisierten Nanomaschinen für die Instandhaltung und die Anpassung an sich verändernde Krafteinwirkungen sorgen.

Ein besonders heftiger Ruck drückt mir die Luft aus den Lungen und zerrt mich zurück in die Gegenwart. Jetzt, da Gormons wütende Atmosphäre uns zu zermalmen versucht, haben die Naniten meines Meisters das Carboflex sicher auspolymerisieren lassen, sodass es zu einem starren Panzer geworden ist, der keine Bewegungen mehr zulässt und den Körper so gegen äußere Krafteinwirkungen schützt. Damit beschreibt der Vergleich von eben den Lordscriptor sogar sehr gut: Ein Block aus Stahl und Plastik sitzt neben mir, ignoriert den Lärm, das Rütteln und alle Gefahr, und ist wie schon den ganzen interstellaren Flug über ins Studium der Literatur vertieft. Sein Eifer, seine brennende Gier nach Wissen, fasziniert mich wie am ersten Tag, als ich zum ersten Mal in seiner Vorlesung über die verlorene Sprache der Alten saß. Ich muss mich nicht fragen, weshalb ich hier bin und mein Leben aufs Spiel setze. Ich kann mich dem Sog dieses Forschers heute genauso wenig entziehen wie damals.

Bis ich Echnon Varus traf, dachte ich, das Studium der Xenoliteratur eröffne mir das Universum auf rein geistiger Ebene, ohne dass ich mich auch nur einen Meter von einem Datenterminal würde wegbewegen müssen. Aber als ich ihn sprechen hörte, von den endlosen Ufern des Sternenmeeres, dem Ozean der Zeit, in dem mehr Kultur unrettbar versunken war, als ein einzelnes Volk jemals hätte hervorbringen oder auch nur studieren können, da war es um mich geschehen. Ich wusste plötzlich, dass jede Spezialisierung auf eine Epoche, ein Volk, eine Kultur, nichts anderes war als die totale Kapitulation angesichts der erdrückenden Last des Wissens, das auf Entdeckung wartete. Sich einem Themenbereich zuzuwenden bedeutete zwangsläufig die Abwendung von allen anderen. Ich konnte studieren, ein Leben lang, ein Experte werden, der am Ende absolut alles von beinahe nichts wusste. Dann würde ich sterben und niemand würde sich finden, um meine Erkenntnisse zu bewahren. Es gab nur ein Gebiet, eine Kultur und eine Zeit, die alleine standen und sich der Erforschung so hartnäckig entzogen, dass wir alle aufgegeben hatten und zufrieden waren, von ihr in der gleichen Weise zu reden, wie von den Gnomen von Starwich III, die systemtreuen Kindern der Solaren Hegemonie zum Gleichenfest nachts Geschenke brachten. Lordscriptor Varus entzündete damals ein Feuer in mir, das nicht mehr zu löschen war, auch wenn es nie mit der gleichen Intensität in mir brannte wie in meinem Meister.

»Spüren Sie es auch, Feldmann?« Seine Stimme schreckt mich auf, denn sie durchdringt klar und deutlich eine plötzliche, fast schmerzhafte Ruhe. Wir lassen die obere Atmosphäre hinter uns. Benommen wende ich mich dem Meister zu. Er würde mich nie mit »Markus« anreden, schon gar nicht mit einem vertrauten »Du«. Wir sind als Kollegen hier, und die größte Entdeckung unserer wissenschaftlichen Karriere steht unmittelbar bevor.

»Gewiss«, antworte ich unbestimmt. Ich spüre vor allem Schmerzen in jedem Stückchen Fleisch meines Körpers, und sonst nichts. Aber ich weiß, was er meint.

»Wie lange haben wir die Spur verfolgt, die uns am Ende hierher gebracht hat?«, fragt er. Es waren viele Jahre, aber inzwischen habe ich gelernt, wann ich antworten darf und wann er einfach nur reden möchte.

»So viele Planeten. So viele Relikte. Und dabei so wenig Erkenntnis.«

Das stimmt. Die Hinterlassenschaften der Alten durchziehen das Universum. Es gibt keinen Ort, an dem sie nicht gewesen sind, vor allen anderen, in einer Frühzeit, die so weit zurückliegt, dass es schwerfällt, sie nicht als reinen Mythos zu betrachten. Unsere Funde füllen ganze Hallen, und sie sind sicher geheimnisvoll und interessant und es gibt Museen, wo man sie bestaunen kann. Aber etwas fehlt. Etwas Wichtiges.

»Die Sprache!«, stößt Varus heftig aus. »Nicht ein Wort konnten wir übersetzen. Was wissen wir denn von dieser Kultur? Die gewaltige Macht, über die sie verfügten, können wir erahnen, von ihren finsteren Göttern gibt es vage Andeutungen in abgeschliffenen Reliefs. Aber der Kern jeder Kultur, ihre Sprache – sie entzieht sich uns. Aber nicht mehr lange, Feldmann. Der Stein von Rosetta erwartet uns!«

Das ist mein Einsatz, auch wenn ich bei terranischer Frühgeschichte nicht so firm bin. »Sie hoffen auf ein mehrsprachiges Dokument, das es uns erlaubt, die Sprache der Alten zu entschlüsseln? Ganz wie bei den ägyptischen Hieroglyphen, die niemand entschlüsseln konnte, bis bei Rosetta ein Stein gefunden wurde, auf dem der gleiche Text oben in Hieroglyphen graviert war, und darunter in … was war es? Latein?«

