Kalt.
Es war arschkalt hier.
Und könnte bitte endlich jemand diesen nervtötenden Wecker ausschalten? Würde meine Tante gleich rufen? »Lara, steh endlich auf!«, oder so etwas in der Art? Es wurde echt Zeit, dass ich dort auszog.
Nun veränderte sich das Geräusch. Wurde holperig und ging dann in einen lang gezogenen Piepton über.
Ein Mann rief: »Wir verlieren sie!«
Ich wunderte mich über die Aufregung.
Einfach loslassen, Lara. Der Gedanke kam aus dem Nirgendwo und setzte sich in meinem Kopf fest. Eine wunderbare Vorstellung.
Und dann tat ich es – verließ meinen Körper, legte ihn wie einen lästigen Mantel ab und stieg ein kleines bisschen in die Höhe.
Von hier oben konnte ich alles viel besser beobachten.
Unter mir lag eine junge Frau auf einem OP-Tisch. Ihr Brustkorb war geöffnet, aus dem Mund ragte ein Schlauch. Aber … das war doch … Ich betrachtete ihr Gesicht. Tatsächlich!
Das war ich.
Merkwürdig. Und wie hektisch die Leute um mich herum waren.
»Wir können sie nicht zurückholen, wir kriegen sie nicht!«
Warum regten die sich bloß so auf? War doch alles okay. Ich empfand keine Schmerzen, nur ein leichtes Erstaunen.
Ein Gefühl der Entspannung, ja sogar des Glücks erfasste mich. Es war wie eine Heimkehr nach einer langen, anstrengenden Reise. Ein Zustand, der bei mir Leichtigkeit und vollkommene Ruhe auslöste. Eine Ruhe, die ich lange nicht mehr empfunden hatte.
Ich stieg höher und höher, durch das Dach des Krankenhauses hindurch, als ob es gar nicht da wäre, und freute mich darüber, dass ich es konnte.
Eine ganze Weile genoss ich es, mich treiben zu lassen, berauschte mich an dem grandiosen Ausblick, den ich von hier oben hatte. Doch irgendetwas zog mich weiter in die Höhe.
Und dann war da dieses Licht.
So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Eine sanft glimmende Helligkeit und Wärme, die in mir die Sehnsucht nach dem tollsten Strandurlaub meines Lebens entfachte. Je näher ich dem Licht kam, desto verlockender wurde es.
Wie wunderschön! Und ich durfte dort hinschweben! Das würde ich gern Phina zeigen.
… Phina?
Ich hielt inne, obwohl das Licht mich mit aller Kraft zu sich zog.
Wie es ihr wohl ging? Ob sie auch in diesem Krankenhaus lag? Ich könnte zumindest einmal nach ihr suchen.
Phina war meine Herzensfreundin, meine Seelenverwandte. Eigentlich schon seit fast fünf Jahren, als wir das erste Mal bei einer Pädagogikvorlesung nebeneinandergesessen hatten. Ich hatte spöttische Kommentare über den spießigen Dozenten abgegeben und sie musste so laut losprusten, dass sie beinahe aus dem Hörsaal geflogen wäre.
Danach hatte sie mir immer einen Sitzplatz frei gehalten, was sehr praktisch war. Pünktlichkeit zählte nicht gerade zu meinen Stärken.
Phina hatte Deutsch und Musik auf Lehramt studiert und ich Sport und … ähm … An mein zweites Fach konnte ich mich kaum noch erinnern. Musste daran liegen, dass ich mich bei den Seminaren nie gezeigt hatte …
Um Phina zu suchen, widerstand ich dem Sog des Lichts. Zunächst kehrte ich in den OP zurück, aber hier befanden sich nur noch zwei Pfleger, die sauber machten. Eigenartig. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war.
Durch die Wände schwebte ich von Raum zu Raum und traf schließlich auf meine Eltern. Weinend saßen sie an einem Krankenhausbett.
Was war denn da los? Ich kam näher.
In dem Bett lag mein Körper unter einer Bettdecke.
Puh, sah ich übel aus! Als hätte ich die ganze Nacht durchgesoffen – Augenringe bis zum Bauchnabel. Die braunen Haare ungepflegt an den Kopf gedrückt. Und die vielen kleinen Schnitte im Gesicht von den Splittern der Windschutzscheibe … Wehe, wenn das Narben hinterließ! Wenigstens hing ich nicht mehr an Kabeln oder irgendwelchen Schläuchen. Warum eigentlich nicht?
