cover

 

In Norddeutschland treibt ein Serienkiller sein Unwesen. Überall im Norden werden Richter, Anwälte und Gutachter brutal ermordet und wie Kunstobjekte in Hünengräbern abgelegt. Der auktoriale Erzähler gibt immer wieder Einblicke in die Seele des Täters, der wie ein Uhrwerk systematisch sein grausames Handwerk ausübt.

Der Fall ist ein gefundenes Fressen für die Medien. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren und schnell wird klar, dass es bei den Toten um Juristen mit Verantwortung für Rechtsbeugung, Betrug und Justiz-Filz geht. Gibt es einen mystischen Zusammenhang zwischen den Toten und den uralten Gräbern? Und nach welchem Muster wählt der Mörder seine Opfer aus? Die Erste Kriminalhauptkommissarin Kathrin van Busche aus Kiel und der Hamburger Privatdetektiv Alexei Gromow fahnden schließlich gemeinsam nach dem brutalen Mörder, entwickeln im Zuge ihrer Ermittlungen aber mehr und mehr Verständnis für ihn …

Es geht kreuz und quer durch Norddeutschland: Kiel, Hamburg, St. Peter-Ording, aber auch Schleswig, Pinneberg, Tarbek bei Neumünster, Plön, Norderstedt sowie ein Hünengrab bei Lübeck sind einige der Handlungsorte.

Titel

 

Existunt etiam saepe iniuriae calumnia quadam et nimis callida, sed malitiosa iuris interpretatione

Oftmals aber kommt es zu Ungerechtigkeiten durch eine gewisse Rechtverdrehung und eine zwar sehr kundige, aber böswillige Auslegung des Rechts.

Marcus Tullius Cicero (106  43 v. Chr.)
Von den Pflichten (De officiis), 44 v. Chr.

Prolog

Tarbek bei Neumünster, in der Nacht zum 16. 12.

Er hatte seinen dunkelblauen Volvo V70 am Beginn des Feldweges abgestellt, etwas abseits des Schmalenseer Wegs. Da es aber mitten in der Nacht und dazu mit Temperaturen um den Gefrierpunkt lausig kalt war, hatte er keine Sorge, entdeckt zu werden. Allerdings hatte er sich die ganze Sache einfacher vorgestellt. Es waren nur rund 150 Meter bis zu dem Hünengrab und auf Google Earth hatte es wie ein Katzensprung ausgesehen. Doch die Leiche lastete schwer auf seiner Schulter. Der Wind pfiff eisig über das angrenzende Feld und er fluchte leise vor sich hin, denn er war viel zu leicht angezogen. Er hatte mit maximal zehn Minuten kalkuliert und nun mühte er sich schon deutlich länger mit dem toten Körper des ehemaligen Rechtsanwaltes rum. Im Schein seiner kleinen Kopflampe konnte er die ersten Steine des Hünenbetts sehen und auch schon die querliegende Grabkammer, bei der ein Deckenstein fehlte. Somit lag das 2,2 mal 1,2 Meter große Grab jetzt fast offen vor ihm da und Erleichterung stellte sich ein. Es war perfekt, so hatte er sich das vorgestellt. Trotz der Kälte spürte er einen leichten Schweißfilm auf der Stirn, als er die Leiche langsam in die Grabkammer gleiten ließ. Kurz hielt er inne, bevor er ebenfalls in das Grab zum Toten hinabstieg. Er öffnete die Plane, indem er das Klebeband vorsichtig entfernte, was mit seinen Handschuhen keine einfache Aufgabe war. Sorgfältig achtete er darauf, dass nichts liegenblieb und packte alles in eine blaue IKEA-Tasche. Vereinzelte Schneeflocken ließen ihn blinzeln. Kurz beschlich ihn die Angst, dass Reifenspuren zurückbleiben könnten. Aber dafür war der Schneefall noch nicht stark genug und so machte er sich an die Arbeit, sein Werk zu vollenden.

Aus seiner Tasche holte er einen Spiegel mit Griff, den er dem Toten in die Hand legte. Er überstreckte den Kopf, so dass das Kinn in die Höhe zeigte. Den Arm samt Spiegel befestigte er mit einem Draht an der linken Seitenwand des Grabes. Eine aktuelle Ausgabe des Bürgerlichen Gesetzbuches legte er unter die Füße der immer steifer werdenden Leiche. Zuletzt holte er einen kleinen Zettel aus der Jackentasche seines Mantels und überflog kurz den Eid aus der Bundesrechtsanwaltsordnung.

„Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, die verfassungsmäßige Ordnung zu wahren und die Pflichten eines Rechtsanwalts gewissenhaft zu erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“

Er legte ihn auf die Brust des Toten, fixierte ihn mit der rechten Hand, während er mit der linken brutal ein Messer durch den Zettel stieß, so dass dieser wie festgenagelt auf dem Brustkorb verblieb.

Langsam stieg er wieder aus der Kammer und blieb am Rand stehen. Aus der Seitentasche fischte er seine Kamera und schoss zwei Fotos. Zufrieden guckte er auf den Bildschirm und machte sich auf den Weg zurück zum Auto.

Der Schneefall wurde auf der Rückfahrt immer heftiger. In der Dunkelheit war der Weg zu sich nach Hause bei diesem Mistwetter eine wahre Tortur. Sein Job war Knochenarbeit. Er wohnte etwas abseits in der Nähe des Raakmoors, in Hamburg-Poppenbüttel. Schön gelegen. Ein Idyll mitten in der Weltstadt Hamburg. Sein Haus beim Reiterhof hatte er mit einem hohen Zaun vor den neugierigen Reitermädchen geschützt. Durch den immer höher werdenden Schnee fuhr er durch das Tor zu seiner kleinen Scheune, die er auch als Garage nutzte und als sein OOLG bezeichnete. Für ihn war dies die Instanz über dem OLG, die unanfechtbare Beschlüsse anders regelte. Die blöde Kuh von Verfahrensbeiständin hing noch immer am Giebel. Beim Aussteigen rammte er ihr die Fahrertür in die Beine, so dass die Leiche hin und her baumelte und mit den Füßen gegen das Auto schlug. „Die war nicht nur ein mutiertes Mütter-Monster, sondern auch voll hässlich“, grübelte er. War ja klar, dass die selbst geschieden war und den Hass auf ihren Ex-Mann auf alle anderen Väter übertrug. Aber jetzt erst mal eine Belohnung. Um die dumme Idiotin würde er sich später kümmern. „Und die Betrüger-Richterin Steffi Salz kommt morgen dran!“ Er verschloss das Scheunentor und stapfte zufrieden zu seinem typisch norddeutschen Backsteinhaus.

Es war schön, nach anstrengender Arbeit heimzukommen. Er holte vier Holzscheite und machte den Kamin an. Diese Mist-Kälte. Vor seinem OOLG waren heute wieder zwei Fälle zu aller Zufriedenheit entschieden worden. Nach dieser Instanz kam nichts mehr. Unanfechtbar – das endgültige Ende des Prozesses. Er hüllte sich in seine Decke ein, öffnete einen Chateauneuf du Pape 2009 und schaltete seine CD „The Chopin-Album“ von Frédéric Chopin und Lang Lang ein. Was für eine herrliche Nacht!

Grausiger Fund

Tarbek, 16. 12. am Morgen

Das Polartief Inga schob sich immer weiter über den Norden Deutschlands und die Vorhersagen erwiesen sich wieder einmal als komplett falsch. Dänemark hatte die Wucht des Tiefs abbekommen sollen, aber der kräftige Nordwind drückte die vollen Schneewolken weiter Richtung Deutschland und so hatte es im zweiten Teil der Nacht schon 15 Zentimeter geschneit. Weitere 20 Zentimeter waren angekündigt und so hatte sich Förster Rainer Lichtrein doch auf den Weg gemacht. Nur noch rund sechs Wochen waren übrig, um das Rehwild zu schießen, was dem Wald so zu schaffen machte. Viel zu viele Tiere trieben sich in Schleswig-Holstein rum, zerstörten regelmäßig die gesamten jungen Triebe der Bäume und anderer Pflanzen. Diese Problematik war der Bevölkerung nicht bewusst und so galten Jäger immer als die Mörder von Bambi. So zumindest hatte ihn die Grundschullehrerin seiner Tochter Emelie beschimpft.

