MAURICE LIMAT

 

Der zärtliche Tod

 

 

 

Roman

 

Apex Horror, Band 40

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER ZÄRTLICHE TOD 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

Das Buch

 

 

Da tauchte noch eine Hand aus dem Dunkel auf.

Eine entsetzliche Hand.

Sie war auf hässliche Art kurz, denn sie hatte fast keine Finger, nur grässliche Stummel. Alles Übrige war wie abgenagt und von einer unbekannten Krankheit verzehrt.

Der gespenstische Anblick jagte Yvonne eine solche Angst ein, dass sie zurückwich und den Hörer fallen ließ. Dieser zerbrach sofort auf dem Fußboden.

Die zersplitterten Kunststoffteile sprangen in alle Ecken. Aber aus der Membrane war immer noch das endlose Tonband zu hören: »Bleiben Sie am Apparat!« Dann meldete sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung, doch sie sprach ins Leere...

 

Der zärtliche Tod von Maurice Limat erschien erstmals im Jahr 1972 in deutscher Sprache (als Top-Horror-Krimi Nr. 13 im Wolfhart-Luther-Verlag). Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen packenden Klassiker der französischen Horror-Literatur als durchgesehene Neuausgabe in seiner Reihe APEX HORROR. 

DER ZÄRTLICHE TOD

 

 

 

  

  Erstes Kapitel

 

 

»Ich glaube, du hast dich verfahren, Schatz...«

Yvonne hatte sich so vorsichtig wie möglich ausgedrückt. Nicht weil ihr Mann leicht aufbrauste. Aber dieser regnerische und langweilige Frühlingsabend schien ihm doch ein bisschen auf die Nerven gegangen zu sein.

Überall rann Wasser. Es war Mitternacht vorbei. Und in der Finsternis, die durch die tiefhängenden Regenwolken noch finsterer wurde, kam die DS nur im Schritttempo voran. Der Mann am Steuer kaute auf dem Stiel einer Tabakspfeife, die schon längst ausgegangen war. Er war brummig und keineswegs bei bester Laune. Von Zeit zu Zeit kam ein Fluch über seine Lippen.

Teddys Antwort klang etwas gereizt: »Ich habe mich verfahren... Natürlich habe ich mich verfahren! Du hast Glück, dass du dich selbst davon überzeugen darfst... Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo wir uns befinden... Außerdem ist das hier schon lange kein Auto mehr, sondern ein Unterseeboot...«

Sie musste lachen. Es war ein harmloser Scherz, doch er bewies, dass er ihre Worte nicht übelgenommen hatte.

»Meinst du, wir sind schon über Port-Royal hinaus?«

Diese Frage machte ihn wieder nervös.

»Aber schon lange, hör mal! Wir haben ja schon Dampierre hinter uns. Hast du denn das Schloss nicht gesehen?«

»Ja, weißt du, bei diesem Wetter...«

Sie fuhren noch eine gute Viertelstunde weiter.

Eigentlich wollten sie in Richtung Rambouillet fahren. Aber Teddy Verano fragte sich mittlerweile besorgt, ob er nicht an einer bestimmten Stelle eine Straßengabelung falsch eingeschätzt hatte. Denn jetzt befand sich der Wagen mitten in einem dichten Wald. Aber wo? Er wusste es einfach nicht. Das ärgerte ihn, und er zog vor, Yvonne im Augenblick nicht Recht zu geben.

Er fuhr noch langsamer. Dann hielt er an.

»Steig bitte nicht aus«, sagte Yvonne. »Du hast deinen Regenmantel nicht mitgenommen... Du wirst dich erkälten...«

Teddy brummte etwas vor sich hin und lächelte seiner Frau in der Dunkelheit vage zu. Gleichzeitig versuchte er, einen Blick um das Auto zu werfen.

Ringsum sah man nichts als Regen: Auf der einen Seite hoben sich die Umrisse der Bäume unscharf ab. Sie hatten erst wenige Blätter. Dadurch wirkten sie bei Nacht etwas unheimlich. Und wenn man zu ihnen hinübersah, fröstelte man selbst auch unwillkürlich.

»Die Hauptstraße haben wir jedenfalls verlassen... Weit und breit scheint hier keine Ortschaft zu liegen...«

Yvonne versuchte, ihm zu helfen.

»Vielleicht ist Chevreuse in der Nähe... oder Cernay?«

Teddy schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es ebenso wenig wie du, Schatz. Versuchen wir’s mal in der anderen Richtung. Ich drehe erst mal um.«

Er kuppelte ein. Aber es erwies sich als schwierig, an dieser Stelle zu wenden. Denn der Weg war uneben und holprig. Unter den Reifen spritzten Fontänen von schlammigem, schmutzigem Wasser hoch.

