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Michelle Ule

Frau Chambers

Die Frau, die »Mein Äußerstes für sein Höchstes« zum Weltbestseller machte

Aus dem amerikanischen Englisch von Evelyn Schneider

Inhalt

Über die Autorin

Vorwort von Elke Werner

Prolog: Glaube und Erfahrung (13. November 1908)

1 Gottes Werke erkennen (1883–1907)

2 Spontan ist die Liebe (1907–1908)

3 Das Geheimnis des Herrn (1908–1910)

4 Für die Ewigkeit bauen (1911–1912)

5 Eine Vision (1913)

6 Gottes unergründlicher Ruf (1914–1915)

7 Die unerkannte Heiligkeit der Umstände (1915)

8 Entschlossen zu dienen (1916)

9 Das Leid des Dienens (1916)

10 Was Widerstände uns lehren (1917)

11 Was geht es dich an? (November 1917)

12 Im Feuer des Leidens (1918)

13 Eine intime Gottesbeziehung (1919–1920)

14 Liegt hier nicht ein Missverständnis vor? (1921–1929)

15 Glühende Leidenschaft (1929–1939)

16 Was Widerstände uns lehren (1939–1946)

17 Ja, aber …! (1946–1960)

18 Unerschrockene Leuchtkraft (1961–1966)

Danksagung

Appendix: Biddy Chambers und Mein Äußerstesfür Sein Höchstes (1924 –1927)

Bibliografie

Oswald and Biddy Chambers

Allgemein

Sonstige Quellen

Bildnachweis

Anmerkungen

Über die Autorin

Michelle Ule ist Autorin historischer Romane und von Biografien. Sie bloggt über geistliche Themen, speziell über den Prediger Oswald Chambers und seine Zeit. Sie lebt in Kalifornien, USA.

www.michelleule.com

Vorwort von Elke Werner

B. D. – Beloved Disciple – Geliebte Jüngerin, diesen Spitznamen, den ihr ihr Mann Oswald Chambers gab, wurde zu ihrem Rufnamen: Biddy. Treffender könnte man sie gar nicht nennen. Sie war eine Jüngerin nach dem Herzen Gottes und sie war geliebt und beliebt von allen, die sie kennenlernten. Biddy trat erst nach dem plötzlichen Tod ihres begabten Mannes aus dessen Schatten. Sie war es, die ihre stenografischen Mitschriften von Oswalds Predigten und Reden nach seinem Tod veröffentlichte und uns so zugänglich machte. Durch ihren Weitblick und ihr unerschütterliches Vertrauen in Gott ist neben vielen anderen Büchern das weltweit beliebte Andachtsbuch Mein Äußerstes für Sein Höchstes entstanden. Erst durch dieses Buch ist Oswald Chambers weltweit bekannt geworden.

Die beiden Chambers waren ein gutes Team. Sie haben sich geliebt und gegenseitig gestützt. Die Geschichte ihrer Liebe steht nicht im Mittelpunkt des Buches. Dennoch kann man zwischen den Zeilen so viel über eine gute Ehe und einen partnerschaftlichen Dienst entdecken. Gerade im Gefangenenlager in Ägypten zeigte sich, wie gut sie sich ergänzten und wie beide ihre Gaben zum Wohl der Kriegsgefangenen eingesetzt haben. Ihre kleine Tochter war ihr Sonnenschein. Oswald und Biddy haben ihre kleine Familie für viele Menschen geöffnet und ihnen so einen Schutzraum im Gefangenenlager geschaffen. Dafür wurden sie von den gefangenen Soldaten geliebt. Als Oswald starb, führte Biddy diese Arbeit für einige Zeit weiter. Die Not der anderen ließ sie über ihren eigenen Schmerz hinwegkommen.

Biddy war eine engagierte Ehefrau und Mutter. Sie war eine Seelsorgerin und Bibellehrerin. In all dem ging es ihr darum, eine gute Jüngerin von Jesus zu sein und andere zum Glauben einzuladen.

Wie schön, dass wir durch die gut recherchierte Biografie eine Chance haben, Biddy, diese außergewöhnliche Frau, die geliebte Jüngerin, kennenzulernen und durch ihr Lebenszeugnis ermutigt und herausgefordert zu werden. Ihr Glaube allein hat ihr geholfen, in allen Aufgaben ihres Lebens und ihres Dienstes ihr Äußerstes für Sein Höchstes zu geben.

Elke Werner
Marburg, im April 2019

Prolog

Glaube und Erfahrung

13. November 1908

Wie kann jemand, der mit Jesus Christus eins ist, unter Verzweiflung oder Angst leiden?1

Nicht weit vor ihnen erhob sich eine Kathedrale, als sie an jenem kühlen Novembermorgen die Rolltreppe aus der U-Bahn-Station hochkamen. Gertrude Hobbs hakte sich bei Oswald Chambers ein und strahlte ihn mit ihren blauen Augen an, die unter dem schwarzen Strohhut hervorstachen. »Möchtest du mir die St.-Pauls-Kathedrale zeigen?«

Das Morgenlicht warf einen kleinen Schatten auf sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen: »Warst du denn schon einmal hier, liebe Biddy?«

Sie liebte es, wenn er sie bei ihrem Spitznamen nannte. »Natürlich«, antwortete sie mit einem Lächeln.

Er strich ihr über den Arm und zog sie mit sich. »Komm, es gibt dort etwas Neues, das ich dir zeigen möchte.«

Und so schlenderten sie vorbei an den Lagerhallen der Buchhändler bis zur Westseite von Englands Mutterkirche. St.-Paul’s befand sich am höchsten Punkt Londons und hatte die höchste Turmspitze der Stadt. Vierundzwanzig breite Steinstufen führten zum Eingang hinauf.

Dieser Morgen war wahrlich ein Geschenk für die beiden, denn sonst hatten sie nur wenig Zeit füreinander. Während einer zehntägigen Amerikareise, ein paar kurzen Besuchen in New York und dank zahlloser Briefe hatte sich ihre Zuneigung füreinander entwickelt. Für Oswald hatte Biddy sogar ihre Arbeitsstelle in New York aufgegeben und war nach England zurückgekehrt.

Nun waren sie endlich wieder beisammen und doch stand ihnen nur ein gemeinsames Wochenende in London bevor. Dann würde Oswald wieder zu verschiedenen Konferenzen der Gebetsliga nach Irland, Schottland und Nordengland reisen. Wann sie sich wiedersehen würden, wussten sie nicht. Mit Briefen aber hielten sie ihre Beziehung aufrecht und stärkten ihre Herzen.

Doch an diesem Freitagmorgen führte Oswald Biddy zu einem Ölgemälde nicht weit vom Kirchturm. Sie hatte davon in der Zeitung gelesen. »Die Predigt auf einem Bild?«, fragte sie.

Holman Hunts Gemälde Das Licht der Welt zeigte einen dunklen Garten, in dem Jesus in einem königlichen Gewand stand. In der einen Hand hielt er ein Licht und mit der anderen wollte er an einer schlichten Holztür ohne Griff klopfen.

