Über das Buch:
In der bezaubernden Kleinstadt Maple Valley hat Amelia Bentley ein neues Zuhause gefunden. Hier kommt ihr Herz nach ihrer gescheiterten Ehe endlich zur Ruhe. Wenn nur das Lokalblatt, dem sie sich als Chefredakteurin mit Leib und Seele verschrieben hat, nicht vom Ruin bedroht wäre! Um die Zeitung zu retten, wendet sie sich an den ehemaligen Reporter Logan Walker, der mittlerweile als politischer Redenschreiber in L.A. lebt.
Was sie nicht weiß: Logan ist inzwischen der Eigentümer der Zeitung. Als er mit seiner Großstadt-Attitüde und seiner liebenswerten kleinen Tochter Charlie in Maple Valley auftaucht, stürzt Amelia ins Gefühlschaos. Logan, der das marode Lokalblatt nicht retten, sondern verkaufen will, merkt schnell, dass er sich an der quirligen, schlagfertigen Amelia die Zähne ausbeißt. Sie ist bereit, für ihre Zeitung zu kämpfen …
Über die Autorin:
Melissa Tagg war früher Journalistin. Heute arbeitet sie für eine Non-Profit-Organisation, die sich für Obdachlose einsetzt, und lebt in Iowa. Ihre humorvollen Romane mit Happy-End-Garantie schreibt sie vor allem in den frühen Morgenstunden und spätabends.
Kapitel 7
Der Himmel heute war azurblau, keine Schleierwolken. Klar und brillant.
Doch das war nicht genug, um den Nebel der Verwirrung zu vertreiben, der an diesem Morgen immer noch über Amelia hing. Da sie die Hände mit Kaffee und Backwaren voll hatte, die im Auto schon ihren leeren Magen zum Knurren gebracht hatten, stieß sie die Fahrertür mit dem Fuß hinter sich zu.
Das Kirschrot der Scheune und goldenes Sonnenlicht schimmerten durch die Zweige der Weide. Amelia lief um den Baum herum und ging leise ins Haus. Sie spitzte die Ohren, ob sie etwas von Eleanor hören würde, die im oberen Stockwerk untergebracht war.
Nichts.
Sie ging in die Küche und ignorierte dabei geflissentlich Kissen und Decken, die sie heute Morgen zerknüllt auf dem Sofa hatte liegen lassen. Rücken und Nacken schmerzten immer noch von der unbequemen Schlafposition.
In der Küche angekommen, stellte sie alles ab, setzte sich an den Tisch und dachte zum hundertsten Mal darüber nach, was Eleanors plötzliches Auftauchen hier zu bedeuten hatte.
»Woher weißt du, dass ich hier bin?« Es war die erste Frage von den Dutzenden, die ihr im Kopf herumschwirrten, die es gestern Abend über ihre Lippen geschafft hatte. Wie lange hatte sie ihre Schwester schon nicht mehr gesehen? Ein Jahr?
Das warme, angenehme Gefühl, das zwischen ihr und Logan geherrscht hatte, war bei Eleanors Anblick vollkommen zunichtegemacht worden. Ihre Schwester trug ihr Haar auf Kinnlänge. Sie hatte die drahtige Figur einer Läuferin und ein eckigeres Gesicht als Amelia.
»Ich bin durch die Straßen deiner Heimatstadt gefahren, habe dein Auto und die Lichter hier drin gesehen und dann messerscharf gefolgert, dass du hier sein musst.«
Sie stellte ihrer Schwester Logan vor und zwang sich dazu, eine Leichtigkeit in ihre Stimme zu legen, während Bear McKinley am Mikrofon etwas über seinen letzten Song sagte.
»Was machst du hier?«
»Ist es so schwer zu glauben, dass ich dich besuchen will?«
Ja. Denn in den zwei Jahren, die sie nun schon hier lebte, war Eleanor genau ein Mal hier gewesen. Sie hatte damals nichts Positives über die Stadt zu sagen gehabt, lediglich, dass sie auf dem Weg hierher eine nette Pension entdeckt hatte.
Amelia und Eleanor standen sich seit der Highschool schon nicht mehr nahe.
Und Amelia war sich nie richtig sicher gewesen, ob ihre Schwester sie überhaupt mochte.
»Morgen.«
Eleanor stand jetzt vor ihr, in roten Seidenschlafanzughosen und weißem Spitzenhemdchen, das Haar kaum zerzaust. Als sie gestern nach Hause gekommen waren, hatten sie nur wenig geredet. Sie hatten nur kurz Informationen ausgetauscht, wie die letzten Monate bei ihnen verlaufen waren, während sie Amelias Bett für Eleanor neu bezogen hatten.