»Könntest du nicht die Heizung wieder anmachen, Teddy?«, bat sie.

»Frierst du?«

»Ja. Und außerdem finde ich diesen ganzen Abend schaurig. Alles ist so unwirklich. So gespensterhaft...«

Er musste lachen.

»Ich weiß. Wenn du neben mir sitzt, siehst du gern Gespenster... Aber du wirst dich daran gewöhnen. Meinst du, weil es so dunkel ist...«

Plötzlich schwieg er. Yvonne wurde noch eine Spur unruhiger. Sie beugte sich zu ihm hinüber.

»Hast du etwas gesehen?«

Er fuhr jetzt sehr langsam. Zwischen den Regenpfützen funkelten seltsame Reflexe im Scheinwerferlicht auf. Undeutliche Schemen huschten vorüber.

Die plötzliche Stille wirkte beängstigend auf Yvonne. Warum sagte Teddy nichts mehr?

»Was ist denn? Warum sprichst du nicht weiter?«

Teddy Verano sah einen Augenblick verkrampft und übermäßig angespannt aus. Aber er fasste sich wieder.

»Du hast gerade von Gespenstern gesprochen, Liebling... Ich glaube, ich habe gerade eins gesehen...«

Yvonne fuhr zusammen.

»Ich bitte dich, Teddy...«

Er versuchte, sie zu beruhigen.

»Aber du wirst doch keine Angst haben, wenn ich bei dir bin?«

Er nahm ihre Hand und drückte sie zärtlich.

Yvonne seufzte.

»Wahrscheinlich findest du es dumm von mir. Ich weiß selbst nicht, wie es kommt... Oh, sieh mal dort!«

Sie zeigte mit dem Finger in die Dunkelheit. Vor ihnen in der Finsternis hatte sich etwas bewegt. Ein Schemen, der bei dem strömenden Regen in keine Konturen passte.

»Hast du es auch gesehen?«

Teddy stoppte den Wagen, der ohnehin nur noch im Schritttempo vorangerollt war.

»Aber was machst du? Du wirst dich bestimmt erkälten!«

Ohne auf die Warnungen seiner Frau zu achten, sprang der Privatdetektiv Teddy Verano aus dem Wagen und stürzte sich in die Dunkelheit.

Yvonne begann, am ganzen Leib zu zittern. Sie machte den Versuch, Teddy im Scheinwerferlicht im Auge zu behalten. Die Nacht und das grauenhafte Regenwetter verdichteten sich zu einer Atmosphäre, die bis in das Innere des Wagens vordrang. Alles ringsum verlor an Form und Gestalt. Nur die Finsternis blieb.

Undeutlich sah sie irgendwo Teddy im Raum. Es hatte den Anschein, als ob er sich sehr rasch fortbewegte und unablässig in tiefen Pfützen watete.

Irgendwo vor dem Wagen, am Rande der Straße, hatte sich wieder etwas bewegt. Eine menschliche Gestalt...

Yvonne bohrte ihre Augen in die Nacht. Es konnte nur eine Frau sein, die aus dem Dunkel auf den Wagen zukam.

Yvonne machte die Wagentür auf, um besser sehen zu können. Draußen prasselte der Regen in Milliarden von Tropfen vom Himmel herunter.

»Was haben Sie? Sind Sie krank?«

Es war Teddy. Yvonne erkannte seine Stimme. Dann sah sie, wie er auf eine Fremde einsprach. Das Gespenst...

Yvonne krampfte sich zusammen. Teddys Worte drangen nur unzusammenhängend an ihr Ohr. Der Regen schien sie wie ein großer Schwamm in sich aufzusaugen.

Dann sprach eine andere Stimme: »Ist das der richtige Weg? Sind Sie gekommen, um mir den Weg zu zeigen?«

Die Worte kamen aus dem Mund der Fremden. Es war eine junge Frau. So viel war trotz der Dunkelheit zu erkennen. Sie sprach zusammenhanglos weiter:

»Wer sind Sie? Vielleicht der Führer, der mich geleitet...? Oh, bitte, sagen Sie, dass ich bald am Ziel bin...«

Dann war Teddy wieder deutlich zu hören: »Kommen Sie mit mir!«, sagte er und fasste sie behutsam am Arm.

Teddy und die Fremde waren jetzt nähergekommen. Yvonne sah beide unmittelbar vor dem Wagen.

