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2019 by Kathrin Heinrichs

Kathrin Heinrichs

Aus dem Takt

Sauerlandkrimi & mehr

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Ähnlichkeiten zu realen Orten sind gewollt.
Personen und Handlung des Romans dagegen sind frei erfunden.
Bezüge zu realen Menschen wird man daher vergeblich suchen.

Für die Erlaubnis zum Abdruck einiger Textzeilen danke ich sehr herzlich
dem Musikverlag Manfred Bühler („Zeit ist ein Geschenk“)
sowie dem Bundesamt Sankt Georg e. V. / Georgsverlag
(„Nehmt Abschied Brüder“, Übersetzung von C. L. Laue)

Inhalt

Auftakt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Auftakt

Wenn man den Draht stramm genug spannt, kann man eine Melodie darauf spielen. Okay, keine richtige Melodie, eher einen Rhythmus.

Pling. Pling pling. Pling pling. Pling pling.

Schwer. Leicht Schwer. Leicht Schwer. Leicht Schwer.

Das ergibt einen Takt, einen Grundschlag, ein Gerüst.

Das ist wichtig. Dass man sich an etwas festhalten kann. Etwas, das einem Struktur gibt.

Durch Störungen des eigenen Rhythmus gerät man ins Straucheln, kommt aus dem Takt.

Irgendwann bleibt einem nichts mehr übrig, als die Störungen zu eliminieren. Dieser Zeitpunkt ist nun gekommen.

Schwer. Leicht Schwer. Leicht Schwer. Leicht Schwer.

1

„S-Sch. S-S-Sch-Sch. S-S-S-Sch-Sch-Sch. S-S-Sch-Sch. S-Sch. Stopp!“ Manuel dirigierte mit der Rechten den Abschlag und klatschte dann aufmunternd in die Hände. „So, Einsingen beendet. Ich hoffe, es sind jetzt alle wach, wir beginnen die Probe mit Mambo.“

Reaktionen setzten ein, überwiegend positive, nur hier und da ein Stöhnen. Grönemeyers Song machte Spaß, war aber anspruchsvoll, zumindest für einen Chor wie unseren, der ungefähr das Gegenteil von einem Leistungschor war.

Alle begannen in ihren Noten zu kramen. „Irgendwie habe ich das nicht“, jammerte Chaosqueen Ruth.

„Natürlich hast du das“, Gerlinde wirkte genervt, sie war für die Noten zuständig.

Ruth kramte noch ein bisschen. „Stimmt, ich hatte es hinter Klaus Lage gepackt.“ Gerlinde verdrehte die Augen.

„Wer macht das Solo?“, fragte unser Chorleiter. Sofort senkten im Sopran alle die Köpfe. Wie bei meinen Klassenpflegschaftsversammlungen, wenn die Elternvertreter gewählt werden mussten.

„Annika, du?“

Die junge Sängerin färbte sich rot ein. „Ich…? Okay … kann ich versuchen.“

„Wunderbar“, Manuel wandte sich jetzt uns Männern zu. „Bass: volle Konzentration, Tenor: ich hoffe, ihr könnt den Text auswendig, damit ihr meine Einsätze seht.“

Verlegenes Gemurmel, in meinem Block kannte offenbar keiner den Text.

„Alle nochmal richtig atmen!“

Ich schnaufte tief ein und bereute es sofort. Ansgar neben mir war offenbar nach der Arbeit nicht zum Duschen gekommen.

Manuel spielte am Piano die Töne an, ich versuchte mich trotz Sauerstoffmangels zu konzentrieren, besonders der Anfang war schwer.

Vorbereitungsschlag und los. „Uaua“, starteten die Frauen – die Männer legten ein „tum tum tum tum tum“ darunter. Ich schaute immer wieder hoch, um keinen Einsatz zu verpassen. Dabei sah ich gegenüber Gerlinde stark grimassieren. Das war eigentlich gut. Ausdruck verleihen, mit allem singen, was man hat. Nur sah es bei Gerlinde immer ziemlich streberhaft aus.

„Uaua – tum tum tum tum tum tum tum – uaua uaua uaua uaua –“

„Stopp stopp stopp!“ Manuel brach ab.