Es war um Themen gegangen wie Amelias Arbeit bei der Zeitung. Ihre Story über Kendall Wilkins. Eleanors bevorstehende Hochzeit, deren Datum immer noch nicht feststand. Erkannte sie denn nicht, dass sie niemals heiraten würde, wenn sie warten wollte, bis Mum und Dad wieder zusammenkamen?
»Ich war in der Stadt und habe Kaffee und Brötchen geholt. Was ich sonst frühstücke, wird dir wahrscheinlich nicht schmecken.«
Eleanor setzte sich an den Tisch. »Das hättest du nicht machen müssen.«
Doch, das hatte sie. Es war die einzige Ablenkung gewesen, die ihr eingefallen war, um die Erinnerungen an Eleanors letzten Besuch bei ihr abzuschütteln. Vor allem ihre Abschiedsworte waren Amelia noch allzu gut in Erinnerung.
»Es ist deine Schuld, Amelia. Bei dir konnte man sehen, wie leicht es ist.«
Diese Worte hatten über ihr geschwebt und sie von Neuem zu verschlingen gedroht. Also war sie in die Stadt geflohen.
Eleanor öffnete die Tüte aus der Bäckerei und nahm ein Brötchen heraus. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du in einer Scheune lebst.«
»In einer renovierten Scheune, in der seit Jahren keine Vierbeiner mehr leben.« Und Logan hatte sie charmant genannt.
»Trotzdem. Wir essen da, wo es auch schon Pferde oder Kühe getan haben.« Eleanor nahm eine Serviette aus dem Halter in der Mitte des Tisches. »Und weißt du, was ich noch nicht glauben kann? Da diese Wohnung keine Wände hat, haben wir uns letzte Nacht ein Zimmer geteilt. Auf verschiedenen Ebenen, aber wir waren wieder eine Nacht lang Zimmergenossinnen. Und wir haben es beide überlebt. Eine echte Meisterleitung, wenn man die Vergangenheit betrachtet.«
Amelia nahm einen langen Zug aus ihrem Kaffeebecher. »Es war nur ein Semester. Wir haben nur kurz im zweiten Studienjahr zusammengewohnt. Und wir haben uns dabei offensichtlich nicht umgebracht.«
Eleanor grinste. »Ja, aber wir waren nahe dran und wer weiß, was passiert wäre, wenn du an Weihnachten nicht abgehauen wärst?«
Da war es wieder. Ihr Durchbrennen. Kein Familientreffen, ohne dass das nicht spätestens nach zehn Minuten auf den Tisch kam. Auch wenn es nicht mehr viele Familientreffen gab, seit Mum und Dad sich im vergangenen Jahr getrennt hatten.
»El.«
Ihre Schwester legte das Brötchen zur Seite und presste die Lippen zusammen.
»Was machst du hier?«
Eleanor nahm den Deckel ihres Kaffeebechers ab und schnüffelte an dem schwarzen Gebräu. »Du hast meine Anrufe nicht beantwortet.«
»Du hast nur einmal angerufen. Ein einziges Mal. Und das, als ich gerade dabei war, eine wichtige Story zu beenden. Ich dachte, du würdest dich melden, um mir endlich das Datum für deine Hochzeit mitzuteilen, und einfach eine Nachricht hinterlassen.« In Wirklichkeit hatte Amelia erleichtert aufgeseufzt, als sie auf der Mailbox nichts gefunden hatte.
Denn ein Anruf hätte die Kluft, die nach ihrem letzten Zusammenstoß zwischen ihnen entstanden war, nicht überbrücken können.
»Es gibt kein Hochzeitsdatum.«
Eleanor sagte das mit einer solchen Überzeugung, dass Amelia einen schnellen Blick auf ihre Hand warf.
»Der Ring ist noch da. Wir haben nur noch keinen Termin. Trevor wird langsam ungeduldig. Und ich …« Eleanor nippte an ihrem Kaffee und zog die Nase kraus. »Ich habe Zweifel.«
Oh. Plötzlich strahlte ihre Schwester etwas Zerbrechliches aus. Eleanor, die sonst immer so selbstsicher war und ihren Weg ging. Noten, Sportlichkeit, Preise und Auszeichnungen. Und immer das Mädchen mit dem attraktivsten Date. Trevor hatte sie in ihrem ersten Studienjahr kennengelernt.
Doch anders als Amelia, die alles hingeschmissen hatte, um Jeremy zu heiraten – den charismatischen, älteren Typen, den sie beim Gottesdienst auf dem Campus kennengelernt hatte –, war Eleanor sehr zurückhaltend gewesen. Sie und Trevor waren zu Collegezeiten jahrelang miteinander ausgegangen und hatten sich schließlich getrennt, als Eleanor sich dazu entschieden hatte, an die Uni zu gehen. Vor ein paar Jahren waren sie dann wieder zusammengekommen.