»Bin ich im Reich des ewigen Glücks?«

Madame Verano hatte diesen Satz ganz deutlich verstanden. Sie fragte sich, ob dies alles Wirklichkeit war oder ob sie mit offenen Augen träumte.

Da sagte Teddy besänftigend:

»Aber gewiss... Kommen Sie! Sie sind ja völlig durchnässt!«

Die geisterhafte, zerbrechliche Gestalt an seinem Arm erwiderte: »Das hat nun alles keine Bedeutung mehr. Alles wird unwichtig, wenn man an der Schwelle zum Paradies steht...«

Yvonne sah beide an der Wagentür. Teddy bemühte sich um eine Frau, die in der Tat noch sehr jung war. Aber sie wirkte eben so schwach und wirklichkeitsfern.

Jetzt war deutlich zu erkennen, dass sie ein langes helles Kleid trug. Diese eigentümliche Bekleidung hatte in der tiefschwarzen Nacht zwangsläufig den Eindruck an etwas Geisterhaftes wachrufen müssen. Die langen Haare der Fremden hingen aufgelöst und wirr um ihren Kopf. Der Regen hatte sie um Gesicht und Schultern geklatscht.

»Sie muss ja völlig erfroren sein«, rief Madame Verano.

Als die Fremde in das Auto steigen wollte, brach sie zusammen. Teddy fing sie auf, und Yvonne half ihm, sie auf dem Rücksitz zu betten.

»Aber Teddy, was hat das alles zu bedeuten?«

»Warte einen Augenblick... Wir müssen sie zudecken und aufwärmen...«

»Die Decke ..«

»Und meine Taschenlampe. Sie muss im Handschuhkasten liegen.«

Yvonne hatte sich schon um die junge Frau bemüht und versuchte, sie warm zu reiben. Dann legte sie eine Decke über sie.

»Sie ist kalt wie ein Stein... Teddy, das ist ja grauenhaft... Was ist nur los?«

»Sie schlägt die Augen auf«, sagte Teddy. Er hatte die Innenbeleuchtung des Wagens eingeschaltet. Außerdem machte er jetzt noch die Taschenlampe an.

Beide beugten sich über die Fremde auf dem Rücksitz. Sie hatte ein ausnehmend hübsches Gesicht, schwarze Haare, eine niedliche Stupsnase und sehr große, helle Augen, die wegen der künstlichen Wimpern besonders auffielen. Von den Augen ging zudem ein überraschender, ferner Glanz aus.

Jetzt richteten sie sich auf das Gesicht Yvonnes.

»Sie sind es also«, flüsterte die Unbekannte. »Sie wollen mich abholen?«

Yvonne konnte sich die Zusammenhänge nicht erklären. Aber sie spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog.

»Ja, ich... ich bin...«

Da griff Teddy ein, um die Situation zu beschwichtigen.

»Ja«, sagte er. »Sie ist gekommen, um Sie abzuholen.« Er wollte vermeiden, sie durch unnötige Erklärungen nervös zu machen und ihr zu widersprechen. Denn nach seiner Meinung hatten sie ohne Zweifel eine Kranke bei sich, eine Süchtige.

»Wie schön Sie sind«, flüsterte die Fremde.

Yvonne zitterte am ganzen Körper. Sie war fast vierzig Jahre alt, aber noch immer eine außergewöhnlich schöne Frau, obwohl das Leben sich bei ihr auch nicht nur von der sonnigen Seite gezeigt hatte. Sie hatte jetzt eine Reife erreicht, die wie ein wunderschöner Sommer war. Im Halbdunkel des Autos nahmen Yvonnes Züge im Gegensatz zu der feindseligen, unterkühlten Außenatmosphäre besonders verführerische Konturen an, obwohl die Beleuchtung nur matt war.

In diesem Augenblick hörten sie beide, wie die Fremde mit schwächer werdender Stimme mühsam hervorbrachte: »Ich bin glücklich, dass dieses... Gesicht... so schön ist...«

Sie musste sich anstrengen, um den Satz zu vollenden. Dann setzte sie flüsternd hinzu:

»...das Gesicht meines Todes...«

Dann war alles still. Der Schluss des Satzes hatte Yvonne wie ein Schlag getroffen. Auch Teddy Verano konnte sich seiner unheimlichen Wirkung nicht entziehen, obwohl er von Berufs wegen mit eigentümlichen Situationen aller Art vertraut war. Angst, Furcht und bizarre Merkwürdigkeiten. Er kannte alles. Und manchmal vermischte es sich zu einem grotesken Kaleidoskop.

