James Bridle
DAS KLIMA IM NEW DARK AGE
Aus dem Englischen
von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck
Der Siegeszug unserer entfesselten Technologien destabilisiert den gesamten Planeten und eröffnet ein neues Zeitalter: das New Dark Age. Eine seiner erschreckendsten Signaturen ist der Klimawandel, den James Bridle in diesem Kapitel seines aufsehenerregenden Buches beschreibt.
Während neue Technologien immer schneller und immer massiver bis in die letzten Winkel unseres Lebens vordringen, sind wir immer weniger dazu in der Lage, sie unseren Erfordernissen anzupassen. Sie sind längst zu einer Bedrohung für humane Lebensformen geworden. James Bridles Buch «New Dark Age. Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft» ist eine rasante Tour de Force durch die technologischen Dystopien der Gegenwart. Dieses short-ebook beinhaltet nur das packende Kapitel über den Klimawandel. Das vollständige Buch, das unter anderem auch auf die Auswirkungen der Automatisierung der Arbeitswelt und der omnipräsenten Datenerfassung eingeht, ist gedruckt und als E-Book erhältlich.
Bridle ist ein junger Harari noir, sein «New Dark Age» ist kompetent, funkelnd und so düster wie ein Roman von H. P. Lovecraft.
«New Dark Age gehört zu den klügsten und zugleich beunruhigendsten Büchern über die digitale Welt, die ich jemals gelesen habe, was nichts anderes heißt als dass es zu den klügsten und erhellendsten Büchern über das Leben von heute gehört, die ich jemals gelesen habe.»
The New Yorker
James Bridle (*1980) ist Künstler und Autor. Er hat Computer Science und Cognitive Science am University College, London, studiert und über Künstliche Intelligenz promoviert. Seine künstlerischen Arbeiten und Installationen wurden in Galerien und Museen weltweit ausgestellt. Seine Texte sind in «Wired», «Frieze», «The Atlantic», dem «Guardian» und «Observer» erschienen. 2015 wurde er vom Magazin «Wired» zu den 100 einflussreichsten Menschen in Europa gezählt. «New Dark Age» ist sein erstes Buch.
DAS KLIMA IM NEW DARK AGE
Auf YouTube gab es ein Video, das ich mir immer und immer wieder anschaute, bis es aus dem Netz genommen wurde. Daraufhin entdeckte ich GIFs davon, die auf Nachrichtenseiten gepostet worden waren, und schaute mir stattdessen die an: konzentrierte Linien des Schlüsselmoments, destilliert aus dem Unheimlichen. Ein Mann in Gummistiefeln und Tarnkleidung, mit einem Jagdgewehr über der rechten Schulter, marschiert im Frühjahr durch die ungeheuren Weiten der sibirischen Tundra. Der Boden ist grün und braun, dicht mit Gras bewachsen, und erstreckt sich vollkommen flach in alle Richtungen bis zum blassen Blau des Horizonts, der ewig weit entfernt scheint. Mit langen, gleichmäßigen Schritten läuft er dahin, ein Tempo, das ihn jeden Tag ein großes Stück Territorium erkunden lässt. Doch während er so dahingeht, glänzt der Boden feucht und gerät in Schwingung; die dicke Erde wird flüssig und bewegt sich wellenförmig. Was wie fester Boden wirkt, ist nur ein dünner Teppich aus pflanzlicher Materie, eine organische Kruste über einem sich neuerdings verändernden, suppigen Meer. Der Permafrost unter der Tundra taut auf. In dem Video hat es den Anschein, als könnte der Boden jeden Moment aufbrechen, der Stiefel des Schreitenden die Oberfläche durchstoßen und der Mann vom Sog verschlungen werden, verloren unter den grünen Blättern.
Viel wahrscheinlicher jedoch ist die entgegengesetzte Richtung: Der Boden wird nach oben aufbrechen, wird feuchte Erde und warme Gase in die Luft schleudern. 2013 war im hohen Norden Sibiriens eine mysteriöse Explosion zu hören, und noch einhundert Kilometer entfernt berichteten Bewohner von einem hellen Leuchten am Himmel. Wissenschaftler, die einige Monate später an dem Ort auf der abgeschiedenen Taimyrhalbinsel eintrafen, entdeckten einen riesigen frischen Krater, vierzig Meter breit und dreißig Meter tief.
In Taimyr erreicht das Thermometer im Sommer höchstens fünf Grad Celsius, während es im Winter auf minus 30° C absackt. Über die karge Landschaft verstreut finden sich sogenannte Pingos: kleine Erdhügel, die entstehen, wenn hydrostatischer Druck Eiskerne Richtung Erdoberfläche drückt. Wenn die Pingos wachsen, werfen sie die Oberflächenvegetation und das zerbrochene Eis ab, sie erinnern dann an gedrungene Vulkane mit geborstenen Kratern. Doch die Pingos tauen genauso auf wie der Permafrost – und in manchen Fällen explodieren sie. Im April 2017 installierten Forscher auf der nahe gelegenen sibirischen Halbinsel Jamal (was so viel wie «Ende der Welt» bedeutet) das erste Netzwerk seismischer Sensoren. In der Nähe des nagelneuen Hafens Sabetta an der Mündung des Ob können diese Sensoren in einem Umkreis von 200 Kilometern Bodenbewegungen erfassen: Sie sollen frühzeitig vor explodierenden Pingos warnen, denn diese könnten die industrielle Infrastruktur des Hafens oder der örtlichen Flüssiggaslager in Bowanenkowo und Kharasavay beschädigen.
Dass Sabetta als Ausgangspunkt für den Export der riesigen sibirischen Erdgasvorräte errichtet wurde, war der gleichen Entwicklung zu verdanken, die auch zur Explosion der Pingos führte: dem globalen Temperaturanstieg. Da das Eis der Arktis schmilzt, lassen sich bislang unzugängliche Öl- und Gasreserven erschließen. Schätzungen zufolge befinden sich 30 Prozent der noch verbleibenden Erdgasvorräte dieser Welt in der Arktis. Sie liegen zumeist draußen im Meer, in knapp 500 Metern Tiefe, und sind jetzt ausgerechnet wegen der katastrophalen Folgen zugänglich, die ein Jahrhundert Ausbeutung fossiler Brennstoffe und Abhängigkeit davon zeitigen. Die Sensoren, welche die industrielle Infrastruktur schützen sollen, sind erforderlich aufgrund der Situation, die gerade durch diese Infrastruktur herbeigeführt wurde. Das ist positive Rückkopplung: nicht positiv für das Leben – von Menschen, Tieren und Pflanzen –, nicht positiv für den Verstand; sondern akkumulierend, expandierend, akzelerierend.