Offenbarung 3,20 lag diesem Bild zugrunde. »Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, zu dem werde ich hineingehen und mit ihm essen und er mit mir.«

Evangelisten interpretierten das Gemälde als einen Weckruf. Es sollte verdeutlichen, dass Jesus vor der Herzenstür eines Jeden steht und darauf wartet, eingelassen zu werden. Dann zeigte Oswald auf die Dornenkrone auf Jesu Kopf, und er und Biddy sprachen eine Weile darüber, bevor er ihr erklärte, warum sie dieses Bildnis unbedingt sehen musste.

Oswald wollte sichergehen, dass sie verstand: Wenn sie ihn heiraten würde, hätten sie nur ein schlichtes, kleines Heim und ihre Leben wären von einer Hingabe, die »die Hoffnung auf persönliches Glück« weit übersteigen würden. »Sie hatten sich in erster Linie Gott geweiht, nicht sich selbst.«2

Biddy war klar, dass in der Ehe mit Oswald nicht die beiden als Paar im Vordergrund stünden. Nein, Gott war es, dem Oswalds Zeit und Hingabe galt. Aber dankbarerweise sah sie sich selbst in dieser Beziehung zu Oswald und zu Gott als eine Gefährtin – als Unterstützerin, die für die Notwendigkeiten an Oswalds Seite und für Gottes Ziele geschaffen worden war.

Ihr Geliebter malte ihr kein romantisiertes Bild von einer Ehe mit ihm, tatsächlich warnte er: »Ich kann dir nichts geben außer meiner Liebe und meinem sehr intensiven Dienst für Ihn.«3

Und doch stimmte sie zu, ihn zu heiraten, ganz eingenommen von ihrem Glauben an Gott und ihre Bewunderung für diesen Mann. Und so versprachen sich Biddy und Oswald vor Hunts Gemälde, Gottes Führung gemeinsam zu folgen und ihr Äußerstes für sein Höchstes zu geben.

Was für eine Frau musste das gewesen sein, die solch eine Herausforderung annahm?

1

Gottes Werke erkennen

1883–1907

Lass dich nicht vom Zufall täuschen: Alles untersteht der göttlichen Ordnung.4

Langsam sammelte sich an jenem ruhigen Winterabend in London der Nebel über der Themse. Aus der kalten Luft geboren, wurde die trübe Schicht immer dicker und waberte über das Wasser hin zum Land. Dann schlich es entlang der nördlichen zu den südlichen Ufern und verhüllte das schwache Licht der Straßenlaternen, das vergeblich versuchte, das Dunkel zurückzudrängen.

Zum Tagesbeginn vermischte sich der Nebel schließlich mit dem Kohlequalm aus den Schornsteinen zu einem gelblich braunen Dunst mit rauchigem, saurem Geruch – 1905 erstmalig als Smog definiert. Die Rußpartikel füllten die Luft und verschlossen Atemgänge, sodass Jung und Alt unter Lungenentzündungen und schwächelnden Herzen litten.

An solch einem Wintertag 1895 gelangte der Smog sogar durch die massiven Wände des Royal Arsenal auf der Themse, etwa zehn Meilen von Big Ben entfernt. Das Wolkenrauchgemisch zog immer weiter, an den Kasernen der königlichen Armee vorbei, durch die schmalen Straßen Woolwichs hin zu einem kleinen Stadthaus mit hübschen Blumen im Vorgarten. Die Adresse: Bowater Crescent 4.

Die mikroskopisch kleinen Partikel schlichen durch die Türschlitze und gelangten schließlich zu der zwölfjährigen Gertrude Annie Hobbs. Ihre Lungen verkrampften sich und die Kleine rang nach Luft.

Sie kämpfte sich die Treppe hoch in das Zimmer, das sie sich mit ihrer sechzehnjährigen Schwester Dais teilte. Die gestaute Lunge schmerzte in Gertrudes Brust – nicht einmal im Liegen konnte sie ruhig atmen. Allgemeine Schwäche plagte sie, sodass sie kaum ihre Hausaufgaben erledigen konnte. Selbst das viel geliebte Lesen fiel ihr schwer und die Worte und Buchstaben verschwammen ihr vor den Augen. Also schloss Gert die Augen, um zur Ruhe zu kommen, und dennoch schwirrte ihr der Kopf.

Anfangs dachte ihre Mutter, dass sie sich bloß eine Erkältung zugezogen hatte, die man früher, im viktorianischen England, in verschlossenen Räumen und mit vielen Taschentüchern überstand. In der Zeit vor Antibiotika und Asthmamedikamenten gab es kaum andere Behandlungsmöglichkeiten. Also klopfte Emily Hobbs ihrer Tochter die Kissen auf, sorgte mit Wasserkesseln für heißen Dampf im Zimmer und betete.

Als Henry Hobbs an jenem Abend von der Arbeit nach Hause kam, sah er das blasse Gesicht seiner jüngsten Tochter und fand, dass sich darin seine Schlappheit widerspiegelte. Ihr ratternder Atem und die tiefschwarzen Augenringe bereiteten ihm Sorgen. Als Sohn eines Bäckermeisters kannte Henry viele Menschen, die nur mühsam in der mehligen Luft der Backstube atmen konnten. Sein Vater war einer davon und hatte nicht weit von ihnen entfernt, auf der Powis Street, auch mit schwergängiger Atmung zu kämpfen.5

Schließlich riefen Henry und Emily doch den Arzt. Er horchte und klopfte Gerts Brust ab: eine Bronchitis. Eine virale Entzündung der Lungen, die – wie man heute weiß – auch auf Luftverschmutzungen zurückgehen konnte.

In den 1890ern verschrieben die Ärzte Opium oder Morphin zusammen mit einem Schleimlöser, um die Lungen wieder zu befreien. Emily gab ihrer Tochter zusätzlich isländisches Moos, um den trockenen Husten zu lindern und bemühte sich um ein mutmachendes Lächeln, wenn die rotwangige Gert versuchte, tief durchzuatmen.

Im Jahr 1895 starben im Großraum London rund elftausend Menschen an Bronchitis.6 Nicht aber Gertrude Annie Hobbs.

Im Frühjahr, als die Schornsteine endlich wieder weniger Rauch produzierten, ließ auch der Smog nach. Zugvögel kehrten zurück, erste Blumen sprossen auf und der Schleim löste sich von Gerts Lungen. Sie konnte wieder zur Schule gehen, hing aber natürlich hinterher. Zudem setzten die Lehrer der damaligen Zeit auf das sture Auswendiglernen, was dazu führte, dass Ausfälle kaum wieder aufzuholen waren. Gerts Perfektionismus aber trieb sie an.

Das Mädchen mit den blauen Augen, das während des Winters so stark entkräftet war, blühte mit dem aufkommenden Sommer auf. Sie konnte sogar wieder mit ihrer Mutter und der Schwester Dais Tennis spielen, kehrte zum Klavierunterricht zurück, tollte mit dem Hund herum und fuhr mit dem Fahrrad durch das nahe gelegene Dorf Woolwich. Und abends traf sich die Familie wie gewohnt am Klavier, um gemeinsam zu singen. Mit der Zeit ließ die Anspannung in Henry nach, und selbst Emily verabschiedete sich von ihren Ängsten um Gertrude.

