Aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Exorcist
erschien 1971 im Verlag Harper & Row.
Copyright 40th Anniversary Edition
© 1971, 2011 by William Peter Blatty.
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig
Veröffentlicht mit Erlaubnis der Erben.
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-773-8
www.Festa-Verlag.de
Für Julie
Als Jesus an Land ging, lief ihm ein Mann aus der Stadt entgegen, der von Dämonen besessen war … Schon seit Langem hatte ihn der Geist in seiner Gewalt, und man hatte ihn wie einen Gefangenen an Händen und Füßen gefesselt. Aber immer wieder zerriss er die Fesseln … Jesus fragte ihn: Wie heißt du? Er antwortete: Legion.
LUKAS 8, 27-30
JAMES TORELLO: Die haben Jackson an den Fleischerhaken gehängt. Er war so schwer, dass er ihn verbogen hat. Drei Tage hing er an dem Ding, bis er abgekratzt ist.
FRANK BUCCIERI (kichernd): Jackie, du hättest den Kerl sehen sollen. Der war wie ein Elefant, und wenn Jimmy ihm eins mit dem Elektroschocker verpasst hat …
TORELLO (begeistert): Er hing zappelnd an diesem Haken, Jackie. Wir haben ihn mit Wasser überschüttet, damit der Schocker besser wirkt, und er war am Schreien …
AUS FBI-AUFNAHMEN EINES
ABGEHÖRTEN COSA-NOSTRA-TELEFONATS
ÜBER DEN MORD AN WILLIAM JACKSON
Für manche der Dinge, die die Kommunisten getan haben, gibt es keine andere Erklärung. Wie bei dem Priester, dem sie acht Nägel in den Schädel gehämmert haben. (…) Dann waren da noch die sieben kleinen Jungen und ihr Lehrer. Sie waren dabei, das Vaterunser zu beten, als die Soldaten über sie herfielen. Einer hat sein Bajonett genommen und dem Lehrer die Zunge abgeschnitten. Die anderen haben den sieben kleinen Jungen Essstäbchen in die Ohren gestochen. Wie behandelt man solche Fälle?
DR. TOM DOOLEY
Dachau
Auschwitz
Buchenwald
Prolog
Im Norden Iraks
Die glühende Sonne brachte Schweißperlen auf der Stirn des alten Mannes zum Vorschein, und dennoch legte er die Hände um das Glas mit heißem, süßem Tee, als ob er sie wärmen wollte. Er wurde die böse Vorahnung nicht los. Sie klebte an seinem Rücken wie kühles, nasses Laub.
Die Ausgrabung war vorbei. Der Tell war Schicht für Schicht durchsucht worden, man hatte die Innereien des Siedlungshügels untersucht, etikettiert und verladen: die Perlen und Anhänger; die Glyptiken; die Phalli; Mörser aus geschliffenem Stein mit Ockerflecken; polierte Töpfe. Nichts Außergewöhnliches. Eine assyrische Toilettendose aus Elfenbein. Und Menschen. Die Knochen von Menschen. Die morschen Überreste dieser kosmischen Folter, die ihn einmal dazu verleitet hatte, sich zu fragen, ob die Materie nichts anderes sei als Luzifer, der von unten nach seinem Gott grapschte. Aber jetzt wusste er es besser. Die Düfte von Süßholz und Tamarisken ließen ihn den Blick auf die Mohnhügel richten, auf die schilfbewachsene Ebene und die zerklüftete, mit Steinen übersäte Straße, die sich wie ein Pfeil in die Ungewissheit bohrte. Im Nordwesten lag Mosul, im Osten Erbil, im Süden befanden sich Bagdad, Kirkuk und der feurige Ofen Nebukadnezars. Er bewegte die Beine unter dem Tisch vor der einsamen Teestube am Straßenrand und starrte auf die Grasflecken an seinen Stiefeln und der Kakihose. Er nippte an seinem Tee. Die Ausgrabung war vorbei. Was würde jetzt beginnen? Er staubte diesen Gedanken ab wie ein frisches Fundstück, fand jedoch kein passendes Etikett für ihn.
Aus dem Inneren der Teestube war ein pfeifendes Atmen zu hören: Der verdorrte, alte Besitzer schlurfte auf ihn zu und wirbelte Staub auf mit seinen russischen Schuhen, die er wie Pantoffeln trug und deren Hinterkappen unter seinen Fersen knirschten. Sein dunkler Schatten kroch über den Tisch.
»Kaman chay, chawaga?«
Der Mann in kakifarbener Kleidung schüttelte den Kopf und starrte auf die senkellosen, verdreckten Schuhe hinab, die dick verkrustet waren von den Ablagerungen des Daseins. Der Stoff, aus dem der Kosmos ist, dachte er milde: Materie; doch auf irgendeine Weise letztlich Geist. Der Geist und diese Schuhe waren für ihn lediglich Aspekte eines viel grundlegenderen Stoffes, der ursprünglich und vollkommen fremdartig war.