»Altgriechisch«, korrigiert Varus mich nachsichtig. »Und Demotisch. Alles deutet darauf hin, Feldmann. Gormon ist ein junger Stern, und die Diagramme und Gravuren, auf denen wir ihn und seine Planeten gefunden haben, sind um Jahrmillionen jünger als all unsere anderen Funde. Ich bin überzeugt, auf Gormon IV die letzten Reste der Kultur der Alten zu finden, unmittelbar bevor sie die Bühne den jüngeren Völkern überlassen haben – freiwillig oder nicht. Es gab Funde, an denen der Einfluss der frühesten galaktischen Zivilisationen zu erkennen war, Zivilisationen, die selbst schon wieder im Staub der Zeit versunken sind. Aber wir kennen ihre Sprache, wir können sie übersetzen. Ein einziges zweisprachiges Schriftstück würde für einen Brückenschlag reichen. Danach steht uns das Tor zum Wissen der Alten weit offen, Feldmann. Ich spüre es: Es wartet auf uns.«

Varus blickt entrückt nach vorn und sieht so nicht, wie es mich schaudert. Das Wissen der Alten … Es muss eine Zeit gegeben haben, da ihnen nichts unmöglich war. Sie bezwangen den Raum und die Zeit und müssen das Universum wie Götter beherrscht haben. Aber eben das sitzt mir im Magen wie ein Stück Blei. Wozu brauchen Götter selbst wieder Götter, und dazu noch solche? Die Bildnisse, die wir gefunden haben, so verwaschen und unkenntlich sie waren, sie verursachen mir noch heute Albträume. In manchen Nächten suchen mich fiebrige Phantasmen einer verschlungen wirbelnden Masse gedrungener Monstrositäten heim, die blind und wahnsinnig um ein gewaltiges Feuer herumtanzen und darauf warten, dass jemand dumm genug ist, ihnen einen Weg zurück in das Universum zu öffnen, das sie und ihre Diener einst beherrschten. Ich habe Varus nie davon erzählt. Solche abergläubischen Ängste sind eines Wissenschaftlers nicht würdig. Der Knoten in meinem Bauch lässt sich trotzdem nicht leugnen.

Das Glühen vor den Sichtluken hat sich inzwischen gelegt und auch die Sensoren können wieder voll ausgefahren werden. Im Sinkflug offenbart sich uns, dass die zerklüftete Oberfläche des Planeten nicht durch Berge und Täler definiert wird. All das, abgrundtief wie kilometerhoch, sind Bauwerke. Der gesamte Planet ist eine einzige Nekropole, gewaltig und ehrfurchtgebietend, dabei aber so tot und so kalt wie der größte Friedhof, den ich je gesehen habe. Vielleicht stimmt der Begriff nicht, vielleicht war das alles mal voll Leben. Aber mein erster Gedanke ist der einer Zivilisation, die sich hier einen gewaltigen Grabstein gesetzt hat, um den nach ihnen Kommenden zu zeigen: Wir waren hier, und wir waren mächtig. Erinnert euch unser, und tut es in Ehrfurcht.

Während die »Nocturno« durch ein Meer von Türmen, Pyramiden und riesigen monolithischen Blöcken gleitet, sinkt mir der Mut. Wie viele Leben bräuchten wir, um auch nur einen Bruchteil dieser Welt zu erforschen? Sollen wir einfach irgendwo landen und uns Zutritt verschaffen? Wo ist das Wissen dieser toten Welt gespeichert? Gibt es dafür überhaupt einen spezifischen Ort?

Dem Lordscriptor Varus dagegen sind Zweifel fremd. Er verbindet sich mit der Schiffssensorik, um den Planeten mit erweiterten Sinnen abzutasten. Es hat Vorteile, weitgehend eine Maschine zu sein. Unter anderem ist es so um vieles leichter, mit anderen Maschinen zu kommunizieren. Für ihn muss es sein, als stülpe er sich einen anderen Körper über. Statt seinen eigenen Optiken dienen ihm nun die Sensoren des Schiffes als Augen und Ohren und erweitern seine Sinne. Er spürt, lauscht und schnuppert nach den letzten Resten von Zivilisation: Wärme, Magnetfelder, Strahlung. Es dauert, aber schließlich wird er fündig. Ein schwaches elektromagnetisches Feld weist uns den Weg durch die Stadt, über Kilometer, bis die Bebauung plötzlich weicht und einen gewaltigen, wie glatt poliert wirkenden Platz freigibt. In der Mitte erhebt sich ein Bauwerk, das sich von allen anderen unterscheidet. Es wirkt wie aus Obsidian geschliffen, erinnert sehr an die Relikte, die wir auf anderen Planeten gefunden haben, und im Unterschied zu allem anderen hier ist es winzig, kaum größer als das Shuttle, mit dem wir gleich daneben landen.

Wir legen unsere Schutzanzüge an, wobei Varus nicht mehr als einen Helm und einen Klimaregulator benötigt. Atmen muss er nicht, aber die Temperatur wäre auf Dauer zu hoch für sein menschliches Gehirn. Ich bin wesentlich aufwendiger eingepackt. Im Freien würden mich die Hitze und die giftigen Gase innerhalb weniger Augenblicke töten. Während der Lordscriptor einen Haufen wissenschaftlicher Ausrüstung auf einen Antigravschlitten lädt, schnalle ich mir eine leichte Strahlwaffe um. Als er das sieht, runzelt er missbilligend die Stirn, sagt aber nichts. Ich hätte mich auch nicht abhalten lassen.