»Teddy«, sagte Yvonne, »hast du gehört, was sie gesagt hat?« Ihre Stimme zitterte. »Sie hat gesagt...«

»Sie weiß nicht mehr, was sie sagt... Aber, was mich beunruhigt, ist noch etwas Anderes...«

Er beugte sich nach vorn und legte sein Ohr auf die Brust der Fremden. Dann sagte er:

»Wir müssen sofort nach Hause fahren... Es kann nicht mehr weit sein... Bleib hinten bei ihr!«

»Teddy, du willst doch nicht sagen, dass...«

Doch er war schon auf dem Weg nach vorn. Er setzte sich ans Steuer und fuhr an.

Diesmal gelang es ihm ohne Schwierigkeiten, den richtigen Weg zu finden. Er brauchte nur wenige Minuten, um sich zu orientieren. Dann rollte der Wagen heimwärts.

Andere Scheinwerfer tauchten aus dem Dunkel auf und wiesen ihm die Richtung. So erreichte er die Hauptstraße.

Sie würden nicht länger als eine Viertelstunde brauchen. Die Veranos hatten im Tal von Chevreuse eine Villa für den ganzen Sommer gemietet, um dem ohrenbetäubenden Lärm und dem Schmutz der Großstadt zu entkommen.

Yvonne blieb auf dem Rücksitz neben der jungen Frau. Ihre innere Erregung jedoch ließ keineswegs nach.

Sie spürte den reglosen Körper der Fremden neben sich und berührte ihre eisig kalten Hände. Wenn sie genau horchte, hatte sie den Eindruck, als ob die Frau neben ihr schon lange nicht mehr atmete.

Als sie angekommen waren, beeilten sie sich. So rasch sie konnten, brachten sie die junge Frau ins Haus und legten sie im Salon auf die Couch.

»Mach etwas Feuer! Schnell! Ich gehe inzwischen telefonieren... Aber es ward schwer sein, jetzt mitten in dieser Nacht einen Doktor aufzutreiben.«

»Teddy... Teddy... ich habe solche Angst... ich glaube...«

Der Detektiv lief zur Couch hinüber.

»Nein, du meinst doch nicht...«

Beide sahen die fremde junge Frau an, die jetzt unbeweglich und wie zu Marmor erstarrt vor ihnen lag.

»Ob das wirklich... ob sie wirklich tot ist?«

Teddy, der an schnelle Reaktionen gewöhnt war, handelte sofort.

»Nein, es ist vielleicht doch noch nicht zu spät!«

Yvonne versuchte, ihn zurückzuhalten.

»Teddy... Teddy... ich sage dir: Sie ist wirklich tot!«

»Ich will rasch mein Besteck holen.«

Er lief in weiten Sätzen zum Waschraum. Eine Spritze, darauf kam es jetzt an. Zur Stützung des Kreislaufs. Und um Zeit zu gewinnen. Die schöne Unbekannte schien keinerlei Verletzungen zu haben. Sie befand sich nur in einem Trancezustand. Teddys Interesse war geweckt. Sein Berufsinstinkt witterte bereits das Geheimnis. Doch in erster Linie kam es jetzt darauf an, der Frau zu helfen. Sie sollte nicht auf diese Art umkommen. Später war immer noch Zeit, nach den Zusammenhängen zu forschen. Er könnte die Gendarmerie des Ortes antelefonieren.

Als er mit der Spritze in der Hand in den Salon zurückkam, wunderte er sich, seine Frau nicht mehr an der Couch zu sehen. Die Fremde war allein. Reglos und bleich lag sie in ihrem langen Kleid ausgestreckt vor ihm. Wie erst jetzt zu erkennen war, handelte es sich um ein perlgraues, fast weißes Abendkleid. Dazu trug die Unbekannte passende Schuhe und ein paar diskrete Schmuckstücke. Es blieb unerfindlich, warum sie in dieser Garderobe in der regennassen Nacht umhergeirrt war.

»Yvonne...«

Jetzt sah Teddy Verano, dass seine Frau am Kamin stand und in einen Spiegel blickte. Sie wandte ihm den Rücken zu.

»Aber Yvonne, was hast du?«

Fast hätte er die unglückliche Frau auf der Couch vergessen.

Yvonne hob die Hände, wie er deutlich sah. Und ihre Hände berührten mit graziöser Geste ihr Gesicht. Dann sagte sie:

»Ich habe das Gesicht des Todes... das Gesicht ihres Todes, hat sie vorhin gesagt...«

Er zuckte mit den Achseln.