Emily Hobbs war eine äußert liebenswürdige Frau, die ihre Leidenschaft für Tennis mit ihrer Geselligkeit verband und so regelmäßig zu Tennispartys bei sich einlud. Sie kümmerte sich selbst um das Kochen und Backen, und für die anderen Hausarbeiten hatten sie ein fleißiges Hausmädchen, das bei ihnen wohnte. Genau wie ihre Töchter liebte auch Emily Bücher, und sie alle waren sehr dankbar für die zahlreichen Stadtbüchereien in Woolwich. Auch für ihren hart arbeitenden Mann war Emily sehr dankbar und genoss die Gemeinschaft mit ihm und ihren klugen Kindern: Edith Mary, die von allen nur Dais genannt wurde und 1879 geboren worden war, Herbert, der Bert gerufen wurde und 1881 auf die Welt kam und Gertrude, die seit 1883 auf der Welt war und seither von ihrer Familie liebevoll Gert genannt wurde.

Die drei Hobbs-Kinder wuchsen in den letzten Jahrzehnten unter Königin Victoria auf. Sie hörten in der Bowater Crescent stets die Marschmusik aus den nahe gelegenen Kasernen und das Hufgetrappel der Militärpferde im Süden von Woolwich. Auch Soldaten waren häufig in der Gegend, meist auf dem Weg zum Royal Arsenal.

Dieses etwa sechzig Hektar große Anwesen erstreckte sich über knapp eine Meile entlang der Themse. Mehrere Tonnen Kohle stiegen dort, wo tausende Angestellte Waffenrüstungen herstellten, aus den Schornsteinen in den Himmel. Kurz nach Gertrudes Geburt kam es einmal zu einer Explosion, bei der sich Raketen entzündeten und bis zu drei Kilometer weit flogen.

Die Bewohner Woolwichs jedoch ignorierten die Gefahr. Schließlich ging das Wohl der Stadt mit dem Hoch oder Tief dieses Arsenals einher, welches das nötige Einkommen für die etwa fünfundsiebzigtausend Menschen in der Gegend bedeutete. Die meisten von ihnen arbeiteten im Royal Arsenal selbst oder in der dazugehörigen Industrie.

Und doch vermischte sich der Industrierauch mit dem dicken Nebel jeden Herbst und Winter aufs Neue. Als es 1896 wieder so weit war, beeinträchtigte dies wiederum Gertrudes Lungenfunktion. Mit einer unendlichen Schwere in der Brust lag sie erneut im Bett. Fieber überkam sie, ihre Lungen verengten sich, und Emily rannte wie im Vorjahr zum Wasserkessel.

Gert vertrieb sich die Zeit im Bett mit Lesen – in jenem Winter waren die Geschichten von Robert Louis Stevensons ihre Lieblingsbücher – und versuchte, irgendwie mit dem Schulstoff hinterherzukommen. Im Frühjahr 1897 hatte sie sich wieder erholt, doch schon im darauffolgenden Herbst holte die Bronchitis sie wieder ein.

Besondere Sorge um Gert kam auf, als schließlich im Oktober 1897 Henrys Vater an Asthenie starb – einer allgemeinen Körperschwäche, eine Folgeerscheinung von Atemproblemen.7 Emily und Henry kümmerten sich sehr fürsorglich um ihre jüngste Tochter. Die Möglichkeit, die Bronchitis zu überstehen, bestand, aber oftmals führte sie auch zu einer Lungenentzündung. Selbst Tuberkulose war bei Gerts geschwächten Lungen eine mögliche Folge – im neunzehnten Jahrhundert eine schwere Krankheit. Im Jahr 1900 starben in Woolwich rund vierhundert Menschen entweder an Tuberkulose oder an Bronchitis.

Obwohl Gert sich sehr anstrengte, hielt sie in der Schule nicht mit. Anfang 1898, da war sie gerade vierzehn, meldeten ihre Eltern sie schließlich vom Unterricht ab.

Die anderen Mädchen aus Gerts sozialer Schicht beendeten die Schule meist mit sechzehn und bereiteten sich dann auf die Ehe vor. Gert aber wollte es lieber Dais gleichtun: Die engen Schwestern wollten beide irgendwann einmal heiraten, sehnten sich zunächst aber nach beruflichem Erfolg.

Denn Dais machte es sehr zu schaffen, dass ihre Mutter sich stets vor einer finanziellen Krise sorgte und dass ihr Vater kränklich war und dennoch so lange arbeitete. Kurz vor ihrem Schulabschluss eignete sich Dais selbstständig die nötigen Fähigkeiten einer Sekretärin an. Früher, an der Schwelle ins zwanzigste Jahrhundert, war das für Frauen die angesehenste berufliche Alternative zum Lehrerinnendasein.

Mit der stolzen Größe von 1,65 m war Dais eine große Frau für die damalige Zeit. Zudem hatte sie einen geraden Rücken, leicht hängende Schultern und trug stets ein enges Korsett unter ihrer Kleidung. Die blauen Augen stachen unter den dunklen Augenbrauen besonders hervor, und das lockige Haar hatte sie immer zu einem ordentlichen Haarknoten festgebunden. Sehr präzise und effizient, liebevoll und gutmütig kümmerte Dais sich um ihre Mutter und ermutigte ihre Schwester, an ihrem Traum festzuhalten.8

Gert war genauso groß und hatte ebenso blaue Augen, aber ein runderes Gesicht und dunkleres Haar, aus dem sich gern die eine oder andere Strähne aus den Haarklammern löste und ihr Gesicht umspielte.

Auf Fotos lächelte sie immer mit verschlossenem Mund, und obwohl sie ihrer Schwester Dais in der Statur sehr ähnlich war, trug Gert nie enggeschnürte Korsetts.9

Als der schreckliche Winter 1897/98 schließlich in den Frühling überging, erholten sich ihre Lungen wieder. Doch da die Schule nicht länger zur Debatte stand, plagte sie eine Ruhelosigkeit: Wie sollte sie die Familie nun unterstützen? Gert wollte so gern helfen. Dazu kam, dass die mangelnde Gesundheit ihres fünfundfünfzigjährigen Vaters sowie die Familiengeschichte mütterlicherseits untermalten, wie dringend notwendig ihre Hilfe war.

Henry war der älteste der drei Söhne von Woolwichs Bäckermeister Samuel Hobbs und dessen Frau Mary Whiteman Hobbs. Obwohl die ganze Familie in der Bäckerei arbeitete (mit Mary im Verkauf), wollte Henry diesem Beruf nicht nachgehen.

Emily Amelia Gardener wuchs als das jüngste von sechs Kindern des Bäckermeisters George Gardener und seiner Frau Ann Whiteman Gardner in Gravesend auf. Ann Gardner war Mary Hobbs Schwester, was Henry und Emily zu Cousin und Cousine machte.