Meine Mutter hielt meine Hand und schluchzte. Irgendwie ein bisschen peinlich. Ich wollte sie berühren und ihr tröstend über den Kopf streichen, aber meine Hand glitt einfach durch sie hindurch. Ich versuchte es wieder, mit dem gleichen Ergebnis.
Das war jetzt aber echt ätzend.
Mein Vater beugte sich zu ihr und nahm sie in den Arm.
Und während sie sich lange Zeit gegenseitig hielten, geschüttelt von Schluchzen, dämmerte es mir endlich:
Ich war tot.
Mausetot. Und ich sah dabei noch nicht mal hübsch aus.
So hatte ich mir meinen Abgang nicht vorgestellt.
Ich war doch gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt und hatte noch so viele Dinge erleben wollen. Eine Weltumseglung, den Himalaya besteigen, Popstar werden! Mein Ende kam jetzt doch ein wenig … unerwartet.
Dämliches Reh! Hoffentlich machte es sich wenigstens nützlich und wurde zu leckerem Ragout verarbeitet.
Vermutlich hätte ich eine tiefe Verzweiflung und Traurigkeit verspüren sollen – aber so war es nicht. Ganz im Gegenteil, ich fühlte eine friedliche Heiterkeit und Leichtigkeit, wie ich sie nie zuvor empfunden hatte. Ich war ja noch da, auch wenn es dummerweise keiner bemerkte. Ich konnte alles hören und sehen und es ging mir super. Total gechillt.
Erneut versuchte ich, Kontakt zu meinen Eltern aufzunehmen, ihnen klarzumachen, dass ich hier war, dass ich sie hören konnte. Dass es mir gut ging. Und dass das Ganze hier irgendwie ziemlich irre war.
Vergeblich. Sie bemerkten mich nicht. Allerdings stellte ich dabei fest, dass ich das Licht ein wenig verändern und brechen konnte. Spaßeshalber schrieb ich mit Lichtstrahlen Buchstabe für Buchstabe »Hallöchen« an die weiße Wand.
Cool! Das war lustig!
Also lenkte ich ein paar der ersten Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, auf meine Eltern, um ihnen eine Freude zu machen. Sie bemerkten es nicht. Schade.
Eine ganze Weile lang blieb ich bei ihnen, bis sie irgendwann den Raum verließen. Dann beschloss ich, weiter nach Phina zu suchen.
Im ersten Stock des Krankenhauses wurde ich endlich fündig.
Na, die sah aber auch scheiße aus. Keinen Deut besser als ich.
Ziemlich blass, die zierliche Gestalt unter der weißen Krankenhausdecke. Phina hatte ebenfalls Schnittwunden im Gesicht und trug eine dicke Halskrause. Eine Braunüle ragte aus ihrem Arm. Beide Hände waren bandagiert.
Ein klein wenig erinnerte sie an einen Bären.
Schmunzelnd überlegte ich, was sie machen würde, wenn es sie an der Nase juckte.
Ich erkannte, dass ihr linkes Bein unter der Bettdecke viel dicker war. Vermutlich ein Gips. Schade, dass ich nicht mehr darauf unterschreiben konnte.
Armes Finchen. Liebevoll ließ ich ein paar Lichtstrahlen über sie glitzern, aber ihre violett verfärbten Augenlider blieben geschlossen.
Die Zimmertür öffnete sich und eine Schwester kam herein.
»Frau Rosenberg?« Sie berührte Phina leicht an der Schulter. »Hallo, Frau Rosenberg? Können Sie mich hören?«
Phinas Lider flatterten.
»Wie geht es Ihnen? Möchten Sie etwas gegen die Schmerzen?«
Phina nickte leicht.
»Na, dann werde ich mal Ihre Werte kontrollieren und gleich bringe ich Ihnen ein Schmerzmittel.« Sie legte Phina eine Manschette um den Oberarm.
Jetzt öffnete meine Freundin mühsam die Augen. Man sah ihr an, dass sie viel lieber in Ruhe gelassen werden wollte.
Na, der nervigen Dame hätte ich aber gern mal ein paar Takte erzählt. Das sah doch ein Blinder, dass Phina Ruhe brauchte.