»Komm, Schatz! Bleiben wir bei der Wirklichkeit! Du wirst doch dieser Sache keine solche Bedeutung beimessen?«

Er ging zur Couch, beugte sich vor und schob das Kleid der Fremden ein Stück nach oben, bis er den schmalen runden Schenkel vor sich hatte... wobei er sich eingestehen musste, dass ihn der Anblick durchaus nicht völlig kalt ließ.

Dann setzte er die Nadel an, nachdem er zuvor mit einem in Alkohol getränkten Wattebausch die Einstichstelle desinfiziert hatte.

Doch die junge Frau zeigte keinerlei Reaktion. Allmählich begann auch Teddy Verano sich um ihren Zustand ernstlich zu sorgen.

Da hörte er wieder die Stimme seiner Frau. Er richtete sich auf.

»Mein Gesicht... meinst du, ein menschliches Lebewesen könnte vorübergehend... einmal... wie der Tod aussehen?«

Teddy Verano fühlte, dass er bei dieser Frage leichenblass wurde.

Es lag irgendetwas Undurchschaubares, Unerforschliches in der Luft, bedrückend schwer und unfasslich. Yvonne war plötzlich völlig verändert. Sie strömte ein fremdartiges halluzinatorisches Fluidum aus, das er niemals an ihr bemerkt hatte.

Teddy musste sich zusammennehmen. Dann kam er zu einem brüsken Entschluss.

Er legte die leere Spritze auf den Tisch und ging auf seine Frau zu. Ohne etwas zu sagen, versetzte er ihr eine heftige Ohrfeige.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

»Aber nein, Teddy... haben Sie denn den Verstand verloren? Oder was soll das heißen?«

Teddy Verano sah ein leuchtend schwarzes Ungeheuer mit unheimlicher Geschwindigkeit auf sich zukommen.

Es hätte ein überlebensgroßer dunkler Käfer sein können, der sich zwischen ihn und seine Frau stürzte.

Eine noch jugendliche, aber feste Hand packte den Unterarm des Detektivs. Dieser versuchte, den Angreifer mit kräftiger Gegenwehr, doch ohne Gewaltanwendung in die Schranken zu weisen.

»Ich bitte dich, Gérard... Ein bisschen Verstand kann doch wohl nicht schaden...«

»Aber sind Sie denn verrückt geworden? Sie haben Mama geohrfeigt!«

»Hilf mir lieber, Junge! Siehst du denn nicht, in welchem Zustand sich deine Mutter befindet?«

Es war Gérard, Yvonnes Sohn und Stiefsohn Teddy Veranos. Er war gerade in dem richtigen Augenblick gekommen, um die unglaubliche Szene noch mitzuerleben: Teddy Verano schlug seine eigene Frau ins Gesicht!

»Sie wird einen Nervenzusammenbruch bekommen. Wir müssen sie in ihr Zimmer bringen...«

Gérard begriff immer noch nicht:

»Aber was ist denn hier eigentlich los?«

Teddy zeigte stattdessen ohne ein Wort auf die Couch.

Der junge Mann trug einen Motorraddress wie er bei Polizeistreifen üblich ist, obwohl er keiner Einheit angehörte. Er warf einen Blick auf die junge Frau. Dann siegte sein natürlicher Instinkt. Er gab einen anerkennenden Pfeifton von sich.

»Tadellos gebaut, die Kleine... Wo habt ihr denn die aufgegabelt?«

»Ich bitte dich, Gérard! Du siehst doch, in welcher schwierigen Lage wir uns befinden. Erst kommt einmal deine Mutter an die Reihe...«

Gérard merkte allmählich, dass der Augenblick sich nicht dazu eignete, Fragen zu stellen. Ohne sich seiner Kleidung zu entledigen, gab er seinem Stiefvater Hilfestellung.

An dem schwarzen Glanzstoff seines Motorraddress lief das Regenwasser immer noch in feinen Bahnen hinab. Gérard, hatte Sturzhelm und Brille nicht abgenommen. Vorsichtig hob er seine Mutter an den Beinen hoch, während Teddy sie unter den Armen packte.

Yvonne hatte das Gleichgewicht verloren und war zusammengebrochen. Sie hatte das Bewusstsein verloren, und ihr ganzer Körper zitterte leicht.

Beide Männer waren von kräftiger Statur. Sie bemühten sich, so behutsam wie möglich mit Yvonne umzugehen, als sie die Treppe zum ersten Stock der kleinen Villa emporstiegen.

Als sie den Salon im Erdgeschoss verließen, hatte Teddy Verano sich noch einmal umgedreht und der Unbekannten einen Blick zugeworfen.

Aber die junge Frau lag noch genau so reglos und kalt auf der Couch wie zuvor.