Früher gab es einige Gehilfen im Hause der Gardners, doch etwa zur Zeit von Emilys Geburt kam es zu einem Zerwürfnis mit einem untreuen Geschäftspartner. Dies senkte den Lebensstandard der Familie sehr. Kurz darauf, im Jahr 1866, starb George Gardner und sein Tod ließ die Familie schließlich völlig verarmen. Dadurch war Emily gezwungen, zu ihren Verwandten nach London zu ziehen, die ohne Mutter lebten. So kam es, dass Emily bereits mit siebzehn Jahren zum Hausmädchen wurde.10

Bei der Volkszählung 1871 wurde der einundzwanzigjährige Henry Hobbs als Angestellter der Kirche in Greenwich aufgeführt. Wann Henry und Emily sich ineinander verliebt hatten, ist unklar. Doch man weiß, dass ihre Eltern die Vermählung zunächst nicht gutheißen wollten, vermutlich wegen ihrer Verwandtschaft. Kathleen Chambers vermutete später, dass auch der Unterschied ihrer sozialen Umstände eine Rolle gespielt haben mochte. Dieses Missfallen gepaart mit Emilys Streben nach finanzieller Sicherheit mochte einer der Gründe für Henrys Fleiß und Arbeitsmoral gewesen sein.

Als die beiden im Jahre 1875 ihre Elternhäuser verließen, arbeitete Henry als Auktionator. Kurz darauf stieg er zum kaufmännischen Angestellten auf, eine Buchhalterstelle mittleren Ranges, um Emily den Lebensstil zu ermöglichen, nach dem sie sich sehnte. Sobald er bei den Woolwich Gaswerken in eine höhere Position kam, lebte die junge Familie nicht länger in gemieteten Wohnungen, sondern zog in ein eigenes Stadthaus an der Bowater Crescent. Damit bekräftigten sie ihren Mittelschichtsstand, und Emilys Traum eines abgesicherten Lebens wurde wahr.

Tragischerweise starb Henry Hobbs ganz unerwartet am 18. Juni 1898, nur drei Wochen vor Gerts fünfzehntem Geburtstag. Auf seiner Sterbeurkunde wird von »Gehirnatrophie und Körperschwäche« gesprochen, nach heutigem Stand der Medizin das Äquivalent zum Schlaganfall.

Der Tod ihres Mannes nahm Emily Hobbs sehr mit. Ein schrecklicher Schicksalsschlag beraubte sie des emotionalen, finanziellen und persönlichen Unterstützers, den sie in Henry gefunden hatte, und erinnerte sie allzu sehr an den frühen Tod ihres Vaters.

Durch die Ehe hatte Henry Emily damals aus ihren ärmlichen Verhältnissen gerettet und sie war ihm dafür überaus dankbar gewesen. Auch wenn er ihr eine nennenswerte Geldmenge hinterließ,11 bedurfte es eines äußerst sorgfältigen Umgangs damit, um die Familie und vor allem Emily bis an ihr Lebensende damit zu versorgen. Dieser Aufgabe fühlte sie sich nicht gewachsen.12

Gerts Schwester Dais füllte die finanzielle Lücke der Familie durch ihre Tätigkeit als kaufmännische Angestellte bei der britischen Post. Gerts Bruder Bert fand Arbeit bei den Woolwicher Gaswerken. Emily entließ ihre Haushaltshilfen und nahm stattdessen einen Untermieter auf. Die Hausarbeit und das Kochen teilten sich die drei Frauen.

Inzwischen hatte Gert die Bronchitis endlich hinter sich gelassen, wenn auch nicht ohne Langzeitfolgen: Auf ihrem linken Ohr hörte sie nichts mehr. Entschlossen, dennoch ihren eigenen Teil zur Haushaltskasse beizutragen, meldete sie sich für einen Pitman-Stenografie Kurs an. Die Zeiten änderten sich: 1895 beschäftigte das Royal Arsenal zum ersten Mal vier weibliche Schreibkräfte (bei insgesamt etwa vierzehntausend Mitarbeitern) und stellte damit die Weichen für die ersten Stenografinnen auf dem Arbeitsmarkt.13

Die wichtigsten Grundlagen des Stenografierens hatte sich Gert schnell angeeignet: hakenförmige und geschwungene Striche und Bögen, deren Länge und Anordnung auf der Zeile den Bedeutungsunterschied ausmachten. Genau wie beim Erlernen einer Fremdsprache galt hier: Je mehr sie übte, desto besser wurde sie. Bald schon antwortete ihre Hand automatisch und übertrug Worte in Symbole.

Dais und Emily halfen ihr beim Üben. Mit einem gelben Bleistift der Marke Dixon, immer ordentlich angespitzt, schrieb Gert sorgfältig und in einer flüssigen Bewegung alles auf, was die beiden ihr diktierten. Nachdem sie einen Absatz niedergeschrieben hatte, las sie ihn noch einmal, um ihn zu überprüfen. Dass sie die Notizen einfach entziffern und als fehlerlosen Text vortragen konnte, zeigte, wie gut sie ihr Handwerk beherrschte. Perfektion gehörte immer schon zu Gerts Eigenschaften und in Bezug auf die Stenografie hatte sie das Gefühl, eines Tages damit erfolgreich zu werden.

In einem Zeitungsartikel aus den Manchester City News las Gert, dass Frauen mit zwei Qualifikationen doppelt so hohe Gehälter erwarten konnten: »Die hohe Vergütung soll den Wunsch bekräftigen, das Maschinenschreiben und das Stenografieren in einer Arbeitskraft zu vereinen. Dazu ist ein exzellenter Umgang mit der englischen Sprache unabdingbar: Gefordert werden hervorragende Kenntnisse in Orthografie und Zeichensetzung. Weiterhin werden konzentriertes Arbeiten, Präzision, Loyalität dem Arbeitgeber gegenüber sowie eine ordentliche Erscheinungsform vorausgesetzt.«14

Sobald Gert also das Stenografieren beherrschte, widmete sie sich dem Maschinenschreiben und trainierte ihre eifrigen klavierspielenden Finger auf einer eckigen, schwarzen Schreibmaschine. Ihr Ziel? Die erste Sekretärin des Premierministers von England zu werden.

Als sie sich sicher genug fühlte, bewarb sie sich auf eine Assistenzstelle im Royal Arsenal und wurde als Schreibkraft eingestellt. Mit Vorgesetzten und Kollegen verstand sie sich sehr gut, vor allem mit Marian Leman, einer anderen Assistentin.

Mit nun drei erwerbstätigen Kindern lag der Haushalt nun erneut an Emily, aber allmählich hatte sie die Trauer über den Verlust ihres Mannes überwunden. Vermutlich fand sie durch Pastor Charles Hutchinson, ihren Untermieter, Trost und Unterstützung im Glauben. Auf ihn ging wohl auch Emilys Mitgliedschaft in der örtlichen Baptistengemeinde zurück.