„Was ist los? Der Text hat doch gesessen.“

Alles lachte, Franse sonnte sich in seinem Gag. Eigentlich hieß unser Startenor Frank, aber sein Vater war Friseur gewesen, so etwas ging einem im Sauerland ein Leben lang nach.

„Nichts für ungut“, meinte unser Chorleiter, „aber das uaua klingt ein bisschen wie Hundegejaul.“

Die Frauen beschwerten sich, die Männer lachten sich tot.

„Uaua“, sang Manuel vor, was im Vergleich überirdisch gut klang. „Die Männer waren einmal kurz aus dem Takt“, kriegten jetzt wir unser Fett weg, „und Christian, ich glaube, du oktavierst!“

Ich persönlich fand Christians Oktavieren immer noch besser als Ansgars Transpirieren, aber egal. Manuel hatte sich bereits die Hand an seiner Lederhose abgewischt und stimmte wieder an.

„Uaua – tum tum tum tum tum“, diesmal klang es eindeutig besser. Wir kamen gut durch – bei „klitschnass geschwitzt“ zuckte ich kurz in Richtung meines Nachbarn, bevor es wieder stimmig in den Refrain ging.

Nun waren wir hundertprozentig im Gleichklang und merkten das auch. In solchen Momenten baute sich ein Glücksgefühl zwischen uns auf und ich wusste wieder genau, warum ich im Chor sang. Natürlich weil meine Kollegin Kerstin mich damals bequatscht hatte. Ihr Mann Manuel hatte gerade einen gemischten Chor übernommen, da wurden Männerstimmen dringend gesucht. Ich hatte kategorisch abgelehnt, ich war kein großer Sänger, aber Kerstin hatte nicht aufgegeben: „Wenn man nicht sicher ist, kann man sich an eine gute Stimme anlehnen.“ Diese gute Stimme war für mich Ansgar.

„Singen befreit“, hatte Kerstin dann noch gemeint, „als Ausgleich zum Schulalltag ist es ideal. Sing dir deinen Frust von der Seele!“

Diese Bemerkung hatte mich nachdenklich gemacht. Konnte Singen bei Alltagsstress helfen? Inzwischen wusste ich: Ja! Der feste Termin am Donnerstag … 90 Minuten, in denen ich mich auf etwas ganz anderes konzentrieren musste … Menschen ganz unterschiedlichster Couleur … ja, Singen machte glücklich.

Unser Chorleiter fixierte jetzt Annika, ihr Solo stand an. Solo hieß in diesem Stück ein langanhaltendes Oooooooooooh. Anfangs war sie zu vorsichtig, Manuel signalisierte ihr: Mehr Energie! Und sie gab Gas. OOOOOOOOOH! Dann der Abschluss: Manuel drehte sich ausgelassen um die eigene Achse und dirigierte dann punktgenau den Abschlag. Stille.

„Gut, Annika!“ Der Chorleiter nickte unserer Jüngsten aufmunternd zu. Die war wieder puterrot, diesmal aber vom Singen. „Echt? Ich dachte, es klingt wie abgestochen!“

„Nur ein bisschen“, lästerte Franse.

Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen und Frauke hastete herein, unsere stärkste Stimme im Alt.

„Ich weiß, ich bin spät“, sie hob entschuldigend die Hand.

„Sie dreht wohl schon seit Stunden …“, frotzelte Franse.

Gespannt schaute ich zu Gerlinde hinüber. Sie war es, die oft die Probendisziplin anmahnte. Allerdings konnte sie heute nichts sagen, sie war ausnahmsweise selbst zu spät gekommen.

„Kein Problem“, unser Chorleiter lächelte nachsichtig, „hier wird niemandem der Kopf abgerissen.“

„Da bin ich aber froh“, Frauke zwinkerte mir zu und nahm flugs ihren Platz ein.

Hier wird niemandem der Kopf abgerissen. Schräg, dass Manuel das an dem Abend so sagte. Nein, nicht schräg, eigentlich furchtbar.

2

„Wer trinkt noch etwas mit?“ Franse legte seine Blätter am Notentisch ab und blickte in die Runde.

Vielleicht waren die Treffen nach der Probe das Beste am ganzen Chor. Schon allein, weil ich mich donnerstagabends der Illusion hingeben konnte, dass die Woche quasi vorbei war.

