Über das Buch:
Glaubenslehre: Dogmatik und Ethik für die Lebenspraxis
»Beim Christentum geht es nicht in erster Linie um eine bestimmte Kultur, besondere Musikstile, Veranstaltungen, Einrichtungen und Moralvorstellungen, sondern darum, dass Menschen Jesus ähnlicher werden. Was immer dem dient, ist gut, was immer dem im Wege steht, muss verändert werden.«
Thomas Weißenborn nimmt uns mit auf eine spannende Reise durch die Bibel von der Schöpfung bis zur Offenbarung. Dabei gelingt es ihm, uns in eine Geschichte der Sehnsucht hineinzunehmen, in der wir die Welt neu verstehen und unser Leben neu ausrichten können.
Dazu müssen wir uns allerdings der unangenehmen Wahrheit stellen, dass wir uns in einem Aufstand gegen den Schöpfer befinden. Aber es gibt Hoffnung: Wir können uns befreien und von Jesus verändern lassen.
Über den Autor:
Thomas Weißenborn ist Dozent für Systematische Theologie und Neues Testament am Marburger Bibelseminar. Mit seiner Frau und seinen vier Kindern lebt er in Marburg.
Vertauschung.
Die Bibel veranschlagt sechs Tage für die Erschaffung der Welt und redet dann von einem Tag, an dem Gott ruhte „von allen seinen Werken, die er gemacht hatte“ (1. Mose 2,2). Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei beiden Informationen nicht einfach nur um so etwas wie „statistische Angaben“ handelt, sondern um Aussagen, die die Schöpfung deuten, kann man Folgendes daraus schließen: Die Schöpfung ist ein Prozess, ein Geschehen in Zeit und Raum. Auch wenn beides mit der Schöpfung überhaupt erst entsteht, geschieht die Erschaffung des Alls doch nicht wie wenn ein Zauberer das berühmte Kaninchen aus dem Hut holt: ein Trommelwirbel und – Tatatata! – da ist es. Nein, es dauert seine Zeit, wir bekommen in 1. Mose 1 und 2 sogar so etwas wie einen Einblick in die Werkstatt des Schöpfers.
Das finde ich aus verschiedenen Gründen interessant. Zum einen widerspricht es grundlegend dem Gottesbild, das die meisten Christen vermutlich haben (jedenfalls die, die ich kenne). Sie stellen sich nämlich einen Gott vor, der in einer Weise allmächtig ist, dass ihm alles quasi per Fingerschnipsen gelingt. Allmacht wäre damit nicht nur die Fähigkeit, jegliches gewünschte Ziel zu erreichen, sondern das muss darüber hinaus auch noch sofort und völlig mühelos geschehen – was zeigt, wie sehr unsere Gottesvorstellung von unserer Lebenswelt beeinflusst ist. Gott wäre damit so etwas wie ein „Super-User“, der sich sozusagen per Mausklick und 3-D-Drucker die Schöpfung in null Komma nichts ins eigene Wohnzimmer zaubert.
Die Bibel sieht das offensichtlich anders. In ihr wird zwar davon gesprochen, dass bei Gott „alle Dinge möglich“ sind (Matthäus 19,26), die Vorstellung jedoch, dass alles, was Gott will, deswegen sofort und auf der Stelle passieren muss, unterstützt sie nicht. Für sie ist Zeit also keine überflüssige oder vielleicht sogar lästige Verzögerung, sondern durchaus ein Schöpfungsmittel. Gott schafft nicht nur die Zeit selbst, sondern gebraucht sie auch, um Dinge zu erschaffen, er schafft also in der Zeit und durch die Zeit.
Dazu passt auch das Schöpfungsprinzip, das Gott in die Welt eingepflanzt hat: „Seid fruchtbar und mehret euch“ (1. Mose 1,22.28). Die Schöpfung wurde demnach mit dem eigentlichen Schöpfungsakt zwar in Gang gesetzt, aber längst noch nicht vollendet. Sie ist vielmehr wie ein Samenkorn, ein Keim, ein kleines Pflänzchen, das zwar alles schon in sich trägt, aber erst noch entfalten muss.
Dieses Prozesshafte, das in der Schöpfung angelegt ist, zeigt sich auch an anderen Stellen. Nicht nur das geistliche Wachstum ist ein Prozess, sondern ebenso das Heil selbst. Denn auch seine bedeutsamen Stationen – von der Befreiung aus Ägypten über den Einzug ins Gelobte Land bis hin zu Jesus selbst und der Ausbreitung der Gemeinde – sind jeweils mit einer zeitlichen Entwicklung verbunden. Die Zeit ist damit wie der Raum sowohl für die Schöpfung wie auch für das Heil von entscheidender Bedeutung, weswegen wir sie ebenfalls nicht vernachlässigen sollten.
Zu diesem Gedanken von der Zeit als Schöpfungsmittel und der Vorstellung, dass Gott seine noch keimhafte Schöpfung dem Menschen als seinem Ebenbild anvertraut, passt auch die Vorstellung, dass der Schöpfer nach sechs Tagen ruht, obwohl die Meere noch nicht voller Fische sind, das Land noch nicht von Tieren bevölkert ist und die Menschen sich noch nicht über die Erde verbreitet haben. Weil im Keim jedoch schon alles so weit vollendet ist, kann sich Gott wie ein Künstler zurücklehnen und stolz sein Werk betrachten.
Dieser Zusammenhang zeigt sich nicht nur im ersten, sondern auch im zweiten Kapitel der Genesis. Hier schafft Gott den Garten und übergibt ihn dem Menschen, der ihn wie ein Gärtner entwickeln soll. Dazu gehört auch, dass der Mensch den Tieren jeweils Namen gibt (1. Mose 2,19f.), was ein eindeutiger Ausdruck der Herrschaft ist. Gott tritt hier also auf wie ein Gutsbesitzer, der seinem Gärtner zwar Instruktionen und Anweisungen erteilt, ihm aber bei der Ausgestaltung die notwendigen Freiräume lässt.