Nachdem die erste Trauerphase überstanden war, sehnte Emily sich auch wieder mehr nach Gesellschaft und lud häufig Gäste zum Tee ein. In der übrigen Freizeit betete und las sie viel, vor allem in der Bibel. Und obwohl sich die finanzielle Lage der Familie etwas verändert hatte, hielt sie am Glauben fest und ihr Vertrauen auf Gott wuchs. Im Jahr 1901, nachdem Pastor Hutchinson Woolwich verlassen hatte und auch Bert ausgezogen war, suchten die drei Frauen sich ein kleineres Zuhause.

Sie zogen in die Shooter’s Hill Gardens 38 in der Westmount Road, etwas südlich von Eltham. Mit einem kleinen Garten entlang des zweistöckigen Reihenhauses aus Backstein lag es am Fuße des Shooter’s Hill, der höchsten Erhebung Kents, und bot einen schönen Blick auf London. Die Einkaufsstraße High Street und mehrere Parks waren zu Fuß zu erreichen.15

In modischen weißen Hemdblusen zu dunklen Röcken und Strohhüten machten sich Gert und Dais täglich auf den Weg zur U-Bahn, um nach Woolwich zur Arbeit zu fahren. Obwohl sie beide schon in den Zwanzigern waren, waren sie unverheiratet und hatten auch keine Männer in Aussicht.

Emily Hobbs ging weiterhin zur Kirche und ließ sich von der Woolwich Church zur Eltham Park Baptist Church überschreiben. Ihre Töchter taten es ihr gleich und von da an nahmen sie alle gemeinsam an den verschiedenen Veranstaltungen und Gottesdiensten in der schlichten Kirchenhalle in Eltham teil.16

1904, am Ostersonntag, hielt dort der erste Pastor, Arthur C. Chambers, seine Einführungspredigt. Er kam von einer anderen nahe gelegenen Baptistengemeinde zu der frischgebackenen Gemeinde. Unter seiner Leitung wuchs die Gemeinde schnell auf einhundertvierzig Gottesdienstbesucher und einhundertfünfzig Sonntagschulkinder heran.

Emilys herzliche und gastfreundliche Art sprang auf viele Gemeindemitglieder über und so gab es sonntags zahlreiche Tee- und Kaffeegemeinschaften in ihren gemütlichen Heimen, bei denen sich viele Möglichkeiten zum Austausch boten. Auch das Haus Hobbs füllte sich bald mit neuen Freunden.

Doch Gert behielt ihr Glaubensleben für sich, sie hatte nie jemandem davon erzählt, ob oder wie sie ihr Herz Jesus geöffnet hatte. Es war jedoch einer ihrer Charakterzüge, alles, was sie interessierte, sorgfältig zu erforschen. Das galt auch für die Bibel, in der sie eifrig las. Die Psalmen, die sie auswendig lernte, spendeten ihr nach dem Verlust ihres Vaters und der Auflösung ihres Elternhauses Trost.

Auch Dais sprach nicht viel über ihren persönlichen Glauben. Und doch wurden die beiden Schwestern im Laufe des Jahres Mitglieder der Eltham Park Baptist Church und haben sich zusammen im Jahr 1905 taufen lassen. Gert mit zweiundzwanzig und Dais mit sechsundzwanzig Jahren.17 Ihre überglückliche Mutter schrieb ihren zwei »lieben Mädchen« zur Erinnerung an diesen Tag folgenden Brief:

Mein Herz ist so voller Freude, dass ich kaum in Worte fassen kann, was ich euch alles sagen möchte. Ich bin überaus dankbar für den Schritt, den ihr heute gegangen seid – eine Entscheidung, die euer ganzes Leben beeinflussen wird und es noch heller aufleuchten lässt als zuvor. Auf dass der große Gott … euch immer nahe sei und ihr die Kraft seiner Verheißungen verstehen und erleben lernt. … Es macht mich einfach überglücklich, euch beide im Dienst für den Herrn zu sehen.

Emily schrieb aber auch darüber, wie traurig es sie machte, dass Bert kein Interesse an Gott zeigte, und bat ihre Töchter, beharrlich für ihn zu beten. Und die letzten Worte waren ganz die einer innig liebenden Mutter:

Möge Gott eure Liebe und Fürsorge für mich hoch anrechnen und euch in all euren Vorhaben reich segnen. Er schenke euch Führung und Bewahrung, spende euch Trost und Kraft und erfülle euer Herz mit Freude am Dienst für Ihn. Das wünscht euch eure liebende Mutter.18

Auch wenn Emily es nicht geahnt haben konnte, als sie den Brief verfasste: Dies war der Anfang von Gerts hingebungsvollem und gehorsamem Leben für Gott.

Kurz nach der glücklichen Taufe kam Pastor Chambers jüngster Bruder nach Eltham, um die anstehende Missionswoche über die Weihnachtsfeiertage zu leiten. Oswald Chambers hatte einen sehr guten Ruf als elektrisierender Redner der überkonfessionellen Gebetsliga. Er thematisierte während der Missionswoche die Führung des Heiligen Geistes.

Der etwa ein Meter achtzig große Mann, der in jenem Dezember zu der Gemeinde sprach, war in seinen Dreißigern. Ein stattlicher Mann mit einem eher kantigen Gesicht, tiefblauen Augen und dunklem Haar, das immer mehr seiner Stirn preisgab. Aus tiefer Begeisterung von Jesus, dem Heiligen Geist oder Gott ergriff er jede Predigtmöglichkeit, die sich ihm bot.

Er war mit Intelligenz, einem guten Sinn für Humor und Eloquenz beschenkt und sprach schnell und mit einer Intensität, die seine Zuhörer fesselte. Oswald hielt seine Predigten und Bibelstunden frei, ohne jedes Konzeptpapier. Sein einziges Ziel war es, möglichst viele Menschen auf ihrem Weg zu Gott voranzubringen.19

Die drei belesenen Hobbs-Frauen wussten die Tiefe seiner Worte sehr zu schätzen. Gert fand doppelten Gewinn in seinen Predigten: Zum einen boten sie eine Möglichkeit, das Stenografieren zu üben, und zum anderen behielt sie mehr des Gesagten, wenn sie während des Zuhörens mit den Händen beschäftigt war.

Natürlich lud Emily auch diesen Prediger auf einen Tee zu sich ein und war überzeugt davon, dass solch ein hingebungsvoller Mann Gottes sicherlich auf der Suche nach einer Frau wäre.

Und so besuchte Oswald Chambers die Hobbs immer, wenn er für seinen Bruder Arthur einsprang. Oswald war ein gern gesehener Gast im Hause Hobbs, schließlich war er sehr redegewandt und erzählte stets spannende Geschichten. Die Gespräche im Hause Hobbs, die er mit seiner Liebe zu Gott, zur Literatur und nicht zuletzt zur Musik inspirierte, ließen Oswald sich bei der Familie sehr wohl fühlen.

Auf der Suche nach einer Frau war er jedoch nicht.