Wir probten im Saal einer Gaststätte, der für Beerdigungen und Hochzeiten bestimmt war und sogar über eine kleine Bühne verfügte. Der Raum war auf dem besten Weg in die Ramschigkeit, für uns jedoch war er perfekt. Während der Probe wurde nur Wasser getrunken, doch nach der Probe ein Bierchen nebenan im Sauerbier, dazu ein bisschen quatschen, anschließend mit dem Fahrrad zurück – viel besser ging es eigentlich nicht.

Auf Franses Frage folgte allgemeines Gemurmel, ein paar Leute waren schon auf dem Sprung, Manuel und Christian schoben das E-Piano zurück an seinen Platz.

„Kommst du ausnahmsweise mit?“, Franse wandte sich jetzt direkt an unseren Chorleiter. „Abschiedsbier vor den Herbstferien?“

„Leider nicht“, Manuel zog seine Lederjacke an und griff sich den Helm. „Morgen geht’s in den Urlaub, da muss ich noch ein bisschen was tun.“

Plötzlich stand Frauke neben mir, meine mollige Lieblingschorschwester. „Und? Wie ist es mit dir?“

Ich nickte. „Klaro. Zwei Wochen Ferien. Vierzehn Gründe zu feiern.“

Zehn Minuten später hatte sich der harte Kern im Sauerbier eingefunden und besetzte den Stammtisch. Svenja, die immer sehr weitschweifig erzählte, berichtete en détail vom geplanten Urlaub, so dass Frauke mich irgendwann in ein Zweiergespräch zog.

„Bei euch alles okay?“

„Gute Frage. Mein Sohn spricht von morgens bis abends von einer Vespa, meine Tochter liebt ihr Handy mehr als uns, unser Oldie-Hund pupst den ganzen Tag vor sich hin – ja, ich würde sagen: alles okay.“ Ich nahm einen Schluck von meinem Landbier.

Frauke lächelte mild. „Vespas finde ich super und was das Handy-Problem angeht – da stehst du nicht allein.“

Ich nickte. Frauke war Psychologin. Psychotherapeutin mit Medizinstudium, um genau zu sein. Sie hatte mit Jugendlichen zu tun, die mit sechzehn statt um Partys um ihren Selbstmord kreisten. Die magersüchtig waren oder unter Zwängen litten. Dagegen waren unsere familiären Probleme tatsächlich ein Pups.

„Alles paletti“, versicherte ich. „Und bei dir?“

Frauke erzählte oft von ihrer Arbeit in der Praxis. Sie war nicht liiert, vielleicht taten auch ihr unsere Donnerstagabende gut.

Ein Bier später war ich immer noch mit ihr im Gespräch, als es plötzlich in meiner Hosentasche brummte. Ich hatte das Handy nach der Probe wieder angemacht, weil die Kinder allein zu Hause waren, naja, „Kinder“ – Marie war siebzehn, Paul fünfzehn.

„Moment mal!“ Ich zog mein Handy heraus. Eine Nachricht von Kerstin. „Hi Vincent! Ist Manuel schon los? Wollen noch die Fahrräder auf den Gepäckträger laden, ich erreiche ihn nicht.“

Ich sah auf die Uhr. Manuel war vor über einer halben Stunde losgefahren, hatte er auf dem Heimweg noch etwas zu erledigen gehabt?

„Alles gut?“, Frauke sah mich fragend an.

„Meine Kollegin, Manus Frau.“

Einen Moment überlegte ich, was ich Kerstin antworten könnte. „Kommt bestimmt gleich“, schrieb ich zurück.

„Ich wollte nochmal wegen des Chornamens fragen“, sagte plötzlich Gerlinde laut in die Runde. Jemand stöhnte, der Chorname war ein Dauerbrenner, irgendwie kamen wir da nicht voran. „Denn solange wir mit dem Namen nicht klar sind, können wir auch keine Shirts drucken lassen.“

Ich persönlich fand, dass das Fehlen von Chor-Shirts noch deutlich hinter Pupsproblemen eines im Hause lebenden Mischlingshunds rangierte, aber ich hielt mich zurück. Für andere Sänger schien das Chor-Shirt eine Überlebensfrage zu sein.

„Vincents Vorschlag war doch super“, Svenja lächelte mich an.