Der Schatten verlagerte sich. Der Kurde stand da und wartete wie eine uralte Schuld, die beglichen werden wollte. Der alte Mann in Kaki hob den Blick und schaute in Augen, die auf feuchte Weise ausgebleicht wirkten, als hätte sich eine Eierschalenmembran über die Iris gelegt. Glaukom. Früher hätte er diesen Mann nicht lieben können. Er zog seine Brieftasche hervor und suchte zwischen ihren rissigen, zerknüllten Bewohnern nach einer Münze: Da waren einige Dinare, ein irakischer Führerschein und eine zwölf Jahre alte, verblichene katholische Kalenderkarte. Auf ihrer Rückseite stand: ›Was wir den Armen geben, nehmen wir mit uns, wenn wir sterben.‹ Er bezahlte seinen Tee und hinterließ ein Trinkgeld von 50 Fils auf dem zersplitterten Holz eines Tisches, der die Farbe von Traurigkeit hatte.
Er ging zu seinem Jeep. Das Klirren des Schlüssels, der ins Zündschloss glitt, durchdrang kristallklar die Stille. Für einen Augenblick hielt er inne und starrte grübelnd ins Leere. In der Ferne ragte die Hügelstadt Erbil mit ihrer abgeflachten Oberseite hoch auf und wirkte im Hitzeflimmern wie eine schwebende Insel. Ihre brüchigen Dächer hingen in den Wolken wie ein von Trümmern übersäter, schlammbedeckter Himmelssegen.
Die Laubblätter klebten sich fester an seinen Rücken.
Etwas wartete.
»Allah ma’ak, chawaga.«
Verfaulte Zähne. Der Kurde grinste und winkte zum Abschied. Der Mann in Kaki tastete in den Tiefen seines Inneren nach Wärme und brachte ein Winken und ein knappes Lächeln zustande. Es ließ nach, als er den Blick abwandte. Er startete den Motor, fuhr eine scharfe, exzentrische 180-Grad-Wende und brach in Richtung Mosul auf. Der Kurde blieb stehen und sah ihm nach, verwirrt von einem entmutigenden Gefühl des Verlusts, das ihn überkam, während der Jeep beschleunigte. Was hatte er verloren? Was hatte er in Gegenwart dieses Fremden gespürt? Er erinnerte sich: Es war etwas wie Sicherheit gewesen, ein Behütetsein, ein tiefes Behagen. Nun verschwand es mit dem schnellen Jeep in der Ferne. Er fühlte sich auf merkwürdige Weise allein.
Um zehn Minuten nach sechs war die gewissenhafte Inventarisierung abgeschlossen. Der Kurator für Antiquitäten in Mosul, ein Araber mit hängenden Wangen, schrieb sorgfältig einen letzten Eintrag in das Bestandsbuch auf seinem Tisch. Für einen Moment hielt er inne und blickte zu seinem Freund auf, während er die Feder in ein Tintenfass tauchte. Der Mann in Kaki wirkte gedankenverloren. Er stand mit den Händen in den Taschen an einem Tisch und starrte auf irgendein trockenes, etikettiertes Flüstern aus der Vergangenheit hinunter. Einige Augenblicke betrachtete der Kurator ihn unbewegt und neugierig; dann wandte er sich wieder dem Eintrag zu und schrieb in strenger, sehr kleiner und säuberlicher Handschrift. Schließlich seufzte er und legte die Feder hin, als er bemerkte, wie spät es war. Der Zug nach Bagdad fuhr um acht Uhr. Er löschte die Seite ab und bot seinem Gegenüber Tee an.
Der Mann in Kaki schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem Gegenstand auf dem Tisch zu lösen. Der Araber beobachtete ihn mit vagem Unbehagen. Was lag da in der Luft? Irgendetwas stimmte nicht. Er stand auf und ging näher heran; dann fühlte er eine Art Prickeln im Nacken, als sein Freund sich schließlich bewegte, nach einem Amulett griff und es nachdenklich in der Hand hielt. Es war ein grüner Steinkopf, der den Dämon Pazuzu darstellte, die Verkörperung des Südwestwinds. Er brachte Krankheit und Seuchen. Der Kopf hatte ein Loch. Der Besitzer des Amuletts hatte es getragen, um sich zu schützen.
»Böses gegen Böses«, hauchte der Kurator und fächelte sich träge mit einer französischen Wissenschaftszeitschrift Luft zu, auf deren Titelseite jemand einen Daumenabdruck in Olivenöl hinterlassen hatte.