Es sah aus, als wäre jede Spur von Leben aus ihrem Körper entwichen.

Gérard verstand das alles nicht. Aber er begriff, dass es sich um eine ernstzunehmende Situation handelte. Denn sonst hätte sein Stiefvater sich anders betragen.

Als sie oben angekommen waren, zogen sie Yvonne aus und legten sie auf ein Bett. Sie schlug plötzlich die Augen auf und sah die beiden Männer an. Aber ihr Blick war eigentümlich verhangen. Sie schien nicht genau zu übersehen, was in dem Zimmer vorging. Ein paarmal brach sie in heftige Schluchzer aus. Dann wand sie sich krampfhaft hin und her. Aus ihrem Mund kamen unterdrückte Worte, die keiner verstand.

Teddy gab seinem Stiefsohn ein Zeichen: »Alkohol... oder etwas Eau de Cologne... Schnell, Gérard!«

Gérard beeilte sich. Als er zurückkam, sah er, wie sich Yvonnes Lippen bewegten. Er versuchte, den Sinn ihrer Worte zu verstehen.

»Was sagt unser Muttchen?«

Aber Teddy ließ ihm keine Zeit.

»Warte einen. Augenblick... Gib mir erst mal die Flasche.«

Teddy begann, die Schläfen seiner Frau zu beträufeln. Gérard setzte sich auf den Rand des Bettes und nahm die Hände seiner Mutter. Doch Yvonne schien niemand im Zimmer zu erkennen. Ihr Blick war ins Leere gerichtet, und sie stöhnte qualvoll:

»Der Tod... ich bin der Tod! Ich habe das Gesicht des Todes.«

»Mutter, was sagst du? Was heißt das?«

»Adi, mein lieber Junge. Es ist eine sonderbare Geschichte. Mach dir keine Gedanken! Es wird vorübergehen! Aber vorhin auf der Landstraße... als wir dieses Mädchen im Dunkeln gefunden haben...«

»Mit dem Abendkleid? Bei diesem Wetter?«

»Ich verstehe es selbst nicht. Sonst hätte ich es dir schon erklärt... Also, ich will es dir mal der Reihe nach erzählen...«

Teddy begann, rasch die Einzelheiten der merkwürdigen Begegnung zu wiederholen. Er erzählte, wie sie mitten in der Nacht angehalten und die junge Frau bei strömendem Regen entdeckt hatten. Gleichzeitig versuchte er mit der Hilfe seines Stiefsohns Yvonnes Nerven zu beruhigen. Offensichtlich hatte sie einen schweren Schock erlitten.

Nachdem er eine Weile erzählt hatte, sagte Teddy: »Gérard, ich glaube, es geht ihr jetzt etwas besser... Sie scheint sich zu beruhigen... Geh jetzt mal zum Telefon hinunter und rufe die Gendarmerie an.«

»Was soll ich denn sagen?«

»Sie sollen uns einen Arzt schicken... Wir haben eine Schwerkranke hier, und es besteht vielleicht Lebensgefahr. Schnell, beeil dich!«

Gérard sprang die Treppen hinab. Auch er hatte den Eindruck, dass es seiner Mutter inzwischen besser ging. Sie wirkte entspannter als vorher.

Aber fast in demselben Augenblick: hörte Teddy, wie sein Stiefsohn unten im Salon einen Schrei ausstieß: »Wo ist sie denn geblieben?«

Der Detektiv sah, dass Yvonne eingeschlafen war. Mit einem Satz jagte auch er die Treppen hinab.

»Was ist denn jetzt los?«, rief er.

»Teddy, Teddy! Sie ist nicht mehr da!«

Teddy Verano zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde.

Da Yvonne sich sichtlich beruhigt hatte, konnte er dem Gedanken nicht widerstehen, die ganze Wahrheit der Geschichte herauszufinden. Er wollte unbedingt die Hintergründe dieser geheimnisvollen Affäre herausbekommen. Wie ein Rekordschnellläufer hastete er weiter.

Der schwarze Riesenkäfer, an dem noch immer die Regentropfen hinabrieselten, hatte jetzt seinen Sturzhelm abgelegt und die Motorradbrille beiseitegeschoben. Er sah seinen Stiefvater bestürzt an.

»Nicht mehr da...?«

Verano hatte einen Fluch auf den Lippen.

»Verdammt, wie ist das möglich!?«

Aber es stimmte. Die Couch war leer. Man sah nur noch die leichten Umrisse eines Frauenkörpers, der dort gelegen hatte. An einigen Stellen hatte sich etwas Regenwasser festgesetzt und in die Polsterung gesogen.