Mit dieser Prozesshaftigkeit der Schöpfung ist allerdings auch so etwas wie eine „dunkle Seite“ verbunden: Prozesse beinhalten in der Regel das Risiko, dass etwas nicht so läuft wie geplant. Bei der Schöpfung scheint das auch der Fall gewesen zu sein. Noch bevor sie richtig fertig war, in einem frühen Anfangsstadium, ist etwas furchtbar schiefgelaufen. Das ist umso schlimmer, als es einen ganz zentralen Punkt im Prozess der Schöpfung betraf, sozusagen den Dreh- und Angelpunkt. Wie wir gesehen haben, sollte der Mensch als Ebenbild des Schöpfers wie ein Götterbild in einem Tempel funktionieren: Als Spiegelbild Gottes sollte er Gottes weise Herrschaft über die Schöpfung in einer Weise ausüben, dass die übrige Schöpfung an ihm erkennen kann, wie Gott ist. Und als Repräsentant der Schöpfung sollte er ihre vielfältige Anbetung bündeln und ihrem Schöpfer gegenüber zum Ausdruck bringen.
Beide Aufträge hat die Menschheit verweigert. Die Genesis schildert dies in der Geschichte vom Sündenfall, in dem die Schlange, die „listiger war als alle Tiere auf dem Felde“ (1. Mose 3,1), die Menschen versucht. Sie sollen Gottes Gebot übertreten und damit selbst „sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“ (3,5). Vor dem Hintergrund des bisher Erzählten kann sich dieses „Sein wie Gott“ nur auf eines beziehen: Statt als Ebenbilder in der Ordnung des Schöpfers zu leben und sie der übrigen Schöpfung gegenüber zu repräsentieren, maßen sich die Menschen nun selbst die Rolle des Ordnungsgebers an. Das Spiegelbild will Urbild sein, das Abbild möchte als Original betrachtet werden. Was vorher nur Statthalter und Stellvertreter war, schwingt sich jetzt zur obersten und letzten Instanz auf.
Damit verbunden ist natürlich das letztgültige Wissen, „was gut und böse ist“. Das hebräische Wort jada („erkennen“), das in diesem Zusammenhang verwendet wird, hat ein sehr breites Bedeutungsspektrum, das sowohl den Prozess des Erkennens (also das eigentliche Forschen) wie auch sein Ergebnis (das Wissen) abdeckt. Wenn wir uns vor diesem Hintergrund den „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ betrachten, von dem die Menschen im Garten gegessen haben, fällt auf, dass es nicht um den Erkenntnisprozess an sich geht, sondern schlicht um dessen Ergebnis. Der Baum ist damit kein Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zum Zweck.
Ob er das angestrebte Wissen tatsächlich vermittelt, sei dahingestellt, denn die Schlange wirkt nicht gerade vertrauenswürdig. Vielleicht spielt es auch gar keine Rolle, ob der Baum nun wirklich Erkenntnis vermittelt oder nicht, entscheidend ist, dass der Mensch seit dem Essen der verbotenen Frucht fest davon überzeugt ist zu wissen, was gut und böse ist – auch wenn sich die einzelnen Menschen und ihre Gemeinschaften in Bezug auf konkrete moralische, ethische, politische und weltanschauliche Vorstellungen uneins sind. Die Geschichte vom Sündenfall macht sogar deutlich, dass die Menschen offensichtlich schon unmittelbar vor dem Essen der verbotenen Frucht davon überzeugt gewesen sind: Eva verlässt sich schließlich auf ihr eigenes Urteilsvermögen. Sie „sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß“ (1. Mose 3,6). So handelt nur jemand, der sich bereits zutraut, über Gut und Böse entscheiden zu können.
Was ist da passiert? Statt auf Gott, der das Gebot gegeben hat, hört der Mensch auf die Schlange und letzten Endes auf sich selbst. Das Essen der verbotenen Frucht wird damit zu einer Art Unabhängigkeitserklärung des zentralen Geschöpfes gegenüber seinem Schöpfer. Das Verrückte und zugleich Tragische an der Geschichte ist freilich, dass der Mensch gar nicht über die Fähigkeiten verfügt, die er bräuchte, um sich selbst in die Position des Schöpfers aufzuschwingen. Es ist tatsächlich wie bei einem Spiegel: Auch der kann niemals das Original werden, weil er immer nur seine Umgebung spiegelt. Wenn sich ein Spiegel also von dem abwendet, was er eigentlich spiegeln soll, findet er eben gerade nicht zu sich selbst und ersetzt das Original, sondern reflektiert schlichtweg etwas anderes.
Auf diesen Zusammenhang weist der Apostel Paulus hin, der im ersten Kapitel seines Briefes an die Römer die Lage der Menschheit nach dem Sündenfall theologisch reflektiert:
„Was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen [den Menschen] offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn sein unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es wahrnimmt, ersehen an seinen Werken, sodass sie keine Entschuldigung haben. Denn obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert.
Die sich für Weise hielten, sind zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere.
Darum hat Gott sie in den Begierden ihrer Herzen dahingegeben in die Unreinheit, sodass sie ihre Leiber selbst entehren. Sie haben Gottes Wahrheit in Lüge verkehrt und das Geschöpf verehrt und ihm gedient statt dem Schöpfer, der gelobt ist in Ewigkeit. Amen.
Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften; denn bei ihnen haben Frauen den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen; desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Männer mit Männern Schande über sich gebracht und den Lohn für ihre Verirrung, wie es ja sein musste, an sich selbst empfangen.
Und wie sie es für nichts geachtet haben, Gott zu erkennen, hat sie Gott dahingegeben in verkehrten Sinn, sodass sie tun, was nicht recht ist, voll von aller Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier, Bosheit, voll Neid, Mord, Hader, List, Niedertracht; Ohrenbläser, Verleumder, Gottesverächter, Frevler, hochmütig, prahlerisch, erfinderisch im Bösen, den Eltern ungehorsam, unvernünftig, treulos, lieblos, unbarmherzig.
Sie wissen, dass nach Gottes Recht den Tod verdienen, die solches tun; aber sie tun es nicht nur selbst, sondern haben auch Gefallen an denen, die es tun.“ (Römer 1,19-32)
Das Entscheidende an diesem sehr dichten Abschnitt ist das Wort „vertauscht“ (V. 23). Paulus charakterisiert hier den Sündenfall als eine Vertauschung: Statt dem Schöpfer zu dienen, dienen die Menschen nun anderen Mächten und verehren sie, die in diesem Abschnitt mit den griechischen und römischen Götterbildern („Menschen, Vögel, vierfüßige und kriechende Tiere“) in Verbindung gebracht werden. Statt auf Gott zu hören und ihm zu gehorchen, hören und gehorchen die Menschen nun anderen Stimmen. Diese Form der Vertauschung ist genau das, was zu erwarten ist, wenn ein Spiegel nicht mehr richtig ausgerichtet ist. Er reflektiert dann nicht mehr das, was er eigentlich wiedergeben soll, aber auch nicht nichts, sondern schlichtweg etwas anderes.
