Roman
Verlag Antje Kunstmann
Für meine Freunde, die mich immer wieder mit
ihren Geschichten inspirieren.
Besonders danke ich Hilde Schubert (1925–2018)
und Arnd Dieter »Titsch« Kupke
Immer, wenn sie unglücklich war, suchte sie Erlösung in der Lotterie. Sie glaubte an eine höhere Gerechtigkeit, an einen Lottogott, der ein Einsehen haben und sie von allem Übel befreien würde. Meist überfiel sie dieses Gefühl zu später Stunde, wenn alle Annahmestellen geschlossen hatten. Sie war gefangen in ihrer Erkenntnis, dass es unbedingt in diesem Moment sein müsse. Sie glaubte, ihre Inspiration könne ihr verloren gehen, wenn sie bis zum nächsten Morgen warten würde. Es musste jetzt sein und nur JETZT. Für diese dringenden Fälle gab es einen virtuellen Lottogott.
Sie konnte den Grad ihrer Verzweiflung an der Höhe der Abbuchungen auf ihrem Konto ablesen. Die ersehnten Gutschriften dagegen waren bisher geringfügig gewesen. Aber auch 7,50 Euro waren ein Zeichen. Die Mitteilungen kamen immer per E-Mail. Absichtlich vermied sie es, die Lottozahlen nach der Ziehung zu überprüfen. Sie suhlte sich in der Gewissheit, gewonnen zu haben. Je länger sie dieses Gefühl auskosten konnte, umso besser. Noch im Schlafanzug lief sie am Montagmorgen zum Rechner und öffnete ihr Postfach. Und tatsächlich hatte ihr die Lottozentrale eine Mail geschickt.
»Liebe Frau Krause, Sie haben gewonnen!« Sie starrte auf den Bildschirm, über den ein kleiner Mann mit Aktenkoffer lief: Ihr persönlicher Geldbote. Isabella Krause war einen Doppelklick von ihrem neuen Leben entfernt. Sie zögerte. Noch befand sie sich in einem Schwebezustand. Im Jackpot war die unglaubliche Summe von 14 Millionen gewesen. Sie versuchte, sich die Zahl auf ihrem Kontoauszug vorzustellen. Was würde sie zuerst tun? Sich eine neue Wohnung suchen? Vielleicht ein Haus am Stadtrand kaufen? Aber waren das nicht zu profane Wünsche? Für 14 Millionen könnte sie sich ein Apartment in New York leisten, eine Jacht in der Südsee, einen Weinberg in Frankreich. Oder was noch viel besser wäre, ein eigenes Theater. Selbstverständlich würde sie dann in allen Stücken die Hauptrolle spielen, und das Publikum musste endlich begreifen, dass sie eine große Künstlerin war. Aber vielleicht würde sie einfach nur die offene Rechnung im Pflegeheim der Mutter bezahlen.
Der Novemberwind drückte gegen die Scheiben, und bei jeder Böe peitschten die Regentropfen über das Glas. Die Birke auf der gegenüberliegenden Straßenseite wedelte ungelenk mit ihren dünnen Zweigen. Winkte sie ihr zu, oder war es bereits eine Geste der Kapitulation?
Sie sah an sich hinunter, auf ihre nackten Füße, auf die Lackreste an den Zehennägeln. Rote Inseln, die vom Sommer geblieben waren. Jetzt war es Herbst. Der erste Frost hatte über Nacht aus den runden Köpfen der Ahornbäume Reisigbesen gemacht. Gestern noch hatten sie geleuchtet, kleine Sonnen, die ihr den Weg zum Bahnhof wiesen, zu dem Bahnhof, von dem aus es eine direkte Verbindung zum Flughafen gab. Für 14 Millionen könnte Isabella alle Blätter wieder ankleben lassen. Sie sah das nasse Laub auf dem Gehweg liegen und zog fröstelnd die Schultern nach oben. Da stand sie, in einem viel zu großen Schlafanzug, neben ihrem Schreibtisch und fror. Der Schlafanzug war das Überbleibsel einer kurzen Liebe, eine Trophäe aus Flanell, Größe 52, blau-weiß gestreift. Sollte sie darin Millionärin werden?