Lichtrein saß auf dem Hochstuhl, gut eingepackt in seine Winterausrüstung und schaute durch das Zielfernrohr seines Strasser Jagdgewehrs. Sein Blick glitt über das weite Feld vor dem Hünengrab Richtung Süden und nur schwer war bei dem Schneegestöber etwas auszumachen. Normalerweise waren die rund zweihundert Meter kein Problem, heute aber schon. Deswegen hatte er den Wind im Rücken gewählt, in der Hoffnung, dass die Kugel so besser in der Flugbahn blieb. Der erfahrene Förster war seit zwanzig Jahren auch Jäger und wusste, dass die Rehe bei diesem Wetter gerne den Schutz des Knicks am Feldrand suchten. Und richtig, er brauchte nicht lange zu warten. Von Westen her kam eine kleine Gruppe Rehe und näherte sich dem langen Knick am Rande des Hünengrabes. Lichtrein stellte erneut am Zielfernrohr die geschätzte Entfernung ein, fokussierte ausgiebig und schoss. Fast hatte er das Gefühl, als ob der Schnee die Schallwellen sofort verschluckte, so leise lief alles ab. Er packte seinen Rucksack auf die Schultern und hoffte auf einen Volltreffer, damit ihm eine lange Nachsuche bei diesem Wetter erspart blieb. Schnell überquerte er das Feld, während er Schnee und Wind schutzlos ausgeliefert war. Zum Glück schloss der Kragen seiner Winterjacke direkt unter der Nase und von oben wärmte ihn die selbst gestrickte Wollmütze seiner Großmutter. Als er sich den äußeren Steinen des Hünenbetts näherte, sah er das tote Reh direkt an der über 5000 Jahre alten Grabkammer liegen. Kurz dachte er an seine Jugend und wie oft sie hier nachts Mutproben durchgeführt hatten und eine leichte Gänsehaut legte sich über seinen Körper. Was ihn aber gänzlich erstarren ließ, waren nicht seine Erinnerungen, sondern ein steifgefrorener Arm mit einem Spiegel in der Hand, der am Rand der Grabkammer festgenagelt schien und aus dem Schnee herausragte.

Der Ersten Kriminalhauptkommissarin Kathrin van Busche war kalt und zwar richtig kalt. Eigentlich fror sie im Winter immer, außer vor ihrem Kamin in Kiel-Altenholz, aber sie war eindeutig ein Kind des Sommers, was an ihren französischen Wurzeln liegen mochte. Sie stapfte den kleinen, zugeschneiten Weg zum Hünengrab, wo sie von Kriminalobermeister Aslan erwartet wurde. Im Prinzip war das hier ein Fall für die Segeberger Kripo, aber da diese komplett in den Brand der Asylbewerberunterkunft in Boostedt eingebunden war, sollte die Kieler Kripo aushelfen. Kurz hinter ihr ging Kriminalkommissarin Angelica Scholz, die Hände ebenfalls tief in den Jackentaschen vergraben. Aslan kam ihnen entgegen und schoss wie wild Fotos mit seinem Smartphone. Im Hintergrund lehnte Förster Lichtrein an einem Baum, zwar etwas weiß um die Nase, aber durchaus eine imposante Gestalt, wie van Busche feststellte.

„Hallo Frau van Busche“, rief der eifrige Aslan, als er auf sie zueilte.

„Ich hab schon alles fotografiert. Keine Spuren zu sehen, nur meine und die vom Förster.“ Dabei wedelte er wild mit seinem Telefon in Richtung Knick.

„Der Mörder muss die Leiche also schon vor ein Uhr hergebracht haben, da begann der Schneefall. Hab’ ich grad auf meinem Smartphone gecheckt.“

„Oder der Mörder steht direkt hinter Ihnen am Baum“, entgegnete die Kommissarin trocken, während Lichtrein die Gesichtszüge entglitten.

„Aber, aber … ich hab doch …“, stammelte dieser.

„Schon gut, war ein Scherz. Bei dieser Kälte friert mir leider immer die Diplomatie ein. Schauen wir uns das mal an. Sie bleiben bitte, wo Sie sind.“

Immer noch trieben Schneeschauer fast quer über das Feld und landeten weich auf der dicker werdenden Schneedecke. Van Busche trat an das circa fünfzig Zentimeter tiefe Hünengrab ran und blickte auf die starre Hand mit dem Spiegel in der Hand.

Scholz stand neben ihr und zog nun ihrerseits das Smartphone aus der Tasche. Allerdings filmte sie die ganze Szenerie und beschränkte sich nicht auf Fotos.

„Wann haben Sie die Person gefunden?“, fragte van Busche über ihre Schulter.