Damit sind wir beim Kernproblem des Menschen, dem, was die Bibel als „Sünde“ bezeichnet. Hierbei geht es nicht in erster Linie um eine falsche Moral, falsche Handlungen oder falsche Ansichten. Nein, Sünde ist zuerst und in allererster Linie ein Verlust der richtigen Ausrichtung. Uns ist der eigentliche Maßstab abhandengekommen. Es ist so, als würde ein Konstrukteur den Plan verlieren und dazu den rechten Winkel, die Wasserwaage, den Zollstock und alle möglichen anderen Messinstrumente. Ab jetzt ist die Menschheit also im Blindflug unterwegs. Und mehr als das: Sie sucht ja weiterhin Orientierung, weiß aber nicht mehr, woran sie sich orientieren soll, und richtet sich deshalb an allem Möglichen aus.
Wie so etwas aussieht, habe ich während meines Grundwehrdienstes erlebt. Bei einer sechsunddreißigstündigen Geländeübung hat nach ungefähr der Hälfte der Zeit mitten in der Nacht ein Unteroffiziersanwärter die Karte in die Hand genommen, die uns zum nächsten Dorf führen sollte. Wir sind stundenlang bei Dunkelheit über Wiesen und durch Wälder marschiert, bis einer endlich gefragt hat: „Müssten wir nicht schon längst da sein?“ Da stellte es sich heraus, dass unser Unteroffiziersanwärter zunächst die blauen Linien (Wasserläufe) auf der Karte für Wege gehalten hat und nach einer Weile die braunen (Höhenlinien). Und jetzt standen wir in der Morgendämmerung irgendwo im Wald an einer Weggabelung und er wusste nicht mehr weiter.
Das Problem in so einer Situation ist, dass man nicht einfach umkehren kann, weil man ja keine Ahnung hat, auf welchem Weg man dorthin gelangt ist. Auch die Karte bringt einem gar nichts, weil man nicht einmal weiß, wo man sich befindet – und ob diese Stelle überhaupt noch auf der Karte verzeichnet ist. So sieht ein echter Orientierungsverlust aus, das Ergebnis einer Vertauschung (in diesem Fall der Karteneinträge). Hier ging es nicht nur darum, dass man irgendwo falsch abgebogen ist. Unser Problem war vielmehr, dass wir einem nachgefolgt waren, der die Karte nicht lesen konnte und wegen dem sie auch für uns wertlos geworden war.
Wozu es führt, wenn sich nicht nur einer so verhält, sondern die gesamte Menschheit, beschreibt Paulus auch. Zunächst einmal sagt er, dass Gott sie „dahingegeben“ hat (V. 24.26.28). Gott lässt sie also laufen, er hält sie nicht auf, stellt sich ihr nicht in den Weg – genauso wenig wie einer in unserer Gruppe den irrlichternden Unteroffiziersanwärter aufgehalten hat. Genauso wie sich unser Soldat an etwas orientiert hat (nur leider nicht an den richtigen Markierungen), so orientiert sich die Menschheit auch weiterhin an etwas, sie folgt etwas nach. Nur leider ist es nicht Gott, sondern es sind irgendwelche Mächte, die sich als recht finster entpuppen: „Begierden der Herzen“ (V. 24), „schändliche Leidenschaften“ (V. 26) und „verkehrter Sinn“ (V. 28). „Gottes Wahrheit“ wird „in Lüge verkehrt“ (V. 25) und statt dem Schöpfer das Geschöpf verehrt.
Das Ergebnis ist ein Leben nach eher niederen Instinkten, „sodass sie tun, was nicht recht ist“ (V. 28). Und es folgt das, was Theologen als „Lasterkatalog“ bezeichnen, eine lange Liste aller möglicher moralischer Vergehen, die bewusst unvollständig gehalten ist. Denn genau wie ein „Tugendkatalog“ soll sie vor allem einen Rahmen abstecken, ein grobes Bild skizzieren, sodass der Leser eine Idee bekommt, was noch alles in diese Kategorie fällt.
Mit diesem Lasterkatalog in Römer 1,29-31 hatte ich lange Zeit meine Schwierigkeiten. Ich fand die Anklage sehr überzogen und auch ungerecht. Paulus, so schlimm sind die Menschen nicht, hätte ich dem Apostel gern zugeraunt, übertreib’s mal lieber nicht, das macht dich an der falschen Stelle angreifbar. Mittlerweile bin ich mir da gar nicht mehr so sicher, sondern glaube, dass Paulus hier in pointierter Weise tatsächlich den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Wie sehr, macht ein Blick auf unsere Zeit deutlich. Schließlich leben wir in einer der vermutlich freiesten und damit auch entgrenztesten Gesellschaften, die jemals auf diesem Planeten existiert hat. Wir haben enorm viel Freizeit, können essen, was wir wollen, leben, wie wir wollen, und müssen uns – im Vergleich zu anderen Kulturen – nur an ganz wenigen allgemeingültigen Maßstäben orientieren.
Das Ergebnis ist leider in vielen Bereichen alles andere als ermutigend. Statt die Freizeit sinnvoll zu nutzen, vertrödeln und verplempern wir sie oft oder schlagen sie einfach vor irgendwelchen ablenkenden Geräten tot. Dass wir essen können, was wir wollen, führt zu einem Anstieg von Fettleibigkeit und anderen mit einer falschen Ernährung verbundenen Erkrankungen, überhaupt spielen diverse Süchte und Abhängigkeiten in unserer von äußerlichen Zwängen freien Gesellschaft keine geringe Rolle. Alles in allem führt die Maßstabslosigkeit zur Maßlosigkeit und zur Bequemlichkeit – mit all den negativen Konsequenzen, die das hat.
Und wenn wir tiefer schauen, wird es auf einmal ganz finster. Was unser Leben beherrscht, ist oft nicht nur Bequemlichkeit, sondern es sind auch bewusste Verführung, Täuschung und Lüge. An vielen entscheidenden Punkten ist unser Miteinander auf Lüge und Verblendung aufgebaut. Nicht nur die Werbung muss sich dieser Mittel bedienen, um ihre Produkte an den Mann oder die Frau zu bringen, auch ein Politiker oder eine Partei wird kaum gewählt werden, wenn er oder sie dem Volk vor der Wahl reinen Wein einschenkt. Wir lügen und wollen belogen werden. Und bei all dem geht es allzu oft um das, was Paulus hier die „Begierden des Herzens“ und die „schändlichen Leidenschaften“ nennt. Nicht von ungefähr hat das Internet, das bislang freiste Kommunikationsmedium der Menschheit, innerhalb von kürzester Zeit auch eine sehr finstere Seite herausgebildet, voller Pornografie, Gewalt, Hass und Mordaufrufen, in dem die „sozialen Netzwerke“ diesen Namen kaum noch verdienen.