Sein Freund rührte sich nicht; er äußerte sich auch nicht. Der Kurator neigte den Kopf zur Seite. »Stimmt etwas nicht?«, erkundigte er sich.
Keine Antwort.
»Pater Merrin?«
Der Mann in Kaki schien ihn immer noch nicht zu hören, blieb ganz in das Amulett vertieft, seinen neuesten Fund. Einen Moment später legte er es hin und warf dem Araber einen fragenden Blick zu. Hatte er etwas gesagt?
»Nein, Pater. Nichts.«
Sie murmelten Abschiedsworte.
An der Tür ergriff der Kurator die Hand des alten Mannes mit besonderer Festigkeit.
»Mein Herz hat einen Wunsch: dass Sie nicht gehen.«
Die Antwort seines Freundes war sanft und handelte von Tee, von Zeit, von etwas, das erledigt werden musste.
»Nein, nein, nein! Ich meine: nach Hause!«
Der Mann in Kaki fixierte den Rest einer gekochten Kichererbse, der sich in einem Mundwinkel des Arabers festgesetzt hatte; aber sein Blick war geistesabwesend. »Nach Hause«, wiederholte er.
Der Ausdruck klang nach etwas, das endete.
»In die Staaten«, fügte der arabische Kurator hinzu und fragte sich noch im selben Moment, warum er das tat.
Der Mann in Kaki sah, wie besorgt der andere war. Es war ihm nie schwergefallen, diesen Mann gernzuhaben. »Auf Wiedersehen«, sagte er leise; dann wandte er sich rasch ab und trat in die wachsende Düsternis der Straßen hinaus, begann eine Heimreise, deren Dauer ungewiss schien.
»Wir sehen uns nächstes Jahr!«, rief der Kurator ihm von der Tür aus nach. Aber der Mann in Kaki schaute nicht zurück. Der Araber blickte der kleiner werdenden Gestalt hinterher, während diese schräg über eine schmale Straße ging und dabei beinahe mit einer schnellen Droschke zusammenstieß. In der Kabine saß eine korpulente arabische Frau, deren Gesicht nur ein Schatten hinter dem schwarzen Spitzenschleier war, der lose über ihr ausgebreitet lag wie ein Grabtuch. Er nahm an, dass sie zu irgendeiner Verabredung raste. Bald verlor er seinen eiligen Freund aus den Augen.
Der Mann in Kaki bewegte sich wie unter Zwang. Er ließ die Stadt hinter sich, durchkreuzte die Randgebiete, überquerte mit hastigen Schritten den Tigris. Aber als er sich den Ruinen näherte, wurde er langsamer, denn mit jedem Schritt nahm seine noch unausgereifte Vorahnung festere, schrecklichere Formen an.
Und doch musste er es wissen. Er würde sich vorbereiten müssen.
Eine Holzplanke, die als Brücke über einen schlammigen Fluss namens Khosr diente, knirschte unter seinem Gewicht. Und dann war er angekommen, stand auf dem Hügel, auf dem sich einmal in vollem Glanz die 15 Tore von Ninive erhoben hatten, gefürchtete Heimstatt assyrischer Horden. Jetzt lag die Stadt vor ihm, hingestreckt im blutigen Staub ihrer Bestimmung. Und doch war er da, lag noch immer in der Luft – dieser andere, der über seine Träume herfiel.
Der Mann in Kaki durchstreifte die Ruinen. Der Tempel des Nabu. Der Tempel der Ishtar. Er prüfte die Vibrationen, die er spürte. Am Palast des Assurbanipal blieb er stehen und sah zu einer Kalksteinstatue hinauf, die noch in situ aufragte. Gezackte Schwingen und Krallen an den Füßen. Ein knolliger, abstehender, stummelartiger Penis und ein Mund, den ein wildes Grinsen dehnte. Der Dämon Pazuzu.
Plötzlich erschlaffte der Mann in Kaki.
Er senkte den Kopf.
Er wusste es.
Es würde kommen.
Er starrte auf den Staub und die rasch wachsenden Schatten. Das Rund der Sonne begann unter den Rand der Welt zu sinken, und er konnte das schwache Kläffen der Rudel wilder Hunde hören, die durch die Randbezirke der Stadt streiften. Er rollte die Ärmel seines Hemdes herunter und knöpfte sie zu, als sich ein kühler Wind erhob. Er wehte aus dem Südwesten.
Der Mann hastete nach Mosul, zu seinem Zug, sein Herz ummantelt von der eiskalten Überzeugung, dass er bald von einem uralten Feind gejagt würde, dessen Gesicht er nie gesehen hatte.
Doch er kannte seinen Namen.
Erster Teil: Der Anfang