Teddy folgte Gerards Blick zur Glastür. Während sie sich im oberen Stockwerk um Yvonne bemüht hatten, war die junge Frau zu sich gekommen. Sie war aufgestanden und hatte die Flucht ergriffen.

»Soll ich hinterherfahren, Teddy?«

»Ja. Beeil dich. Du hast ja noch deinen Dress an. Ich laufe in die Garage und hole die Lampe. Sie hat mit ihren kleinen Schuhen draußen bestimmt Abdrücke hinterlassen.«

Gérard trat in den Regen hinaus, der mit gleichbleibender Heftigkeit herunterprasselte. Bevor Teddy zur Garage ging, nahm er sich jedoch noch die Zeit, einen Regenmantel anzuziehen. Dann holte er die Lampe. Schließlich standen die beiden Männer zusammen im Garten. Sie verließen das Grundstück, um draußen weiterzusuchen.

Die Unbekannte hatte zwei Fluchtmöglichkeiten gehabt. Entweder war sie mit einem Sprung über die niedrige Hecke entkommen oder sie hatte einfach die große Tür benutzt, die Teddy versehentlich nicht geschlossen hatte. Gérard war mit dem Motorrad direkt bis an die Villa herangefahren.

Sie suchten eine Weile, bis der junge Mann plötzlich etwas gefunden hatte.

»Da... da«, rief er. »Das sind doch Spuren!«

Teddy kam mit der Lampe näher. An dieser Stelle waren tatsächlich ganz deutliche Fußabdrücke zu erkennen. Die kleinen Absätze hatten sich in regelmäßigen Abständen in den nassen Boden gepresst.

Sie liefen weiter. Der Regen schlug ihnen ins Gesicht, und ringsum war es noch immer stockschwarz.

Keiner sprach ein Wort. Die Angst würgte ihnen in der Kehle. Gérard begriff überhaupt nichts mehr, und Teddy war von größter Unruhe gepackt. In Gedanken schätzte er die möglichen Folgen dieses Abenteuers ab. Es war nicht zu leugnen, dass das Mädchen in Gefahr schwebte. Ihr ganzes Verhalten musste zu denken geben. Allein die Tatsache, dass sie in ihrer eigentümlichen Aufmachung mutterseelenallein in einer solchen Nacht unterwegs war, konnte nur zu den sonderbarsten Vermutungen Anlass geben. Hinzu kamen die seltsamen Worte, die die Unbekannte gesprochen hatte und die Yvonne so nachhaltig beeindruckt hatten. Für Teddy Verano, der sich schon von Berufs wegen zu aufgeklärten, geistig denkenden Menschen zählte, bildete jedoch dieses Erlebnis ein höchst mysteriöses Labyrinth. Denn trotz allem neigte er auch zu der Auffassung, dass sich sichtbares und unsichtbares Leben auf geheimnisvolle Weise verweben können. Es mochte Kräfte und Strahlen geben, deren kosmische Gesetze den Menschen nicht immer bekannt waren...

»Teddy, da ist etwas!«

Der Schein der Lampe tastete den Boden ab, und Teddy legte seine ganze Geschicklichkeit in diese nächtliche Spurensuche. Die Abdrücke der Schuhabsätze waren ganz deutlich zu erkennen. Sie waren so tief in den Boden getreten, dass nicht einmal der gießende Regen sie sofort wegspülen konnte.

In dem unsteten Schein seiner Lampe hatte das scharfe Auge Gerards etwas wahrgenommen. Vor ihm lag ein kleiner, ungewöhnlicher Gegenstand.

Teddy beugte sich vor und hob ihn auf.

»Eine Blume...«

»Hatte sie denn eine Blume bei sich?«

»Ich habe nicht darauf geachtet... Aber schließlich ist ja eine Blume mitten auf dem Land nichts Außergewöhnliches. Zwar wachsen wohl solche Blumen nicht unbedingt auf den Wiesen der Ile-de-France, aber...«

»Es ist eine Orchidee, nicht wahr, Teddy?«

»Ja... also bleibt nur zu vermuten, dass sie diese Blume vorhin schon besaß.«

Teddy steckte die Orchidee in seine Tasche. Sie war nass und verwelkt, aber allem Anschein nach hatte die junge Frau sie auf ihrer Flucht verloren.