„Chornetto …“, Gerlinde schüttelte unwillig den Kopf, „das klingt unseriös.“

„Wir sind unseriös“, witzelte Franse. „Wenn wir das Ave Maria singen, denkt man, da ruft jemand seinen Hund.“

Svenja prustete los. „Und bei Aber bitte mit Sahne hört es sich an, als hätten wir tatsächlich Kuchen im Mund.“

Es wurde eine Weile diskutiert, die alten Namensvorschläge zum hundertsten Mal aufgesagt und wieder verworfen. Da Capo zu künstlich, Sing mit zu banal. In Takt gefiel vielen – außer Gerlinde natürlich.

„Was schwebt eigentlich dir vor?“, wandte Franse sich irgendwann direkt an sie. „Cäcilia Sangeslust oder Gemischter Chor Liederkranz?“

Allgemeines Gejohle. Ich sah auf die Uhr, wenn ich jetzt nicht ging, würde ich es am nächsten Tag bitter bereuen, letzter Schultag hin oder her.

Just als ich meinen Deckel griff, klingelte mein Handy. Kerstin!

„Hallo Kerstin!“ Noch während ich mich vom Tisch wegbewegte, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Ein komisches Rauschen im Hintergrund, Windgeräusche wahrscheinlich, und gleichzeitig ein Schluchzen oder Japsen. Bei mir zog sich alles zusammen. „Kerstin, was ist los?“

Keine Antwort, nur weiter all diese Geräusche, vor allem dieses furchtbare Geheul.

Plötzlich stand Frauke neben mir. Ich hatte zu laut gesprochen.

„Kerstin, wo bist du?“, versuchte ich es weiter. „Ist was mit Manu?“

Sie schluchzte etwas, ich meinte etwas wie „Motorrad“ zu hören.

„Hat Manu einen Unfall gehabt?“

„Ja … “, wieder Unverständliches, dann allerdings ein Wort, das ich verstand, „… toot.“

Mir wurde flau. „Kerstin, sag, wo du bist!“

„… Hause … uns auf dem Weg …“

„Hast du den Notruf gewählt?“ Ich schrie inzwischen mehr, als dass ich sprach. Kerstins Antwort war nicht richtig verständlich, ich hoffte auf ein „ja“. „Ich komme!“, brüllte ich in den Hörer. „Ich komme zu dir nach Hause.“

Als ich hochblickte, starrten acht entsetzte Augenpaare mich an. Nur Frauke, die neben mir gestanden hatte, packte geistesgegenwärtig ihre Handtasche. „Ich fahre“, ordnete sie an, „du bist ja ohne Auto.“

„Was ist denn los?“, Svenjas Alt-Stimme war plötzlich Sopran.

„Ich weiß nicht genau“, paralysiert legte ich meinen Deckel auf den Tisch, „aber möglicherweise ist Manuel – tot.“

3

Frauke fuhr einen Mazda MX5, schnittige Autos waren ihre Passion. Schnittig fuhr sie dann auch. Ich hatte Probleme, mein Handy zu bedienen.

„Willst du einen Krankenwagen rufen?“, fragte sie mit einem Seitenblick.

„Sicherheitshalber.“ Der Notruf ging schon durch. Abgehackt sagte ich alles, was ich wusste. Das war nicht viel. Wahrscheinlich ein Unfall. Wahrscheinlich auf der Zufahrtstraße zu Kreuzers Haus, das in der Pampa lag, aber wegen der Nähe zu „Beckers Hof“ allgemein bekannt war. Rund um den ehemaligen Bauernhof ging man spazieren, dort joggte man, dort fuhr man lang, wenn man den Weg über die Bundesstraße abkürzen wollte.

„Hier ist schon was reingekommen“, sagte die Stimme. „Die Kollegen sind vor Ort.“

„Dann ist gut“, sagte ich. Was für ein Quatsch.

Ich sprach auch noch meiner Frau Alexa auf die Box. Dass ich nicht wusste, wann ich nach Hause kommen würde. Dass ein Unfall passiert war. Dass sie sich keine Sorgen machen musste. Wieder nur Quatsch.