Lichtrein räusperte sich, schaute auf seine Uhr.

„Ziemlich genau vor ’ner Stunde. Ich bin erst noch runter und hab geschaut, ob der noch lebt. War aber schon eisekalt.“

„Sie hab’n die Leiche angefasst?“ Scholz schaute entgeistert zum Förster.

„Na ja, da wusst ich ja noch nich, dass sie tot ist.“

Scholz brummte etwas und filmte aufmerksam weiter.

Van Busche nickte, griff zum Telefon und rief Hinrichs von der Forensik an.

„Wir brauchen ein Zelt und zwar schnell“, beendete sie das Telefonat.

Die Forensiker hatten neunzig Minuten von Kiel nach Tarbek gebraucht. Der Wintereinbruch kam wie jedes Jahr wieder völlig überraschend und führte zu totalem Chaos auf den Straßen. Autos mit Sommerreifen standen quer, die Straßenmeisterei bequemte sich gegen zehn Uhr in ihre Streufahrzeuge, um später zu beteuern, das wäre nicht zu erwarten gewesen. Deutschland lernte nie dazu.

Dementsprechend angesäuert kam Dr. Niels Hinrichs zum Fundort und meckerte über alles und jeden. Als er allerdings die Plane sah, die Lichtrein und Aslan zwischen den Bäumen gespannt hatten, keimte so etwas wie Zuversicht in ihm auf.

„Es gibt wohl doch noch Leute, die mitdenken“, piepste er mit seiner originellen Stimme, die häufig dazu führte, dass er unterschätzt wurde, dabei hatte er deutschlandweit einen exzellenten Ruf.

Während er und sein Team sich an die Arbeit machten, begaben sich van Busche, Scholz und Lichtrein zum VW-Bus, um sich aufzuwärmen. Dabei folgte ihnen der eifrige Aslan, der sich irgendwie noch durch die Tür quetschte. Van Busche brachte es nicht übers Herz, den wuseligen Polizisten bei dieser Kälte wieder vor die Tür zu schicken und schenkte allen einen Kaffee aus der Thermoskanne ein.

Lichtrein schilderte ausführlich, wie es zu dem Fund gekommen war und zu diesem Zeitpunkt sah van Busche auch keinen Grund, an seiner Geschichte zu zweifeln.

„Wie oft kommen im Winter Leute hierher?“, wollte die Kommissarin vom Förster wissen.

„Um diese Jahreszeit? So gut wie keiner. Höchstens ein paar Leute ausm Dorf mit ihrem Hund. Aber bei dem Wetter niemand. Ich hab jedenfalls keinen gesehen und saß schon ’ne Stunde auf meinem Hochsitz.“

„Und andre Jäger?“, hakte Scholz nach.

„Die gibt’s schon. Aber wir haben uns das Gebiet hier etwas aufgeteilt. Bei den Hünengräbern bin nur ich, normalerweise jedenfalls.“

„Der is nich von hier“, mischte sich Kriminalobermeister Aslan ein.

„Wie komm Sie denn darauf? Man kann doch nur den Arm sehen?“, fragte van Busche.

„Ja, aber der Ärmel reicht mir. Armani. Mein Onkel hat ’ne Schneiderei in der Türkei. Und Rolex am Handgelenk. So was gibt’s hier nich“, erklärte Aslan im Brustton der Überzeugung.

Die Kommissarin schmunzelte, konnte den Gedankengang aber nicht von der Hand weisen. Fixer Kerl dachte sie.

Die Tür des Busses wurde aufgeschoben und Hinrichs quetschte sich noch mit auf die Bank, begleitet von einer Wolke aus wirbelnden Schneeflocken.

„Scheiße, ist das kalt“, piepste er, „habt ihr noch ’nen Kaffee für mich?“

Scholz schenkte ihm ein und alle warteten gespannt, was die erste Untersuchung ergeben hatte.

„Sehr merkwürdig, sehr merkwürdig. Also, wir haben die Leiche mal freigelegt, heißt, den Schnee abgetragen. Hier ein Foto.“

Van Busche schaute auf das Bild mit dem eigentümlichen Arrangement.

„Was steht auf dem Papier?“, wollte die Kommissarin wissen.

Van Busche blickte sich um und bat Lichtrein, den Bus zu verlassen.

Hinrichs präsentierte ein weiteres Foto mit dem Text.

„Das ist der Anwaltseid!“, rief Scholz.