Sie hatte es so gehandhabt, wie es erwartet wurde – zunächst Ausbildung und Karriere, dann erst das Liebesleben.
»El, ich –«
Eleanor erhob sich abrupt, wobei sie etwas von ihrem Kaffee verschüttete. »Weißt du was? Ich will eigentlich gar nicht drüber reden.«
Ihre Schwester verließ die Küche und lief die Treppe zum Schlafzimmer hoch.
Amelia nahm noch einen Schluck von ihrem Kaffee. Vielleicht konnte sie so ihre Unentschlossenheit wegspülen. Eleanor brauchte Abstand.
Aber war nicht Abstand das, was sie nun schon seit einem Jahr hatten? Und El hatte den ersten Schritt gemacht. Sie war von ihrer Wohnung in Des Moines hierher nach Maple Valley gefahren.
Vielleicht war jetzt doch nicht die richtige Zeit für Abstand. Vielleicht musste sie genau jetzt die Kluft zwischen ihnen beiden überschreiten, wenn sie hoffen wollte, jemals eine solche Beziehung zu Eleanor aufzubauen, wie Logan sie zu seinen Geschwistern hatte.
Amelia ging langsam die Stufen zu ihrem Schlafzimmer hinauf und trug dabei Eleanors halb aufgegessenes Brötchen auf dem Teller vor sich her. Gerade, als Amelia oben ankam, schob ihre Schwester etwas unter die Bettdecke. Ein Buch, allem Anschein nach. Amelia blieb an der Bettkante stehen. »Ich dachte, dass du das vielleicht noch essen willst.«
Eleanors schiefes Lächeln lud Amelia ein, sich zu ihr zu setzen. Ihre Zehen – türkis lackiert – lugten unter der Schlafanzughose hervor. »Wir müssen nicht über Trevor reden, wenn du nicht willst. Aber wenn du deshalb hergekommen bist … wenn du jemanden zum Zuhören brauchst, dann bin ich da.«
Sie war selbst überrascht von ihren sanften Worten. Das wäre etwas gewesen, das Logan zu seinen Geschwistern gesagt hätte. Vielleicht hatte er sogar am gestrigen Abend ähnliche Worte gegenüber Raegan gebraucht, nachdem er von ihrer unglücklichen Geschichte mit Bear erfahren hatte.
Els Blick war auf die gestreifte Bettwäsche gesenkt. »Ich frage mich nur, wie hoch unsere Chancen sind. Wenn ich Mum und Dad sehe – sie waren fünfunddreißig Jahre zusammen und plötzlich trennen sie sich. Oder du und Jeremy.« Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte langsam den Kopf. »Aber der Gedanke, mich von Trevor zu trennen …« Ihre Stimme erstarb, bis sie plötzlich Amelia anblickte. »Sieh dich an! Du hast dich nicht unterkriegen lassen.«
Amelias Hals schnürte sich zusammen. Konnte man nach einer ungewollten Scheidung wirklich davon sprechen, dass sich jemand nicht hatte unterkriegen lassen? Nachdem der eigene Ehemann kaum einen Monat nach dem Schlimmsten, was einer Frau passieren konnte, einen Schlussstrich zog?
Sie schloss fest die Augen, um die Erinnerungen auszublenden – den entschuldigenden Ton der Sozialarbeiterin, den Geruch der Geburtsstation, den kurzen Blick auf das Mädchen im Bett mit dem Neugeborenen im Arm. Die Erkenntnis …
»Jeremy sagt, dass es möglich ist weiterzumachen, ohne zu zerbrechen und –«
Amelia zuckte zusammen. »Was?«
Eleanors Hand lag unter der Decke auf dem Buch. Amelia zog die Decke beiseite, nur um im nächsten Moment Jeremys Gesicht zu sehen, das sie vom Cover her angrinste. Weiß gebleichte Zähne, gebräunte Haut. Der Titel des Buches war in schreiendem Orange gehalten. Wie ich es überstanden habe.
»Amelia, vergiss einen Moment, dass er dein Ex-Mann ist.«
Doch Amelia war schon auf dem Sprung.
»Er ist ein angesehener Life-Coach«, fügte Eleanor hinzu. »Seine Bücher –«
Mit zwei langen Sätzen war Amelia an der Treppe und flog förmlich nach unten. Als könnte der Abstand, den sie zwischen sich und ihre Schwester brachte, den Betrug abmildern.
War dieses Wort zu stark?
Vielleicht.
Nein.
Eleanors Stimme folgte ihr. »Ich brauchte einen Rat von jemandem, der eine Trennung erfolgreich durchgestanden hat.«
Amelia wirbelte herum. »Das war keine Trennung, El. Es war eine Scheidung. Eine Scheidung, die ich niemals wollte.« Doch alles Bitten und Argumentieren hatte nichts gebracht, um Jeremy von seinen Plänen abzubringen.
