Für Tim

Intrige am Hudson

Insidergeschäfte

Thomas Gruber

Prolog

John Chambers schaute auf die Uhr. Vertieft in die Arbeit hatte er die Zeit fast vergessen. Er räumte seinen Schreibtisch auf und verließ das Büro. Die wenigen Schritte bis zum Big Easy hatte er schnell hinter sich gebracht. Als er das Lokal betrat, stellte er fest, dass lediglich zwei seiner Arbeitskollegen noch da waren.

„Du bist aber spät dran“, begrüßte ihn Steven Berry, ein junger Anwalt aus dem Team für Privatrecht.

Neben ihm an der Theke saß Anika Philipps, in der Hand ein Weinglas. John gesellte sich zu den beiden und bestellte sich ein Glas Rotwein. Es war schon nahezu Tradition, dass man sich am Freitag nach Arbeitsschluss hier auf einen Drink traf. Nach knapp einer halben Stunde brach Steven auf, verabschiedete sich und wünschte ein erholsames Wochenende.

„Bin wirklich spät dran heute, habe ich etwas verpasst?“, fragte John seine engste Mitarbeiterin.

„Nein, heute drehte sich alles bloß um Politik. Der Brexit ist das Gesprächsthema Nummer Eins.“

„Dann hatte ich ja Glück“, sagte John, „aber weshalb bist du noch da?“

„Ich habe heute Abend nichts vor.“

Das entsprach nur teilweise der Wahrheit. Anika war geblieben in der Hoffnung, dass er noch auftauchen würde. Und nun war er da.

„Und du, hast du Pläne für heute Abend?“, fragte Anika.

„Nein, die Agenda ist leer. Keine Nachfrage nach mir.“

Sie sah ihm an, dass er das nicht ernst meinte.

„Das wievielte Glas Wein ist das?“, wollte er nun von ihr wissen.

„Mein Zweites. Und ich habe langsam getrunken. Ich hab auf dich gewartet.“

„Das ist nett.“

Die jüngeren Mitarbeiter der Kanzlei trafen sich jeden Freitag hier. Aber John kam nicht so oft vorbei, als Partner hatte er keine Zeit für einen regelmäßigen Umtrunk. Zudem hielt er es für angemessen, etwas Abstand zu wahren. Schließlich wurden hier auch Klatsch und Tratsch ausgetauscht und er nahm an, dass ab und zu über die Vorgesetzten gelästert wurde. Aber einmal pro Monat versuchte er dabei zu sein. Alle anderen Partner waren über Vierzig oder hatten Familie. Bei ihm traf beides nicht zu.

„Denkst du manchmal schon ans Jahresende?“

Er bemerkte den leicht wehmütigen Ton, als sie das sagte.

„Nein, das ist weit entfernt. Das Einzige, was mich regelmäßig daran erinnert, sind die E-Mails meiner Innenarchitektin.“ Er ließ gerade seine Wohnung in New York renovieren.

Seit knapp viereinhalb Jahren lebte und arbeitete er unterdessen in London und Ende Dezember würde er in die Vereinigten Staaten zurückkehren. Nach New York, an den Hauptsitz der Craine, Crawford & Lambert LLP.

„Was hältst du eigentlich von Bürobeziehungen?“, lautete ihre etwas überraschende Frage.

Er musste lächeln. Es lag nicht am Wein, dass Anika ihn so etwas fragte, sie war einfach so: offen und direkt.

„Kommt immer darauf an, zwischen wem.“

„Einem Partner und einer Mitarbeiterin?“. Sie lächelte ihn an.

„Hab ich was verpasst? Wenn ja, brauch ich dringend ein Update.“

„Nein, nichts Konkretes. Kein Tratsch. Reine Neugier.“

„Ach so, dachte schon, es gäbe was Spannendes. Aber um deine Frage zu beantworten: kommt darauf an. Ich meine, es sind erwachsene Leute, die können ja machen, was sie wollen. Solange es einvernehmlich ist, spricht für mich nichts dagegen.“

„Das überrascht mich! Ich hätte erwartet, dass du so etwas ablehnst.“

„Würde ich auch, wenn mich jemand anders danach fragen würde. Aber bei dir muss ich ja keine politisch korrekten Aussagen machen. Ist schon eher heikel, weil es die Gefahr von erhöhter Komplexität beinhaltet. Außerdem hätte ich dir diese Frage vor einem halben Jahr vielleicht noch anders beantwortet.“

Bei Anika musste John wirklich keine Rücksichten nehmen. Genau so offen und direkt, wie sie fragte, fielen auch seine Antworten aus.

„Wieso?“, hakte sie nach.

„Damals waren alle noch hoch sensibilisiert wegen diesen in den Medien ausgebreiteten Geschichten, du weißt schon, MeToo und so.“

In der Zwischenzeit hatte sich die Aufregung zum größten Teil wieder gelegt. Das Thema war in den Medien derart intensiv ausgebreitet worden, dass die Menschen irgendwann das Interesse daran verloren. Nach der anfänglichen Paranoia, während welcher sich gewisse Männer nicht einmal mehr getraut hatten, alleine mit einer Frau den Aufzug zu benutzen, setzte sich dann doch die Einsicht durch, dass nicht jede Frau unmittelbar die Absicht hatte, einen zu verklagen.