»Komm, sie kann noch nicht weit sein...«

»Richtung Hauptstraße?«

»Kann man nicht wissen. Ich frage mich nur, ob sie weiß, wohin sie geht - ob ihr bewusst ist, dass sie sich auf einer Flucht befindet.«

Die Fußspuren verliefen nicht immer geradlinig. Manchmal nahmen sie unvermutet einen ziemlich kapriziösen Kurs ein. Wie bei jemand, der sich verlaufen hat und kein bestimmtes Ziel weiß. Die allgemeine Richtung wies aber trotzdem zur Hauptstraße, die nicht mehr allzu weit entfernt war.

Hinter den Regengüssen, die ihnen immer noch ins Gesicht klatschten, erkannten der Detektiv und sein Stiefsohn jetzt nach und nach die Scheinwerfer von Autos. Es musste auf der Hauptstraße sein. Ab und zu huschte ein knapper Lichtschein zu ihnen herüber, der aber jedes Mal sofort wieder verlosch. Doch die Scheinwerferkegel waren eher geeignet, die Schrecken dieser Nacht noch zu unterstreichen.

Trotz des nasskalten Wetters gerieten sie in Schweiß. Die Kühle schien überdies abzunehmen, um dem Frühling Platz zu machen. Aber beide waren von einer beklemmenden Furcht gepackt. War es nicht allzu leichtfertig gewesen, Yvonne allein in der Villa zurückzulassen?

»Da vorn... Ich glaube, ich sehe sie...«

Teddy hatte plötzlich das bestimmte Empfinden, die Unbekannte bemerkt zu haben. Richtig. Es konnte keinen Zweifel geben. Sie war es. Ihr helles Abendkleid hob sich fahl gegen das Halbdunkel ab.

Gérard sprang mit der ihm eigenen Geschwindigkeit vor, während Teddy trotz seines Trainings ein ganzes Stück hinter seinem Stiefsohn zurückblieb.

Als er ihn schließlich eingeholt hatte, riefen beide: »Nein! Halt! Kommen Sie zurück! Vorsicht! Die Straße vor Ihnen! Die Autos!«

Sie rannte jetzt genau auf die Hauptstraße zu. In dem Licht der Scheinwerfer, das sie in Abständen immer wieder traf, war sie genau zu erkennen, schemenhaft und wie eine Erscheinung aus dem Jenseits. Ein Wesen mit graziösen Bewegungen, das im Regen der Nacht Formen annahm, um sich sogleich wieder aufzulösen.

Immerhin genügte das kurze Intermezzo, um ihren Standort zu bestimmen. Aber beiden Männern war klar, dass damit die Gefahr, in der sie schwebte, noch nicht ausgeschaltet war.

Schließlich erreichte sie die Straße. Das Mädchen, dessen Verhalten in keinerlei Schema passte, ging vor einer Autoreihe her, die kein Ende zu nehmen schien. Trotz der nächtlich späten Stunde jagte ein Wagen nach dem anderen vorbei. Und die Fahrer schienen es ausnahmslos eilig zu haben, dieser traurigen Nacht zu entkommen und die heimatlichen Penaten zu erreichen.

Sie riefen noch einmal: »Vorsicht!... Kommen Sie zurück!«

Aber es war sinnlos. Ihre Stimmen verloren sich in der Ferne der Nacht.

Dann sahen sie ihr liebenswertes Gespenst ein letztes Mal. Am Rande der Landstraße wurde die Unbekannte plötzlich von einem sehr hellen Lichtschein erfasst. Es war wie ein kurzes Aufleuchten. Dann verschwand sie, während das scharfe Knirschen von Autoreifen zu Teddy und Gérard herüberdrang. Beide überlief es eisig kalt, denn sie wussten, was es zu bedeuten hatte.

Sie liefen ganz rasch voran, obwohl sie sich den schrecklichen Anblick bereits ausmalen konnten.

Teddy fluchte bei sich, dass er sie nicht mehr hatte retten können. Seltsame, unerbittliche Dinge schien diese Nacht im Gefolge zu haben.

Mitten auf der Fahrbahn stand ein Mann und fasste sich verzweifelt an den Kopf, als er keuchend hervorbrachte: »Ich habe es nicht mit Absicht getan... nein, nicht mit Absicht...«

Teddy stieß ihn an.

»Aber natürlich. Es wird ja niemand daran zweifeln. Wir haben alles beobachtet. Sie können uns als Zeugen angeben.«

Aber der unglückliche Fahrer war nicht so leicht zu beruhigen: »Sie hat sich direkt vor die Räder geworfen«, stöhnte er.

Gérard hatte sich schon neben die junge Frau gekniet. Er versuchte, sie hochzuheben. Im Scheinwerferlicht sahen sie noch einmal ihr anmutiges Gesicht. Über ihre Bluse lief etwas Blut.