Der ovale Spiegel, der über dem Sofa hing, reflektierte ihr zerzaustes Haar, ihren versteinerten Blick.
»Ich meine ja nur, dass er es geschafft hat, alles zu verarbeiten«, sagte Eleanor und schwang die Arme, als könnte sie dadurch ihre Meinung besser verdeutlichen. »Seine Karriere hat Fahrt aufgenommen. Und wenn ich mich von Trevor trenne, will ich eben auch wissen, was alles für mich möglich ist.«
»Jeremys Karriere hat Fahrt aufgenommen, weil er mich und unsere Ehe zu seinem Hauptthema gemacht hat. Jedes Mal, wenn er auf der Bühne steht oder ein Buch darüber schreibt, wie er diese schreckliche Hürde in seinem Leben genommen hat, dann bin ich diese Hürde.« Ihre Stimme brach. »Was du als leicht bezeichnet hast –«
Eleanor hob beschwichtigend eine Hand. »Das kannst du mir doch nicht immer noch vorhalten.«
»Du hast mir gesagt, dass meine Scheidung einfach aussah und dass sich Mum und Dad nur deshalb getrennt haben. Als wäre so etwas ansteckend.«
»Amelia –«
»Nein. Nein, ich kann das nicht …« Sie blieb nicht stehen, um ihre Tasche oder ihr Handy mitzunehmen. Sie griff nach der Tür und riss sie auf. »Ich halte das nicht aus.«
* * *
Wie hatte es nur dazu kommen können, dass Logan plötzlich der Chef dieser Chaostruppe von Freiwilligen war? Munteres Geplapper erfüllte den Raum, in den Colton zum ersten Treffen des Planungskomitees für seine Spendengala geladen hatte. Neugierig – und wahrscheinlich nur hier wegen der großzügig bereitgestellten Donuts – saßen sie um den Tisch im Keller des Sportzentrums herum. Um ein Event zu planen, das in gerade einmal drei Wochen stattfinden würde.
Colt war ein lieber Kerl. Aber eine Veranstaltung planen? Das war nicht seine Sache.
Logan ließ seinen Stift hörbar auf den Tisch prallen. »Vielleicht sollten wir Schluss machen.«
»Aber wir sind doch erst eine Stunde hier«, meldete sich Kate, seine engste Verbündete.
»Schon, aber wir haben das Wichtigste besprochen. Wir haben den Veranstaltungsort, einen Zeremonienmeister, ein Werbebudget.« Das auf jeden Fall für eine halbseitige Anzeige in der News verwendet werden würde, dafür würde er schon sorgen. Vielleicht war das ein Interessenkonflikt, aber das musste Colt nun einmal schlucken, nachdem er ihn in diese Sache mit hineingezogen hatte. »Viel mehr werden wir heute nicht erreichen können.« Denn der Großteil der Anwesenden war bereits seit zehn Minuten mit den Gedanken woanders – seit Colton und Raegan angefangen hatten, sich ein Tischhockey-Match zu liefern. Mit einem Donut.
»Was ist mit der Musik?« Kate zeigte auf den letzten Punkt seiner To-do-Liste, für die er von den anderen Anwesenden schon mächtig aufgezogen worden war. Er schien der Einzige zu sein, der diese Sache wirklich ernst nahm.
Am anderen Ende des Tisches jubelte Raegan laut auf, als sie einen Donut in Coltons provisorisches Tor katapultierte – zwei Kaffeebecher. Hinter ihnen drang das gedämpfte Sonnenlicht durch das kleine Fenster oben an der getäfelten Wand.
»Ich habe eine Idee, was das angeht, aber ich muss erst sichergehen, dass Rae mich nicht köpft.«
Bear McKinley mochte gestern Abend nicht seine volle Aufmerksamkeit bekommen haben – dafür war Amelias Präsenz zu ablenkend gewesen. Sie hatte ihm einen Blick in ihre Vergangenheit gewährt. Wie durch ein Schlüsselloch, das dazu einlud, auch den Rest des Raumes zu erkunden, der dahinter lag. Und das hätte er vielleicht auch getan, wenn ihre Schwester nicht plötzlich aufgetaucht wäre.
Doch er hatte genug von Bears Künsten gehört, um zu wissen, dass er eine ungemeine Bereicherung für die Spendengala sein würde. Livemusik während des Dinners. Und zwar während eines ausgefallenen Dinners, denn das musste es sein. Die Leute sollten einen Grund haben, sich in Schale zu schmeißen und auszugehen. Sie sollten einen erfrischenden, frühlingshaften Abend verbringen nach diesem viel zu langen Winter.