Sogar der letzte Gedanke, den Paulus in unserem Text äußert, trifft ins Schwarze: „Sie tun es [das Böse] nicht allein, sondern haben auch Gefallen an denen, die es tun“ (V. 32). Wer sich unter diesem Aspekt die Unterhaltungsindustrie anschaut, von den griechischen Theatern über die römischen Arenen bis hin zu unseren Kinosälen, kommt zu dem alles andere als erstaunlichen Ergebnis, dass unethisches Verhalten unterhaltsamer zu sein scheint als ethisches. Die Schein- und Glitzerwelt, die wir um uns herum veranstalten, ist voller Verbrechen, Betrug und Mord. Eine Familiengeschichte wird erst spannend, wenn möglichst oft die Betten gewechselt werden und einer den anderen hintergeht. Unsere Mode ist voller Anspielungen auf die Unterwelt und das Chaos. Selbst biedere Familienkutschen haben den „bösen Blick“, wir kleiden uns in Gangsteroutfits und Tarnklamotten. Die Genesis zieht daher eine direkte Linie vom Essen der verbotenen Frucht über den Brudermord (1. Mose 4) bis hin zur Ankündigung maßloser Vergeltung: „Einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Beule. Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal“. (1. Mose 4,23f.)
Die von Gott gewollte Herrschaft des Menschen über die Schöpfung ist durch den Sündenfall zur Gewaltherrschaft verkommen, für manche Kreaturen sogar zum Terrorregime, in dem erbarmungslos gewütet wird. Denn was Menschen einander antun, tun sie oft in noch größerem Ausmaß ihren Mitgeschöpfen im Tierreich an. Von der angedachten weisen Herrschaft des Ebenbilds Gottes ist jedenfalls kaum noch etwas zu spüren.
Mit dem Verlust des Maßstabs, mit der Orientierungslosigkeit ist noch ein weiterer Aspekt verbunden, der das ganze Ausmaß der Sünde erahnen lässt. Wenn wir noch einmal an das verlorene Häufchen Wehrdienstleistender damals im Wald denken, dann müssen wir die verblüffende Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass nichts, mit dem meine Kameraden und ich es seinerzeit zu tun hatten, an sich schlecht gewesen ist. Der Wald und die Wiesen waren keine lebensfeindlichen Umgebungen, die Karte war auf dem allerneusten Stand, die Wege waren gepflegt, gut erkennbar und sämtlich in der Karte verzeichnet (das vermute ich jedenfalls). Die Karte selbst war ebenfalls nicht exotisch, sondern entsprach der für Wanderkarten üblichen Symbolik und Farbgebung. Auch der Gedanke, dass man bei einer Gruppe von Männern und nur einer Karte die Führung einem überlassen sollte, der sich anhand der Karte orientiert, ist im Grunde sehr sinnvoll. Wenn das jedoch einer ist, der sich nur auszukennen meint, in Wirklichkeit freilich keine Ahnung von der Materie hat, geht trotzdem alles schief.
So ist auch die Schöpfung nach dem Sündenfall keineswegs schlecht geworden. Das „sehr gut“, das Gott zu Anfang über seine Kreation gesprochen hat (1. Mose 1,31), gilt weiterhin. Jede Theologie oder Philosophie, die hier den Hebel ansetzen und die gute Schöpfung für fehlerhaft, böse und damit in ihrem Sein beeinträchtigt sieht, stimmt deshalb nicht mit dem biblischen Befund überein. Das tut allerdings auch keine Weltanschauung, die das genaue Gegenteil behauptet und die Schöpfung nicht nur für gut erklärt, sondern auch behauptet, es gäbe eigentlich kein Problem. Nein, seit dem Sündenfall, seit dem großen Verlust des Maßstabs und der Orientierung ist vielmehr alles gleichzeitig gut und böse. So wie ein Spiegel weiterhin ein guter Spiegel bleibt, aber trotzdem das falsche Bild wiedergibt, wenn er falsch ausgerichtet ist, so ist es auch mit der Schöpfung. So wie die Karte gut ist und bleibt, selbst wenn sie falsch gebraucht wird, dann aber die Menschen in die Irre führt, so ist das auch mit der Schöpfung.
Seit dem Sündenfall kann man daher keine absoluten Maßstäbe mehr aufstellen. Nichts ist „an sich gut“, ebenso wenig ist etwas „an sich böse“, vielmehr ist in jedem „Guten“ bereits das Potenzial zum Bösen enthalten – und das Böse, mit dem wir am wenigsten gut umgehen können, ist das verdrehte Gute: Ein falscher Freund ist schlimmer als ein erklärter Feind. Mit einer trügerischen Sicherheit lässt es sich schwerer umgehen als mit einer klaren Gewissheit.
Ethische und moralische Maßstäbe können daher immer nur eingeschränkt verallgemeinert werden: In der Regel ist es richtig, nicht zu lügen und stattdessen ehrlich die Wahrheit zu sagen, aber es gibt auch Ausnahmesituationen (vgl. etwa 2. Mose 1,15-21). Genauso wenig lassen sich Menschen in gute und böse einteilen. Es mag zwar Menschen geben, denen man mit einigem Recht unterstellt, dass sie vor allem egoistisch handeln und dabei buchstäblich über Leichen gehen. Die Probleme, die sie verursachen, lassen sich aber nicht dadurch lösen, dass man sich einige „gute“ Menschen sucht und ihnen die größtmögliche Macht gibt. Wie wir alle wissen, würde genau das die Möglichkeiten zum Machtmissbrauch ins Unermessliche steigern, womit niemand mehr für die Integrität dieser Menschen garantieren könnte, ja nicht einmal für die eigene, wenn man selbst in ihrer Position wäre.
Mit dem Sündenfall sind die Menschheit und mit ihr die gesamte Schöpfung also in eine undurchschaubare Gemengelage gestürzt, die nicht nur die finstersten Seiten zum Vorschein brachte, sondern insgesamt auch ein Austoben böser Mächte. Zeiten der Orientierungslosigkeit sind schließlich immer auch Hochzeiten von Verführern, Demagogen und Hetzern. In der großen Krise der Welt ist das nicht anders.