Weil sie meine beste Freundin ärgerte, blendete ich die Schwester mit einem Lichtstrahl, doch die zog kurzerhand den Vorhang etwas weiter zu, nachdem sie Phina die Manschette wieder abgenommen hatte.
»Wie sieht es nachher mit ein paar Happen Frühstück aus?«, fragte die Schwester mit professioneller Freundlichkeit und hielt Phina einen Becher an die Lippen. »Vielleicht ein wenig Obstbrei?«
Phina trank einen Schluck. Dann hob sie in Zeitlupe ihre Hand und schaute fragend auf den Verband.
»Wir werden Sie füttern, keine Sorge! Sie verhungern uns hier schon nicht.«
Die Schwester verließ den Raum und kam kurz darauf wieder. Sie kontrollierte den Tropf und spritzte etwas in den Beutel hinein. Vermutlich das Schmerzmittel.
»Wo ist Lara?«, fragte Phina mit dünner Stimme.
»Hier! Anwesend!«, hätte ich gern gerufen. Aber das ging ja leider nicht mehr. Also wackelte ich nur mit einigen Lichtstrahlen über die Zimmerdecke.
»Es tut mir sehr leid, Frau Rosenberg.« Jetzt klang die Stimme der Schwester plötzlich verunsichert. Sie griff nach Phinas Arm und streichelte ihn beruhigend. »Frau Wolf ist … leider in der Nacht … ihren Verletzungen erlegen.«
Phina reagierte nicht.
Keine Worte der Trauer. Kein schmerzverzerrtes Gesicht. Kein Schluchzen. Nichts.
Na, also etwas mehr Dramatik hätte ich mir schon gewünscht, schließlich war ich ihre beste Freundin!
»Wir haben Ihre Mutter informiert, Frau Rosenberg. Sie wird bald hier sein.« Die Schwester drückte Phina einen Klingelknopf in die verbundene Hand, was sich gar nicht so leicht gestaltete. »Ich komme bald wieder und dann schauen wir mal, ob Sie nicht etwas essen mögen. Klingeln Sie bitte, wenn Sie sonst noch etwas benötigen.« Auch die Schwester schien hilflos angesichts von Phinas Reaktionslosigkeit.
Die Tür klappte hinter ihr zu.
Neugierig beobachtete ich, was weiter geschehen würde.
Aber es geschah nichts. Phina blickte starr zur Decke, völlig regungslos und stumm. Und so blieb es auch, als die Ärzte zur Visite kamen, als die Schwester erfolglos versuchte, sie mit einigen Löffeln Brei zu füttern und als Phinas Mutter sich völlig aufgelöst neben sie setzte.
Frau Rosenberg war eine schlanke, gepflegte Frau mit den gleichen blonden Haaren wie Phina. Sie hatte ihrer Tochter bequeme Kleidungsstücke, eine Zeitschrift und ein paar Schokopralinen mitgebracht.
Phina beachtete ihre Mutter nicht, obwohl man sie kaum übersehen konnte. Sie trug ein bordeauxrotes Filzkleid, darunter einen schlammgrünen Pullover, eine lilafarbene Leggins und dazu farblich passend geringelte Stulpen an den Armen. Zum Glück hatte meine Freundin nicht auch den Modegeschmack ihrer Mutter geerbt …
Die Krankenschwester erklärte, dass Phina sich bei dem Unfall Frakturen am linken Außenknöchel und an zwei Rippen zugezogen hatte. Hinzu kämen ein Schädel-Hirn-Trauma und eine gestauchte Halswirbelsäule. Nicht zu vergessen die Schnittverletzungen und Prellungen an verschiedensten Körperteilen.
Oha! Kein Wunder, dass sie so ramponiert aussah.
Nachdem sie die aufgeregten Fragen von Frau Rosenberg zu Phinas Gesundheitszustand beantwortet hatte, ließ die Krankenschwester Mutter und Tochter allein.
»Möchtest du vielleicht fernsehen?« … »Oder noch etwas trinken?« … »Soll ich dir ein Radio besorgen, damit es nicht so still ist?« … »Oder vielleicht ein paar Hörbücher?« … »Möchtest du lieber in ein Zweibettzimmer, damit du nicht so allein bist?«
Ihre Mutter bemühte sich redlich, mit der Situation zurechtzukommen, doch Phina zeigte keine Reaktion auf ihre Fragen.