Er hoffte, dass sie das alles in nur drei Wochen bewerkstelligen würden.
Ein weiterer Jubelschrei erklang vom anderen Ende des Tisches her. Colton hatte den Siegtreffer gelandet.
Okay, er allein musste es in drei Wochen schaffen.
»Ich habe mich zwar aus dem aktiven Sportgeschäft zurückgezogen, aber ich bin immer noch ein Champion.« Colton reckte sich und blickte zu Logan. »Dann sind wir fertig für heute.«
»Klar.«
»Sagt er mit einem resignierten Seufzen.« Kate tätschelte grinsend seinen Arm. »Mach dir keine Sorgen, Bruder. Im vergangenen Herbst hat Colton eine Last-Minute-Spendenveranstaltung für das Eisenbahn-Depot aus dem Boden gestampft. Davon hast du doch gehört? Die Stadt wollte es nach dem Tornadoschaden dichtmachen. Colton hat seine alten Footballkumpels aktiviert und ein Eisenbahnwettziehen veranstaltet. In weniger als einer Woche hatte er alles auf die Beine gestellt. Und es ist mehr als genug Geld für die Reparatur zusammengekommen.«
»Colton hat das organisiert. Schon klar.«
»Na gut, ich habe ihm geholfen. Viel. Ziemlich viel. Und Seth und Rae und Ava und auch alle anderen. Aber am Ende hat alles gepasst. Das wird diesmal genauso sein.«
Er wollte ihr glauben. Im Grunde war es auch nicht wirklich die Spendengala, die ihm an diesem Tag die Stimmung vermieste.
Es war Rick O’Hares Verhalten vom Tag zuvor, als er Charlie abgeholt hatte.
Es war die Tatsache, dass er seine Tochter vermisste, die ihre erste Nacht getrennt von ihm verbracht hatte.
Es war Amelia. Oder vielmehr die nächtlichen Stunden, die er mit Gedanken an sie zugebracht hatte. Und der Gedanke daran, dass es unangebracht war, sich Gedanken um sie zu machen.
Das Kratzen der metallenen Stuhlbeine riss ihn aus seiner Tagträumerei. »Vielleicht wären wir produktiver gewesen, wenn wir uns bei Dad getroffen hätten. Oder im Parker House.«
Kate zog ihn von seinem Stuhl. »Ja, aber Dads Haus belagern momentan schon drei erwachsene Kinder, ein erwachsener Neffe und ein Enkelkind. Und im Parker House wurde heute ein neuer Teppich verlegt. Na gut, nur im oberen Bereich. Mein Mann hat zum Glück auf mich gehört und den originalgetreuen Hartholzboden im Erdgeschoss aufarbeiten lassen.«
Ihr Mann. Logan legte seinen Arm um seine Schwester. »Du bist richtig glücklich, was?«
»Wie ein Bücherwurm in der Bibliothek.«
»Wenn Colt und du euch beeilt und schnell heiratet –«
»Offiziell treffen wir uns doch erst seit zwei Monaten, Bruder.«
»Ich meine ja nur, dann hätte Dad nicht so ein volles Haus.«
»Klar, aber Colton ist schlau genug, mir keinen Antrag zu machen, wenn ich mitten in einem Buchprojekt stecke. Er wartet bis nach dem Abgabetermin, wenn ich den Kopf frei habe, mich wirklich zu freuen.« Kate kicherte und warf Colton, der in der Ecke stand und mit einem Jugendlichen redete, einen Blick zu, der klarmachte, dass sie ihn auch übermorgen heiraten würde, wenn er sie fragte.
»Hey, das ist doch Webster, oder?«
»Stimmt.«
Der schlaksige Junge, der bei Colton stand, trug Schweißbänder an seinen Handgelenken und eine Sporthose. Logan hatte schon viel von dem begabten Wide Receiver und Pflegekind gehört, mit dem Colton letzten Herbst so intensiv trainiert hatte. Vom Trainer war er zum Mentor geworden und das hatte das Parker House inspiriert.