„Ja das waren verrückte Geschichten. Und am Ende war das für die wirklichen Opfer sexueller Diskriminierung sogar kontraproduktiv.“

Sagte eine Frau. Dafür mochte er sie.

„Würdest du mich daten?“

Er hatte gerade einen Schluck aus seinem Glas genommen und verschluckte sich. Er hustete und musste lachen.

„Du bist wirklich sehr direkt!“

Er tat so, als würde er sie von Kopf bis Fuß taxieren. Was gar nicht nötig war, er hatte schon lange bemerkt, dass sie attraktiv war.

„Eher nicht“, meinte er.

„Eher nicht?“. Sie war enttäuscht. Auch wenn die Frage so gestellt war, dass er sie nicht ernst nehmen würde.

„Bin ich dir nicht attraktiv genug?“ Anika blickte ihn fragend an.

„Daran liegt es nun wirklich nicht! Du bist sehr attraktiv, da bestehen keine Zweifel. Aber bei dir kumulieren sich gleich zwei Faktoren: Du arbeitest für mich und du bist nicht Single.“

„Eine bestehende Beziehung ist ein Hindernis für ein Date?“

„Nicht unbedingt. Wenn ich eine Frau anziehend finde, weiß ich ja nicht direkt über ihren Beziehungsstatus Bescheid. Aber wenn ich es weiß, dann …“

„Lässt du es bleiben?“

„Nein, dann überlasse ich es ihr, den ersten Schritt zu tun.“

Sie überlegte kurz. Verwarf aber dann ihre ursprüngliche Idee.

„Wann hattest du eigentlich dein letztes Date?“, wollte sie nun wissen.

„Schon länger her, etwa vor zwei Monaten. Ist aber im Sande verlaufen.“

„Und seither, nichts mehr?“

„Hat sich nichts mehr ergeben. Und ich bemühe mich auch nicht mehr.“

Eine überraschende Antwort für einen Mann wie ihn, dachte sich Anika. Da musste sie nachhaken.

„Wieso das?“

„Wegen Ende Jahr.“

Für John machte es wenig Sinn, sich noch ernsthaft um eine Beziehung zu bemühen. Jetzt, da er wusste, dass er die Stadt und das Land in absehbarer Zeit verlassen würde.

„Hast du Lust mit mir Essen zu gehen?“, fragte sie ihn.

Er nahm die Nuance nicht wahr.

„Bist du hungrig? Du kannst hier auch was essen.“

„Nein, ich meinte richtiges Essen.“

Die Auswahl war groß. In der Nähe gab es eine Menge Möglichkeiten, sich zu verpflegen. Chinesisch, Türkisch, Italienisch oder ein Steakhaus lagen weniger als fünf Gehminuten vom Pub entfernt.

„Okay, jetzt gleich oder kann ich mein Glas noch in Ruhe austrinken?“

„Morgen Abend.“ Sie blickte ihm direkt in die Augen.

Das klang für ihn jetzt so, als hätte sie gerade den ersten Schritt gemacht.

„Sehr gerne.“

„Okay. Heimspiel für dich. Du suchst das Restaurant aus.“

So war sie nun mal. Offen und direkt. Und trotzdem sehr weiblich. Das war wirklich sehr reizvoll.

Sie tranken ihre Gläser aus, beglichen die Rechnung und verließen das Lokal. John begleitete Anika zur U-Bahnstation und sie verabschiedeten sich. Er nahm sein Smartphone und ließ sich einen Wagen kommen. Anschließend schlenderte er zum One Canada Square und wartete darauf, abgeholt zu werden. Während er da stand, schaute er sich um und blickte nach oben. In dem großen Bürogebäude brannten kaum noch Lichter. Um diese Zeit waren die Büros größtenteils verwaist, nur wenige Partner arbeiteten noch in ihren Einzelbüros. Die Geschäfte der Kanzlei liefen gut. Obwohl die Situation in Bezug auf den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union noch nicht geklärt war, spürte man nichts von Verunsicherung. Oder gar nachlassenden wirtschaftlichen Aktivitäten. Einer Kanzlei wie Craine, Crawford & Lambert würde die Arbeit so schnell nicht ausgehen. Brummte die Wirtschaft, dann beschäftigte man sich mit Kapitalmarkttransaktionen, Fusionen und Ähnlichem. Sollten sich die Umstände ändern, dann würde man sich wieder mit Umstrukturierungen, Entlassungen und um die Verlagerung von Gesellschaften ins vermeintlich billigere Ausland kümmern. Steueroptimierung war unabhängig der gesamtwirtschaftlichen Lage stets aktuell.

Die schwarze Limousine fuhr vor und hielt. Der Fahrer begrüßte ihn freundlich, sie wechselten einige Worte. Dann verließ der Wagen die Canary Wharf in Richtung des Stadtzentrums. Zu dieser Zeit dauerte die Fahrt nicht lange, der gröbste Feierabendverkehr war vorüber. John betrachtete die nächtliche Umgebung und auf einmal wünschte er sich, wieder einmal zu Hause zu sein. Nicht hier, in seiner Wohnung, sondern an jenem Ort, wo er sich zu Hause fühlte.