„Den kenn ich. Ich war zur Vereidigung meines Bruders.“

„Richtig“, bestätigte Hinrichs und zeigte eine Visitenkarte im Plastikumschlag. „Die haben wir im Portemonnaie des Toten gefunden. Ferdinand von Rotenstein, Anwalt aus Kiel. Ist ziemlich häufig in der Presse. Sein Ausweis war auch dabei.“

Van Busche schaute sich die Karte an.

„Mögliche Todesursache?“

„Kann ich nicht abschließend sagen. Aber nach ersten Erkenntnissen Tod durch Genickbruch. Er wurde wahrscheinlich erhängt. Das Messer hat er erst in die Brust bekommen, als er schon länger tot war.“

Hinrichs schaute in die Runde.

„Voll cool, echt krasses Verbrechen.“

Aslan freute sich wie ein Junge, der sein erstes Fahrrad geschenkt bekommen hatte.

Einmal das OOLG sehen und dann sterben

Hamburg-Poppenbüttel, 16. 12. um 14.25 Uhr

Sein Urteil stand schon vor der mündlichen Anhörung fest. Tod durch Erhängen. Er hatte sie schon vor 20 Minuten von oben aus dem Fenster gesehen. Überpünktlich. Die war so blöd, das wussten auch alle Rechtsanwälte in ganz Hamburg. Aber jetzt hat die dümmste Richterin der Stadt wirklich geglaubt, dass sie zum OLG wegbefördert werden sollte. Unfassbar blöd, die Niete!

Steffi Salz ging durch den Schnee zu seinem roten Backsteinhaus. Sie trug einen eleganten hellbraunen Mantel, dazu einen Rock und lange Stiefel. So ganz hatte er ja auch nicht gelogen. OLG oder OOLG, das war semantisch kein großer Unterschied, inhaltlich aber schon, wie sie bald feststellen würde. Aus seiner Küchenschublade holte er den Eid für Richter und das Messer. Er hatte auch dieses Verfahren gut vorbereitet.

Was Steffi Salz gemauschelt und betrogen hatte, ging auf keine Kuhhaut. Über Jahre immer die dicke hässliche Verfahrensbeiständin bestellt, die den Vätern grundsätzlich das Sorgerecht entzogen hatte. Es gab Beschwerden über Beschwerden. Dreimal sollte sie wegen Rechtsbeugung ins Gefängnis – immer schützte sie der befreundete Staatsanwalt. Sogar Kohle floss von der in der Scheune baumelnde Anwältin der Kinder an Salz. Es fing mit Urlaubseinladungen für die großartige Vermittlung von Fällen an und wurde später pauschal mit 200 Euro pro Fall vergütet – in Cash. Damit es keine Spuren gab. Meist gab es zwei oder drei Verfahren. Die Summe hing von der Anzahl der Kinder ab. Es war ein prächtiges Geschäft für Anwälte und Gutachter mit dem Geld der Eltern. Richter sind ja so unabhängig. Sie fühlen sich wie Gott und dürfen als Verfahrensbeistand oder Gutachter bestellen, wen sie wollen. Verteilungsplan? Fehlanzeige! Ein Vater aus Hamburg-Eimsbüttel hatte sich erschossen. Neben ihm das Gutachten der Rechtsmedizin, das belegte, dass er die Kinder nicht vergewaltigt hatte. Doch das war Steffi Salz egal. Im Namen des Volkes wurde ihm das Sorgerecht für seine Kinder entzogen und der Umgang ausgeschlossen. Der Beschluss war unanfechtbar. Doch er fand, heute wird die Sache neu verhandelt, vor dem OOLG.

Es klingelte. Er ließ sie bewusst lange warten. Steffi Salz schaute auf die Uhr. Sie war fünf Minuten zu früh. Die Richterin überlegte. Sie klingelte erneut. Tick Tack. Tick Tack. Die Sekunden vergingen langsam, sehr langsam. Er ließ sie wieder warten und freute sich diebisch über ihre Unsicherheit.

„Die hat bestimmt einen braunen Strich im Höschen.“

Salz überlegte, ob sie zurück zu ihrem Audi A6 gehen sollte. Jetzt war es 14.29 Uhr. Sie klingelte nun zum dritten Mal. Er machte auf.