Chaos.
Wenn sich ein Statthalter, eine Provinz, ein Vasall oder eine Kolonie von der Zentralregierung, dem Kaiser, der Königin oder dem Mutterland lossagt, nennt man das Rebellion. Insofern ist es richtig, wenn das, was die Menschheit Gott gegenüber tut und getan hat, in evangelistischen Predigten und anderswo als Rebellion bezeichnet wird. Allerdings erscheint mir der Begriff viel zu harmlos, um das tatsächliche Ausmaß unseres Problems zu beschreiben. Denn in einer rebellierenden Provinz gibt es in der Regel immer noch eine Ordnung, eine Herrschaft, eine politische, wirtschaftliche und soziale Struktur – kurzum Dinge, die ein Weiterfunktionieren ermöglichen.
Als sich zum Beispiel die amerikanischen Kolonien Ende des achtzehnten Jahrhunderts gegen das englische Mutterland erhoben haben, haben sie sich gleichzeitig eine Verfassung gegeben, nach der sie ihre politischen Belange ohne den englischen König und das englische Parlament regeln konnten. Das Gleiche geschah in den ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion, als diese gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts unabhängige Staaten wurden.
Wenn sich also die Menschheit als Ganzes gegen Gott erhoben hätte, wenn sie den Garten weiterhin bebaut und bewahrt, aber Gott den Einlass verweigert hätte, dann könnte man von einer Rebellion sprechen. Dann wäre es so wie in dem Gleichnis von den bösen Weingärtnern, das Jesus in Matthäus 21,33-39 erzählt. Hier übernehmen die Pächter den Weinberg, führen ihn als solchen weiter, verweigern aber dem eigentlichen Besitzer jegliche Rechte. Für den Weinberg selbst ändert sich damit zunächst nichts, vermutlich bekommen noch nicht einmal die unmittelbaren Nachbarn mit, dass es überhaupt eine Rebellion gibt, weil erst am Tag der Abrechnung, wenn der Besitzer seine Knechte schickt, um die Pacht einzutreiben, offenbar wird, was vermutlich schon vorher von langer Hand geplant gewesen war.
Der Zustand der Welt ist allerdings sehr viel schlimmer. Im Bild gesprochen verweigern hier die Pächter des Weinbergs nicht nur die Zahlung der Pacht, sondern sind sich auch untereinander uneins darüber, ob sie überhaupt weiterhin Weinbau betreiben wollen. Der eine vermutlich schon, ein zweiter möchte aus dem Weinberg lieber einen Gemüsegarten machen, wieder einem anderen gefällt die Lage so gut, dass er über den Bau eines Hauses nachdenkt. Und leider gibt es weder einen „Oberpächter“, der über so viel natürliche Autorität verfügt, dass er sagen könnte, wo es langzugehen hat, noch irgendeine Entscheidungsstruktur, durch die die verschiedenen Interessen und Stimmen der Pächter zum Ausgleich gebracht werden könnten. So steht also jeder mit Schaufel, Spitzhacke oder welchem Werkzeug auch immer da und versucht aus dem Weinberg das zu machen, was er für richtig hält.
Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass das nicht lange friedlich bleiben würde. Ein Weinberg ist ein begrenztes Gebiet, in dem man deshalb auch nur eine sehr begrenzte Anzahl von Projekten umsetzen kann. Er bleibt also entweder ein Weinberg oder wird ein Gemüsegarten bzw. ein Baugrundstück. Im Gegensatz dazu ist die Anzahl der Ideen, die die Pächter für den Weinberg haben könnten, prinzipiell unbegrenzt, womit es zwangsläufig zu Interessenskonflikten kommen muss.
Und nicht nur das. Vermutlich lassen sich nämlich die wenigsten dieser Ideen von einem einzelnen Pächter allein verwirklichen. Um den Weinberg als solchen zu erhalten, braucht man Arbeitskräfte, ebenso für den Bau eines Hauses oder das Anlegen eines großen Gartens. Damit jedoch tritt zur Konkurrenz um dasselbe Stück Land noch eine weitere hinzu: Es gibt einen Wettstreit darum, wer seine Ideen durchsetzen kann und wer anderen dabei helfen muss, ihre Ideen umzusetzen. Und weil das so ist, ist ein Machtkampf unvermeidlich.
Dieser Machtkampf wird vermutlich nicht nur darüber ausgefochten werden, wer seine Ideen auf welchem Stück Land umsetzen darf und wer ihm dabei zu helfen hat, sondern auch viel grundlegender darüber, wer so etwas in Zukunft entscheiden darf bzw. wie das überhaupt entschieden werden soll.
Das vermeintliche „Recht“ des (körperlich) Stärkeren ist zwar eine naheliegende, aber sicher keine dauerhafte Lösung. Sobald sich genügend „Kleine“ zusammentun, können sie den „Großen“ nämlich überwinden. Das Ergebnis wird eine Zersplitterung in unterschiedliche Parteien und „Pächterkollektive“ sein, die um die Vorherrschaft ringen. Um ihre jeweiligen Ansprüche auch ideologisch zu untermauern – und damit überzeugender zu machen –, werden sie auf entsprechend unterschiedliche „Gründe“ verweisen, weswegen eigentlich sie das Sagen haben sollten. Der eine wird mit seinem relativ hohen Alter und der damit verbundenen Erfahrung argumentieren, ein anderer gerade mit seiner Jugend und der darin vermuteten Innovationskraft, ein Dritter wird auf seine „noble“ Geburt verweisen, ein Vierter darauf, dass er den „ältesten“ oder „neusten Plan“ verfolge, und so weiter. Eine Partei wird vielleicht sogar behaupten, im Auftrag und Willen des ursprünglichen Weinbergbesitzers zu handeln, der ihr den Weinberg anvertraut habe, während eine andere gerade darauf pocht, nur sie könne die Unabhängigkeit von der Willkür der alten Ordnung gewährleisten. Aus einem Konflikt der Menschen wird auf diese Weise ein Krieg der Ideen und Weltanschauungen, der Ordnungssysteme und Ideologien.