Das Lottospielen war ihr quasi in die Wiege gelegt worden, denn sie war auf dem Fußboden einer Lotto-Annahmestelle zur Welt gekommen. Es war eine Geschichte, die an keinem Familienfest unerzählt blieb. Damals am 7. Oktober, am Feiertag zu Ehren der Republik, als sie alle im Haus der Großmutter beim Kaffetrinken saßen und die Mutter plötzlich Bauchschmerzen bekam. Jedes Detail wurde erinnert: Die Quarktorte, die etwas zu braun geraten war, der Mohnkuchen, den der Vater verweigert hatte, weil »Mohn dumm macht«. Ein Argument, das die Großmutter mit einem ihr eigenen Blick quittiert hatte: »Was sollte bei so einem Hallodri noch zu verderben sein?« Die Mutter dagegen hatte drei Stück gegessen. Und bis heute herrschte in der Familie Unsicherheit darüber, ob dem Mohn eine geburtsfördernde Wirkung zuzuschreiben sei. Vielleicht war es aber auch die »gute Butter« in der Quarktorte gewesen, oder, was am wahrscheinlichsten schien, die Großmutter hatte die Kannen vertauscht und der Mutter statt »Muckefuck« Bohnenkaffee eingeschenkt. Verbürgt ist, dass die Sammeltasse in der Hand der Mutter plötzlich zu zittern begann, ausgerechnet die kobaltblaue mit dem breiten Goldrand, und die Großmutter vorsorglich um den Tisch herumeilte, um ihre Lieblingstasse zu retten. Dann beruhigte sie ihre Tochter, die über plötzliche Bauchschmerzen klagte, was bei der Kuchenmenge schon mal vorkommen konnte. Die Mutter wurde auf das Sofa gebettet, mit Kamillentee und einer Wärmflasche versorgt, und es dauerte einige Zeit, bis die Großmutter zu ahnen begann, dass die Bauchschmerzen nicht eine Folge des übermäßigen Kuchengenusses, sondern die zwei Monate zu früh einsetzenden Wehen waren. Mit einer Frühgeburt hatte niemand gerechnet. Und vor allem nicht am 20. Republikgeburtstag, mitten auf dem Land, weit ab vom städtischen Krankenhaus. Unter den Familienmitgliedern war Panik ausgebrochen.
Noch immer rannte der kleine Geldbote über den Bildschirm und versprach einen Gewinn. Isabella Krause rückte den Pfeil auf »Weiter« und stellte sich vor, wie sich im nächsten Moment ein Schwall Geldscheine über sie ergießen würde. Einmal Goldmarie sein und das Pech vergessen, das an ihrem Leben klebte. Entschlossen drückte sie die Maustaste.
Sehr geehrte Frau Krause: Sie haben 83,70 Euro gewonnen. Sie spürte eher Erleichterung als Enttäuschung. Immerhin hatte sie vier Zahlen richtig getippt, ein deutliches Zeichen. Die ersten beiden Zahlen, die 7 und die 10, waren Isabellas Geburtsdatum. Diese Variante war nicht besonders einfallsreich, aber wie viele andere Lottospieler hing auch Isabella an den Zahlen, die ihr zu Beginn ihres Lebens zugeordnet worden waren. Früher war Isabellas Geburtstag immer ein Feiertag gewesen: Der »Tag der Republik«. Für die Kinder heute ein Tag wie jeder andere. Die Erinnerung an das Land, in dem Isabella aufgewachsen war, würde sich, biologisch bedingt, abschwächen und die DDR bald nur noch eine Fußnote in der deutschen Geschichte sein.
Die dritte richtige Zahl war die 49, Isabellas Alter, das sie gern verschwieg. Was würde sie tun, wenn sie im nächsten Jahr fünfzig würde? Umsteigen auf das italienische Enna-Lotto, bei dem die Zahlenreihen bis 90 gingen? Oder sollte sie 49 Jahre alt bleiben, zumindest auf dem Lottoschein? Eine Lüge, die ihr nicht schwerfallen würde. Zudem fand sie, dass fünfzig keine schöne Zahl war. Es gab sympathische und unsympathische Zahlen. Nie hätte sie die 20 getippt, ein Schwan mit Buckel, nie die 17 oder die 31 und erst recht nicht die 8, eine geschnürte Null.
