Über das Buch:
Franklin, Tennessee, 1863: Das Leben macht es Aletta Prescott nicht gerade leicht: Nachdem ihr Mann im Bürgerkrieg gefallen ist, verliert die schwangere Witwe nun auch noch ihre Arbeitsstelle als Näherin. Wie soll sie jetzt für sich und ihren ungestümen kleinen Sohn sorgen?
Als sie hört, dass im Herrenhaus von Carnton eine Köchin gesucht wird, macht sie sich sofort auf den Weg dorthin. Aletta kann nicht ahnen, welche Überraschungen auf sie warten. Und dass die nahende Weihnachtszeit ein ganz besonderes Geschenk für sie bereithält.
Über die Autorin:
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.
Kapitel 7
Jake stand auf einer Seite der Eingangshalle, während eine Abordnung von Frauen das Haus verließ. Sie unterhielten sich angeregt über einen bevorstehenden Wintersturm und bedauerten es lautstark, dass sie eine Kartoffelsuppe verpassten. Eine beschwerte sich sogar, dass es keinen Brotpudding gegeben hatte. Was für einen Auftrag hatte Oberst Stratton ihm da eingebrockt, dachte er zynisch.
Er betrachtete die schöne Eingangshalle: den teuer aussehenden Teppich mit Diamantmuster aus Cremeweiß und Schwarz, die geschwungene Treppe, deren Stufen mit Teppich überzogen waren, den schönen Türbogen, der dem Raum eine freundliche Note verlieh, und die tapezierten Wände. Hier wohnte unübersehbar eine wohlhabende Familie, der es auch im Krieg anscheinend ganz gut ging. Schließlich kam seine Gastgeberin auf ihn zu. Er hatte sie nur kurz begrüßt, bevor der Massenexodus begonnen hatte.
Er verbeugte sich noch einmal leicht vor ihr. »Mrs Oberst John McGavock, ich nehme an, das war die Women’s Relief Society?«
»Oh, meine Güte, nein, Hauptmann Winston. Das war nur der Vorstand. Unsere Gesellschaft hat weit über 200 Mitglieder.«
Im Geiste sah er Oberst Stratton hämisch grinsen.
»Wir alle, aber besonders der Vorstand, sind General Bragg sehr dankbar, dass er uns Ihre Dienste für unsere Veranstaltung zur Verfügung stellt. Unser Ziel ist es natürlich, Geld für den Krieg zusammenzubringen. Außerdem wollen wir die Moral der kämpfenden Männer und auch die Moral ihrer Familien, die sehnsüchtig auf ihre Rückkehr warten, stärken. Das ist uns besonders wichtig.«
»Ich kann Ihnen versichern, Ma’am, dass es die Männer auch nicht erwarten können, nach Hause zu kommen. Siegreich natürlich.«
Ihr Lächeln wurde ein wenig schwächer. »Natürlich, Hauptmann Winston. Das hoffen wir alle. Aber in den Herzen und Köpfen der Frauen und Kinder ist es vor allem wichtig, dass sie zurückkommen. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen.«
Sie führte ihn durch eine Tür auf der linken Seite in einen Salon. Er wartete, bis sie Platz genommen hatte. Dann setzte er sich ebenfalls.
»Möchten Sie eine Tasse Tee, Hauptmann Winston?«
»Ja, gerne.« Es war so lange her, seit man Jake das letzte Mal diese Frage gestellt und er sich in einer so zivilisierten Umgebung aufgehalten hatte, dass sich die zarte, pastellfarbene Porzellantasse und Untertasse in seiner Hand ungewohnt anfühlten. »Danke, Ma’am.«
Der Tee war heiß und stark, wie er ihn mochte, und er roch leicht nach Gewürznelken und Zimt, ein Geschmack, den er fast vergessen hatte. Das verstärkte den Genuss noch mehr.
»Mein Mann, Oberst McGavock, ist im Moment auf der Farm beschäftigt, Herr Hauptmann. Aber er freut sich auch darauf, Sie kennenzulernen. Deshalb hoffe ich, dass Sie uns heute Abend beim Essen Gesellschaft leisten. Sie sind natürlich jeden Abend herzlich zum Essen eingeladen, solange Sie auf Carnton sind. Dabei können Sie auch unsere Kinder kennenlernen. Hattie ist unsere Älteste und Winder ist ihr jüngerer Bruder.«
»Das ist sehr freundlich. Danke, Mrs McGavock.«
Er hörte ihr zu und nickte, während sie ihm ihre Erwartungen und Ziele für die Auktion und seine entsprechenden Pflichten darlegte. Sie liefen im Grunde auf das hinaus, was Oberst Stratton gesagt hatte: Er sollte alles tun, was Mrs Oberst John McGavock von ihm verlangte.