Beim Aussteigen fällt mir die seltsame Beschaffenheit des Bodens auf: Fleckenweise wirkt er wie glasiert und ist glatt wie ein Spiegel. Dann wieder kommt geschliffener Stein zum Vorschein. Während Varus direkt auf das Gebäude zugeht, untersuche ich den Boden etwas näher. Der Antigravschlitten trägt für uns ein komplettes automatisiertes Labor, ich muss ihm nur sagen, was ich wissen will, und Sekunden später erhalte ich die Ergebnisse. Auf diesen Boden haben stellenweise sehr hohe Temperaturen eingewirkt. Es gibt Hunderte, wenn nicht Tausende Flecken dieser Art, von unterschiedlicher Größe und einander überlappend. Ihre Verteilung folgt keinem spezifischen Muster, aber je näher man dem kleinen Gebäude kommt, desto dichter werden sie. Auch schwache Reste von Radioaktivität sind detektierbar.

Hier sind Raumschiffe gelandet, und zwar solche mit Rückstoßtriebwerken, wie sie in der Solaren Hegemonie für planetare Starts und Landungen schon lange nicht mehr verwendet werden. Es sind die unterschiedlichsten Isotopenrückstände zu finden, was auf ganz verschiedene technische Systeme und Treibstoffe schließen lässt, und da die Zerfallsraten bekannt sind, kann man den Zeitpunkt der Einwirkung bestimmen. Der in den Stein gebrannte Schiffsverkehr zieht sich über Jahrhunderttausende hin. Die Datierung ist nicht sehr genau, aber es scheint, als sei hier relativ regelmäßig alle paar Hundert Jahre jeweils ein einzelnes Schiff gelandet, wieder abgehoben, und nie wieder zurückgekehrt. All das kann erst nach dem Untergang der Zivilisation von Gormon IV begonnen haben. Was wollten all diese Leute hier? Und ist nach all ihren Besuchen noch etwas übrig, das sich zu entdecken lohnt?

Als ich Meister Varus einhole, finde ich ihn höchst erregt vor. »Das weiß ich selbst«, blafft er mich an, als ich ihm von meiner Entdeckung erzähle. »Dazu brauche ich kein Labor. Unberührte Artefakte sehen anders aus.«

Zu unseren Füßen liegt ein Sammelsurium von Zivilisationsabfall, der ganz für sich schon ein Betätigungsfeld für Archäologen wäre. Es ist gar nicht viel, aber etliche der Tausende Besucher müssen hier Verpackungen, Batterien, defekte Geräte und sonstigen Müll liegen gelassen haben. Der allgegenwärtige Wind hat alles zu einem dichten Haufen im Türbereich zusammengepresst, und die folgenden Besucher sind darübergestiegen und haben ihre Stiefelabdrücke hinterlassen. Die ausgeblichenen Aufdrucke der Verpackungen sind mir weitgehend fremd, aber einen oder zwei kann ich mir bekannten Kulturen zuordnen. Wenigstens ist nichts Terranisches dabei. Zumindest aus dem eigenen Volk ist uns niemand zuvorgekommen. Trotzdem ist mir unverständlich, weshalb bei all dem Verkehr hier die Geheimnisse von Gormon IV nicht weit verbreitet wurden. Gibt es hier vielleicht gar nichts zu entdecken? Ist all das nur eine grandiose Kulisse, ein Treppenwitz der Frühgeschichte des bekannten Universums? Oder lauern hier verborgene Gefahren? Dass all diese Schiffe wieder gestartet sind, muss ja nicht zwangsläufig bedeuten, dass sie den Planeten auch verlassen haben.

Meister Varus hat inzwischen ein Sensorfeld gefunden, über das sich die Eingangspforten öffnen lassen. Die Hälfte unserer Ausrüstung war dafür gedacht, sich gegen verschiedene Grade von Widerstand Einlass zu verschaffen, durchaus auch mit rabiaten Mitteln. Alles unnötig, wie es scheint. Ein mit glattem Stein ausgekleideter Gang erwartet uns, der aber nach wenigen Metern verschlossen ist. Als wir eintreten, schließt sich auch die äußere Pforte. Wir haben gar keine Zeit, uns deswegen Sorgen zu machen, denn schon tastet ein Scanner unsere Körper ab, dann zischt es vernehmlich, und Sekunden später erkenne ich im Display meines Anzugs, dass die Kammer mit einem für uns atembaren Gasgemisch geflutet wurde. Gleich darauf öffnet sich vor uns eine innere Pforte und offenbart den Gang als eine Luftschleuse, die offenbar dafür gedacht ist, Gäste mit den verschiedensten physiologischen Bedürfnissen in Empfang zu nehmen.

Obwohl alles in mir sich dagegen sträubt, nehme ich den schweren Schutzanzug ab und lege ihn neben den Abfall, der auch in der Schleuse verstreut liegt. Einen leichten Respirator nehme ich aber mit, falls unsere Gastgeber es sich doch anders überlegen. Beim ersten Schritt aus der Schleuse heraus flackert ein fahles Licht auf. Der Müll zieht sich noch ein paar Meter in den dahinterliegenden Gang hinein und wird dann spärlicher. Insgesamt komme ich mir nicht vor wie auf einer Exkursion in die Tiefen eines Relikts der Zivilisation der Alten. Es wirkt mehr wie ein Besuch in einem heruntergekommenen Studentenwohnheim, und das auf Einladung. Es ist alles viel zu einfach. Der Knoten in meinem Bauch wird mit jedem Schritt größer und schwerer.

Meister Varus ficht das alles nicht an. Er schreitet voran, mit grimmiger Miene. Er wittert keine Gefahr hier, keine perfide Falle, sondern nur eine Enttäuschung. »Bringen wir es hinter uns«, knurrt er, und wir folgen dem sanft geneigten Gang, der uns allmählich unter die Oberfläche des Planeten führt. Seine Eindimensionalität macht mich wahnsinnig. Es gibt keine Türen, keine Abzweigungen. Nichts hier ergibt Sinn. Wir folgen einem Pfad, der erkennbar für Leute wie uns angelegt wurde, wie Fische, die in ein immer enger werdendes Netz schwimmen. Aber umkehren? Wie auch für die Fische kommt das für uns nicht infrage. Der Gang ändert sich allmählich, je tiefer wir vordringen. Die Struktur des Steins wird gröber, das Licht spärlicher, und die Luft wird merklich kühler. Eine Viertelstunde später stehen wir erneut vor einem Portal. Diesmal öffnet es sich gleich bei Annäherung.