Die 19 hatte Isabella aus Gewohnheit angekreuzt. Die 19 hatte in ihrem jetzigen Leben keine Bedeutung mehr, trotzdem mochte sie die Zahl noch immer. Damals dachte jedes Kind im Land bei der 19 nur an eines: »Kurzkrimi«. Die Lottosendung am Sonntag kam gleich nach dem »Sandmännchen« und zog sich bis zur aktuellen Kamera. Eine halbe Stunde, die gefüllt werden musste. Jeder Zahl war ein Genre zugeordnet. Und wurde sie gezogen, folgte ein kurzer Film zum Thema. Die 19 »Kurzkrimi« lag in der Beliebtheitsskala gleich hinter der 14 »Humor« und der 24 »Schlager«. Niemals hätte Isabella die 4 »Blasmusik« oder die 34 »Volksmusik« getippt.
Die Tele-Lotto-Ziehung war für die meisten Fernsehzuschauer im Land heilig. Auch für Großmutter Isa. Aufgeregt rannte sie vor Sendungsbeginn durch die Wohnung und suchte die nötigen Utensilien zusammen: Brille, Lottoschein, Zettel, Bleistift, um pünktlich um sieben in ihrem Sessel zu sitzen, die Füße auf den Hocker gelegt. Sie saß aufrecht und blickte gebannt auf den Fernseher wie auf einen Horizont, an dem sie das Auftauchen eines unbekannten Kontinents erwartete.
Mit einem Lächeln quittierte sie die Anfangsmusik und blickte skeptisch auf den jeweiligen prominenten Gast: »Der hat uns gerade noch gefehlt!«
Die alleinige Aufmerksamkeit der Großmutter war auf den Notar gerichtet. Zu Beginn jeder Sendung überprüfte er alle Vorrichtungen und gab mit dem Satz »Ich habe mich von dem ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgerätes überzeugt« die Lottoziehung frei.
»Abwarten!«, sagte die Großmutter.
Das Ziehungsgerät war einzigartig. Ein sich drehender kegelförmiger Berg, aus dessen Spitze auf Knopfdruck, wie bei der Eruption, eine Eisenkugel erschien, die auf einer vorgeformten Bahn um den Kegel herum nach unten rollte. Am Fuß drehten sich 35 Zahlenkegel von denen fünf abgeschossen werden mussten. Und auch wenn sich der Notar, meist war es Herr Rohr, zuvor von dem ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgerätes überzeugt hatte, galt das vornehmlich im juristischen und weniger im technischen Sinn. Warum sollte in diesem Land, in dem viele Dinge kaputt gingen, ausgerechnet ein Lottoziehungsgerät funktionieren? Oft erschien auf Knopfdruck keine Kugel. »Zu blöd zum Drücken!«, sagte die Großmutter. Auch kam es vor, dass die Kugel von ihrer Bahn abkam und der Schuss als ungültig gewertet wurde. Die größte Freude für die Großmutter aber war, wenn die Eisenkugel eine bereits vorher geschossene Lücke traf. Dann rief sie synchron mit dem Moderator: »Das war ein Durchläufer, Herr Rohr!«, und klatschte dabei vor Vergnügen in die Hände. Meist fielen ihr dabei der Tippschein und der Zettel mit den sorgsam notierten Zahlen vom Schoß, und Isabella hatte das Gefühl, dass der Großmutter ein Durchläufer mehr wert war als ein Lottogewinn.
»Das war ein Durchläufer, Herr Rohr!« Dieser Satz vereinte fast zwanzig Jahre lang die Lottogemeinde in der DDR. Hätte Isabella das untergegangene Land auf einen Satz festlegen müssen, so hätte sie diesen gewählt. Auch die DDR war nach vierzig Jahren ein »Durchläufer« gewesen.