Frauke bog jetzt in den schmalen Teerweg ein, der vom Wohngebiet zu Kreuzers Fachwerkhaus führte. Straßenlaternen gab es hier nicht, der Weg führte durch Felder und war kurvig und eng. Frauke reduzierte das Tempo, ab jetzt mussten wir hinter jeder Wegbiegung mit allem rechnen. Es dauerte noch einen knappen Kilometer, bis wir das Blaulicht sahen. Hinter einer Kurve versperrte ein Polizeiwagen den Weg. Ein weiterer schien von der anderen Seite die Unfallstelle zu sichern, dazwischen Kranken- und Notarztwagen.

Das stumm rotierende Blaulicht der Fahrzeuge sorgte für einen gespenstischen Effekt, er lag in einem krassen Widerspruch zu der Stille, die den nächtlichen Schauplatz umgab. Unwillkürlich suchten meine Augen nach Hinweisen auf das, was hier passiert war. Und tatsächlich: Zwischen den Autos, etwa zwanzig Meter von uns entfernt, waren zwei Scheinwerfer aufgestellt, die den Weg beleuchteten. Was genau sie fokussierten, konnte ich nicht erkennen, der Krankenwagen versperrte die Sicht.

„Mein Gott!“, entfuhr es Frauke. Ich hatte eine Ahnung, was sie empfand. Das Ganze sah nicht nur gespenstisch, sondern hoffnungslos aus. Es gab wenig Bewegung, offenbar wurde nirgendwo um ein Leben gekämpft. Beklommen öffneten wir die Autotüren und krochen aus dem Wagen.

Mit schnellen Schritten kam jetzt ein Polizeibeamter auf uns zu, ein junger, blasser Kerl. „Sie müssen zurück“, sagte er heiser.

„Wir haben einen Anruf bekommen“, hielt ich dagegen. „Von meiner Kollegin. Ich glaube, es ist ihr Mann, der –“ Ich machte eine vage Kopfbewegung zu den Scheinwerfern hin.

Der Polizist war zumindest verunsichert. „Moment mal!“ Er lief zurück zu seinen Kollegen und beriet sich. Dann ging man zum Krankenwagen hinüber. Frauke und ich blieben beim Auto stehen und sahen uns nach Kerstin um. War sie hier?

Schließlich kam der Polizist zurück. „Kommen Sie mal mit!“, sagte er gepresst. „Die Ärztin will Sie sprechen.“

Eigentlich waren es nur ein paar Schritte, aber meine Beine waren so schwer, dass ich das Gefühl hatte, ich käme nicht vom Fleck. Mit Macht versuchte ich den Blick abzuwenden, von den Scheinwerfern, von dem Weg, aber es ging nicht. In ein paar Metern Entfernung sah ich jetzt das Motorrad liegen, mitten auf dem Weg, der Motorradscheinwerfer war irrigerweise noch an, ein Stück davor eine leblose Gestalt. Alles in mir krampfte sich zusammen. War das tatsächlich Manuel? Manuel, der eben noch mit uns gesungen hatte?

Jemand zog mich weiter – Frauke, die mein Zögern bemerkt und mich am Arm gepackt hatte. Wir folgten dem Polizisten zum Krankenwagen. Dort saß hinten auf der Fahrzeugkante in eine dicke Wolldecke gehüllt Kerstin, neben sich einen Sanitäter, der gerade eine Blutdruckmanschette entfernte. Davor hockte jemand, die Ärztin wahrscheinlich. Als sie uns kommen sah, stand sie auf und grüßte. „Sie sind Freunde von Frau Kreuzer?“

Ich nickte benommen.

„Hauschild“, hörte ich Frauke sagen. „Ich bin Kollegin.“

Die Ärztin schien überrascht, positiv überrascht. Ein bisschen von ihrer Anspannung löste sich auf. „Gut, dass Sie da sind! Frau Kreuzer hat einen Schock, ich habe ein leichtes Sedativum verabreicht. Sie ist kreislaufstabil, ich denke, es wäre sinnvoll, sie jetzt nach Hause zu bringen. Sie wohnt ja da drüben.“ Die Ärztin zeigte in die Richtung, in der man tatsächlich in einiger Entfernung das Wohnhaus erahnen konnte, zumindest waren einige Lichter zu sehen.