Über all dem geht schließlich das verloren, was man landläufig die „Wahrheit“ nennt, also die Antworten auf so schlichte Fragen wie: Wozu war dieses Stück Land ursprünglich bestimmt? Wer sollte hier eigentlich die Arbeiten und die Arbeiter einteilen? Welche Regelungen waren für die Verwaltung gedacht? Das bedeutet natürlich nicht, dass die „richtigen“ Antworten auf diese Fragen plötzlich verschwunden wären (obwohl das sicher auch passieren könnte), sondern vor allem dass sie so in einem Wust von anderen, eben „falschen“ Antworten untergehen, dass man sie nicht mehr herausfiltern kann. Und weil jede Antwort immer auch von einer der Parteien herangezogen wird, um ihren Herrschaftsanspruch zu legitimieren und die Interessen der anderen abzuweisen, sind alle Antworten gleichermaßen verdächtig, egal ob sie nun wahr sind oder nicht.
Das, was eben anhand eines kleinen Denkmodells durchgespielt wurde, ist nach der Bibel in großem Maßstab in unserer Welt passiert. Schon das Essen der verbotenen Frucht löst die Menschheit als einheitliche Größe auf: Adam und Eva verbergen sich voreinander hinter selbst gemachten Schurzen aus Feigenblättern (1. Mose 3,7). Von Gott zur Rede gestellt, liefern sie sich einander wenig später sogar ans Messer (3,11-13). Von Kains Brudermord und der darauf angekündigten maßlosen Vergeltung war schon die Rede.
Nur noch ein einziges Mal danach tritt die Menschheit als Einheit auf: beim Versuch, einen Turm zu bauen, der bis an den Himmel reicht und Gott vom Thron stoßen soll. Nichts eint schließlich so sehr wie ein gemeinsamer Gegner. Das Ende ist jedoch die Zerstreuung der Menschheit mit der dazugehörigen Sprachverwirrung (1. Mose 11,1-9). Seither spricht die Menschheit nicht mehr mit einer Stimme. Der Ausdruck Rebellion erscheint daher als viel zu harmlos. Womit wir es zu tun haben, ist vielmehr ein großes, komplexes und vollkommen unübersichtliches Chaos, bei dem die Machtverhältnisse ständig neu austariert werden – und trotzdem oft genug unklar bleiben.
Dieses Chaos, diese Anarchie, in die die Schöpfung gestürzt wurde, kann man sich nicht umfassend genug vorstellen. Weil es keine allgemeingültigen Maßstäbe gibt und auch keine allgemein anerkannte Autorität, betrifft es alle Bereiche des Lebens. Schon die Genesis lässt den Brudermörder Kain als ersten Städtebauer auftreten (1. Mose 4,17). Von seiner Linie stammen aber nicht nur die Sesshaften, sondern auch die Nomaden, die Musiker und die „Erz- und Eisenschmiede“ ab (4,19-22). Das, was wir als Kultur, Zivilisation und Technologie bezeichnen, ist also kein Ausweg aus dem Chaos der Sünde, sondern nur seine Verlagerung auf eine andere Ebene.
Durch die Bildung von Gemeinschaften und Kollektiven gelingt es uns nämlich, so etwas wie eine kleine, eng begrenzte Struktur ins große Chaos zu bringen. Die totale Anarchie wird damit überwunden, gleichzeitig werden auch die menschlichen Möglichkeiten begrenzt, die eigenen Interessen auf Kosten der anderen durchzusetzen. Das ist zunächst einmal eine gute Entwicklung. Der Preis dafür ist allerdings hoch: Denn während in einem völlig herrschaftslosen System die Gewalt auf die Handlungsmöglichkeiten Einzelner beschränkt ist, eröffnen sich in einer Gemeinschaft in dieser Hinsicht ganz neue Dimensionen. Nur Gemeinschaften sind dazu fähig, Eroberungskriege zu führen und effektive Unterdrückungsapparate aufzubauen. Dazu kommt, dass mit Gemeinschaften in der Regel ein ethisch entlastender Effekt verbunden ist. Wer aus dem Hinterhalt auf einen Menschen schießt, den er nicht kennt und der ihm nie etwas zuleide getan hat, gilt gemeinhin als feiger Mörder. Im Krieg kann er jedoch als hochdekorierter Scharfschütze nach Hause kommen und als Held gefeiert werden.
Damit möchte ich nicht sagen, dass Gemeinschaften moralisch verwerflicher handeln als Individuen. Es ist vielmehr so, dass Gemeinschaften über ein größeres Potenzial verfügen als Individuen – und dieses Potenzial sowohl zum Guten wie zum Bösen einsetzen können. Gemeinschaft ist also weder gut noch böse, ebenso wie ein Leben als Einzelner weder gut noch böse ist. Die Frage ist vielmehr, wozu etwas eingesetzt wird.
Und dass es zu etwas eingesetzt wird, ist sicher. Wir Menschen bleiben Spiegel, die nicht anders können, als zu spiegeln. Übertragen bedeutet dies, dass wir darauf angelegt sind, Teil von etwas zu sein, das größer ist als wir selbst. Wir identifizieren uns immer mit irgendeiner Form von Gemeinschaft; wir haben Wertvorstellungen, von denen wir annehmen, dass sie nicht nur von uns geteilt werden; wir folgen Zielen, von denen wir denken, dass sie allgemeingültig sind; wir schöpfen unsere Identität daraus, in vielerlei Hinsicht so zu sein wie die anderen, egal ob sie sich nun als Individuen, Teil eines Kollektivs, als Konsumenten oder Kreative oder was auch immer sehen. Wir sind Teil unserer Kultur, unserer Zivilisation, übernehmen bewusst und vor allem unbewusst deren Werte und Zielvorstellungen und gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass das doch „alle“ so sehen (sollten) wie wir.
Aus diesem Grund sind auch Kultur, Kunst und Technik nicht neutral. Sie sind vielmehr Mittel zum Zweck, wobei der Zweck entscheidet, wie die Mittel zu betrachten sind. Musik kann der Anbetung Gottes dienen, aber auch zum Hass aufstacheln oder zum Kampf auffordern. Kunst kann die Schönheit und Harmonie der Schöpfung wiedergeben oder die Hässlichkeit ihrer Zerstörung. Technik kann verbinden oder trennen, sie kann das Leben, aber auch das Töten leichter machen. Und oft ist es dieselbe Technik, die zu beidem eingesetzt wird.
Zu welchem Zweck die jeweiligen Mittel gebraucht werden sollen, entscheiden wir Menschen anhand von den Dingen, die größer sind als wir selbst. Und damit sind wir bei den großen überpersonalen Systemen, bei den Kulturen und Weltanschauungen, bei Wertesystemen und gemeinschaftlichen Ordnungen – kurz: bei all dem, was das Neue Testament „Mächte und Gewalten“ nennt (z. B. in Römer 8,38; 1. Korinther 15,24; Epheser 6,12 u. ö.). Sie sind es, die Herrschaft legitimieren und Interessen vorgeben, sie binden Menschen und geben ihnen Ordnung und Orientierung, sie sorgen dafür, dass das Chaos nicht überhandnimmt.