Das gemeinsame Geburtsdatum hatte Isabella ungewollt mit dem Land verbunden. Für viele Lehrer war es kein Zufall, sondern eine Haltung gewesen. Und nun hatte Isabella mit ihrem ungeliebten Geburtsdatum 83,70 Euro gewonnen. Sie prüfte noch einmal alle gezogenen Zahlen. 3, 7, 10, 19, 40, 49. Auch einem virtuellen Geldboten konnte ein Fehler unterlaufen. Und plötzlich sah sie das Datum: der 7.10.1949. Die 40 stand für 40 Jahre und die 3? Das waren die drei Buchstaben: DDR. Die Superzahl war die 0, die, ganz logisch, für das Verschwinden stand.
Es gab keinen Zweifel: Die DDR hatte 14 Millionen Euro im Lotto gewonnen. Zu spät, dachte Isabella.
Letztendlich war es auch egal. Isabella musste sich ihrem gegenwärtigen Leben zuwenden und sich in Anbetracht des verpassten Gewinns bemühen, auf andere Weise Geld zu verdienen.
Die zweite Mail kam von ihrer Agentur. Es war die Anfrage einer Fernsehfirma: »Global-Movie-Production«. Isabella hatte an diesem Morgen keine Kraft mehr, sich vorzustellen, das Angebot käme aus Hollywood. Ihre Agentin hatte ihr das Visionieren empfohlen. Nur wer von sich überzeugt war, würde Erfolg haben. Sie solle sich alles mit Nachdruck vorstellen, dann würde es geschehen. »Eines Tages wirst du in Cannes über den roten Teppich laufen, und alle werden dir zujubeln!«
In ihrem Leben ohne roten Teppich spielte Isabella Krause Nebenrollen in Fernsehserien. Ihre Textbücher hatten meist nur einen einzigen Satz, wenn überhaupt. Im vorigen Monat war sie eine Krankenschwester gewesen, die einem Patienten den Schweiß von der Stirn tupfen musste. Nicht einmal ein »Na, wie geht es uns denn heute?« hatte man ihr gestattet.
Sie wurde häufig als Krankenschwester besetzt, ebenso als Prostituierte. Sie wollte den Gedanken an die Fantasie der Regisseure nicht vertiefen. Wahrscheinlich war es Isabellas Körpergröße von 1,50 Meter, die ihr ausschließlich dienende Rollen einbrachten. Sie fand es diskriminierend. War es nicht von Vorteil, als Schauspielerin klein zu sein? Um ihr in die Augen zu sehen, hätte sich Humphrey Bogart nicht auf eine Kiste stellen müssen.
Früher war sie nur zu klein gewesen. Heute war sie zu klein und zu alt. Ernüchtert öffnete Isabella die Mail.
Es war die Einladung zu einem Casting-Termin für eine Fernsehwerbung. »Sie müsse sich neues Terrain erobern«, hatte ihr die Agentin geraten. Am liebsten hätte Isabella für Champagner geworben, im roten Seidenkleid, mit goldglänzendem Make-up. Schon sah sie die Plakate in den Schaukästen leuchten. Es gibt immer einen Grund zum Feiern!
»Hoch die Tassen!«, hätte die Großmutter gesagt. Auf Plakaten war es egal, wie groß oder wie klein man war. Aber das Angebot bezog sich auf die Werbung für Naturjoghurt. Antibakteriell und superschmackhaft! Isabella hasste Joghurt. Unter der Adresse und der Anfahrtsskizze stand das zu erwartende Honorar: 6000 Euro. Dafür hätte sich Isabella auch ein Kondom über den Kopf gezogen.
Heute war ihr Glückstag. Sie hatte 83,70 Euro im Lotto gewonnen und in der nächsten Woche einen Casting-Termin in Berlin. Der einzige Makel war das Datum für die Bewerbung, der 11.11., ein hässliches Zahlenbild. Isabella war unschlüssig, ob ihr vier Spazierstöcke hintereinander Glück bringen könnten.
Über Berlin hatte früher immer ein Glanz gelegen. Es gab Häuser mit frisch gestrichenen Fassaden, Schaufenster, in denen Dinge lagen, nach denen sich Isabella Monate lang verzehrt hatte: Gewürzgurken, Jeans, Ketchup, Linsen, Acrylpullover. Sie liebte die Ausflugsdampfer auf den Flüssen, die breiten, dicht befahrenen Straßen, die Plätze, den einzigartigen Fernsehturm. Im Berlin ihrer Jugend war alles höher, weiter und schöner gewesen.