Es war jetzt Ende August und in London herrschte warmes Wetter, aber die Luft blieb stickig und dreckig und die Stadt kühlte über Nacht kaum ab. In seiner Kindheit hatte er die Sommertage stets auf dem Lande und im Grünen verbracht, in der Nähe des Meeres. Innerlich spürte er förmlich die kühlende Brise und erinnerte sich an den Duft von Salz und Algen. Vielleicht war es wieder einmal an der Zeit, sich einige Tage Urlaub zu nehmen. Nachdem der Wagen die Tower Bridge überquert hatte, bog er links ab und hielt. John stieg aus und verabschiedete sich von seinem Fahrer.

Seit zwei Jahren wohnte er hier in der Butlers Wharf. Er betrat das Backsteingebäude und grüßte den Portier freundlich. Dieser überreichte ihm seine Post. Dann nahm John den Aufzug und fuhr in den vierten Stock, schloss die Wohnung auf und deaktivierte die Alarmanlage. Am Eingang stehend blickte er durch das Wohnzimmer auf das Fenster und sah auf die beleuchtete Tower Bridge. Die Aussicht war grandios, ganz besonders nachts. Dieser Anblick hatte etwas Beruhigendes. Er saß oft im Wohnzimmer und schaute auf die Brücke. Stets dann, wenn er die Leere fühlte. Zwei Jahre waren nun vergangen. Und noch immer hatte er sich nicht daran gewöhnt in eine Wohnung zurückzukehren, in welcher niemand auf ihn wartete.

John warf einen Blick auf seine Uhr. Noch war es zu früh, um Schlafen zu gehen. Er schaltete den Fernseher ein. Auf BBC liefen gerade die Spätnachrichten. Alles drehte sich um den Brexit. Also schaltete er das Gerät wieder ab und ging in die Küche, kochte Wasser auf und machte sich einen Tee. Während der Tee noch zog, schnappte er sich ein Buch und machte es sich im Wohnzimmer bequem. Während er las, vibrierte sein Smartphone. Er kannte die Nummer und nahm den Anruf an. Als er aufgelegt hatte, fluchte er leise vor sich hin. Dann sah er die E-Mail, welche ebenfalls nicht zu seiner Aufmunterung beitrug. Den Abend hatte er sich wirklich anders vorgestellt. Er setzte sich an seinen Computer und schrieb eine E-Mail-Nachricht. Dann ging er online und buchte seinen Flug um. Als das erledigt war, packte er und ging dann zu Bett.

Eins

Am Flughafen JFK herrschte wie üblich viel Betrieb. Trotz der in Europa weit verbreiteten Skepsis gegenüber den Amerikanern und ganz besonders gegenüber deren aktuellen Präsidenten hinderte es die Menschen nicht daran, ihren Urlaub in den USA zu verbringen. Der günstige Wechselkurs half wohl auch. John’s Flug war ruhig verlaufen. Sein Sitznachbar hatte keinerlei Anzeichen gemacht, ihn in ein Gespräch verwickeln zu wollen. Also hatte John sich einen Film angeschaut. Die Handlung war nicht wirklich von Interesse gewesen. Er brauchte Ablenkung. Und schlafen wollte er während des Fluges schon gar nicht. Das würde er dann in New York nachholen. Nein, er hatte nachgedacht. Nachdenken müssen.

Zwei Nachrichten hatten ihn gestern Abend erreicht, sie würden seine Planung durcheinanderbringen. Die eine war eher geschäftlicher Natur und das Problem würde sich wohl lösen lassen, die andere hingegen würde Folgen haben. Und sein Leben nachhaltig verändern. Und er dachte an Anika. Sie hatte ihn überrascht. Das war wohl eindeutig ein Date. Hatte sie sich gut überlegt, auf was sie sich da einlassen würde?

Bevor er in den Flieger gestiegen war, hatte er Fred Laporte per E-Mail über die Änderung seiner Reisepläne informiert. Es war Samstag und da wollte er ihn nicht anrufen. Der geschäftsführende Partner würde sicherlich Verständnis haben. Mit Anika hingegen hatte er telefoniert und ihr erklärt, weshalb er ihre Verabredung zum Essen absagen musste. Sie hatte verständnisvoll reagiert. Zumindest hatte er diesen Eindruck.

In der Ankunftshalle des Flughafens wartete bereits der Fahrer. John nannte ihm die Adresse und machte es sich auf der Rückbank bequem. Während der Verkehr sich zähflüssig in Richtung Manhattan schlängelte, betrachtete John durch die Seitenscheiben die Umgebung. Queens. Nicht gerade verlockend. Sieht genau aus wie auf dem Weg vom City Airport in die Stadt. Trostlos.