1874 wurde Oswald als siebtes von acht Kindern geboren und verbrachte seine frühe Kindheit samt Geschwistern und den fürsorglichen Eltern in Nordengland und Schottland. 1890 zog die Familie dann nach London. Als Teenager begleitete Oswald seinen Vater, Pastor Clarence Chambers, einmal in die Londoner Metropolitan Tabernacle Church, um dort den Redner Charles Spurgeon zu hören. An jenem Abend übergab Oswald sein Leben Gott.

Als begnadeter Musiker und Künstler spielte Oswald Orgel, nahm Unterricht am Londons Royal College of Art und kehrte 1895 schließlich nach Schottland zurück, um an der Universität in Edinburgh Kunst zu studieren. Darüber hinaus begeisterte er sich auch für Theologie und besuchte zahlreiche örtliche Kirchen, um die Prediger persönlich kennenzulernen.

Sich selbst betrachtete Oswald als einen Mittler zwischen Intellektuellen und Gott. Er ahnte bereits, dass die Liebe zu den Künsten, der Literatur und der Musik gepaart mit der Leidenschaft für den Glauben sicherlich einiges in einem feinfühligen Künstlerleben bewirken konnte.

Dem stand jedoch entgegen, dass sich ihm in der Kunst keine Arbeitsmöglichkeiten auftaten und daher auch das Geld ausblieb. Schließlich kam Oswald dankbarerweise auf die Idee, dass Gott ihn womöglich in den Gemeindedienst berief. Obwohl er sich Gott damals nicht besonders nahe fühlte, meldete er sich 1897 am Dunoon Bible College in der Nähe von Glasgow an, wo der Gründer, Pastor Duncan Mac Gregor, zu seinem Mentor wurde.

Auf einer Konferenz der Gebetsliga, etwa drei Jahre später, beendete Gott endlich Oswalds Phase des spärlichen Glaubens. Als er die Bibelstelle aus Lukas 11,13 zum ersten Mal völlig verstehen konnte, wo es heißt: »Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird der Vater, der vom Himmel gibt, den Heiligen Geist geben«, nahm auch Oswald das Geschenk des Heiligen Geistes für sich an.

Während damals die Heiligungsbewegung in Großbritannien und Amerika aufkam, konzentrierte sich die Gebetsliga auf die individuelle Erlösung und ging vor allem der Frage nach, wie sich das moralische Gesetz Gottes im Verhalten jedes Einzelnen widerspiegelte. Sie legte ihren Fokus auf das Gebet, die Erneuerung der Kirche und die Verbreitung der guten Nachricht – eben dies machte auch Oswalds christliche Überzeugung aus.

Die Vereinigung, zu der insgesamt rund hundert Zentren in ganz Großbritannien gehörten – allein dreißig davon in London20 –, hielt im Jahr 1897 mehr als 13 000 Veranstaltungen ab. Zudem gab es eine monatliche Zeitschrift mit dem Titel Tongues of Fire (dt.: Feuerzungen; später in Spiritual Life, dt.: Geistliches Leben, umbenannt), für die auch Oswald hin und wieder Artikel verfasste. Der Gründer der Gebetsliga, Reader Harris, erkannte Oswalds Talent als vielversprechend und ermutigte ihn auf seinem Weg. Kurze Zeit nachdem Oswald die Familie Hobbs kennengelernt hatte, volontierte er dann als Reiseprediger für die Liga.

Er erhielt dafür keinen Lohn und wohnte währenddessen immer bei Mitgliedern der Vereinigung, wo er gerade predigte. Mit Spenden und Geschenken finanzierte er die Zugfahrten. Dass er kein festes Gehalt bekam, störte ihn nie: Oswald glaubte daran, dass Gott ihn versorgen würde, und seine Erfahrung bestätigte ihm dies.

Bald darauf freundete sich Oswald mit dem japanischen Evangelisten Juji Nakada an. Im November 1906 reisten die beiden nach Amerika, um dort an der God’s Bible School zu unterrichten, die der Heiligungsbewegung in Cincinnati, Ohio, sehr nahestanden. Anschließend begleitete Oswald Nakada nach Japan, um dort auf internationaler Ebene etwas über Evangelisation und Missionsdienste zu erfahren. Seinen Reisedienst für die Gebetsliga nahm er Ende 1907, nach seiner Rückkehr nach England, wieder auf. Bei seiner Heimkehr zeigte er seinem Bruder eine Münze und erklärte stolz, dass er mit nur einem Schilling in der Tasche solch eine Reise bewerkstelligt hatte!

Die Zeit verstrich und Oswalds Gedanken kreisten lediglich um Gott und seinen Dienst, nicht aber um eine potenzielle Ehefrau. Eine Teenager-Romanze hatte ihm zwar Freude, aber auch Ärger eingebracht, und bei seinem nomadischen Lebensstil verzichtete er auf eine Frau an seiner Seite. Oswald diente Gott besser ohne Begleitung. Außerdem hatte er auch gar kein Geld für eine Familie, ebenso wenig wie für ein Haus.

Von Hunden, Kindern und alten Damen geliebt war Oswald also überall dort zu Hause, wo jemand das Reich Gottes nach vorne bringen wollte. Er pflegte viele höfliche Beziehungen und machte nie Andeutungen auf irgendetwas, das über den Dienst hinausging.

Das galt auch für die Beziehung zu den drei Hobbs-Frauen, über zweieinhalb Jahre waren sie nur Freunde. Bis Emily Hobbs ihm eines Tages einen Brief schrieb.

2

Spontan ist die Liebe

1907–1908

Liebe ist nicht berechnend, Liebe ist spontan. Und manchmal kommt sie auch ganz unerwartet.21

Während Oswald als Prediger durch die Welt reiste, machte Gert beruflich gewaltige Fortschritte – sie hatte sich bis zur Assistentin des kommandierenden Generals hochgearbeitet. Zu jener Zeit war sie eine von sechzigtausend arbeitenden Frauen, die vier Prozent aller Büroangestellten Englands ausmachten, und bewies sich als zuverlässige Sekretärin.

Englands Premierminister besaß jedoch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch keine persönliche Assistenz.

Ansonsten bestand Gerts Leben in Eltham weiterhin aus Kirchenveranstaltungen, Tennis, Fahrradfahren, Spaziergängen und viel Zeit mit ihrer Familie und ihrer Freundin Marian.

Marian Leman war eine kleine Frau mit einem hübschen Lächeln. Aufgewachsen war sie im Norden Englands und um 1900 kam sie nach Woolwich. Je enger sich ihre Freundschaft zu Gert gestaltete, umso häufiger war sie bei der Familie Hobbs zu Besuch. Auch zu Emilys Teerunden und über die großen Feiertage luden die Hobbs Marian gern ein.