An diesem Novembertag wirkte die Stadt grau, verharrt in ihrer DDR-Schönheit, die niemand mehr bewundern wollte, auch Isabella nicht.
Im Schaufenster einer Bäckerei türmte sich eine Pyramide aus Pfannkuchen. Warum hießen sie eigentlich in anderen Städten Berliner, nur nicht in Berlin? Die Verkäuferin hinter der Ladentafel guckte missmutig zu Isabella hinaus auf die Straße. Isabella unterdrückte den Wunsch nach einem Kaffee. Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit. Sie wollte nicht zu früh kommen, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie wäre auf das Honorar angewiesen. Nur wer gut im Geschäft stand, bekam den Zuschlag für weitere Rollen.
Isabella lief in Richtung Alexanderplatz. Eine Touristengruppe marschierte hinter einer Stadtführerin über den Platz. An den zahlreichen Verkaufsständen wurden Souvenirs angeboten. Das Land war reduziert auf Rotarmistenmützen, Nationalmannschaft-Trikots und Ampelmännchen. Der Osten war über die Jahrzehnte hinweg in Mode gekommen. Aber jetzt im November wirkte der Platz noch trostloser, als er es ohnehin schon war. Das Wasser aus dem Brunnen der Völkerfreundschaft war abgelassen, niemand saß auf dem Rand. Auch das Rondell unter der Weltzeituhr war leer. Früher hatte Isabella sich hier mit ihren Freunden getroffen und sich die Wartezeit mit dem Lesen der Städtenamen verkürzt: Sydney, Casablanca, Kinshasa. Städte, die von Ostberlin aus gesehen jenseits jeder Zeitzone lagen. Doch sie waren Isabella durch das bloße Betrachten der Uhrzeit näher gerückt, und sie hatte sich vorgestellt, sie würde in London auf einen Freund warten oder in New York, je nachdem unter welchem Städtenamen sie gerade stand. Die Uhr hatte ihr das Gefühl gegeben, dieser Platz wäre der Mittelpunkt der Welt. Heute schämte sie sich für ihre Naivität, denn war es nicht ein unglaublicher Zynismus gewesen, mitten hinein in das eingemauerte Land eine Weltzeituhr zu bauen?
Wie immer wehte auf dem Platz ein scharfer Wind. »Hier zieht’s wie Hechtsuppe!«, hätte die Großmutter gesagt. Durch den Abriss der historischen Bebauung waren Windkanäle entstanden, die sich durch die Neubauten noch verstärkt hatten. Alles sollte anders werden. Alles musste anders werden. Während ihrer Schulzeit war Isabella mit ihrer Klasse nach Berlin gefahren, um auf dem Alexanderplatz DAS Wunderwerk sozialistischer Baukunst zu bestaunen: den Fernsehturm. Er war das höchste Gebäude im ganzen Land. Und ausnahmsweise wurde zu diesem Vergleich das gesamte Deutschland herangezogen, denn der Fernsehturm überragte mit seinen 365 Metern auch alle Gebäude des Klassenfeindes. 365 Meter, nie würde Isabella die Zahl vergessen, für jeden Tag des Jahres einen Meter. So hatte es Walter Ulbricht vor dem Bau angeordnet, damit es sich alle Kinder im Land merken konnten.
Jetzt war nichts mehr zu spüren von den ehemaligen Visionen. Der Platz wirkte wie ein zu oft gewaschenes Kleidungsstück, dem auch mit neuen Knöpfen kein neuer Glanz zu geben war. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie ihn einmal schön gefunden hatte.
Vielleicht war es die Vorfreude gewesen. Die Vorfreude auf die Abende, denn für Isabellas Berlin-Reisen gab es damals nur einen Grund: das Theater. Sie kannte die Spielpläne vom Deutschen Theater, der Volksbühne und dem Maxim Gorki Theater auswendig. Ob Barlachs »Der Blaue Boll«, Horváths »Glaube, Liebe, Hoffnung« oder Heiner Müllers »Hamlet«, das Theater war für Isabella der wahre Glanz von Berlin. Es war eine Welt, nach der sie süchtig war.