Er wunderte sich regelmäßig darüber, in welch schlechtem Zustand die Straßen und die Infrastruktur im Allgemeinen waren. Ein Schlagloch folgte dem anderen, die zahlreichen Brücken sahen aus, als würden sie mehr als bloß einen neuen Anstrich vertragen. Die größte Wirtschaftsmacht der Welt ging ziemlich sorglos mit ihrer Hardware um. Aber das war auch in anderen Industriestaaten zu beobachten. Bei seiner letzten Reise nach Deutschland hatte er dieselben Symptome festgestellt. Und auch im Vereinigten Königreich war es nicht besser. Das Grundübel war überall dasselbe: Geld war zwar vorhanden, es wurde jedoch falsch eingesetzt. Aufgrund seiner beruflichen Erfahrungen im Umgang mit Politikern wusste John nur zu gut, dass es diesen selten um langfristige Projekte ging. Statt das Geld in Brücken, Straßen und moderne Stromnetze zu investieren, verteilte man lieber soziale Wohltaten. Das brachte Wählerstimmen. Und nur darum ging es. Deshalb hatte auch kein US-Präsident seit dem New Deal ein umfassendes Investitionsprogramm in Angriff genommen, obwohl es den USA ermöglicht hätte, ihre Infrastruktur endlich auf das Niveau des 21. Jahrhunderts zu bringen. Und John nahm an, dass sich das während der Amtszeit des 45. Präsidenten auch nicht ändern würde. Aber diese Gedanken verwarf er gleich wieder. Seit der letzten Präsidentschaftswahl war ihm die Lust, sich mit der Politik seines Heimatlandes zu befassen, endgültig vergangen.

Er saß schweigend und in Gedanken versunken im Fond des Wagens. Als die Limousine hielt, öffnete ein Hotelpage die Türe und John realisierte, dass er angekommen war. Er gab dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld und stieg aus. Während man sich seines Gepäcks annahm, betrat John die Lobby und blickte sich um. Er war nicht zum ersten Mal hier im Intercontinental Barclay, hatte aber längere Zeit nicht mehr hier übernachtet. Überrascht stellte er fest, dass das Hotel in der Zwischenzeit wohl umfangreich renoviert worden war. Vieles sah anders aus. Üblicherweise übernachtete er in New York nicht im Hotel, aber diesmal war es etwas anderes. Er konnte ja nicht in seine Wohnung.

Aufgrund der Lage in Midtown hatte er sich für dieses Hotel entschieden. Und es war einfach gewesen, hier kurzfristig für das Wochenende noch ein Zimmer zu bekommen. John checkte ein, bezog sein Zimmer und packte als erstes seinen Koffer aus. Er hasste verknitterte Hemden und Anzüge. Laptop und die beiden Pässe kamen in den Safe. Anschließend ging er duschen. Nachdem er sich angezogen hatte, tätigte er einen Anruf und verließ dann sein Zimmer. Vor dem Hotel bestieg er das Taxi, dieses fuhr auf die Park Avenue und dort in Richtung Norden. An der Upper East Side stieg er aus. Dann stand er vor dem beachtlichen Gebäude.

Der Portier erkannte ihn, grüßte ihn freundlich und hielt ihm die Türe auf. John nahm den Aufzug und fuhr in den obersten Stock. Er musste nicht klingeln, die Haushälterin stand bereits an der offenen Wohnungstüre. Emily begrüßte ihn freundlich und ließ ihn eintreten. John ging direkt ins Wohnzimmer und nahm auf dem Sofa Platz. Emily erkundigte sich nach seinem Getränkewunsch und verschwand wieder. Er schaute sich um. Es sah anders aus als bei seinem letzten Besuch. Ein Teil des Mobiliars war ersetzt worden und gaben dem Raum einen moderneren Touch. Auch das große Bild gegenüber der Fensterfront war neu. Dann betrat die Dame des Hauses den Salon. Sie sieht so aus wie immer. Gepflegt, elegant. Wie macht sie das bloß? Man merkte ihr nicht an, dass sie schwierige Zeiten durchmachte. Sie hat sich nicht verändert. Er erhob sich und ging auf sie zu.

„Hallo John“.

Sie umarmten sich. Dann nahmen sie auf dem Sofa Platz. Anne Chambers erkundigte sich nach dem Befinden ihres Sohnes. Sie standen zwar regelmäßig in Kontakt, hatten sich aber längere Zeit nicht mehr gesehen.

„Wie geht es dir?“, fragte sie.

Er berichtete und sie hörte aufmerksam zu.

„Wo ist Vater?“

„Er schläft gerade.“

Die Chemotherapie war anstrengend und die Medikamente hatten eine verheerende Wirkung auf ihn. Um die Krebszellen abzutöten, wurde der Körper quasi kontrolliert vergiftet. Dabei wurde der gesamte Organismus in Mitleidenschaft gezogen. John kannte die beträchtlichen Nebenwirkungen. Übelkeit und Erbrechen, Erschöpfung, Haarausfall, Schleimhautentzündungen. John hatte das alles schon einmal miterlebt. Er muss sich schrecklich fühlen. So wie Kate.

Ihm war auch bewusst, dass seine Mutter seit der Erkrankung ihres Mannes das Sagen übernommen hatte. Nicht nur im privaten, sondern auch im geschäftlichen Bereich.

„Wie stehen die Heilungschancen?“

„Er wird es überleben. Zum Glück wurde es früh entdeckt.“

Eine gute Nachricht. Also doch nicht so schlimm.

„Es wird Veränderungen geben.“

Anne Chambers sah ihren Sohn an.

„Wir möchten jetzt die Nachfolge regeln. Es wird Zeit, dass du übernimmst.“

Das war jetzt aber kein Konjunktiv! John hatte immer gewusst, dass dieser Augenblick eines Tages kommen würde. Aber ausgerechnet jetzt? Er hatte doch noch andere Pläne. Er hatte diese Möglichkeit bei seinem beruflichen Werdegang stets im Hinterkopf behalten. Und er traute sich die Führung der White Mountain Group ohne Zweifel zu.