In der Antike wurden sie als Gottheiten angebetet, was zeigt, welch großen Einfluss sie haben. Wir heute errichten ihnen keine Altäre mehr, kennen ihre Macht allerdings immer noch sehr gut. Es geht um abstrakte Ideen und Ideologien wie Kapitalismus, Sozialismus, Liberalismus, Nationalismus und Ähnliches, aber auch um so etwas wie „die Märkte“, „Identität“, „nationale Interessen“, „Gemeinwohl“ und vieles mehr. All das sind Mächte und Kräfte, die wir nicht ignorieren können, weil wir sonst von ihnen zerquetscht werden. Und dieser Ausdruck ist mit Bedacht gewählt, denn bis heute zerstören die genannten Mächte nicht nur Karrieren, sondern auch Gesundheit und Leben nicht weniger Menschen.
Das ist jedoch nur die eine Seite. Weil die Mächte ordnungs- und sinnstiftend sind, ermöglichen sie nämlich in vielerlei Hinsicht überhaupt erst Gemeinschaft und Fortschritt. Sie schaffen den Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen und sorgen dafür, dass wir so etwas wie eine Identität haben und auf dieser Basis miteinander kommunizieren können. Und nicht zuletzt geben sie die Regeln vor, nach denen ein geordnetes Zusammenleben überhaupt erst möglich ist.
Wie wichtig sie sind, wird deutlich, wenn man versucht, auf sie zu verzichten. Einen „weltanschaulich neutralen Staat“ zum Beispiel kann es eigentlich nicht geben, weil auch er Ausdruck einer Weltanschauung ist, nämlich der, dass er allein in Form einer unantastbaren (und damit quasireligiösen) Ordnung – zum Beispiel den Grundrechten im Grundgesetz – festlegt, welchen Rang andere Weltanschauungen einzunehmen haben. Damit kann er jedoch in dieser Hinsicht nicht mehr neutral sein, schließlich verlangt er von allen anderen Weltanschauungen, dass sie sein Weltbild als letztgültig akzeptieren, dass sie also zum Beispiel dem Satz zustimmen: „Das Grundgesetz steht über der Bibel und dem Koran.“
Ebenso unmöglich ist es, eine „pluralistische Erziehung“ zu vermitteln, bei der die Kinder erst im Erwachsenenalter darüber entscheiden sollen, welche Werte sie annehmen möchten und welche nicht. Denn auch damit ist ein Werturteil verbunden, nämlich der Gedanke, dass alle Werte letztlich auf einer Ebene angesiedelt sind, dass es also im Grunde beliebig ist, welchen Ideen und Ideologien einer anhängt, ob er also nationalistisch, religiös, demokratisch, feministisch, säkularistisch oder sozialistisch wird. Der dabei vorausgesetzte Pluralismus wird freilich unter den genannten Strömungen keine Anhänger finden, weil jede von ihnen – ebenso wie ein Anhänger einer „pluralistischen Erziehung“ – davon überzeugt ist, dass ihr das letztgültige Bewertungsurteil zusteht.
Und damit sind wir mitten in den Schwierigkeiten, vor denen wir im Umgang mit „Mächten und Gewalten“ stehen: Ebenso wie Gemeinschaften sind auch Weltanschauungen und andere Systeme notwendig, weil sie Strukturen in das Chaos bringen. Ebenso wie Gemeinschaften sind sie sich darin aber nicht einig und tendieren jeweils dazu, sich selbst als letztgültiges Ordnungssystem zu betrachten. Auch sie wollen also sein wie Gott und entscheiden, was gut und böse ist. Auch sie treten damit in Konkurrenz zum Schöpfer des Alls. Und noch mehr als einzelne Individuen bestimmen sie das Schicksal der Menschheit. Das kann auch nicht anders sein, weil wir Menschen ein Spiegel sind, der immer auf eine oder mehrere von ihnen ausgerichtet ist.
Zorn.
„Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Wesen und alle Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten“ (Römer 1,18), schreibt der Apostel Paulus ziemlich zu Anfang seines Briefes an die römische Gemeinde. Nun ja, damit würde er sich heute nicht mehr besonders beliebt machen. Von Gottes Zorn wird zumindest in meinem Umfeld nur noch wenig gesprochen. Stattdessen verwendet man lieber „weichere“ Begriffe, die allerdings auch ein bisschen passiv klingen. Gott ist dann „traurig“ über den Zustand der Welt und „sehnt sich“ danach, dass alles wieder in Ordnung kommt. Aber zornig? Auf keinen Fall.
Das hat sicher auch seine guten Seiten. Auf den Gedanken, Gott als jungen Stier abzubilden, würde in unseren Gemeinden sicher niemand mehr kommen. (Uns würde vielleicht eher ein schmachtendes Mädchen hinter einer verregneten Fensterscheibe in den Sinn kommen.) Aber einmal abgesehen davon frage ich mich, ob das wirklich so gut ist. Denn warum sollte Gott nicht zornig sein – oder anders gefragt: Was wäre das für ein Gott, der nicht zornig werden würde? Er hat schließlich das Universum geschaffen, er hat eine Welt gemacht, über die er sein „sehr gut“ gesprochen hat, und dann einen Ruhetag eingelegt, um wie ein stolzer Arbeiter sein Werk zu bestaunen. Er hat uns Menschen geschaffen, Wesen, die sein Ebenbild in sich tragen sollen, Kreaturen, in denen er sich selbst erkennen möchte. Ihnen hat er eine große Verantwortung und Aufgabe gegeben, wir sollen seine Schöpfung weitergestalten, sie bebauen, bewahren, erhalten und entwickeln. Wir sollen der Ort sein, an dem die Schöpfung Gott begegnet, und gleichzeitig das Gegenüber Gottes, in dem sich das Beste der Schöpfung wiederfindet.
Doch stattdessen wird der großartige Tempel, den Gott errichtet hat, profaniert, beschmiert, teilweise abgerissen und umgebaut, vor allem aber mit allen möglichen Besitzansprüchen versehen und mit Götzenbildern zugestellt. Wir schänden und vergiften die Erde, wüten und zerstören, beuten aus und unterdrücken. Wenn die Schöpfung an uns Gott erkennen soll, dann erscheint er wie ein Monster, das willkürlich und vor allem aus egoistischen Motiven handelt, das alles seinen Zwecken unterwirft und dem zu ihrer Erreichung jedes Mittel recht ist. Und in all dem fallen wir vor fremden Göttern auf die Knie, hängen zerstörerischen Ideologien an, verbrecherischen Strukturen und ungerechten Systemen.