Nach der Enge des Gangs ist die Weite der dahinterliegenden Halle eine Offenbarung. Ein Raum wie das Innere einer Kathedrale, kalt und düster, voll mächtiger Stützpfeiler. Mit einem Schlag fühle ich mich an all die anderen Ausgrabungsorte der letzten Jahre zurückversetzt. Die typischen Reliefs der Kultur der Alten bedecken alle Oberflächen, nur sind diesmal die Bildnisse nicht verwaschen und abgeschliffen. Die Linien sind noch so klar und tief eingekerbt wie vor einer Million Jahren. Ich mag gar nicht hinschauen, aber ich muss. Vielleicht offenbart sich mir nun endlich das wahre Antlitz der grotesken Gestalten, sodass ich sie erfassen und verarbeiten kann, damit die Albträume aufhören. Aber die Linien sind zu zahlreich, sie verwirren und verdrehen den Blick, bis die Augen schmerzen. Das Gehirn will das Bild nicht als Ganzes erfassen, zu sehr widerspricht der Anblick dem, was jedes lebende Wesen als normal und richtig empfinden würde. Als mich eine Mischung aus Panik und Übelkeit packt, blicke ich zu Boden und atme tief ein und aus, bis es mir etwas besser geht.

Ich sehe neben mir die robotischen Füße meines Meisters, der wie auf Wolken an mir vorbeischreitet. Als ich ihm mit dem Blick folge, erkenne ich am Ende des Spaliers der beiden Reihen von Pfeilern eine Empore, und darauf ein schwaches Glimmen. Varus hat es auch gesehen. Ich muss an eine Motte denken, die von einer Kerzenflamme angezogen wird. Nervös befingere ich das Halfter meiner Strahlenpistole. Nichts deutet darauf hin, dass unseren zahlreichen Vorgängern ein Leid geschehen wäre. Obwohl – glänzen da nicht im fahlen Licht einige Stellen an den Pfeilern auf, als wären sie stark erhitzt worden? Sind die schwarzen Flecken auf dem Boden nur einfacher Dreck, oder erblicke ich Schmauchspuren? Und die abgeplatzten Stellen an den Wänden, ist das nur der Zahn der Zeit, oder nicht doch … nein, ganz sicher, das sind Einschusslöcher. In dieser Halle wurde gekämpft, und das nicht nur einmal, sondern wieder und wieder, mit den unterschiedlichsten Waffen, über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg. Ich stürze nach vorne, um meinen Meister zu warnen, packe ihn an der Schulter, dann erstarre ich gleich neben ihm und blicke, wie auch er, auf die Empore vor uns. Das Licht geht von einem Pult aus, in das ein Bildschirm flach eingelassen zu sein scheint. Hinter dem Pult aber steht eine Gestalt, reglos, zerlumpt und uralt.

Ich meine, einen Urkaner zu erkennen, mit tonnenförmigem Torso und einem schweren, unbeweglichen Schädel. Normalerweise bedeckt ein zotteliges Fell ihren ganzen Körper, aber bei diesem Exemplar wuchert es nur aus dem Schädel, dafür hängt es bis zum Boden herab. Für eine Sekunde verleiht ihm das ein ausgesprochen menschliches Aussehen, dann bemerkt er uns und tut einen schwerfälligen Schritt zur Seite. Mit einem dumpfen Laut stampft sein metallenes Bein auf die Steinplatten, dann wird der Rest seines Körpers sichtbar. Klobiger, stumpf angelaufener Stahl trägt als einzigen Rest der ursprünglichen Kreatur einen grotesk überalterten Kopf auf künstlichen Schultern. Wie lange haust diese Kreatur schon hier unten? War sie in diesem Zustand, als sie herkam? Und wie kam sie überhaupt hierher, wo doch oben auf dem Platz kein Schiff mehr zu finden ist?

Meister Varus bricht das Schweigen und spricht einen antiquierten urkanischen Gruß, der vielleicht vor hundert Jahren üblich war. Ist die Gestalt wirklich so alt? Der Kopf ruckt herum, als er die Stimme hört, aber da ist kein Erkennen. Sein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse des Hasses. Er schreit etwas, mit zittriger Stimme, was wir nicht verstehen. Urkanisch ist das nicht. Varus aktiviert hastig ein Aufnahmegerät, als der Alte seine Worte mit festerer Stimme wiederholt.

»Nag’n k’thlog!«, ruft er, und deutet dabei mit lang ausgestrecktem Arm auf uns. Mit der anderen Hand fuchtelt er wild herum, wir können die Servomotoren seines robotischen Arms protestierend aufheulen hören. »Ung’gnatoth! Yoth n’lyeh luggoth, nag’n k’thlog!«

Mir fährt ein Schauder durch den ganzen Körper. Dies kann, nein: muss die Alte Sprache sein! Wir haben sie noch nie gehört, aber sie spricht etwas tief in mir an, dort, wo sich ohnehin schon ein Knoten aus Angst und einer drohenden Vorahnung gebildet hat, und rührt alles noch mal kräftig um.