„Sobald Vater wieder auf dem Damm ist, werden wir unseren Alltag ändern. Und unser Leben.“ Sie sagte das mit Bestimmtheit. „Wir werden das Leben nun bewusster leben, es mehr genießen und endlich mal jene Dinge tun, die wir stets verschoben haben.“

Recht habt ihr! Was nützt das ganze Geld, wenn ihr die Zeit nicht intensiv nutzt?

„Hast du mit Mary gesprochen?“.

Seine Schwester hatte sich ja noch nie fürs Geschäft interessiert. Aber sie war informiert und hatte ihre Mutter wissen lassen, dass sie weder Ambitionen auf die Unternehmensführung hatte noch die Absicht, der Westküste den Rücken zuzukehren. Gut, ist auch okay. Sie wird auch weiterhin ihren monatlichen Scheck bekommen. Wenigstens waren von dieser Seite keine Probleme zu befürchten. Er sah seiner Mutter jedoch auch an, wie sehr sie sich gewünscht hätte, dass Mary etwas mehr an ihrem Leben und der aktuellen Situation teilhaben würde. Aber ihre Tochter hatte sich nun mal in eine andere Richtung entwickelt. Sie ist nun mal anders als ich und das gilt es zu respektieren.

John schaute seine Mutter an. Die Erkrankung ihres Mannes belastete sie sicherlich sehr, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Sie schienen eine gute Ehe geführt zu haben, zumindest hatte er diesen Eindruck. Peter Chambers war auch für seine Kinder ein liebevoller Vater gewesen und nahm auch jetzt noch Anteil an ihrem Leben. John realisierte, dass sich nicht nur sein Leben verändern würde. Und dass seine Rückkehr nach New York sich wohl anders gestalten würde als ursprünglich vermutet.

John arbeitete gerne in seinem Beruf und diese Tätigkeit hatte es ihm auch ermöglicht, Wertschätzung für das zu erhalten, was er selber erreichte. Das war doch etwas anderes als einfach nur der Sohn zu sein. Und trotz aller nicht unbedeutenden finanziellen Ressourcen, über welche die Familie verfügte, hatte er sein Leben bisher größtenteils ohne Zugriff auf diese gelebt und gestaltet. Er hatte es zu finanzieller Unabhängigkeit gebracht und verfügte über ein gewisses Polster. Im Gegensatz zu seiner Schwester wollte er keinen monatlichen Scheck.

Seine Eltern hatten bei der Erziehung ihrer Kinder stets darauf geachtet, dass diese nicht zu sehr verwöhnt wurden und sich auch gegenüber weniger vermögenden Personen respektvoll und anständig verhielten. Das war ihr dem Anschein nach bei beiden Kindern gut gelungen, auch wenn sie völlig unterschiedliche Charaktere hatten. Beide hatten studiert, aber Mary hatte noch nie eine Affinität zur Firma gehabt. Und nun lebte sie im fernen Kalifornien. Er wusste nicht einmal, was sie genau tat, sie hatten wenig Kontakt.

„Wo übernachtest du?“, fragte ihn Anne.

„Im Intercontinental Barclay.“

„Und was ist mit deiner Wohnung?“

„Die wird noch umgebaut. Eigentlich hatte ich vorgehabt, sie zu verkaufen.“

„Wieso, brauchst du Geld?“

„Nein, aber ich dachte, ich würde sie nicht mehr brauchen.“

Er hatte ein ziemlich gutes Angebot für das Loft an der Brome Street erhalten. Und sich bereits nach Ersatz umgeschaut. Aber nun würde er das Angebot wohl ablehnen müssen.

„Wir fahren übrigens am Freitag in die Hamptons und bleiben einige Wochen dort. Wenn du Zeit hast, komm uns doch besuchen.“

„Wenn es sich einrichten lässt, gerne.“ Er erwähnte, dass er am Samstag bei Freunden zu Gast sei.

„Du kannst auch bei uns übernachten.“

„Ist nicht ganz so einfach, ich reise nicht alleine.“

Sie registrierte das mit Interesse, fragte aber nicht nach. Er wusste schon, was er tat.

„Wenn du willst, kannst du auch jemanden mitbringen. Das Gästezimmer ist ja frei.“

„Okay, wenn euch das nicht stört, dann gerne.“ Ein Wochenende am Meer wird mir guttun. Und ihr wird es sicher auch gefallen.

„Kann ich Vater sehen?“

„Er schläft, komm doch morgen wieder vorbei.“

John verabschiedete sich von seiner Mutter. Vor dem Gebäude wartete bereits der Wagen und fuhr ihn nach Tribeca.

Er war spät dran, aber sein Gastgeber war sicherlich in guter Gesellschaft. Robert und er kannten sich vom gemeinsamen Studium. Beide waren im Schwimmteam der Uni gewesen und hatten wesentlich zu den Erfolgen an diversen Meisterschaften beigetragen. Nach dem Abschluss war Robert in Kalifornien geblieben und hatte bei einem Internet-Unternehmen angeheuert. Ein naheliegender Entscheid, lag das Silicon Valley doch in immittelbarer Nähe zu Stanford. Und gute Rechtsberater wurden auch in dieser Branche gesucht. Die Firma hatte sich über die Jahre hinweg zu einem riesigen Konzern entwickelt und war zu einem Schwergewicht an der New Yorker Börse geworden. Aber irgendwann hatte Robert genug gehabt von der Krake, wie er das Unternehmen nannte. Und ihr den Rücken gekehrt. Dank der Aktienoptionen hatte er die Firma als reicher Mann verlassen. Und nun machte er sein eigenes Ding. Und war als Business Angel tätig.