»Ich habe mir einen klasse Typen ausgesucht.«
»Das hast du. Obwohl ich nicht wirklich verstehe, warum er seine Spendengala unbedingt in Maple Valley machen muss, wo er auch ein Golfturnier oder so was in der Art in Kalifornien hätte aufziehen können. Mit ein paar Promis am Start hätte er fünfmal so viel einnehmen können wie hier.«
»Ihm geht es aber nicht nur ums Geld, sondern um die Unterstützung der Gemeinde. Er möchte, dass jede Stadt, in der er ein Haus eröffnet, Verantwortung übernimmt.«
Logan besah sich die Notizen, die er sich während des Treffens gemacht hatte. »Am besten wäre es, wenn das Red Door das Catering übernehmen würde. Das würde die Sache einfacher machen und –«
Kate nahm ihm den Zettel aus der Hand. »Es ist Samstag. Es ist sonnig und warm. Hol Charlie und verbring Zeit mit ihr. Colt hat mich letzten Herbst zu dem alten Maissilo in Millers Field mitgenommen. Weißt du noch, wie wir als Kinder immer da gespielt haben? Das wäre genau das Richtige für deine Tochter.«
»Das rostige alte Ding? Das schreit ja nur so nach Tetanus. Und wahrscheinlich auch nach der Gesellschaft von Ratten.«
»Lass sie das wahre Iowa erleben. Genießt den Tag. Frag Amelia, ob sie mitkommt.«
»Warum sollte ich Amelia fragen, ob sie mitkommt?«
Kate drückte ihm die Notizen gegen die Brust. »Raegan hat mir mal gesagt, dass man es mir nicht abnehmen kann, wenn ich mich dumm stelle. Das Gleiche gilt für dich, großer Bruder.«
Sie schloss die halb leere Donutschachtel und schnappte sie sich, dann grinste sie ihn frech an und ging ohne weiteren Kommentar zu Colton.
Kate konnte von seiner Freundschaft zu Amelia denken, was sie wollte. Und vielleicht lag sie mit der Schlussfolgerung, die sie zog, ja auch gar nicht so weit daneben. Vielleicht gab es da zwischen ihnen eine erstaunliche Verbindung. Vielleicht, nein, definitiv war es genau das, was ihn letzte Nacht wach gehalten hatte.
Aber es war nur ein kleines Geplänkel für ein paar Wochen, eine vorübergehende Arbeitsbeziehung …
Genau das war es. Vorübergehend.
Und er würde sich nicht auf irgendeine Art von Beziehung einlassen, deren Ablaufdatum schon gesetzt war. Er musste an Charlie denken. Und er hatte eine Karriere, die auf ihn wartete.
Kate kam wieder zu ihm und half dabei, die letzten Servietten vom Tisch zu räumen und die Becher einzusammeln. Auf dem Weg nach draußen schalteten sie das Licht aus. Im Freien erwartete sie der strahlende Apriltag. Das Sonnenlicht ergoss sich über die Häuser – das Gebäude der News, den Coffeeshop, das Brautmodengeschäft. Auf der anderen Seite der Straße glitt der Fluss langsam und blau dahin.
Da tauchte auf dem Bürgersteig die Person auf, die er seit dem Morgen im Anwaltsbüro geflissentlich gemieden hatte. Jenessa Belville trug eine Papiertüte in jedem Arm und ihr akzentuierter Schritt wurde durch ihre hohen Absätze unterstrichen.
In dem Augenblick, als sie ihn sah, verzog sie das Gesicht zu einem finsteren Blick, wie Barbara Stanwyck in dem Film Frau ohne Gewissen, in dem sie eine Frau verkörperte, die ihren Ehemann töten wollte. Seine Mutter hatte diesen Film geliebt. Jenessa wandte den Blick ab, wechselte auf die andere Straßenseite und setzte ihren Weg dort fort.
»Sie ist offenbar kein Fan von mir.«
Kate schüttelte den Kopf. »Ihr Dad ist furchtbar krank. Ihre Mutter ist Alkoholikerin. Und ihr Mann kommt nur für ein paar Monate im Jahr nach Hause.«
Er wandte sich seiner Schwester zu. »Das mit ihrer Mutter wusste ich nicht.«
»Das ist eines dieser Dinge, die jeder in der Stadt weiß und über die niemand redet. Sie hat auf jeden Fall einiges zu ertragen.«
Ein Poltern erklang hinter ihnen und sie beide wandten sich um. Jenessas Einkaufstüte war gerissen und ihre Einkäufe kullerten über den Bürgersteig.
Kate wollte schon loslaufen, doch er hielt sie auf. »Ich mache das.« Er bedeutete ihr, dass sie sich schon auf den Heimweg machen könnte. Kate winkte zum Abschied.
Er lief über die Straße, doch als er bei Jenessa angekommen war, hatte sie schon fast alle Sachen zurück in die Tasche gepackt. Logan kniete sich neben sie und sammelte eine rollende Dose ein.
»Ich brauche deine Hilfe nicht.«
Nicht einmal Barbara Stanwyck hätte den Blick zustande gebracht, den Jenessa ihm jetzt zuwarf. Ihr schwarzes Haar umwehte die blasse Haut und rote Ränder umgaben ihre Augen. Hatte sie geweint?