»Halt!«, schreie ich, als der Alte mit staksigen Schritten die Empore herunterkommt. »Stehenbleiben! Ich habe eine Waffe!« Der Strahler ist mir förmlich in die Hand geflogen. Der Urkaner reagiert nicht auf meine Worte, es ist fraglich, ob er seine Muttersprache überhaupt noch versteht. Aber er reagiert auf meine Stimme, streckt die Arme aus und lässt seine kräftigen stählernen Hände mehrmals auf und zu schnappen. Die Drohung ist eindeutig.

Meister Varus tritt mit einem raschen Schritt zwischen ihn und mich, blockiert meine Schusslinie und gerät sofort in den festen Griff der robotischen Arme. Glücklicherweise ist sein eigener Körper der Kraft der uralten Mechanik mehr als gewachsen.

»Beruhigen Sie sich, Sie alter Narr!«, fährt er den Alten an. Der befühlt verwirrt den Körper aus Metall und Kunststoff, den er in seinen Klauen hat, und arbeitet sich langsam zum Kopf empor. Vermutlich erwartet er dort weiches, verletzliches Fleisch zu finden. Wie sie so dastehen, ihre Kunstkörper ineinander verkrallt, kommen sie mir vor wie die Inkarnationen von Vergangenheit und Zukunft, gefangen in einem metaphorischen Zweikampf ohne Ausgang. Schließlich erkennt der Alte aber, dass er so nicht weiterkommt. Er lässt er los, tritt einen Schritt zurück und erhebt seine Stimme, lauter als zuvor.

»Al Fnacul ng’loth sothog!«, schreit er schrill. Etwas lässt alle Haare auf meinen Armen emporstehen, dann breitet sich das Leuchten von der Empore plötzlich aus, wandert über den Boden, die Wände, die Säulen. Überrascht erkenne ich, dass das Licht Strukturen auf alle Oberflächen zeichnet, die an komplexe Schaltkreise erinnern. Erwacht hier eine technologische Monstrosität aus ihrem Dämmerschlaf? Tatsächlich laufen die Reflexe an einem Punkt hinter dem Alten zusammen, stauen sich kurz zu einem gleißenden Kreis aus Licht auf, bis sich etwas von dort direkt in die Brust des Lordscriptors entlädt. Echnon Varus wird zurückgeschleudert und bleibt mit zuckenden Gliedmaßen liegen.

»Yliec, nag’ng!«, kreischt der Alte, indem er sich mir zuwendet. »Al Fnacul ng’loth …«, beginnt er. Die Worte habe ich gerade schon einmal gehört, und ich will nicht, dass auch mich das Schicksal meines Meisters ereilt. Ich schieße. Der Thermostrahl trifft den Alten mitten in die Brust und brennt ein ordentliches Loch hinein. Der Robotkörper taumelt, fällt aber nicht. »Loc yoth wng’yeh«, schreit er, bevor ich erneut abdrücken kann. Viel schneller als zuvor fährt ein Blitz über die Wände und fängt meinen nächsten Schuss ab, der meinem Gegner den Kopf von den Schultern geschmolzen hätte. Ich schieße erneut, und wieder schirmt ein Energieblitz den alten Mann ab, der langsam in die Knie geht. Ich stelle auf Dauerfeuer um und prüfe die Energiezelle. »Loc yoth wng’yeh«, krächzt der Alte erneut, und Schuss um Schuss verpufft wirkungslos. Ich sehe aber, dass mein erster Treffer allmählich Wirkung zeigt. Nach und nach versagen die Systeme seines Körpers. Ich schieße nur noch, um ihn zu sehr zu beschäftigen, um erneut seine tödliche Beschwörung auszusprechen, mit der er meinen Meister wie ein lästiges Insekt zur Seite geschleudert hat. Schließlich kommen keine verständlichen Worte mehr. Ich stelle das Feuer ein und nähere mich ihm.

Der Urkaner stirbt. Lautlos formen seine Lippen noch einige Verwünschungen.

»Ph’nglui mglw’nafh Cth…«, glaube ich noch zu verstehen. Der Satz bleibt unbeendet, es geschieht nichts Bedrohliches mehr. Dann wird sein Antlitz starr. Neben mir rappelt sich mein Meister ächzend wieder auf.

»Ein Jammer«, sagt er nur, mit Blick auf den Leichnam. »Wir hätten so viel von ihm lernen können. Kommen Sie, Feldmann.« Damit lässt er die Leiche liegen und wendet sich dem Pult mit dem Bildschirm zu. Ich sehe nur die Spiegelung des fahlblauen Lichtes in den Linsen seiner optischen Systeme. Die Lust an linguistischen Studien ist mir fürs erste vergangen. Der Lordscriptor dagegen lässt ein »Heureka« erschallen, das ein langes Echo hinter sich herzieht.

»Urkanisch!«, ruft er aus. »Unser Stein von Rosetta verbindet die Sprache der Alten mit Urkanisch! Feldmann, das ist es. Das hier ist das Ziel unserer jahrelangen Arbeit.«

»Großartig«, murmele ich. Ich lasse meinen gelehrten Meister mit seinem Fund alleine und sehe mich in den Räumlichkeiten hinter der Empore um. Durch eine Schwingtür erreicht man einen kleinen Trakt mit Kammern, von denen eine wahrscheinlich die Bettstatt des Alten war. Gedämpft höre ich hinter mir dessen Stimme und zucke zusammen. Es ist aber nur die Aufnahme, die Meister Varus hat laufen lassen. Wahrscheinlich versucht er, herauszufinden, was der Alte uns entgegengeschleudert hat, als er uns sah. Die Bettstatt deprimiert mich. Sie ist kahl und dreckig. Einige persönliche Gegenstände liegen achtlos auf dem Boden verstreut. Ich finde so etwas wie einen Holoausweis. Das Modell muss noch aus der Zeit stammen, bevor das urkanische Reich in die Solare Hegemonie integriert wurde, und das ist über zweihundert Jahre her. Etwas weiter liegt die Brieftasche, aus der der Ausweis gefallen sein muss. Sie enthält noch ein fast völlig verblichenes Bild einer Urkanerin. Ob ihm diese Habseligkeiten noch wichtig gewesen waren, als er hier ankam? Was hat ihn nur bewogen, alles aufzugeben und hinter sich zu lassen? Und wofür? Um am Ende hier sein Ende zu finden, vergessen und von niemandem betrauert?