Sie trafen sich in einem angesagten Restaurant an der Duane Street. Tribeca und SoHo hatten sich während all der Jahre enorm entwickelt und ziemlich verändert. Die alte Bausubstanz war noch immer vorhanden, zumindest optisch, wurde aber wohl völlig entkernt und behutsam renoviert und erneuert. Auch das Restaurant lag in einem dieser älteren Gebäude, von welchen es in diesem Stadtteil sehr viele gab. Die Bauweise war zwar identisch, aber trotzdem sah dieses Viertel nicht monoton und langweilig aus. Überragt wurde das Ganze von einem ziemlich monströsen Neubau eines Schweizer Stararchitekten. Der passte irgendwie nicht hier hin, aber man würde sich an ihn gewöhnen. John war inzwischen hungrig und etwas Abwechslung würde ihm nach dem Gespräch mit seiner Mutter sicher nicht schaden.

Das Boule war nicht nur für seine exquisite französische Küche, sondern auch für seinen hervorragend dotierten Weinkeller bekannt. Kritiker schwärmten von diesem Restaurant und als John eintraf, verstand er gleich, weshalb die Kritiken so positiv ausfielen. Zumindest was die Lokalität anging. Außerdem, oder vielleicht gerade wegen der guten Bewertungen, war der Laden gerammelt voll. Die Frage war bloß, ob dieser Erfolg nachhaltig war. In New York keine einfache Angelegenheit.

Robert und seine Begleitung saßen an einem Tisch im hinteren Teil des Restaurants, weit entfernt von der Bar. Als John sich dem Tisch näherte, erkannte er eine der Frauen. Er ging auf Sylvia zu. Die Schwedin begrüßte ihn herzlich. Sylvia sieht wieder umwerfend aus. Was für eine tolle Frau.

Er mochte die Frau seines Freundes. Ganz besonders ihre Herzlichkeit. Sie strahlte eine gewisse Wärme aus und war die perfekte Gastgeberin. Und nicht nur das. Auch für ihn war sie eine gute Gesprächspartnerin. Für all jene Dinge, die ein Mann nicht mit einem Freund besprach.

Drei Frauen und zwei Männer, kein ausgewogenes Verhältnis, dachte er. Sylvia stellte ihm die zwei Frauen vor. Lauren, die Jüngere, erschien ihm ziemlich attraktiv. Er schätzte sie auf knapp Dreißig. Heather schien etwas älter zu sein, was John alleine aufgrund des Kleidungsstils vermutete. Wahrscheinlich ein Mitglied der sogenannten besseren Gesellschaft New Yorks. Auch nicht unattraktiv, aber nicht sein Stil. Blondes Haar, aber er nahm an, dass die Haarfarbe genau so wenig natürlich war wie ihre Gesichtszüge. Plastische Chirurgie hinterlässt immer Spuren.

Lauren kam aus Texas. Sie war ihm auf Anhieb sympathisch. Brünett, sehr mitteilungsfreudig und lebhaft. Auch sie hatte ein Start-up gegründet. Er hörte aufmerksam zu, während sie ihm ihre Geschäftsidee erläuterte. Es ging um eine Art Mietwagen für Genossenschaftsmitglieder, alleine die Bezeichnung Genossenschaft passte weder zu Texas noch zu New York. Aber ganz unsinnig klang das nicht. John wusste zwar nicht, ob ihr Konzept Erfolg haben würde, aber zumindest erschien es ihm wie auf New York zugeschnitten. Viele Einwohner dieser Stadt besaßen kein eigenes Fahrzeug, wofür es mehrere Gründe gab. Die chronische Verstopfung der Straßen, der erschwingliche und gut funktionierende öffentliche Nahverkehr und der Mangel und die prohibitiven Kosten für Parkplätze. Mehr als ihr Konzept interessierte ihn jedoch die Person. Netter Akzent.

Während sie sprach, strahlten ihre Augen und ihre Hände sprachen irgendwie mit. Italienische Wurzeln? Sie mag, was sie tut. Lauren erzählte mit Begeisterung und Elan von ihrem Projekt. John bekundete auf einmal etwas Mühe, ihren Ausführungen zu folgen, irgendwie war er abgelenkt. Er kannte das Gefühl.

Lauren’s Business lief noch schleppend, aber sie war zuversichtlich, dass sich das Modell mit etwas mehr Visibilität gut entwickeln würde. Robert schien Lauren’s Ausführungen ebenfalls gelauscht zu haben, wahrscheinlich war das auch der Grund für ihre Anwesenheit am heutigen Abend. Nach einem längeren intensiven Austausch mit Lauren wandte sich John schließlich Heather zu.

Er schätzte sie auf knapp 50 und fand im Gespräch rasch heraus, dass sie auch eine Art Unternehmerin zu sein schien. Aber mehr in eigener Sache. Während sie über sich sprach, betrachtete er ihr Gesicht und versuchte zu ergründen, was dort gemacht worden und was noch von dem ursprünglich durch die Natur erschaffenen vorhanden war. Die Lippen sind aufgespritzt. Die Nase ist nicht original. Und die Stirn… Botox.