»Auch wenn ich sehr dankbar bin, dass Sie hier sind, Hauptmann Winston, ist mir sehr wohl bewusst, dass Sie verwundet sind und sich schonen müssen. Ich verlasse mich darauf, dass Sie Ihre Grenzen erkennen und mir offen mitteilen, wenn Sie eine Pause brauchen. Ich bin dafür bekannt, dass ich von anderen sehr viel verlange.« Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Aber ich verlange von anderen nicht mehr als von mir selbst.«
Jake nickte und nahm ihr dieses Geständnis sofort ab.
»Apropos«, sprach sie weiter. »Sind Sie sicher, dass Sie Mrs Prescott bei ihrem Projekt helfen können? Sie hat mir gesagt, dass Sie so großzügig waren und sich bereit erklärt haben, ihr zu helfen.«
»Oh, ja, Ma’am. Ich helfe gerne bei der Krippe.«
»Das freut mich. Das Geld, das wir bei unserer Auktion einnehmen, wird direkt für die Soldaten verwendet. Ein Teil davon soll ausdrücklich den Verwundeten zugutekommen. Ein Mann, der für sein Land gekämpft hat und deshalb schwere Herausforderungen bewältigen muss, sollte so viel Hilfe wie möglich bekommen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs McGavock.«
»Dann hätten wir das Wichtigste geklärt.« Sie stand auf. »Wenn Sie Ihren Tee getrunken haben, führe ich Sie jetzt in die Küche. Tempy, Carntons Chefköchin, wird Ihnen zeigen, wo Sie wohnen, solange Sie hier sind. Hat Ihr Vorgesetzter Sie zufällig davon in Kenntnis gesetzt?«
Er stellte seine leere Tasse und Untertasse auf das Silbertablett und folgte ihr über den Flur in einen Raum, der anscheinend ein Büro war. »Nein, Ma’am, das hat er nicht. Aber ich nehme an, im Stall. Das ist in Ordnung.«
»Oh, meine Güte! Nein, Hauptmann Winston. Wir haben etwas viel Besseres für Sie.« Sie blieb stehen. »Wir haben für Sie eine Hütte. Zugegeben, sie gehört zu den Sklavenunterkünften. Aber es ist mit Abstand die schönste. Sie ist aus Stein gebaut und steht direkt hinter der Küche und der Räucherkammer, in der die Haussklaven wohnten. Sie haben diese Hütte für sich, Herr Hauptmann. Falls Sie etwas brauchen, sagen Sie es bitte Tempy.«
Jake nickte. »Danke, Ma’am.«
»Entschuldigen Sie, dass wir Sie nicht in unserem Haus unterbringen können. Aber meine liebe Mutter wird uns bald besuchen, und auch eine Cousine. Das Gästezimmer wird also belegt sein.«
»Ich bin mit der Hütte mehr als zufrieden, Ma’am. Danke. War eigentlich schon Schlachttag auf Carnton?«
»Nein, noch nicht. Ich glaube, mein Mann plant ihn in den nächsten zwei Wochen.«
»Ich habe auf unserer Farm in South Carolina viele Schweine geschlachtet. Jeden Winter, seit ich ein Junge war. Ich kann gerne helfen, wenn Sie möchten.«
Ihre Augen strahlten auf. »Der Oberst wird sich über Ihre Hilfe bestimmt freuen, Herr Hauptmann. Genauso wie die anderen Plantagenbesitzer haben wir alle unsere Sklaven in den Süden geschickt. Bis auf Tempy, die Chefköchin, die ich erwähnt habe. Wir sind also über jede Hand, die mit anpackt, dankbar.« Sie ging weiter zu einem Türrahmen, der zu einem Treppenhaus führte. »Was ich Sie schon längst fragen wollte, Herr Hauptmann: Haben Sie heute schon zu Mittag gegessen?«
»Nein, Ma’am, noch nicht.«
»Dann werden wir das sofort ändern. Tempy ist die beste Köchin in ganz Tennessee. Sie ist seit Jahren bei uns. Und sie hat bestimmt etwas, das Ihnen …«
»Ich muss darauf bestehen, dass meine Arbeitstische sauber geschrubbt sind!« Eine schneidende Frauenstimme war vom Treppenhaus aus zu hören. »Und wir müssen einen Tisch haben, auf dem nur der Teig bearbeitet wird. Das ist ein absolutes Muss. Jede erfahrene Köchin weiß das. Der hier wird genügen.« Ein klopfendes Geräusch folgte. »Natürlich muss er vorher sauber geputzt werden. Kümmere dich sofort darum! Dieser Tisch wird für keine anderen Lebensmittel benutzt! Verstanden?«
»Ja, Ma’am«, kam eine leise Stimme.