»Al Fnacul ng’loth sothog!«, kommt es aus der Halle. Entsetzt stürze ich durch die Schwingtür, sehe den Knoten aus Energie sich zusammenziehen und kann mich gerade noch zur Seite werfen, als er sich in meine Richtung entlädt.

»Meine Güte, Feldmann«, spricht Varus mit belegter Stimme. »Da müssen wir wohl etwas vorsichtiger sein.«

Ich verzichte darauf, mich über seine mangelnde Achtsamkeit zu beschweren oder darüber, dass ihr beinahe mein Leben zum Opfer gefallen wäre.

»Sehen Sie, über das Urkanische lässt sich problemlos ein Zugang zu den Glyphen der Alten herstellen, es gibt sogar Annotationen zur Phonetik. Zum Beispiel bedeutet ›nag’n k’thlog‹ einfach ›verschwindet‹. Damit hat uns dieser dumme alte Kerl begrüßt.«

Er spielt wieder die Aufnahme ab. »Yoth n’lyeh luggoth, nag’n k’thlog!« erklingt es. »Das gehört mir«, übersetzt er. »Verschwindet!« Seine Hände fliegen über den Bildschirm, gruppieren einige Glyphen neu und heben sie hervor. »Hier: ›yoth‹ bedeutet ›ich‹ oder ›mein‹. Eigentlich scheint es so ein Wort aber in dieser Sprache gar nicht zu geben, denn die ursprüngliche Bedeutung ist schlicht ›Diener‹. Vielsagend, nicht wahr? ›Luggoth‹ steht für ›gehören‹, seltsamerweise aber auch für ›bewachen‹. Da scheint kein Unterschied gemacht zu werden. Und ›n’lyeh‹ bedeutet einfach ›das‹, aber ebenso ›hier‹.«

»Faszinierend«, gebe ich widerstrebend zu. Ein bisschen springt der Funke über, das war schon immer so, wenn ich den Lordscriptor dozieren höre. Aber die Situation liegt mir noch zu sehr im Magen. »Es gibt noch eine Leiche, mit der wir irgendwas machen müssen.«

»Yoth nag’n k’thlog«, sagt Varus, ohne zu zögern.

»Was?«

»Spreche ich zu undeutlich?«

Mit einem Seufzen füge ich mich. Das hat er nie ganz abgelegt, manchmal muss er mich einfach prüfen. Schließlich bin ich sein Schüler. »Warten Sie mal … Ich verschwinde? Nein, ›Yoth‹ heißt auch Diener, also der Diener verschwindet? Oh, Sie meinen, den Diener verschwinden lassen, also den Alten Urkanier. Ich verstehe. Sehr kreativ ausgedrückt.«

»Ich weiß gar nicht, was Sie meinen. Sie könnten ihn mit dem Antigravschlitten nach oben bringen, dann liegt er hier nicht so herum. Derweil bleibe Yoth n’lyeh.«

Ich drehe mich weg, damit er mein Augenrollen nicht sieht. »Sie finden sicher noch heraus, was ›derweil‹ und ›bleiben‹ heißt, dann müssen Sie nicht mehr in Mischsätzen sprechen.«

»Wenn Ihnen so viel daran gelegen ist«, sagt er, »mal sehen: Ullgyeh lac’ng Yoth n’lyeh. Zufrieden?«

»Ja, ja, ich verstehe schon. ›Derweil bleibe ich hier.‹ Solange Sie es auch noch in unserer Sprache beherrschen, kein Problem.« Damit drehe ich mich um und gehe.

»Ullgyeh lac’ng Yoth n’lyeh«, wiederholt Meister Varus wie zur Übung. »Übrigens, Ihren Namen kann ich inzwischen auch übersetzen: ›Feld‹ ist ›Ew’yieh‹ und ›Mann‹ lässt sich als ›Fht’nui‹ übersetzen. Ew’yieh-Fht’nui, das ist Ihr Name.«

»Ist es nicht«, knurre ich leise und mache mich ans Werk. Währenddessen höre ich den Lordscriptor halblaut Vokabeln murmeln. Ich kann mich nicht erinnern, dass er das je zuvor in dieser linearen, methodischen Form getan hätte. Ich kann aber verstehen, dass es ihm nach all den Jahren unter den Nägeln brennt.

»Ung’gnatoth – Unwürdiger. Oh, richtig, das hat der Kerl uns auch an den Kopf geworfen. Was noch … Fnacul – Licht, rgluc – gehen, ph’ngorl – Heimat …« Seine Stimme verliert sich, als ich eilig die Halle verlasse, den aufgebahrten Leichnam im Schlepptau.

Oben angekommen bleibt mir nichts anderes übrig, als den Körper auf den Boden gleiten zu lassen. An ein Begräbnis ist nicht zu denken. Ich schließe die Augen und murmele ein flüchtiges Gebet. Der Tote sieht jetzt friedlich aus. »Immerhin hast du einen würdigen Nachfolger gefunden.« Ich weiß nicht, weshalb ich das sage. Beim Gedanken an meinen Meister, der noch mehr Maschine ist, als es der alte Urkanier je war und der nun unten in der Gruft über den Bildschirm gebeugt Worte einer uralten, verfluchten Sprache vor sich hin murmelt, fröstelt es mich. Ich sollte ihn nicht zu lange alleine lassen. Aus der »Nocturno« hole ich Verpflegung und alles, was für ein mehrtägiges Biwak nötig ist. Ich kenne meinen Meister, er wird dort unten jetzt für eine ganze Weile nicht wegzubekommen sein.