»Jen, die Tüte ist kaputt. Sie wird nicht halten.«
Er versuchte, danach zu greifen, als sie sich erhoben, doch sie riss sie ihm weg und ignorierte die Spaghettipackung, die zu Boden fiel. »Lass mich in Ruhe, Logan.«
»Ich will doch nur –«
»Bist du schwer von Begriff? Ich will deine Hilfe nicht. Ich brauche deine Hilfe nicht. Verschwinde.«
Sie wirbelte wütend herum und eilte davon.
Doch in ihrem Blick hatte noch etwas anderes gelegen. Schmerz.
Er hatte es an den Tränen in ihren Augen erkannt. Dem Zittern in ihrer Stimme, das nicht einmal ihre Wut überdecken konnte.
»Ich könnte dich fahren«, rief er ihr noch hinterher.
Sie beachtete ihn nicht. Ging einfach weiter.
Er bückte sich, um die Spaghetti aufzuheben. Dann joggte er zu seinem Auto und ließ sich mit einem Seufzen in den Fahrersitz fallen. Diese Woche lief einfach nicht gut. Defekte Geräte im Druckraum. Charlie, die sich verletzt hatte. Jenessa. Und natürlich Theos nicht enden wollender Ansturm von Überwachungs-E-Mails. Es war, als wäre er überzeugt davon, dass Logan nicht mehr nach L.A. zurückkehren würde.
Er legte den Kopf gegen die Kopfstütze und seufzte. Am liebsten hätte er den Tag zurückgedreht. Die ganze Woche. Außer dem gestrigen Abend und die Zeit mit Amelia.
Doch, auch den gestrigen Abend. Denn auch, wenn es schön gewesen war – war es das wirklich wert gewesen, dass er jetzt dieses seltsame Gefühl im Magen hatte?
Warum fühlt sich im Moment alles falsch an? Ich dachte, es wäre richtig, nach Hause zu kommen, Gott, aber jetzt …
Jetzt saß er hier im Auto und betete halbherzig zu einem Gott, den er die letzten Jahre ignoriert hatte. Warum, wusste er selbst nicht so genau.
Alles, was er wusste, war, dass er hierhergekommen war, um eine Zeitung zu verkaufen und Zeit mit seiner Tochter zu verbringen. Und jetzt machte er in keinerlei Hinsicht Fortschritte.
Die Unruhe blieb wie ein unsichtbarer Beifahrer, während er zu Ricks und Helens Haus fuhr. Die Häuser wurden spärlicher, als er den Stadtrand erreichte. Seine Schwiegereltern wohnten in der letzten Straße vor der Stadtgrenze. Hinter ihrem Grundstück erstreckten sich nur noch Felder.
Logan parkte in der Einfahrt.
Vergiss jetzt alles. Die Zeitung, die Spendengala, Jenessa.
Amelia.
Konzentrier dich auf Charlie. Sei ein guter Vater.
Er stellte den Motor ab.
Aber er war noch nicht einmal ausgestiegen, als Rick schon aus dem Haus kam. Sein Schwiegervater wartete neben dem Auto, bis Logan sich aus dem Sitz geschält hatte. »Hey, Rick.«
»Du bist früher als erwartet.«
»Genau das Gegenteil hast du mir vorgeworfen, als ich mich damals mit Emma getroffen habe.« Er versuchte die Worte scherzhaft und leicht klingen zu lassen und hoffte, dass die schönen Erinnerungen etwas von der Reserviertheit zwischen ihnen wegnehmen würden.
Rick lächelte dünn. »Ja, obwohl du den Zapfenstreich nur einmal wirklich verpasst hast, das muss ich dir zugutehalten. Hör zu, wäre es in Ordnung, wenn Charlie den Rest des Wochenendes auch noch bei uns verbringt?«
Ein abweisendes Nein wollte ihm über die Lippen kommen, doch er unterdrückte diese instinktive Reaktion. »Ich wollte eigentlich den Nachmittag mit ihr verbringen.«
»Sie hatte gestern so viel Spaß. Man merkt ihr gar nicht mehr an, dass sie vom Baum gefallen ist.«
Da war sie wieder, diese unterschwellige Anschuldigung. »Sie ist nicht –«
Rick winkte ab. »Ich meine ja nur, dass die Zeit hier ihr sehr gut getan hat. Und uns auch. Wir hatten bisher kaum die Chance, echte Großeltern zu sein.« Er trat näher. »An Weihnachten bist du nach Boston gefahren, anstatt nach Hause zu kommen. Wir haben sie auch kaum gesehen, als ihr im Februar hier wart.«
Warum hatte er das Gefühl, überrollt zu werden?
»Logan, ich habe meine Frau nicht mehr so glücklich gesehen, seit Emma gestorben ist.«
Der K.-o.-Schlag. Alles in ihm sträubte sich. Das hatte sein Nachmittag werden sollen. Doch er hörte auch die Worte, die Rick nicht sagte.