»Ja, Ma’am?«
»Ja, Ma’am … Chef Boudreaux.«
Mrs McGavock atmete tief aus und ihre Miene verfinsterte sich. Sie ging die wenigen Treppenstufen hinunter. Jake folgte ihr und war gespannt, was gleich kommen würde.
»Miss Boudreaux.« Mrs McGavocks Stimme war höflich, enthielt aber plötzlich eine deutliche Schärfe. »Ich gehe davon aus, dass Sie sich in Tempys Küche zurechtfinden?«
Jake entging nicht, dass Mrs McGavock klarstellte, wem diese Küche gehörte. Und er bemerkte auch die kleine schwarze Frau, die er vor einer Weile an der Tür gesehen hatte und die jetzt den Blick gesenkt hatte. Aber die junge Frau, die sich in diesem Moment zu ihnen umdrehte, war ihm neu.
Ihre weißblonden Locken waren hochgesteckt und ihre Hände zu Fäusten geballt. Sie lächelte und ihre Miene verlor etwas von ihrer Strenge. Jedoch war das Feuer in ihren Augen und in ihrer Haltung, die deutlich ihr Missfallen verkündeten, nicht zu übersehen.
»Ja, Mrs McGavock. Allerdings habe ich die Arbeitsbedingungen deutlich … rustikaler vorgefunden, als man mich glauben ließ. Aber ich bin sicher, dass ich trotzdem hier arbeiten kann. Immerhin …«
Sie warf Jake einen koketten, verführerischen Blick zu, der allerdings seine Wirkung verfehlte.
»… bin ich Katharina Boudreaux, professionelle Konditormeisterin, die ihr Können in Paris erworben hat.«
Mrs McGavock lächelte, aber Jake spürte das bedrohliche Knistern, das in der Luft lag. Es war ähnlich wie in den Momenten, bevor eine Schlacht begann.
»Ja, Miss Boudreaux, ich habe von Ihrem eindrucksvollen beruflichen Werdegang gehört. Mrs Tyler hat ihn dem Vorstand ausführlich dargelegt, als sie darauf bestand, dass wir Sie einstellen. Aber Mrs Tyler hat nicht erwähnt, dass Sie eine Beschäftigte in diesem Haus, die unser vollstes Vertrauen und unsere hohe Wertschätzung genießt, beleidigen. Sie hat auch nicht gesagt, dass Sie mein Haus kritisieren würden. Ein Haus, in dem Sie – wenn auch nur sehr kurz – Gast und Angestellte waren. Tempy, bitte hol die Koffer von Miss Boudreaux. Miss Boudreaux, falls Ihre Kutsche schon wieder abgefahren ist, leihen wir Ihnen gern eine von unseren. Vorausgesetzt, sie genügt Ihren Ansprüchen.«
Die Frau starrte sie mit offenem Mund an. Jakes Blick wanderte zwischen den zwei Frauen hin und her. Diese Mrs Oberst John McGavock gefiel ihm immer besser und er war überzeugt, dass sie sich diesen Titel verdient hatte.