Auf dem Weg nach unten scheint mir, als habe sich die Beleuchtung verändert. Es ist jetzt viel heller, die Lampen flackern nicht mehr. Dass dreimal Leuchtreflexe den ganzen Gang entlang huschen, trägt nicht zu meiner Beruhigung bei. Ich beeile mich, die Halle zu erreichen.

»Ah, Ew’yieh-Fht’nui. Das ging ja schnell.«

In der Sprache der Alten angesprochen zu werden verursacht mir einen ausgewachsenen Magenkrampf. »Lassen Sie das bitte«, sage ich, vielleicht etwas zu scharf.

»Was denn? Sie hatten doch bisher nichts dagegen? Oder soll das ein erneuter Versuch sein, vertraulich zu werden? Sie wissen, ich rede meine Schüler immer mit dem Nachnamen an.«

»Der ist aber Feldmann, nicht Ew’yieh-Fht’nui!«

»Das ist dasselbe.«

»Sie sind der sturste Linguist, den ich kenne, Lordscriptor Varus!«

»Andernfalls wären Sie doch gar nicht bei mir«, sagt er mit einem Anflug von Amüsement.

»Bleiben wir einfach beim ›Sie‹.«

»Oder ›Yliec‹ in der Alten Sprache.«

»Ja, meinetwegen. Wo möchten ›Yliec‹ denn das Lager aufgeschlagen haben?«

Meister Varus macht eine Geste in den Raum hinein und spricht: »Fnacul fthac ulucth.« Im gleichen Moment erwachen Boden und Wand zu einem geisterhaften Leben. Licht glimmt entlang verborgener Linien auf und von etlichen Punkten in den grässlichen Reliefs geht nun spürbare Wärme aus.

»Laden Sie einfach alles n’lyeh ab«, sagt er. Als er meinen Blick bemerkt, erklärt er, die ganze Anlage sei sprachgesteuert. Manche Funktionen brauche man nur zu beschreiben, wie gerade eben in Sachen Licht und Wärme. Anderes, wie die Formeln für Schutz und Angriff, die der Alte verwendet habe, entziehen sich noch seinem Verständnis. Er sei nicht ganz sicher, ob es sich hier auch nur um schlichte Befehle an verborgene technische Geräte handelte, oder ob nicht der Sprache selbst eine ganz eigene Kraft innewohne. Seit er sie studiere, fühle er jedenfalls weder Hunger noch Durst oder Müdigkeit, wenngleich das auch der Aufregung geschuldet sein könne.

Ich finde es eher besorgniserregend. Trotz seines Körpers ist sein Gehirn organisch, und es braucht Nahrung, Wasser und Schlaf. Ansonsten verstehe ich nur die Hälfte von dem, was er sagt. Er baut viel zu viele Begriffe der Alten Sprache ein, mit der ich mich selbst ja noch kaum beschäftigt habe. Zu meinem Ärger spricht er mich nur noch mit »Yliec« an, dem Wort für »Sie«, was kaum besser ist als mein verballhornter Nachname.

»Lassen Sie mich einfach machen«, würge ich ihn ab. Ich fühle mich nicht mehr angesteckt von der Begeisterung meines Meisters, sondern erdrückt von seinem Eifer.

»Rg’nui – schlafen, ph’thac – essen, ulph’ui – Kraft, loc’ngorl – Wissen …« Er murmelt vor sich hin, während ich das Biwak aufbaue und eine Mahlzeit für mich und ein oxygeniertes Konzentrat für das Gehirn des Lordscriptors zubereite. Als ich fertig bin, will ich ihn zu einer Pause überreden.

»Abendessen, Lordscriptor«, rufe ich. Er reagiert nicht. Sein Murmeln hat inzwischen einen krächzenden Unterton und klingt dehydriert. Ich fasse ihn an der Schulter. Als er nicht reagiert, drehe ich ihn mit festem Griff zu mir herum. Seine Optiken brauchen einen Moment, um auf mich scharf zu stellen, aber dann funkelt Zorn in ihnen auf.

»Was soll n’lyeh, Ew’yieh-Fht’nui? Yliec überhaupt Loc’ngorl, wie sehr Yliec Yoth Konzentration stören?«

In seiner Rage sprudelt dieses Kauderwelsch über seine Lippen, er ist kaum noch zu verstehen.

»Kommen Sie zu sich, Lordscriptor!«, schreie ich ihn an. »Es gibt außer dem Studium noch die grundsätzlichen Bedürfnisse, die Sie nicht außer Acht lassen dürfen. Wir werden jetzt essen und dann schlafen.«

Er sieht mich mit umherirrendem Blick an, als suche er etwas in meinem Gesicht, das er nicht mehr findet. »Yoth habe Yliec doch schon th’loang, ich meine, gesagt, Yoth brauche weder Rg’nui noch ph’thac! Yoth luggoth jetzt Th’loang der Alten, all das Loc’ngorl – meine Güte, Ew’yieh-Fht’nui, reizt Yliec denn nicht das Loc’ngorl?«

»Nennen Sie mich nicht Ew’yieh-Fht’nui!«, schreie ich ihn an. »Kommen Sie weg von hier! Essen Sie, schlafen Sie, vielleicht klärt das Ihre Gedanken. Wenn Sie beides tatsächlich nicht mehr brauchen, sind Sie dann überhaupt noch ein Mensch?«

Er tastet mich wieder mit seinem künstlichen Blick ab, aber dann gleiten seine Optiken weg und finden wieder ihren Weg zum blauen Leuchten des Bildschirms.