Heather sprach hauptsächlich über ihre Bedürfnisse und Erwartungen. Und für John’s Geschmack redete sie zu laut. Am meisten missfiel ihm ihr Lachen. Laut, aufgesetzt und künstlich. Grauenhaft! So was von Stimmungskiller.

Sie drängte sich förmlich in den Vordergrund und so erfuhr er, was ihr Geschäftsmodell war. Nicht dass sie es offen sagte, aber er konnte es sich zusammenreimen. Sie war also auch in der Sharing Economy tätig, interpretierte dies jedoch etwas anders. Bei Heather bedeutete Teilen, dass sie sich mit ihren Ex-Männem deren Vermögen teilte. Nicht wirklich überraschend in dieser Stadt. Aber für ihn völlig uninteressant.

Wie es schien, bestand aktuell akuter Bedarf nach einem neuen Mann, da Nummer Drei nicht mehr so zahlungskräftig oder zumindest liquide war. Sie schien folglich auf der Suche nach Nummer Vier zu sein und sprach ganz offen darüber, dass sie mit den monatlichen Zahlungen im Umfang von fünfundzwanzig Tausend Dollar kaum über die Runden kam.

„New York ist wirklich ein sehr teures Pflaster“, warf Sylvia ein. Sie meinte das nicht ernst, sie war beinahe schon zynisch.

Die anderen saßen schweigend am Tisch und hörten zu. Robert lächelte süffisant, von dieser Art Frauen gab es in der Stadt schließlich nicht wenige. Da hatte er mit seiner Sylvia doch Glück gehabt. Und John sagte nichts. Er beschloss, nicht nachzufragen, wie ihr die ersten beiden Ehemänner abhandengekommen waren. Aber er hoffte doch, dass sie noch unter den Lebenden weilten. Heather war so etwas von durchschaubar und todlangweilig, dass dies durchaus der Grund für ein Ableben eines ihrer früheren Gatten hätte sein können. Langeweile ist ein Mordmotiv! Aber wahrscheinlich wohl noch eher der Grund für die meisten Scheidungen. Irgendwie erschien sie ihm hier fehl am Platz, aber vielleicht war er es einfach.

Ohne Umschweife fragte sie John, ob er verheiratet sei. Sylvia und Robert blickten sich schweigend an. Sie kannten die Antwort.

„Ja, war ich. Einmal. Ist aber schon etwas her“, antwortete John.

„Nur einmal geschieden, das ist in dieser Stadt ja eine Seltenheit,“ hakte Heather fröhlich nach.

Sylvia schloss kurz die Augen. Es war ihr peinlich.

„Ich bin nicht geschieden. Ich bin verwitwet.“

Jetzt wurde es ruhig am Tisch. Alle schwiegen. Lauren schaute John an. Seine Frau muss noch recht jung gewesen sein.

Nach einem Sekundenbruchteil reagierte Sylvia und sprach ein anderes Thema an. Eines, welches nicht nur die Stadt beschäftigte, sondern die ganze Nation. Oder gar die ganze Welt. Wenn man den Medien Glauben schenkte.

MeToo. Darüber konnten alle sprechen, sogar die Männer. Einigkeit herrschte jedoch nicht, es wurde durchaus kontrovers diskutiert. Für Lauren schien das Thema übertrieben zu sein. Für Heather nicht.

„Habt Ihr von den neusten Vorwürfen an den Schauspieler gehört?“, fragte sie und berichtete der Tafelrunde, was sie gelesen hatte. Sie war empört. Die typische New Yorker Empörung. Man hatte keine Ahnung von den Fakten, nahm Medienberichte für bare Münze, lästerte aber gleich munter drauf los. Lauren’s Kommentar fiel wohltuend gemäßigt aus. Oder eher überraschend. Das lag wohl auch an ihrer Herkunft. Auch wenn es ein Vorurteil zu sein schien: Während sich die New Yorker über alles und jeden empören konnten, nahmen die Texaner das gelassener.

„Ich habe meine Zweifel an dieser Geschichte“, sagte sie. „Der Junge ist in einer Bar, 18 Jahre alt, gibt sich für älter aus und trinkt mit einem für seine sexuellen Neigungen bekannten Schauspieler Alkohol. Anschließend verlässt er die Bar, weint sich bei seiner Mutter aus und behauptet, der Schauspieler hätte ihn an die Eier gegriffen“.

Ups, das war mal eine direkte Ansage! Die beiden Männer mussten grinsen. Während Heather’s Gesichtsausdruck eher Unverständnis über eine derart grobe Ausdrucksweise erkennen ließ.

„Wäre ich ein Mann“ fuhr Lauren fort, „und mir würde ein anderer Mann in den Schritt greifen, dann hätte ich ihm eine gehauen. Und als Frau würde ich das übrigens auch tim.“ Sie zeigte ihre rechte Faust und machte klar, wie sie das verstand. Sehr direkt. Das gefiel John.

Nun sprach Heather John an. „Wie siehst du das?“.