Miss Boudreaux schnaubte. »Ich wurde noch nie dazu aufgefordert zu gehen!«
»Es gibt immer ein erstes Mal. Wenn meine Kinder stolpern und hinfallen, sage ich immer: Lerne aus dieser Erfahrung. Merk dir diese Lektion und vergiss nicht, wie weh sie getan hat. Dann wirst du den gleichen Fehler nicht wieder machen. Ich bringe Sie jetzt zur Tür.«
Die kleine schwarze Frau ging mit einem leichten Lächeln auf den Lippen an Jake vorbei. Jake wandte sich an Mrs McGavock. »Ich helfe ihr bei den Koffern, Ma’am.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Hauptmann.«
Wenige Minuten später stand Jake neben Mrs McGavock und Tempy an der offenen Haustür. Sie schauten zu, wie die Räder der Kutsche von Konditormeisterin Boudreaux auf der vereisten Straße in Richtung Stadt davonrollten.
Er schmunzelte. »Und ich dachte, wenn ich hierherkomme, lasse ich die Kriegsfront hinter mir.«
Mrs McGavock lachte. »Das Leben ist zu kurz. Wir sollten unsere Tage nicht freiwillig in der Gesellschaft von Menschen verbringen, die es nicht lassen können, uns zu sagen, wie viel besser sie sind als alle anderen.«
»Amen dazu«, flüsterte Tempy, was für noch mehr Belustigung sorgte. »Kommen Sie jetzt mit mir in die Küche, Hauptmann Winston. Ich gebe Ihnen eine Kartoffelsuppe. Die wird Sie aufwärmen. Und mögen Sie Butterkekse?«
* * *
Als Jake am Abend in seiner Hütte war, strich er über sein glattes Kinn. Ohne seinen Bart fühlte sich sein Gesicht ganz kalt an.
»Meine Güte«, hatte Tempy gesagt, als er zum Abendessen rasiert erschienen war. »Eine Rasierklinge kann ja wahre Wunder wirken!«
Er erinnerte sich an das fröhliche Funkeln in ihren Augen und lächelte, während er mehr Holz in den Ofen legte. Aber trotzdem zog der Kamin nicht richtig. Er nahm sich vor, das morgen zu kontrollieren, und begnügte sich für heute mit der wenigen Wärme, die der Ofen abgab. Er schlüpfte ins Bett – eine saubere Matratze, die mit frischem Stroh gefüllt war – und zog die Decke hoch. Wie lang war es her, seit er das letzte Mal in einem so schönen Bett geschlafen hatte?
Seit fast zwei Jahren hatte er nur seinen Schlafsack und ein Stück Erde als Bett gehabt. Eine Hütte mit einem Dach über dem Kopf und ein Feuer im Ofen empfand er als großen Luxus. Dieser Luxus fühlte sich fast falsch an, wenn er an seine Kameraden dachte, die ihr Lager in der eisigen Kälte und im Schnee aufgeschlagen hatten.
Die Hütte hatte unten und oben jeweils zwei Zimmer und wurde mit Ausnahme dieses Raumes als Lager benutzt. Sie war sauber, aber er konnte es nicht erwarten, einiges zu reparieren. Die Haustür klemmte und musste abgehobelt werden. An einigen Stellen um die Fenster bröckelte der Putz und kalte Luft drang herein. Diese Stellen wollte er unbedingt abdichten. Der Kamin stand bereits auf seiner Liste. Schließlich wäre er einen guten Monat hier, ob ihm das nun gefiel oder nicht. Und er hatte gelernt, dass er jeden Ort in einem besseren Zustand hinterlassen sollte, als er ihn vorgefunden hatte.
Die Flamme in der Petroleumlampe flackerte auf und warf unruhige Schatten an die Wände, an denen die Dunkelheit mit dem Licht Verstecken spielte. Er dachte über die Sklaven nach, die jahrelang in dieser Hütte gelebt hatten. Mrs McGavock hatte gesagt, dass sie in den Süden geschickt worden waren. Je nachdem, wer diesen Krieg gewann, würden sie wieder zurückkommen oder auch nicht.
Aber er kämpfte nicht in diesem Krieg, damit die Schwarzen auch weiterhin Sklaven blieben. Wenn es nach ihm ginge, würde er sie alle befreien. Ein freier Mensch arbeitete fleißiger und leistete einen größeren Beitrag für die Gesellschaft als ein Sklave. Er hatte in seinem Leben genug Schwarze kennengelernt, um zu wissen, dass sie sich von den Weißen nicht allzu sehr unterschieden. Es gab gute und es gab schlechte Menschen, egal, ob ihre Hautfarbe dunkel oder hell war. Was wirklich zählte, war, wie es im Inneren eines Menschen aussah.