Logan hatte Emma mit nach Kalifornien genommen.
Er hatte nun auch Charlie bei sich in Kalifornien.
Das Mindeste, was er ihren Großeltern zugestehen sollte, war ein Wochenende mit ihrer Enkelin. Er nickte langsam und resigniert.
* * *
Sie wusste nicht, warum sie hier war.
Amelias Blick schweifte über den sonnenüberfluteten Hof zu den Feldern, die sich neben Case Walkers Haus ausbreiteten. Schwarze Erde, gepflügt und bereit für die Saat. Sie atmete den Frühling ein, den Duft des gemähten Grases und der weißen Kirschblüten.
»Ich dachte mir doch, dass ich hier draußen jemanden gesehen habe.«
Das Geräusch der Fliegengittertür, die zufiel, begleitete die Stimme von Case. Sein Schatten legte sich über die Treppe.
»Hallo, Mr Walker. Entschuldigen Sie, dass ich Ihre Veranda belagere.« Sie legte die Hände auf ihre Knie.
»Ich habe dir doch schon hundertmal gesagt, dass du mich Case nennen sollst.« Er ließ sich neben ihr nieder. »Oder noch öfter.«
»Entschuldigung.« Es lag an diesem Mann. Er strahlte etwas Königliches aus. Gleichzeitig souverän und mild.
»Du entschuldigst dich ziemlich oft, schon gemerkt?«
»Ent–« Sie konnte sich gerade noch zusammenreißen und musste zum ersten Mal an diesem Tag lächeln. Seit sie heute Morgen vor Eleanor geflohen war.
»Also, auf welches meiner Kinder wartest du? Vor ein paar Wochen hätte ich auf Rae getippt, aber in letzter Zeit verbringst du ziemlich viel Zeit mit Logan.«
Das stimmte. Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, ihn jeden Tag zu sehen. Vielleicht – wahrscheinlich – war sie deshalb hergekommen, aus einer Mischung aus Verrücktheit und Sehnsucht. Sie hatte noch nie so schnell mit jemandem Freundschaft geschlossen, noch nie so schnell jemandem ihre Geheimnisse anvertraut.
Nun ja, nicht alle Geheimnisse.
»Ich warte auf Logan. Obwohl er mich auslachen wird, wenn er herausfindet, warum.«
»Gut.« Die Falten um seine Augen herum vertieften sich, als er glücklich lächelte. »Mein Sohn lacht viel zu selten. Also sag ihm ruhig, warum du hergekommen bist, und bring ihn zum Lachen.«
Und da tauchte auch schon Logans Auto auf, das in einer Staubwolke schnell um die Kurve bog. »Auch, wenn es verrückt ist?«
»Vor allem, wenn es verrückt ist.« Case erhob sich. »Außerdem ist verrückt meist nur ein anderes Wort für kühn. Oder großartig. Oder abenteuerlustig. Was ich alles nur unterstützen kann.« Er tätschelte ihre Schulter, als Logan sein Auto unter dem Basketballkorb parkte. »Und … Amelia?«
Sie legte den Kopf zur Seite.
»Vergiss nicht, selbst auch mehr zu lachen.«
Wie war es möglich, dass er mit einem einzigen Blick in ihr Inneres zu sehen schien? Es war, als hätte er ihre Unterhaltung mit Eleanor heute Morgen belauscht oder wüsste von ihrer Vorgeschichte, die sie bisher so gut vor allen versteckt hatte.
Er winkte seinem Sohn und verschwand im Haus.
Logan, der noch im Auto saß, blickte sie an.
Kein Wunder, dass er ein so guter Zuhörer war, bei einem Vater wie Case. Kein Wunder, dass sie ausgerechnet hierhergekommen war, jetzt, wo ihre Vergangenheit sich einen Weg in ihre Gegenwart gesprengt hatte.
Logan stieg aus und kam auf sie zu. »Hey.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen und blieb vor ihr stehen.
»Hey.« Sie erhob sich und schob ebenfalls die Hände in ihre Hosentaschen.
»Wo ist Charlie?«
»Wie geht’s Eleanor?«
Sie nahm die dunklen Ringe unter seinen Augen wahr. Hatte er eine ebenso schlaflose Nacht gehabt wie sie? »Ich sag’s einfach: Du siehst so fertig aus, wie ich mich fühle.«
»Wirklich?« Er rieb sich mit der Hand über das unrasierte Kinn.
»Was den Grund, aus dem ich hier bin, noch viel verrückter macht.«
»Ich gewöhne mich langsam an deine Art der Verrücktheit, Amelia Bentley. Also, was ist los?«
»Ich habe Marney Billingsley gefunden, die alte Pflegerin von Kendall.« Sie atmete tief ein. »Willst du mit mir nach South Dakota kommen?«