»Mphtu’thgn – Mensch«, krächzt er, »Yrloc – Leben, Th’rosoth – Tod, Naph’tui – Verstand …«

Ich sehe seine Optiken wandern und höre seine Stimme, und plötzlich begreife ich. Das für ihn so untypische Herunterleiern der Vokabeln, das Kauderwelsch, der verständnislose Blick, wenn ich spreche.

»Meister!«, rufe ich.

»Phnord – Meister«, murmelt er zurück.

»Phnord Varus«, gehe ich darauf ein. »Phnord Lordscriptor Echnon Varus!«

Sein Kopf wendet sich mir zu, die Optiken wandern ziellos umher.

»Sie müssen aufhören! Was Sie da tun, das ist kein Lernen! Mit jedem Wort, das Sie aufnehmen, verlieren Sie eines ihrer eigenen Sprache! Dieser Bildschirm gibt Ihnen kein Wissen. Er überschreibt einfach nur Ihren Verstand! Sicherlich ist dem Urkanier damals genau dasselbe widerfahren, vielleicht auch allen, die vor ihm kamen. Die Nekropole braucht einen Gruftwächter, und wenn der zu alt wird, ruft sie sich einen neuen!« Ich packe ihn an den Schultern und schüttele ihn.

»Das«, sage ich langsam und deutlich, während ich auf den Bildschirm zeige, »bringt kein Wissen, kein Loc’ngorl. Es bringt nur Th’rosoth – den Tod.«

Seine Optiken zoomen an mich heran, ein Ausdruck von Erstaunen ähnlich einem Aufreißen der Augen. Für einen Moment suche ich darin meinen alten Lehrmeister, wie auch er vielleicht seinen Schüler sucht. Aber der Moment vergeht und wir finden uns nicht.

»Thryee!«, schreit er, ein Wort, das ich noch nie gehört habe. Aber ich bin sicher, es bedeutet »nein«.

»N’lyeh yoth Ph’ngorl, Ew’yieh-Fht’nui!« Er sieht mich an, als erwarte er Verständnis für seine Worte. Ich weiß nur, dass ich ihn verloren habe. Seine Heimat ist nun hier. Aber das kann ich nicht zulassen.

»Al Fnacul ng’loth sothog«, sage ich rasch, so laut und so deutlich ich kann. Es ist die Formel für den Angriff, die der Urkanier benutzt hat. Varus hat das schon einmal überlebt, aber es hat ihn kurzzeitig ausgeschaltet. Ich habe nur diese eine Chance, ihn zurück ins Landungsboot zu bekommen.

Er schaut mich groß an, aber es passiert nichts. Natürlich. Diese Gruft hat ihn erwählt, nicht mich. Er fasst mich bei der Schulter, sanft, fast liebevoll. Dann wiederholt er meine Worte, langsam und bedächtig. Der Strahl erfasst mich und schleudert mich meterweit zurück. Alle meine Muskeln verkrampfen.

»Ung’gnatoth!«, ruft mein alter Mentor mir zu. Ungläubiger.

»Yoth n’lyeh luggoth, nag’n k’thlog!« – Das alles gehört mir. Verschwinde!

Ich rappele mich auf und laufe. Von der Tür aus richte ich meine Waffe auf die Kreatur, die einmal der Lordscriptor Echnon Varus gewesen ist, aber er wehrt den Schuss wie beiläufig ab. Seine Stimme erfüllt den Raum mit grotesken Worten, die nach Irrsinn und Blasphemie klingen. Licht klettert rasend schnell über alle Wände, den Boden, die Decke. Unter meinen Füßen vibriert es, als erwache ein uraltes Monster aus einem Jahrtausende dauernden Schlaf.

Der Gang, durch den ich wie von Sinnen fliehe, ist nun hell erleuchtet, es gibt kein Anzeichen von Verfall mehr. Ich werfe mich durch das Schott, vorbei an der Leiche des letzten Herrn der jetzt zu neuem Leben erwachenden Gruft, erreiche unser Landungsboot und leite mit der »Nocturno« einen Alarmstart ein. Das Impulstriebwerk, eigentlich für den Vortrieb im interstellaren Raum gedacht, brennt einen weiteren glühenden Fleck auf den großen Platz. Das Schiff bockt unter dem Schub der kalt gestarteten Triebwerke wie ein wild gewordenes Tier, viel zu langsam kämpft sich die »Nocturno« in die Schwärze des Nachthimmels empor. Beharrungskräfte drücken mich tief in meinen Sitz, als die Kompensatoren stottern. Warnmeldungen fluten die Bildschirme, aber ich habe nicht die Zeit, sie zu beachten, ich will nur ins All, nur weg von diesem Planeten, der meinen Meister verschlungen hat. Während ich mich den tosenden Stürmen der oberen Atmosphäre nähere, erwacht unter mir die planetengroße Stadt zu einem untoten Leben. Ein Zyklus hat geendet, ein neuer begonnen: Die verbotene Welt hat einen neuen Meister. Mit einem harten Ruck taucht die »Nocturno« in die obere Atmosphäre ein und wird vom ewig währenden Sturm verschluckt. Hinter den Sichtluken bleibt die Nekropole, und mit ihr Lordscriptor Echnon Varus, im wirbelnden Wolkenmeer zurück.

 


Nina Horvath
Der Mann mit dem Koffer

 

Detlef Klewers Illustrationen in BIOMECHANOMICON