Beim Abendessen hatte er Oberst McGavock kennengelernt. Er fand den Mann sehr beeindruckend. Er passte gut zu Oberst Carrie, wie er Mrs McGavock im Stillen nannte, seit er heute Abend ihren Vornamen erfahren hatte. Dieser Name klang gut, fand er, auch wenn er es nie wagen würde, ihn laut auszusprechen. Auch die Kinder der McGavocks hatte er kennengelernt. Ein Mädchen, Hattie, schätzungweise ungefähr acht, und der kleine Junge, Winder, den er schon mit Andrew draußen hatte herumlaufen sehen.
Als er sich vorbeugte, um die Lampe zu löschen, ging ihm wieder ein Bild von heute Mittag durch den Kopf. Deshalb nahm er seinen Notizblock und seinen Stift zur Hand und ließ die Lampe noch brennen. Er setzte sich auf, schob sich das Kissen in den Rücken und schlug eine leere Seite auf, fest entschlossen, das bekannte Ziehen in seiner linken Schulter zu ignorieren. Das Notizbuch war schon fast voll. Er müsste sich bald ein neues in der Stadt besorgen.
Für einen Moment schloss er die Augen, und das Bild, wie Andrew zu seiner Mutter aufgeblickt hatte, kehrte mit deutlicher Klarheit zurück. Die Zuneigung in den Augen des Jungen, obwohl er innerlich damit rang, dass seine Mutter es wirklich gut meinte.
Das Gesicht des Jungen nahm auf dem Papier allmählich Gestalt an. Jake hielt immer wieder inne und wartete geduldig, bis das Bild in seinem Gedächtnis lebendig wurde und klare Konturen bekam. Er rieb sich die Augen. Dann bückte er sich und holte aus seinem Tornister seine Brille. Als er sie aufgesetzt hatte, wurden die Linien sofort klarer und schärfer.
Er war mit der Zeichnung kaum fertig, als ihm das nächste Bild in den Sinn kam. Er blätterte die Seite um. Aber ihr Gesicht konnte er nicht so deutlich vor sich sehen. Nur ihre Augen. Er erinnerte sich an ihre Augen und zeichnete sie, als sie zu ihm aufgeblickt hatte. In ihrer Miene hatte eine tiefe Traurigkeit gelegen, auch als sie gelächelt hatte. An ihr Lächeln erinnerte er sich auch ganz genau.
Plötzlich merkte er, was er hier machte, und hielt inne. Mrs Warren Prescott. Einen Moment lang betrachtete er diese ausdrucksstarken Augen, dann klappte er den Notizblock zu und löschte die Lampe.
Der Schein des Feuers tauchte den Raum in ein warmes Orangerot. Während die Minuten still vergingen, regte sich das gleiche ungebetene Ziehen erneut in ihm.
Er war 28. Geheiratet hatte er nie, auch nie Kinder gehabt. Und er hatte, wenigstens am Anfang, akzeptiert, dass er in diesem Krieg wahrscheinlich sterben würde. Deshalb war er irgendwann zu der Überzeugung gekommen, dass es am besten war, wenn zu Hause niemand auf ihn wartete. Es war sogar gut, dass er noch nicht einmal ein Zuhause hatte.
Aber als aus Wochen Monate geworden waren und er die vielen Schlachten lange Zeit unbeschadet überstanden hatte, war in ihm die Hoffnung aufgekeimt, dass er den Krieg vielleicht doch überleben könnte. Natürlich war er nicht unbesiegbar, wie Oberst Stratton gesagt hatte und wie sein derzeitiger Zustand es bestätigte. Aber vielleicht würde er eines Tages das haben können, was seine Eltern gehabt hatten.
Diese Hoffnung hatte jedoch auch etwas Gefährliches. Es war mit Risiken verbunden, einem anderen Menschen einen Teil seines Herzens zu schenken. Das hatte er heute erlebt. Bei ihr. Und bei Andrew. Er konnte nur ahnen, wie sehr Warren Prescott seine Familie vermissen musste, wie sehr er sie liebte und sich um sie sorgte, und wie sehnsüchtig er sich wünschte, wieder mit ihnen zusammen zu sein.
Jake starrte in die Flammen. An Schlaf war nicht zu denken, und er betete für einen Mann, dem er nie begegnet war, um einer Frau und eines Kindes willen, die er kaum kannte.