Wohin das alles führt – auch daran lässt die Bibel keinen Zweifel. Der „letzte Feind“ ist der Tod (1. Korinther 15,26), denn er ist der große Auslöscher, durch den die Schöpfung Stück für Stück rückgängig gemacht wird. Aus dem Nichts ist die Welt geschaffen worden, ins Nichts wird sie wieder vernichtet werden, wenn der Tod das letzte Wort hat. Und dabei geht es nicht allein um den Augenblick, in dem wir die Augen für immer schließen, sondern um noch viel mehr. Der Tod wirft einen Schatten auf unser Leben, er ist das geheime Vorzeichen vor allem, was wir tun. Durch ihn wird Leben zum Kampf ums Überleben. Die meiste Zeit fällt uns das nicht auf, aber trotzdem begrenzt der Tod unsere Lebensmöglichkeiten, er setzt uns Fristen, er sorgt dafür, dass wir nicht unser ganzes Potenzial verwirklichen können, sondern uns beschränken müssen. Weil wir nicht unendlich Zeit haben, versuchen wir so viel wie möglich in unser begrenztes Dasein hineinzustecken. Und dabei sind wir uns oft selbst der Nächste. Es ist besser, wenn ich die Stelle, den Partner, das Stück Kuchen, den Vorteil oder was auch immer bekomme und nicht ein anderer, denn wer weiß, wie viele mir davon noch angeboten werden.
Auf durchaus sehr viel weniger subtile Weise wird der Tod als Herrschaftsinstrument eingesetzt. Gewalt „funktioniert“ letztlich deshalb so gut, weil sie wirkungsvoll mit dem Tod oder seinem Vorboten, dem Leiden, drohen kann. Schon Jesus wusste, „dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun“ (Matthäus 20,25). Deshalb hat er seine Jünger auch gewarnt: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können.“ (Lukas 12,4) Wer das ist, liegt auf der Hand, denn alle Herrschaftsstrukturen, angefangen von einer anarchischen Räuberbande bis hin zur modernen Gesellschaft, haben gemeinsam, dass sie ihre Herrschaft letztlich auf den Tod aufbauen. Der kommt heute nicht mehr zwangsläufig in Form von Todesurteilen für alle, die der Herrschaft widersprechen (in vielen Regionen der Erde allerdings schon), freilich bleiben andere Formen bestehen, von wirtschaftlichen und finanziellen Einbußen über Einschränkungen von Freiheiten und Ausgrenzung bis hin zum „sozialen Tod“. Und weil unsere Zeit begrenzt ist, reagieren wir an dieser Stelle so ängstlich.
Der Sündenfall hat die gute Schöpfung Gottes also nicht nur in ein sehr komplexes Chaos gestürzt, sondern sie auch fremden Mächten ausgeliefert, die sie nicht allein misshandeln und quälen, sondern letztlich dem Tod preisgeben. Aus dem Tempel, der für die Ewigkeit gedacht war, ist ein zeitlich begrenztes Projekt geworden.
Warum also sollte Gott nicht zornig sein? Nach dem Römerbrief wendet sich dieser Zorn doch gar nicht gegen die Schöpfung selbst (wehe einer Theologie, die so etwas behauptet!), sondern gegen „alles gottlose Wesen und alle Ungerechtigkeit“, also gerade gegen das, was die Schöpfung bedrängt, knechtet und zerstört. Es ist der Zorn eines Vaters, der mit ansehen muss, wie seine Kinder zugrunde gerichtet werden, wie sie Ausbeutern in die Hände fallen, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen, aber sie nur abhängig machen und missbrauchen. Es ist der Zorn eines Vaters, der mit ansehen muss, wie sie darunter leiden und schwächer werden, der mit ansehen muss, wie ihnen Lebensmöglichkeiten geraubt werden, wie ihnen Erfüllung versprochen, aber Dreck serviert wird.
Wer da nur traurig wird und sich nach einer besseren Beziehung sehnt, hat kein Herz. Ich denke deshalb, dass es unserer Nachfolge nur guttun würde, wenn wir uns wieder klarmachen, wer dieser Gott ist, von dem Israel einst meinte, ihn in einem jungen Stier abbilden zu können.
Vom Zorn her lässt sich auch das Gericht verstehen. Wer im Gericht ein Zerstörungswerk sieht, hat es deswegen nicht verstanden. Wenn Gott sich darauf einlassen würde, würde er nicht nur seinem Wesen widersprechen, sondern gerade das Werk der Finsternismächte verrichten. Ein Gott, der seine Schöpfung vernichtet, macht sich zum Komplizen des Todes.
Die Schöpfung braucht jedoch keine weitere Macht, die sie drangsaliert. Was sie braucht, ist jemand, der sie wiederherstellt, sie reinigt, sie aufrichtet und vom Tod befreit. Sie braucht jemanden, der die Finsternismächte besiegt und die Menschheit aus ihren Klauen reißt, der dafür sorgt, das Unrecht und Unterdrückung ein Ende finden. Gericht muss man daher vom „Richten“ her verstehen: So wie ein Gärtner eine Pflanze aufrichtet, die daniederliegt, so wie ein Handwerker einen Gegenstand richtet, der schief geworden ist, so richtet Gott die Welt. Deshalb wird er „das geknickte Rohr … nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“, denn das würde ja auch gar keinen Sinn machen. Das Ergebnis des Gerichtes kann also gerade nicht das große Rückgängigmachen der Schöpfung sein, sondern ihre Aufrichtung zur wahren Größe. Deshalb endet diese große Verheißung in Jesaja 42,4 auch mit den zusammenfassenden Worten: „In Treue trägt er das Recht hinaus.“
Weil das Problem jedoch so unglaublich vielschichtig und komplex ist, kann auch die Lösung keine „einfache Sache“ sein. So wie die Zerstörung der Schöpfung auf vielen verschiedenen Ebenen stattfindet – materiell und immateriell –, muss ihre Aufrichtung und Wiederherstellung auf denselben Ebenen angegangen werden. So wie die Sünde das ganze Leben in all seinen Dimension erfasst und prägt, muss es auch das Heil tun. Wenn wir uns von nun an mit Gottes Weg zur Lösung des Problems beschäftigen, sollten wir also genau das im Hinterkopf behalten.