„Ah, die hochverehrte Richterin Steffi Salz“, log er. „Ich bin über alle Maßen erfreut. Ihr exzellenter Ruf eilt Ihnen ja voraus. Kommen Sie doch bitte rein.“

Salz lächelte. Sie war für eine Frau mit 1,79 Metern sehr groß. Nicht unattraktiv. Aber auch nicht sonderlich hübsch. Er nahm ihr ganz Gentleman den schicken Mantel ab.

„Danke“, sagte die Richterin und lächelte ihn verlegen an.

„Wissen Sie, verehrte Richterin Salz, gerade am OLG sind herausragende Persönlichkeiten in der Rechtsprechung gefragt, die sich auch mal gegen Widerstände durchsetzen.“

Sie lächelte erneut. Er führte sie zum Wohnzimmer und bat sie mit einladender Geste, sich zu setzen.

„Höchst verehrte Richterin Salz. Mögen Sie einen Kaffee? Ein Wasser? Oder ein Gläschen französischen, exzellenten Rotwein?“, fragte er. „Mittag ist ja schon rum. Und es gibt einen Grund zu feiern.“

Erneut war Salz unsicher.

„Danke. Ich nehme erstmal einen Kaffee, bitte mit Milch und Zucker“, antwortete die Richterin.

„Wie kommt es denn, dass Sie solche Jobs vermitteln? Das ist doch ungewöhnlich.“

Er lächelte. „Ich habe eine Beratungsagentur gegründet – speziell für Entscheider in der Justiz.“

Steffi Salz schaute irritiert auf den Holztisch, auf dem der Richtereid sowie das Messer offen herumlagen.

„Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir Gott helfe.“

„Das ist der Richtereid, Deutsches Richtergesetz Paragraph 38“, sagte er. „Ach, und das Messer. Das ist vom Schnitzen. Das mache ich gerne zur Beruhigung in meiner Freizeit im Garten.“

Die Richterin schaute irritiert. Er verließ das Wohnzimmer.

Kurze Zeit später kam er dennoch mit zwei Gläsern Rotwein zurück, ohne Kaffee. Es ging um Macht. Um Angewandte Psychologie. Um Gerechtigkeit. Seine Gedanken waren schon weiter. Er liebte es, wenn sie aufgeknöpft am Giebel zuckten. Diese Langsamkeit, wenn es zu Ende geht.

„Ich wollte doch einen Kaffee“, erklärte Salz und wollte erstmals in der mündlichen Verhandlung, die schon längst begonnen hatte, Einspruch einlegen.

Aber sie hatte keine Kontrolle mehr über ihre Zukunft. Hier vor dem OOLG bestimmte er.

„Es ist eine schöne Überraschung für Sie, verehrte Richterin“, erwiderte er ganz ruhig. „Es geht nicht nur um die Beförderung zum OLG, sondern sogar um den Vorsitz.“

„Was ist denn mit Richterin Schwarzewald?“, fragte Steffi Salz überrascht.

„Ja, das ist natürlich mein Vorteil“, entgegnete er selbstsicher. „Als Berater muss ich immer besser informiert sein. Man muss den vierten Schritt machen, wenn alle anderen noch den ersten Schritt gedanklich verarbeiten.“

„Und Schwarzewald hatte eh nicht das Format von Ihnen, Sie sind ja auch selbst Mutter und Katholikin“, ergänzte er. „Und Kinder gehören zur Mutter, sein wir doch mal ehrlich.“

„Ja, das sehe ich auch so, auch wenn man das heute nicht mehr offen sagen darf“, sagte Steffi Salz. „Das ist ja von der Biologie her so ausgedacht worden.“

„Schön, dass wir uns so gut verstehen“, log er. „Männer können doch auch nicht kochen und machen doch jeden Handgriff falsch bei Kindern.“

Sie nickte. Jetzt wirkte die Richterin Steffi Salz ganz befreit, nahm einen kräftigen Schluck Rotwein. „Und, ist es denn auch sicher, dass das klappt?“

„Ja, logisch“, antwortete er. „Was soll denn noch dazwischenkommen? Der kleine Test vor dem OOLG? Ach was, doch nicht bei einer so einzigartigen Richterin, wie Sie es sind!“

„OOLG?“, fragte sie skeptisch.

„Ja“, sagte er. „Das ist aber nur ganz bescheiden. Von mir in meiner kleinen ausgebauten Scheune. Ich nenne es Ob Oberlandesgericht oder Ober-Oberlandesgericht, kurz OOLG.“

„Und was muss ich da machen?“, fragte Steffi Salz sichtlich besorgt.