Nachdem Frau Rosenberg sich über eine Stunde vergebens bemüht hatte, sagte sie: »Ach Mäuschen, es tut mir wirklich leid, aber ich bekomme gerade eine Migräneattacke. Sobald es mir besser geht, komme ich wieder, versprochen!«
Sie war schon immer sehr sensibel gewesen und bekam bei Stress regelmäßig Kopfschmerzen. Die Zeit, in der sie praktisch alleinerziehend gewesen war, nachdem sie sich vor neun Jahren von Phinas Vater getrennt hatte, war sicher nicht leicht für sie gewesen. Für Phina aber wohl auch nicht.
Frau Rosenberg verließ mit hängendem Kopf das Krankenzimmer. Auch darauf zeigte Phina keine Reaktion.
Am Nachmittag kam Espen zu Besuch. Er war angehender Sozialpädagoge und sah immer ein wenig spitzbübisch und verwegen aus. Seine blonden Haare waren ständig verwuschelt und er trug meistens einen Dreitagebart. Ich mochte ihn, auch wenn er Phina mit seiner chaotischen Art regelmäßig in den Wahnsinn trieb.
Im Gegensatz zu ihr nahm er das Leben leicht und genoss seine Unabhängigkeit in vollen Zügen.
»Mensch, Schwesterherz, was machst du für Sachen?«, begrüßte er sie besorgt und stellte ebenfalls eine Packung Schokopralinen auf den Nachttisch.
Dann setzte er sich zu ihr. Als sie stumm blieb, erzählte er ihr Anekdoten von seiner Arbeit. Doch auch er schaffte es nicht, Phina aus ihrer Lethargie zu reißen. Dabei wusste ich, dass sie ihn von Herzen liebte, sonst hätte sie sich nicht nach wie vor um ihn gekümmert, wenn er mal wieder in Schwierigkeiten steckte. Da war sie meinen Brüdern ziemlich ähnlich. Die hatten mir auch so manches Mal aus der Patsche geholfen …
Als Espen schließlich das Krankenzimmer verließ, hatte Phina sich immer noch nicht gerührt. Nur ihre Augen bewegten sich und verfolgten die Lichtstrahlen, die ich an der Decke für sie tanzen ließ.
Und so blieb es die nächsten zwei Tage.
»Ach Mensch, Finchen«, hätte ich gern gerufen, als ich von einem Besuch bei meinen Eltern zu ihr zurückkehrte und versuchte, ihr ein paar freundschaftliche Stupse zu verpassen. »Ich bin doch bei dir. Ich fühle mich so toll wie vermutlich noch nie in meinem Leben! Das Einzige, was nervt, ist dieser Drang zum Licht und dass wir uns nicht unterhalten können. Also sei doch bitte nicht so traurig.«
Am dritten Tag führte eine Schwester zwei uniformierte Polizeibeamte in Phinas Zimmer.
»Guten Tag, Frau Rosenberg«, sprach die Polizistin Phina an und trat ans Bett, während ihr männlicher Kollege mitten im Raum stehen blieb. »Mein Name ist Seliger, das ist mein Kollege Brinkmann. Wir bringen Ihnen Ihr Handy vorbei, das wurde am Unfallort gefunden.«
Phina schaute sie an, blieb aber stumm.
Achselzuckend legte Frau Seliger das Smartphone auf den Nachttisch. »Außerdem ermitteln wir in Ihrer Unfallsache und müssen Ihnen noch ein paar Fragen stellen.«
Phina guckte die Beamtin weiterhin nur still an.
»Nun ja«, fuhr diese ein wenig unbehaglich fort, »wissen Sie, am Unfallort wurde starker Alkoholgeruch festgestellt.«
Mir fielen die Bierflaschen ein, die auf dem Rücksitz meines Wagens gelegen hatten. Ups! Ich hatte die Flaschen heute zum Geburtstag eines Bekannten mitnehmen wollen.
»Entschuldigen Sie die direkte Frage, aber: Haben Sie Alkohol getrunken, bevor Sie gefahren sind? Bevor Sie antworten: Sie müssen sich nicht selbst belasten und können einen Anwalt einschalten.«
Außer dass meine Freundin blinzelte, geschah nichts.