Das Theater war eine Mitgift der anderen Großmutter gewesen. Magda Kaiser, die Staatsschauspielerin, die bei Todesstrafe nicht Großmutter genannt werden wollte und erst recht nicht Oma. »Welch Verhöhnung einer Dame!«
Isabella lief durch Berlin und versuchte, an Naturjoghurt zu denken. Sie musste sich in eine gesundheitsbewusste Mutter verwandeln. »Für meine Familie nur das Beste!« Sie stellte sich einen gedeckten Frühstückstisch vor, an dem ein zeitungslesender Mann und drei ordentlich gekämmte Halbwüchsige saßen, denen sie lächelnd die Schälchen mit dem Joghurt reichte. Sie prüfte ihr liebevolles Muttergesicht in einem Schaufenster. Obwohl sie mit ihren fast fünfzig Jahren jünger wirkte und ihre Agentur bei dem Geburtsdatum geschummelt hatte, würde sich Isabella nicht mehr lange im Mutter-Fach halten können. »Großmütter sind das Ende der Karriere« lautete einer von Frau Magdas Grundsätzen.
Die Studioadresse lag nicht weit vom Alexanderplatz entfernt. Es war ein Haus mit großer Toreinfahrt. Ein Treppenaufgang links, ein Treppenaufgang rechts. Durch die geöffnete Hoftür sah Isabella das Hinterhaus. Früher hatten ihr diese gepflasterten Innenhöfe gefallen. Jetzt erschien ihr alles zu eng. Jeder konnte jeden vom Balkon aus beobachten. Es war eine Nähe, die Isabella erdrückt hätte.
Neben den Briefkästen hing ein mit Klebestreifen befestigtes Schild:
»Global-Movie-Production«. Der Pfeil zeigte zurück auf die Straße. Sie hatte es übersehen. »Molkerei Max Barthold« stand über dem Schaufenster. Zwischen der Scheibe und der wahrscheinlich vor Jahren heruntergelassenen Jalousie lagen tote Fliegen.
Isabella stieg die drei Stufen zur Ladentür nach oben. Vorsichtig drückte sie die Türklinke und zuckte unter der lauten Ladenglocke zusammen.
Von irgendwo rief eine Stimme: »Hi!«
Und Isabella antwortete: »Hi!«
»Stell dich schon mal hin!«, rief die Stimme. »Wo ist denn schon wieder der Assistent?«
Hinter der Ladentafel tauchte eine Frau auf. »Ich habe gesagt, du sollst dich schon mal hinstellen!«
Verängstigt stellte sich Isabella an die Wand gegenüber der Kamera.
»Mehr nach rechts! Muss man euch denn alles sagen?«
Isabella lehnte mit dem Rücken an der Wand. Der Assistent kam. Er sah aus wie die meisten Kameraassistenten: Lederhosen, kurzgeschorene Haare, Ohrring. Um das rechte Handgelenk hatte er ein Tuch gebunden.
Er guckte in den Sucher, dann auf den Monitor und stöhnte leise auf, dann stellte er das Stativ tiefer.
»Reg mich nicht auf!«, schrie die Aufnahmeleiterin. »Reg mich nicht auf!«
Und zu Isabella gewandt: »Fang schon mal an: Name, Vorname, Profil, Profil, Hände, Hände!«
»Läuft!«, sagte der Assistent.
»Hast du nicht verstanden? Name, Vorname, Profil, Profil, Hände, Hände!«
Isabella war geneigt zu sagen: »Krause, Isabella, Profil, Profil, Hände, Hände.« Aber was ergab das für einen Sinn? In solchen Momenten war es klüger zu schweigen.
»Wohl zum ersten Mal beim Casting?« Die Aufnahmeleiterin drehte demonstrativ ihren Kopf nach links »Profil«, dann nach rechts »Profil« und wendete die Hände vor der Kamera. »Ist das so schwer?«
Isabella sagte brav ihren Namen, sah nach rechts auf die Wand, an der ein Werbeplakat hing: »Leben wie im Mittelalter«, dann auf die linke Wand: »Wild-Ost – So war die DDR wirklich«, und hielt ihre Hände der Kamera entgegen. Vielleicht hätte sie vorher zur Maniküre gehen sollen?