„Keine Sorge, nur ein zwei Fragen“, erklärte er ruhig und bat sie aufzustehen. „Wir gehen einfach mal rüber.“

Er nahm den Eid für Richter und das Messer. Das Seil und den Knebel hatte er bereits in der Scheune für die mündliche Verhandlung vorbereitet.

„Nehmen Sie ruhig Ihren eleganten Mantel. Es ist kalt in der Scheune.“

Er half ihr ganz Gentleman like in den schicken, hellbraunen Mantel. Sie gingen hinüber. Als er die Tür öffnete, sah man die Verfahrensbeiständin schon am Giebel baumeln. Ein unfassbar lauter Schrei. Er ging durch Mark und Bein. Es ging rasend schnell. Er schmiss sich auf sie und riss sie mit in die Scheune, packte ihre Arme und zog die Fesseln brutal fest, stopfte mit dem Knebel ihr elendes Richterin-Maul. Der Beschluss vor dem OOLG war unanfechtbar. Da wollte er der Verteidigung nicht mehr das Wort erteilen.

Es klingelte am Tor. Die Richterin Steffi Salz lag gefesselt am dreckigen Boden der Scheune, über ihr hing die tote Verfahrensbeiständin.

Er klopfte sich den Dreck von seinen Klamotten und nahm sich die DVD-Hülle. Das Verfahren war gut, bis ins letzte Detail vorbereitet worden. Das Urteil musste nur noch vollstreckt werden. Er ging hinaus, machte das Tor zur Scheune nur einen winzigen Spalt auf, huschte hindurch und ging zum Eingang.

Es war eine von den jungen Reitlehrerinnen, Annika.

„Wir ham nen lauten Schrei gehört. Is alles okay bei Ihnen?“, fragte Annika.

„Ja, danke der Nachfrage“, antwortete er. „Ich hab’s wohl wieder übertrieben mit der Lautstärke.“ Er zeigte auf das DVD-Cover des Klassikers Shining. „Ich liebe Horror. Ist von Stanley Kubrick hervorragend verfilmt worden, nach dem Roman von Stephen King.“

„Ach, dann ist ja alles gut“, antwortete Annika.

„Falls Sie auch mal Lust haben?“, sagte er und wedelte mit der DVD-Hülle.

„Nein danke, das is nix für mich.“ Sie erklärte, dass sie heute auch noch durchgängig bis 19 Uhr Reitunterricht geben werde. Dann verschwand sie wieder Richtung Reithalle.

Er ging zurück in die Scheune. Da lag sie im Dreck. Er machte den Henkersknoten um ihren Hals und warf das Seil um den Balken – genau neben der vor sich hin baumelnden, toten Verfahrensbeiständin. Dann las er den Richtereid ganz langsam vor.

„Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir Gott helfe.“

„Höchst verehrte Richterin Steffi Salz. Sie haben gegen diesen Eid verstoßen“, erklärte er. „Das Gericht hat als Strafe festgelegt: Tod durch Erhängen. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.“

Er zog das Seil höher und höher. Kurz stand die Richterin, dann war sie in der Luft. Er mochte das. Dieser Blick der Augen kurz vor dem Tod. Dann dieses Zucken …

Alexei Gromow

Hamburg vor fünf Jahren

Polizeioberkommissar Alexei Gromow saß in einem grauen VW Passat in der Trommelstraße gegenüber der Eckkneipe Holsten-Schwemme. Sein Sitznachbar in dem unscheinbaren Auto war Polizeihauptkommissar Hubertus Stührwoldt-Vestermann, der Sohn des Hamburger Polizeipräsidenten und aus Gromows Sicht ein absoluter Versager. Leider war er auch sein Vorgesetzter, obwohl er deutlich weniger Dienstjahre auf dem Buckel hatte. Zwar war Gromow mit 30 Jahren noch drei Jahre jünger, aber er hatte sich über den mittleren Dienst in den gehobenen Dienst hochgearbeitet. Davon die letzten zwei Jahre als Zivilfahnder auf der Reeperbahn. Das konnte man von Stührwoldt-Vestermann nun nicht behaupten, aber Blut war seit jeher dicker als Wasser. Die vier Sterne auf der Schulter hatte er sich aus der Sicht der meisten Kolleginnen und Kollegen jedenfalls nicht verdient. Trotzdem galt Gromow als der heimliche Star der Hamburger Kripo. Seine Ermittlungen hatten zu großen Erfolgen geführt. Nicht zuletzt die schnelle Verhaftung des Taximörders Rilwan C. Der Fall hatte für bundesweite Schlagzeilen gesorgt.