Ich musste grinsen, weil Phina der einzige Mensch war, den ich kannte, der noch nicht einmal ein halbes Glas Sekt zu sich nahm. Sie trank grundsätzlich keinen Alkohol. Nie.
»Wir haben die Blutwerte von Frau Rosenberg kontrolliert, Frau Seliger, null Promille«, warf jetzt die Schwester ein.
Die Polizistin warf ihrem Kollegen einen kurzen Blick zu. Der trat daraufhin näher und übernahm die Gesprächsführung. »Frau Rosenberg, Sie müssen sich keine Sorgen machen wegen unserer Ermittlungen. Wild tritt meist unvermittelt auf die Straße, wir haben bislang keinen Anlass, davon auszugehen, dass es sich nicht um einen ganz normalen Wildunfall handelt. Anhand der Bremsspuren konnten wir feststellen, dass Ihr Wagen nicht zu schnell war.«
Phina schloss ihre Augen, als ob es zu anstrengend wäre, sie aufzuhalten.
»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe: Sie ist beunruhigend apathisch«, erklärte die Krankenschwester nun. »Vermutlich eine Folge des Unfalls und der Nachricht vom Tod ihrer Freundin. Der Schock, wissen Sie? Nicht einmal als gestern ihr Freund zu Besuch kam, hat sie reagiert.«
Julius Wedekind (›das Kindchen‹ – wie ich ihn in Gedanken wegen seiner Milchbubi-Ausstrahlung zu nennen pflegte – aber das durfte Phina nicht wissen) hatte ihr einen bombastischen pinkfarbenen Strauß Blumen auf die Fensterbank gestellt. (Leider hatte der Blödmann nicht bedacht, dass Lilien viel zu stark für ein Krankenhauszimmer dufteten. Die Schwestern hatten den Strauß später entfernen müssen.) Er hatte Phinas Hand gehalten, gefleht, dass sie doch etwas sagen möge, und sie die ganze Zeit mit einem Hundeblick angeschaut.
Merkte er denn nicht, dass er jetzt mal der Starke sein musste?
Phina und Julius waren seit der Schulzeit zusammen, sahen sich durch die Entfernung aber nur zwei bis drei Mal im Monat. Julius war Jurist und lebte im anderthalb Fahrtstunden entfernten Hamburg. Fand ich nicht weiter tragisch, denn er war ein fürchterlicher Langweiler, dem zu allem Übel auch noch jeglicher Humor abging. Mir drängte sich die Vorstellung auf, wie es bei den beiden im Bett abgehen mochte … Wahrscheinlich erzählte er noch während des Aktes, was er alles zu tun hatte, wie gut er in seinem Job war und welche wichtigen Chefs ihn gelobt hatten. Meine Abneigung hatte ich natürlich Phina gegenüber nicht so sehr heraushängen lassen. Wenn sie glücklich mit ihm war, sollte es mir recht sein.
Irgendwann hatte Julius seine Bemühungen um Phinas Aufmerksamkeit aufgegeben und sich nach einem Kuss auf ihre blasse Stirn vom Acker gemacht.
»Frau Rosenberg, wir verstehen, dass es Ihnen nicht gut geht, aber wir benötigen ein paar Antworten«, versuchte der Polizist es erneut.
»He, Herr Wachtmeister! Lassen Sie bloß meine Freundin in Ruhe. Sonst … äh … beschieße ich Sie mit Lichtstrahlen!«
Natürlich hörte er mich nicht.
»Sie haben kurz nach dem Unfall zu einem Kollegen gesagt, dass Sie die Fahrerin des Wagens waren?«
Nun schlug Phina doch die Augen auf. Ihr Blick wanderte zu seinem Gesicht.
Oh, verdammte Scheiße!
Siedend heiß fiel mir ein, dass sie mir versprochen hatte, meinen Eltern nichts zu sagen. Was natürlich wiederum bedeutete, dass sie niemandem verraten durfte, dass in Wahrheit ich gefahren war.
Aber da hatte ich doch nicht gewusst, dass ich kurz darauf abkratzen würde! Sonst hätte ich so was doch niemals von ihr verlangt!