»Was soll denn das?«, fragte der Kameramann, der unbemerkt den Raum betreten hatte. »Sind wir hier in der Sesamstraße?«
Erst jetzt sah Isabella den Einkaufswagen mit den aufgetürmten Joghurtbechern.
Früher waren die Einkaufswagen niedriger gewesen. Früher! Jetzt waren sie so hoch, dass Isabella wie eine Zwergenmutter hinter dem Wagen stand und über die Becher spähte.
»Auch ich habe mich in meinem Leben entschieden! Und für meine Familie entscheide ich gleich mit!«
»Mal was anderes«, sagte der Assistent. »Und jetzt den Wagen auf die Kamera zuschieben!«
»Stopp!« rief der Kameramann. »Akku leer!«
»Noch mal!«
Wieder und wieder schob Isabella den Wagen auf die Kamera zu. Es gab kein Entrinnen. Sie war gefangen in einem Ostberliner Molkereigeschäft. Gekettet an einen Einkaufswagen mit Joghurtbecherattrappen.
Früher war Joghurt etwas Besonderes gewesen: Erdbeergeschmack, Pfirsichgeschmack, Pflaumengeschmack. Himbeergeschmack war immer zuerst vergriffen. Doch es gab noch eine Steigerung: Trinkjoghurt aus der Dreiecktüte. Eine weißliche Flüssigkeit, die in ihrer Konsistenz an geleimte Wandfarbe erinnerte. Als es die ersten Joghurttüten im volkseigenen Handel gab, hatten die Menschen angestanden. Und obwohl Isabella Joghurt nicht mochte, hatte sie gleich vor dem Laden eine Ecke von der Papptüte abgebissen und den Joghurt bis auf den letzten Tropfen durch die aufgeweichten Ränder gesaugt. Wer Joghurt aus der Tüte trank, war unbesiegbar.
Jetzt türmten sich vor Isabella buntbedruckte Becher. Sie war sicher, dass sich die Folie ohne Anstrengung von dem Deckeln lösen lassen würde.
Es muss ein Ende haben, dachte Isabella. Wollte sie diese Bühne mit Würde verlassen, musste sie selbst die Initiative ergreifen. Es galt, sich aus eigenem Willen von diesem Casting zu verabschieden. Wenn sie sich schon blamierte, dann wenigstens mit Absicht. Isabella verzog ihr Gesicht zu einem dümmlichen Lächeln und schob den Einkaufswagen auf die Kamera zu.
»Ooch isch habbe misch in meim Läbn endschiedn! Un föhr meine Familschä endscheide isch gleisch midd.«
»Wunderbar«, schrie der Assistent mit Tränen in den Augen. »Wunderbar!«
»Du bist aus dem Ooo … oh Entschuldigung, aus den neuen Bundesländern?«, fragte die Aufnahmeleiterin.
»Sag ruhig Osten«, sagte Isabella, »wir haben immer Osten gesagt.«
»Kennst du viele Leute?«, fragte die Aufnahmeleiterin. »Ich meine im … Osten?«
»Zwangsläufig!«, sagte Isabella.
»Wir hätten da vielleicht einen Auftrag für dich. Kannst du ein Stündchen warten? Der Chef ist noch auf dem Rückflug von einer Besprechung in Zürich. Die Sekretärin sagt dir dann Bescheid!«
»Gut«, sagte Isabella und dachte, schlimmer kann es nicht werden. »Ich gehe einen Kaffee trinken!«
Als sie den Laden verließ, kam ihr die nächste Casting-Kandidatin entgegen: eine junge Blondine auf High Heels. Und Isabella hörte, wie der Assistent anerkennend pfiff.
Der einzige Triumph, den Isabella hatte, war die Gewissheit, dass so keine Mutter auszusehen hatte, zumindest nicht im deutschen Fernsehen. Die Blondine hätte für Autos, Cognac oder sich auf einem Fell räkelnd für Kaminöfen werben können, aber nicht für die gesunde Ernährung ihrer Familie. Eine Mutter war eine Beschützerin, die jederzeit ausstrahlen musste, dass sie in der Lage war, sich um ihr Kind zu kümmern. Das war auch schon in Isabellas Kindheit so gewesen.