John verspürte wenig Lust, sich dazu zu äußern, dieses Thema interessierte ihn nicht. Zudem war das ein Thema, welches Anwälte beschäftigte. Auf allen Ebenen. Auch ihn. Wegen dieser hysterischen Stimmungsmache war es Männern im geschäftlichen Alltag beinahe unmöglich geworden, einen normalen Umgang mit Frauen zu pflegen. In Europa war das noch anders, da man dort nicht so einfach klagen konnte und vor allem die Anwaltskosten meist nicht erfolgsabhängig waren wie in den USA. Trotzdem war das Thema auch auf Großbritannien übergeschwappt und das empfand John als mühsam.

„Ich bin Anwalt, und ich denke, die Justiz soll diese Fragen klären“ meinte er. „Es gibt einen Vorwurf, es wurde Anzeige erstattet und wie es scheint, wird es nun zu einer Gerichtsverhandlung kommen. Soweit ist das okay. Aber bei allem Verständnis für mögliche Opfer sexueller Belästigung, denke ich, dass hier auch Schindluder betrieben wird, was den wahren Opfern schadet. Und ich betrachte noch jeden Beschuldigten bis zu einer Verurteilung als unschuldig“.

Schließlich sei es im heutigen medialen und politischen Umfeld, der Empörungshysterie und dank der asozialen Medien, wie er sie nannte, nicht schwierig, eine Karriere, einen Ruf oder das Leben eines Menschen zu ruinieren, ohne dass die Vorwürfe erwiesen oder belegt wären. Seine Antwort schien Heather nicht zu gefallen, aber das belastete ihn nicht. Genau wegen solchen Menschen mochte er diese Stadt nicht. Ihre Bewohner waren zu hysterisch, zu oberflächlich und sie bildeten sich schnell eine Meinung, welche sie am nächsten Tag entweder wieder vergessen hatten oder einfach verwarfen. So war das ständig hier in den USA und John hatte nicht vor, bei dieser Hysterie mitzutun.

Sylvia lenkte das Gespräch auf das kommende Wochenende und die in ihrem Haus anstehende Party. Alle hier anwesenden würden sich in den Hamptons sehen. Sylvia ging die Gästeliste durch und es schien so, als sei es ein geschäftlicher Anlass. Für Lauren war es also naheliegend, daran teilzunehmen. Sie befand sie sich auf der Suche nach Investoren für ihr Projekt. An Heather gerichtet meine Sylvia, es kämen auch einige der besten Partien der Stadt. Somit war klar, weshalb sie kommen würde. Nachdem die Nachspeise serviert war, flachten die Gespräche ab. John wandte sich wieder Lauren zu.

„Ich fliege am Mittwoch zurück nach Austin, komme aber am Freitag wieder nach New York“, erzählte sie.

Die beiden verstanden sich gut. Sie wechselten von der geschäftlichen Ebene auf die gesellschaftliche und dann auf die persönliche. London und Texas lagen sich heute etwas näher.

Gegen Mitternacht entschloss sich John zum Aufbruch. Er war müde. Er bat die Bedienung, ihm ein Taxi zu rufen. Lauren schlug vor, sich dieses zu teilen, sie wohne auch gleich um die Ecke. Das Taxi war nach zwei Minuten bereits da, sie verabschiedeten sich von der interessanten Abendrunde und machten sich auf den Weg ins Hotel. Auf der Fahrt fragte Lauren, ob John noch Lust auf einen Drink hätte. Er hatte, und die Bar seines Hotels bot sich dafür sehr gut an. Seine Müdigkeit war wie verflogen, das anregende Gespräch machte ihn wieder munter. Wie sich herausstellte, wohnte sie nicht gleich um die Ecke. Er hatte das vermutet, denn wer wohnte schon in dieser Gegend. Außer man konnte sich die teuren Hotels und die sündhaft teuren Apartments leisten. Gegen zwei Uhr morgens rief sie sich ein Taxi, welches sie zu ihrem Hotel brachte.

Während John den Abend in guter Gesellschaft verbracht hatte, war Anika nun alleine zu Hause. Das war anders geplant gewesen. Sie hatte etwas Feines gekocht und eine schöne Flasche Rotwein aufgemacht. Alles war vorbereitet gewesen für einen Abend mit Christopher. Aber der kam zu spät. Viel zu spät. Das Essen war verkocht, die Laune hinüber. Der Blödmann hätte sich wenigstens bei mir melden können. Aber nein, hängt er einfach im Pub herum!

Und sie hatten sich gestritten. Heftig. Wegen ihrer Reise nach New York. Dieser arrogante Sack. So ein Egoist! Und dann will er noch ins Bett?

Der von ihm angestrebte Versöhnungssex war ausgefallen. Wie kann man nur so blöd sein zu glauben, dass ich nach so einer Respektlosigkeit mit ihm ins Bett steige?

Sie war so erbost, dass sie ihn aus der Wohnung geworfen hatte. Nun saß sie alleine mit einem Glas Wein auf dem Sofa. Und war richtig sauer. Auf die beiden Männer, die in ihrem Leben eine Rolle spielten. Auf jenen, den sie gerade aus ihrer Wohnung geworfen hatte. Und auf den anderen, den sie mochte, der ihr gefiel, der aber keinerlei Anstalten machte, sich ihr zu nähern. Der nicht bemerkt hatte, wie sehr sie sich für ihn interessierte. Sie kam zur Überzeugung, dass es nun Zeit für eine Veränderung sei. Und zum Handeln.