Auweia! Ob man sie deswegen drankriegen konnte? Wie schnell war ich gefahren? Auf jeden Fall unter 100 km/h, nach Finchens Rumgejammer über meinen Fahrstil. Verdammt, sie hatte recht gehabt.
Scheiße, Scheiße, Scheiße! Was hatte ich da bloß angerichtet? Ich war so ein Vollidiot. Wie war ich nur auf diese hirnrissige Idee gekommen, zuzulassen, dass sie sich als Fahrerin ausgab?
Rückblickend verstand ich mein Verhalten nicht. Mit dieser tiefen Zufriedenheit in mir, diesem Gefühl endloser Liebe, erschien es mir völlig unerheblich, dass ich selbst es gewesen war, die mein Leben an die Wand (beziehungsweise an den Baum) gefahren hatte.
Meine Eltern liebten mich, egal ob ich erfolgreich war oder nicht, das war mir nun klar. Sonst hätten sie in den letzten beiden Tagen nicht stundenlang im Beerdigungsunternehmen gesessen, wo mein Körper aufgebahrt worden war. Wie hatte ich mich nur derart von meiner Familie entfremden können?
Mehrfach hatte ich in den Tagen nach dem Unfall meine Eltern besucht und hilflos zugesehen, wie sie um mich trauerten.
Sie hatten mir ein schickes Kleid ausgesucht und der Bestattungsunternehmer hatte mit Schminke ein kleines Wunder vollbracht. (Die Schminktipps hätte ich gern zu Lebzeiten gehabt!)
Dass ich schön aussah, fanden auch meine beiden Brüder, die ebenfalls zeitweise an meiner Seite wachten. Flüsternd hatten sie sich über all die Streiche unterhalten, die ich als Kind ausgeheckt hatte.
Ich war so gerührt, dass ich beschloss, dem lockenden Ruf des Lichtes noch ein wenig länger zu widerstehen und mir meine eigene Beerdigung anzuschauen.
Aber zurück zu Phina, die ich in diese furchtbare Zwickmühle hineinmanövriert hatte.
»Das ist richtig«, antwortete sie dem Beamten gerade schleppend, »ich habe den Wagen gefahren.« Ihre Stimme klang rau. Sie hatte lange nicht gesprochen.
»Sie müssen verstehen, es ist unser Job, diese Fragen zu stellen«, erklärte die Polizistin entschuldigend. »Aber keine Sorge. Da Sie anscheinend weder unter Alkoholeinfluss standen noch zu schnell gefahren sind, werden zwar die Fakten für die Staatsanwaltschaft zusammengetragen, aber ich vermute, dass das strafrechtliche Ermittlungsverfahren rasch eingestellt wird, da es sich hier anscheinend um einen normalen Wildunfall handelt.«
Ich atmete zutiefst erleichtert auf, während Phina keine Reaktion zeigte.
Als die beiden, gefolgt von der Krankenschwester, kurz darauf hinausgingen und Phina allein zurückließen, fühlte ich mich mies. Und das wollte etwas heißen, denn normalerweise begleitete mich in meinem neuen Daseinszustand eher eine glückliche Scheißegal-Haltung.
Um Phina zu trösten, schwebte ich ganz nah an sie heran und kuschelte mich an sie und versuchte, ihr all die flauschig rosafarbenen Gefühle zu senden, die ich zu Lebzeiten so nicht gekannt hatte.
Auf einmal glitzerten in Phinas Augen Tränen. Stumm begann sie zu weinen. Zuckend, bebend, hilflos.
»Ach Lara, es tut mir so unendlich leid! Ich werde dein Vertrauen niemals missbrauchen. Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Für immer«, brach es aus ihr heraus. »Ach, weshalb bin ich bloß nicht gefahren! Vielleicht hätte ich es verhindern können …«
Sie sagte es, als spürte sie, dass ich neben ihr war.
Niemand außer mir konnte sie hören. Und mir wäre es lieber gewesen, hätte ich sie ebenfalls nicht hören können … Die Schuldgefühle schafften es, meine Glückswolke zu durchdringen, und wollten mich schier zerreißen.
Am vierten Tag nach dem Unfall kam eine Frau von der Klinikseelsorge in das Krankenzimmer. Einer der behandelnden Ärzte musste sie angerufen haben, weil er sich Sorgen um den Gemütszustand der Patientin machte. Ich konnte es ihm nicht verdenken.