Dies war dem selbstverliebten Stührwoldt-Vestermann allerdings ein Dorn im Auge, denn er sah seine eigene Karriere bedroht. Also teilte er sich regelmäßig Gromow zu, um ihn zu schikanieren und in der Hoffnung, dass dieser mal einen Fehler begehen würde.

„Holst du mal Kaffee, mit Milch und Zucker?! Ich sterbe vor Langeweile, Kleiner.“

Obwohl er mit 1,83m nur unwesentlich kleiner war als sein Chef, war das dessen Lieblingsanrede, während er mit seiner Ray-Ban und den schmalzigen Haaren in Richtung des Untergebenen guckte. Wahrscheinlich war er als Kind zu wenig gelobt worden und nun musste er die Leute aus seinem Umfeld möglichst klein halten.

Gromow stieg ohne etwas zu erwidern aus und atmete die Hamburger Nachtluft ein. Er war froh, aus dem Auto zu kommen, sonst hätte er sich ganz sicher geweigert. Er war schließlich kein Laufbursche. Aber jetzt ließ der die Geräusche der Großstadt auf sich wirken und machte sich auf den Weg. Die Trommelstraße lag in unmittelbarer Nähe der Reeperbahn und hier herrschte auch nach Mitternacht oder gerade nach Mitternacht noch geschäftiges Treiben.

„Na Blonder, haste Lust auf nen unglaublich geilen Ritt?“, hauchte ihn eine spärlich bekleidete Brünette vor einem rötlich beleuchteten Haus an. Dabei öffnete sie lasziv ihre Lippen und fuhr sich mit der Zunge drüber.

„Ne, lass ma Süße, der Cowboy hat heute frei“, erwiderte er, während er ihr einen kleinen Blick auf die Dienstmarke in seiner Hand gönnte.

„Glaubste, du bist der erste Bulle, der ne Reitstunde nimmt?“ Dabei blickte sie ihn herausfordernd an. „Der Lackaffe aus deiner Karre is jedenfalls regelmäßig hier.“

Gromow stutzte kurz, winke ab und ging weiter.

In der Lincolnstraße gab es eine kleine Pizza Bude und er bestellte zwei Kaffee. Da sie noch ein paar Stunden vor sich hatten, trank er seinen stark und schwarz. Den von Stührwoldt-Vestermann versüßte er mit sechs Stückchen Zucker und einem ordentlichen Hieb Milch. Die Rache des kleinen Mannes.

Er ließ sich so viel Zeit wie möglich, um seine kurze Freiheit zu genießen. Sein Chef benutze ein schweres und süßes Parfum und das tonnenweise, so dass er regelmäßig Kopfschmerzen bekam, wenn er mit dem Idioten im Auto saß.

Die Brünette zog gerade mit einem typisch deutschen Familienvater ab, dem der Sabber aus den Mundwinkeln lief. Irgendwo in der Nachbarschaft hörte er eine Polizeisirene, dazu das Stimmengewirr der ganzen Nachtschwärmer.

Gromow liebte das Viertel, Hamburg und die laue Nacht, er liebte seinen Job. Nur leider wurde er aus einem unerfindlichen Grund mit einem schwachsinnigen Vorgesetzten mit den besten Verbindungen gestraft.

Die nächsten zwei fürs Hünengrab in Tarbek

Feldweg in Tarbek, 17. 12. in der Nacht

Er war doch genial. Da würden die nie draufkommen. Er hatte seinen dunkelblauen Volvo V70 wieder am Beginn des Feldweges abgestellt. Es schneite, das war nicht gut wegen der Spuren. Sorgsam band er zwei Plastiktüten über seine Schuhe und befestigte sie mit Klebeband knapp unter seinen Knien. Dann die Handschuhe. Hinten lagen die beiden. In Plastikplane. Es war erneut lausig kalt. Ob beide reinpassten? Was war mit den Reifenspuren? Er würde morgen einen Reifenwechsel machen. Auf Ganzjahresreifen wechseln, ganz einfach. Oder den Volvo verkaufen?