1907 befand ihr Vater, ein methodistischer Hilfsprediger, dass Marian »zu religiös« geworden sei, vielleicht aufgrund des Einflusses der Hobbs. Also schickte Frederick Leman sie nach Brooklyn, um den Sommer bei einer Cousine zu verbringen. Vermutlich erhoffte er sich daraus, sie wieder auf die richtigen Bahnen zu lenken. Während ihres Aufenthalts dort lernte Marian Edward Moore kennen, einen Lehrer für Stenografie. Am Ende des Sommers kam sie wie geplant nach England zurück, aber nur um im darauffolgenden Frühling wieder zu ihrer Cousine – und Edward – zurückzukehren.

Nicht lange nach ihrer Ankunft in New York schrieb Marian Gert einen Brief, um auch sie nach Brooklyn einzuladen. Sie wollte ihr eine Stelle in einem Anwaltsbüro anbieten. Diese Idee gefiel Gert, also besorgte sie sich ein Ticket zweiter Klasse für die SS Baltic, Abfahrt war im Mai.

1908 war es jedoch überaus unüblich, dass eine junge Frau aus der Mittelschicht sich wie aus dem Nichts heraus allein auf eine Reise über den Atlantik begab, um dort zu arbeiten. Was Gert genau dazu trieb, dieses außergewöhnliche Angebot in New York anzunehmen, blieb unbekannt. Vielleicht sehnte sie sich nach einem Abenteuer? Oder einer neuen Herausforderung? Vielleicht erhoffte sie sich durch internationale Arbeitserfahrung auch bessere Chancen, sollte der Premierminister bald doch noch eine Sekretärin suchen?

Jedenfalls unterstützte ihre Mutter sie in diesem unerwarteten Vorhaben. Voller Erleichterung stellte Emily Hobbs dann fest, dass auch Oswald Chambers eine Reise nach New York plante, im Mai. Wenn er also auf dem gleichen Schiff wäre wie Gert, würde es ihm doch sicherlich nichts ausmachen, ein Auge auf sie zu werfen?

Oswald betrachtete diese Reise als etwas Ruhe vor dem großen Sturm: Unbedingt musste er vor dem geschäftigen Sommer in Ohio und New England noch einmal tief durchatmen und entspannen. Das konnte er am besten auf der Überfahrt nach Amerika, die er mit einem Buch in der Hand in einem Liegestuhl auf Deck verbringen wollte. Und dann kam Emily Hobbs Bitte, sich auf eben dieser Überfahrt um ihre Tochter Gert zu kümmern.

Oswald kannte Gert als die Ruhige unter den Dreien. In seinen Augen war sie eine hübsche junge Frau mit einem nachdenklichen Blick, die stets und überall Papier und Stift zur Hand hatte. Sie stellte kluge Fragen und war eine angenehme Gesprächspartnerin, denn sie gehörte nicht zu den albernen Frauen, die ständig gekünstelt lachten und um die Aufmerksamkeit der Männer buhlten. Es würde ihm also nicht viel Mühe bereiten, hin und wieder nach ihr zu schauen und damit die gute Mrs Hobbs zu beruhigen. Die viel größere Frage jedoch war: Warum reiste sie überhaupt allein nach Amerika?

Jedenfalls nahm er Emily Hobbs Bitte an.

Und als es schließlich so weit war, reiste Gert im Zug nach Liverpool, um dort an Bord des gigantischen White Star Line Schiffes zu gehen. Im Gepäck hatte sie eine Reisetasche, sechzehn Dollar – was heute ungefähr 440 US-Dollar entsprechen würde22 – und große Hoffnungen auf eine gesegnete und abenteuerreiche Zukunft. Über die Verabredung ihrer Mutter mit Oswald Chambers, der neun Jahre älter war als sie, konnte sie nur den Kopf schütteln. Aber wenn es sie glücklich machte … Für sie war Oswald Chambers ein Freund der Familie und ein guter Lehrer, nicht mehr und nicht weniger.

Wie versprochen holte er die junge Frau in Liverpool vor dem Schiff ab und nahm sie fortan immer zum Essen mit. Die guten Unterhaltungen schätzte Oswald.

So schipperten sie über das Blau des seichten irischen Meeres und des tiefen Atlantiks und tauschten sich über Verschiedenstes aus. Nach einer Weile stellten sie viele Gemeinsamkeiten fest: Oswald und Gert mochten beide Poesie, waren begeistert von den Büchern Sir Walter Scotts und liebten Gott. Gert war eine leidenschaftliche Pianistin und sonst ein Mensch der Natur, sie liebte Hunde und das Spaziergehen und sang gern alte Hymnen – genau wie Oswald. Sie hatten sogar gemeinsame Freunde, wie sich herausstellte.

Und so kam mit der Reise für Oswald nicht nur die gewünschte Erholung, sondern auch sein Interesse an der aufmerksamen Nachfolgerin, die er in seiner Reisebegleiterin erkannte. Und bei jeder gemeinsamen Mahlzeit in dem langen Essenssaal oder der Tasse Tee am Nachmittag wuchs dieses Interesse, sodass ihre Unterhaltungen bald schon an Tiefe gewannen.

Zweifelsohne verbrachte er wie geplant viele Stunden in einem Liegestuhl, eine Decke über den Beinen, und las. Doch hin und wieder legte er seine Bücher weg und sprach mit Gert. Zehn Tage lang konnte er sich ohne jedweden Termindruck durch Züge oder anstehende Predigten und Konferenzen einfach zurücklehnen und entspannen. Er genoss es, aufs Meer zu sehen und Gerts ruhiger Stimme zu lauschen. So viel Zeit zu haben, jemanden kennenzulernen, musste herrlich gewesen sein.

In Gertrude fand Oswald eine Frau, die seine Leidenschaft für den Dienst teilte – er brauchte Gert beispielsweise gar nicht zu erklären, warum er unbezahlt für die Gebetsliga arbeitete – und die die Wichtigkeit des Gebets verstand. Wann hatte Oswald zuletzt so viel Zeit mit einer interessanten und hübschen jungen Frau verbracht?

Gert, auf der anderen Seite, hatte überhaupt keine Bedenken, sich mit solch einem eloquenten und vertrauenswürdigen Mann über alles Mögliche zu unterhalten. Voller Neugierde fragte sie ihn über seine Reisen aus, insbesondere über seinen letzten Amerikaaufenthalt. Denn ihre eigenen Erfahrungen beschränkten sich lediglich auf die Umgebung Woolwichs und kleine Teile Londons. Und bereits binnen weniger Tage unterhielten sie sich wie enge Vertraute.

Vermutlich tat es Gert sehr gut, in Oswald einen Gesprächspartner gefunden zu haben, vor dem sie frei über die schwierige Geschichte ihrer Familie sprechen konnte. Über den frühen Tod ihres Vaters, die Backstube der Großeltern und deren Erfahrungen als Verkäuferfamilie – damit waren sie genau die Art von Menschen, die sich in den Industriegebieten Englands händeringend nach Oswalds Predigten sehnten.

Als Mann ohne geregeltes Einkommen war er sichtlich erstaunt darüber, wie gut Gerts Familie sich an die neue finanzielle Situation nach dem Tod des Vaters angepasst hatte.