Die Dame begrüßte Phina, stellte sich als Pastorin vor und zog sich einen Stuhl ans Bett. Dann schwieg sie eine Weile, während sie sanft über Phinas Arm streichelte.
Misstrauisch beobachtete ich sie. Aber meine Freundin zeigte keinerlei Zeichen der Abwehr. Genau genommen reagierte sie mal wieder überhaupt nicht.
Schließlich brach die Pastorin die Stille. »Mir wurde erzählt, dass Ihre Freundin bei dem Unfall ums Leben kam, Frau Rosenberg«, begann sie mit ruhiger Stimme. »Das tut mir sehr leid.«
Ha! Endlich mal jemand, der mit Phina darüber sprach. Sowohl das Pflegepersonal als auch Phinas Mutter, ihr Bruder und Julius hatten das Thema ›Unfall‹ bisher vermieden. Ein bisschen konnte ich es nachvollziehen. Schließlich war es nicht leicht, die richtigen Worte zu finden.
Phina atmete tief ein. Schwerfällig drehte sie den Kopf zur Pastorin. »Wollen Sie mir jetzt erzählen, dass der liebe Gott das so gewollt hat und dahinter ein tieferer Sinn liegt?« Ihre Stimme klang heiser und zornig.
Überraschenderweise wurde der Gesichtsausdruck der Pastorin daraufhin weich. »Ich verstehe Ihre Wut«, sagte sie. »Möchten Sie über Ihre Freundin sprechen?«
Ich war beeindruckt. Die Frau war gut. Neugierig wartete ich ab, was nun geschehen würde.
Phina schluckte. Und dann begann sie tatsächlich von mir zu erzählen. Zunächst stockend, immer wieder unterbrochen von Schluchzern, dann flüssiger.
Sie schilderte, wie wir uns an der Uni kennengelernt hatten, erzählte von gemeinsamen Unternehmungen und davon, wie stolz ich auf den betagten Kleinwagen gewesen war, den ich von meiner verstorbenen Tante geerbt hatte und der nun leider in die ewigen Jagdgründe eingegangen war.
Sie sprach darüber, dass sie in unserer Freundschaft wohl eher der ruhigere und besonnenere Part gewesen war, was das Ganze so gut funktionieren ließ. (Okay, damit hatte sie vielleicht nicht ganz unrecht, auch wenn ich es nicht gern hörte.) Sie berichtete, dass sie wegen ihrer Verletzungen noch nicht einmal zu meiner Beerdigung gehen könne, die morgen stattfinden sollte, weil sie das Krankenhaus noch nicht verlassen durfte.
Am Ende musste sie unter Tränen sogar lächeln, während sie davon erzählte, wie ich mir einmal wegen einer verlorenen Wette ein Herzchen-Tattoo um meinen Bauchnabel hatte stechen lassen müssen.
so
Phina dachte einen Moment über ihre Worte nach. Dann blickte sie die Seelsorgerin ernst an und nickte.
»Ich fühle mich schuldig, weil ich Laras Tod hätte verhindern können«, sagte Phina mit zitternder Stimme und ängstlich blickenden Augen, woraufhin die Pastorin ihre Hand kurz an Phinas Wange legte.
Ich fragte mich, ob das bei solchen Gesprächen üblich war, freute mich aber für meine Freundin über diese Geste.
»Es war ein Wildunfall, richtig?«
Phina nickte.
»Und Sie glauben, Sie hätten einen Wildunfall verhindern können?«
Meine Freundin zuckte unsicher mit den Schultern, was wegen der Halskrause ein bisschen lustig aussah.
»Sehen Sie, manche Dinge können wir einfach nicht beeinflussen.«
Phina guckte zweifelnd.
»Wie fänden Sie es, wenn wir gemeinsam für Ihre verstorbene Freundin beten würden?«, schlug die Pastorin vor.
»Aber ich kann ja nicht einmal glauben, dass Lara tot sein soll«, rief Phina. »Ich spüre sie doch noch. So, als wäre sie hier im Raum!«
Bingo! War ich ja auch.
»Und ist das ein schönes Gefühl?« Die Seelsorgerin sah sie interessiert an.
Nach kurzem Überlegen nickte Phina.
»Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir einfach nicht begreifen können«, sagte die Pastorin bedächtig und ich konnte ihr nur zustimmen. »Aber ich denke, dass es trotzdem schön und tröstend sein könnte zu beten. Was meinen Sie?«
Und so beteten die beiden, was mich schon wieder ziemlich rührte.
Am nächsten Tag fand meine Beerdigung statt. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen, schließlich hatte ich dafür extra dem Sog des wundervollen Lichtes so lange widerstanden. Anschließend würde ich loslassen und mich in das warme Leuchten aufmachen.
Freude, Leichtigkeit und Frieden.
Ich verabschiedete mich schweren Herzens von Phina, die weinend unter der Bettdecke steckte, weil sie nicht dabei sein und von mir Abschied nehmen konnte. Dabei war es ihr anscheinend völlig egal, dass sie mittlerweile eine Zimmergenossin bekommen hatte, die sie verunsichert beobachtete.
Die Schwester brachte Phina etwas zur Beruhigung.
Obwohl ich sie in guten Händen wusste, fiel es mir schwer, sie endgültig zu verlassen.
»Auf Wiedersehen, mein Finchen, halt die Ohren steif. Wir treffen uns irgendwann im Licht.«
Zum Trost malte ich ihr lächelnde Lichtstrahlsmileys und Herzen an die Wand und gab ihr noch einen dicken Kuss.
Es ärgerte mich, dass der Lichtschein, den ich umzulenken in der Lage war, nur so schwach war, dass es niemand bemerkte.
»Ich hab dich lieb, mein Finchen.«
Dann schwebte ich zur Friedhofskapelle.
Wow! Mein Sarg war über und über mit Ranunkeln in allen möglichen Farben bedeckt. Sie hatten daran gedacht, dass ich die so gern mochte. Am liebsten hätte ich meine Eltern umarmt. Die sahen nicht gut aus, genauso wie meine Lieblingstante Mareike, bei der ich hatte wohnen dürfen. Sie hatten dunkel unterlaufene Augen. Es tat mir unendlich leid, dass schon wieder ich es war, die ihnen Schmerz zufügte. Ich ließ sanfte Lichtstrahlen über sie gleiten, als könnte ich sie auf diese Weise umarmen und streicheln.
Um den Sarg herum war alles voll mit Kerzen, Kränzen und Blumengebinden. Auf einer Staffelei hatten sie ein großes Foto von mir aufgestellt. (Zum Glück eines der wenigen, auf denen ich vorteilhaft aussah …)
Ich schaute mich um. Die Kapelle war bis auf den letzten Platz belegt, stellte ich erstaunt fest. Meine Eltern, Tante Mareike und meine Brüder sowie der Rest der Verwandtschaft saßen vorn in den ersten Reihen. Aber auch mein kompletter Physiotherapie-Kurs samt Ausbilder war angereist, ehemalige Lehrer und Klassenkameraden aus Schulzeiten, die Mädels aus meiner Volleyballmannschaft, Freunde und Bekannte, ja sogar zwei meiner Ex-Freunde.
Ich war gerührt, dass so viele Menschen von mir Abschied nehmen wollten.
Nur dass alle so ernst und still waren, fand ich blöd. Ich verdrehte die unsichtbaren Augen. Sie sahen furchtbar steif aus in ihren dunklen Klamotten. Wenn die wüssten, dass ich hier war und alles beobachtete …
Im Anschluss an die wirklich sehr bewegende Trauerfeier wurde mein Sarg von sechs Trägern würdevoll zum Grab gebracht.
Zu gern hätte ich mich mit Phina über deren Schlapphüte und die Tortendeckchen um ihre Hälse lustig gemacht. Gut, dass sie nicht meine beiden fast zwei Meter großen Brüder dazu genommen hatten, die zwischen den Trauernden herausragten. Dann hätte der Sarg ziemlich schief gehangen.
Als schließlich alle zum Beerdigungskaffee davonströmten, hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, mich von meiner Familie zu verabschieden.
Ich küsste meine Eltern ein letztes Mal mit Licht und versuchte ihnen zu sagen, wie sehr ich sie lieb hatte. Dann schwebte ich zum Abschied zu meinen Brüdern, die gemeinsam ein wenig abseits standen und mit finsteren Gesichtsausdrücken heiß diskutierten.
Was war denn bei denen los?