Sicherlich beeindruckte ihn auch, dass Gert sich von ihrer Krankheit nie hatte einschüchtern lassen und sich aufgrund des frühen Endes ihrer Schulzeit schlicht eine andere lukrative Arbeitsmöglichkeit gesucht hatte. Und durch Willenskraft und Selbstdisziplin gepaart mit den Fähigkeiten, die Gott ihr geschenkt hatte, hatte sie sich ihren Traum ermöglicht.

Gertrude Annie Hobbs war eine mutige, tatkräftige Frau, die nicht auf Liebkosungen aus war. Sie konnte backen und kochen, wusste, wie man gut wirtschaftete, war eine kompetente Schreibkraft und stets für ein Abenteuer bereit. Zudem brachte ihr Sinn für Humor Oswald häufig zum Lachen. Diese Frau begeisterte ihn.

Als Gert schließlich ihren Grund für diese Reise erzählte, fragten sie sich sicherlich beide, inwiefern die zeitliche Überschneidung wohl eine Fügung Gottes war?

Natürlich war Oswald auch in England schon aufgefallen, dass Gert während seiner Predigten in der Eltham Park Baptist Church alles mitschrieb, doch hatte er keine Vorstellung davon, wie begabt Gert wirklich war. Eine herkömmliche Stenografin konnte rund einhundertzwanzig Wörter pro Minute auf Papier festhalten23 – das heißt sie schrieb so schnell, wie eine Person sprach. Auch wenn Oswald das nicht gewusst haben mochte, war er zurecht sehr erstaunt, als er nun von Gerts Geschwindigkeit hörte: zweihundertfünfzig Wörter pro Minute.

Womöglich half er ihr sogar und las ihr etwas vor, das sie zur Übung stenografierte. Irgendwann ging ihm vermutlich ein Licht auf: Denn wie ein jeder guter Prediger träumte auch Oswald davon, seine Worte in Form eines Buches festzuhalten. Auf diese Weise erreichte man eine noch größere Zahl an Menschen. Was hat ihm wohl zuerst an Gertrude gefallen: ihre Persönlichkeit oder die Idee, mit ihr als Team für Gott arbeiten zu können?

Oswald gab seinen engen Freunden gern Spitznamen und das war im Fall von Gertrude besonders wichtig, da sie den gleichen Namen trug wie seine Schwester. Nicht lange und Oswald erkannte, dass seine junge Reisegefährtin ganz dem Bild von 1. Petrus 3,3-5 glich: Sie besaß den »unvergänglichen Schmuck des sanften und stillen Geistes, der vor Gott sehr köstlich ist.« Und zudem war sie eine hingebungsvolle Nachfolgerin Jesu.

»Wie wäre es denn mit Beloved Disciple (dt.: geliebte Nachfolgerin)?«, fragte er sie schließlich.

Dagegen konnte Gert schlecht widersprechen, sie war eine geliebte Nachfolgerin. Doch dieser Rufname stellte sich allzu bald als umständlich heraus, woraufhin Oswald ihn auf seine Initialen B.D. abkürzte – gesprochen Biddy.

Und tatsächlich blieb es auch dabei, für den Rest ihres Lebens. Selbst für Emily und Dais Hobbs war Gertrude schließlich Biddy.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt jedoch kam Biddy ins Zweifeln. Sie wusste, dass Oswald Chambers ein geachteter Mann war. Konnte es sein, dass er während der ganzen Reise kaum von ihrer Seite gewichen war, weil er doch noch ein anderes Interesse verfolgte als bloß die Erfüllung eines Gefallens? Seit sie diesen Spitznamen trug, musste sie gedanklich wohl auch begonnen haben, abzuwiegen, ob sie womöglich mehr als nur Reisegefährten waren.

Wo auch immer ihre Diskussionen – und nicht zuletzt die Gebete – über diese unerwartete Anziehung und über Gottes Plan die beiden hinführen konnten, zunächst einmal mussten Biddy und Oswald sich voneinander verabschieden. Am 5. Juni waren sie nämlich in Amerika angekommen. Schnell tauschten sie Adressen aus und machten sich jeweils auf den Weg – überrascht, dass sie sich wirklich ineinander verliebt hatten.

Wenig später schrieb Oswald in einem Brief an seine Eltern: »Ich möchte euch sagen, dass ich mich verliebt habe, und dies ist eine so neue Erfahrung für mich und eröffnet mir so viele neue, bisher unbekannte Dinge, dass ich gar nicht weiß, wie ich das beschreiben soll.«24

Biddy traf schon an der Anlegestelle auf ihre Freundin Marian, mit der sie bei ihrer Cousine in Brooklyn am Rugby Drive wohnte. Um nach Manhattan zur Arbeit zu gelangen, nahm sie die U-Bahn. »Sie liebte es in Amerika«, erzählte ihre Tochter viele Jahre später. »Dort zu arbeiten gefiel ihr sehr gut. Ihre Chefs waren stets vor ihr da und arbeiteten hart und diszipliniert. Als jedoch der Feierabend kam, ließen sie alles stehen und liegen und gingen nach Hause. Sie hatte sich dort sehr wohl gefühlt.«25

Die beiden Engländerinnen waren jenen Sommer hoch begeistert. Wenn es ihnen zu heiß wurde, aßen sie ein Eis oder besuchten den Coney-Island’s-Luna-Park direkt an der Küste. Außerdem spielte das Brooklyner Baseball-Team The Brooklyn Dodgers damals im Washington Park und Theodor Roosevelt und seine Regierung füllte die Zeitungen – selbst als es längst um die Nominierung der Republikaner, William H. Tafts, gehen sollte.

Neben alledem, was Biddy und Marian zusammen ansahen und erlebten, teilten sie auch, was ihnen auf den Herzen lag: die Beziehungen zu den zwei Männern, denen sie in Amerika bzw. auf dem Weg dorthin begegnet waren. Nicht nur Biddy war verliebt, auch Marian hatte Gefühle für Edward Moore.

Nur wenige der Briefe zwischen Oswald und Biddy überlebten, aber ihr Austausch begann im Sommer 1908. Seit ihrer Reise war Biddy ihm ans Herz gewachsen, und sie schrieben sich täglich.

In seinen leidenschaftlichen Briefen fanden sich seitenlange Naturbeschreibungen, geistliche Wahrheiten und ein klarer Ausdruck seiner Zuneigung zu Biddy. Oftmals zitierte er auch Witze von der gemeinsamen Reise oder ließ sie durch kleine Paragrafen an den Büchern teilhaben, die er gerade las. Auch seine Predigten, die er auf den Konferenzen hielt, kamen zur Sprache, sowie die herzliche Gastfreundlichkeit, mit der man ihn immer wieder aufnahm.

In Oswalds Briefen erkannte Biddy schnell seine Prioritäten: Gott, die Menschen und die Natur. Sorgfältig ging sie auf das Erzählte ein und berichtete ihm zusätzlich von ihren Eindrücken in der neuen Welt, den Gesprächen mit Marian und Edward und ihren Erfahrungen mit der merkwürdigen amerikanischen Rechtschreibung bei der Arbeit.