„Ich bleibe hier!“, Kerstin sprach undeutlich, hob jetzt aber den Kopf und etwas tat sich in ihrem benebelten Gesicht. „Vincent“, sagte sie, doch im selben Moment krampfte sich alles zusammen, als sei ihr eingefallen, warum ich da war. „Manu“, sagte sie verzweifelt, „Manu.“

Ich hockte mich hin, da wo eben noch die Ärztin gehockt hatte, und nahm ihre Hände, sie waren eiskalt. „Kerstin“, sprach ich sanft auf sie ein, „wir sind jetzt hier, alles wird gut.“

Ihre Reaktion war ein wildes Kopfschütteln. Vielleicht war es das Beruhigungsmittel, vielleicht war es der Schock, der die Bewegung so unkoordiniert aussehen ließ. „Kein Unfall“, krächzte sie heiser, „Manu … kein Unfall.“

Ich war verwirrt, wollte nachfragen, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippte. Frauke, die wie paralysiert schien. Ich richtete mich auf, versuchte ihrem Blick zu folgen. Sie fixierte etwas in der Nähe der Scheinwerfer, die Bäume am Wegrand, wenn ich mich nicht täuschte.

„Ein Draht“, ihr Flüstern enthielt blankes Entsetzen. „Da hat jemand einen Draht über die Straße gespannt. Manuel wurde – geköpft!“

4

Es dauerte, bis wir endlich das Haus der Kreuzers erreichten. Kerstin hatte nicht weggehen wollen. „Wir können doch Manu nicht hierlassen“, hatte sie immer wieder gesagt.

Irgendwie hatten wir sie dann doch in den Krankenwagen bekommen, ich war mitgefahren, Frauke hatte ihren Mazda genommen. Während des Rangierens auf dem engen Weg waren noch weitere Fahrzeuge eingetroffen, Kriminaldauerdienst, Kripo, irgendetwas in der Art.

Nun waren wir endlich zu Hause, die beiden Sanitäter führten Kerstin ins Haus. Frauke stürzte schon hinterher, ich hielt einen Moment inne, als ich Kreuzers alten Kombi und den Fahrradständer sah. Kerstin hatte schon einiges zurechtgestellt, sogar die Räder. Wenn Manuel nach Haus gekommen wäre, hätten sie im Licht der Außenleuchte alles montiert und wären am nächsten Tag in Urlaub gefahren. Wenn denn nicht ein Verrückter diesen Draht gespannt hätte! Ich griff nach meinem Handy und wählte die Nummer von Max.

Max war mein bester Freund, seitdem ich vor fast zwanzig Jahren von Köln ins Sauerland gezogen war. Damals war er noch Taxifahrer gewesen, inzwischen schon seit Ewigkeiten bei der Polizei, bei der Hagener Mordkommission genauer gesagt.

Max ging nicht dran, kein Wunder um diese Zeit. Ich sprach ihm gerade auf die Box, als Frauke nach draußen trat. „Kannst du mal kommen? Es geht um die Kinder.“

Drinnen im Flur waren die Sanitäter auf dem Sprung. „Sie haben ja die Nummer von Frau Dr. Meisner“, sagte der eine. „Wenn irgendetwas ist, kommt sie bestimmt noch mal raus.“

„Und wir natürlich auch“, sagte der andere schnell. „Notruf geht immer.“

„Wir kommen schon zurecht“, meinte Frauke.

Ich warf einen Blick ins Wohnzimmer, einen gemütlichen Raum mit alten Balken und schönen Möbeln. Kerstin lag auf dem Sofa, wieder in eine dicke Decke gehüllt. Vor ihr auf dem Couchtisch stand ein Glas Wasser, unberührt, wie mir schien. Kerstin hatte die Augen geöffnet und starrte vor sich hin. Sie konnte noch immer nicht weinen.

„Na dann“, die Sanitäter verschwanden.

„Na dann“, sagte auch Frauke, aber zu mir. Und dann im Flüsterton: „Kennst du die Kinder?“

„Eigentlich nur vom Erzählen. Das Mädchen, Franziska, ist gerade in Chile, im Rahmen eines sozialen Projekts. Der Junge studiert in Freiburg Musik.“ Ich überlegte. „Kann man sie nicht morgen früh informieren?“

„Auf keinen Fall. Wenn irgendwer da langfährt und die Unfallstelle fotografiert, ist das ruckzuck im Netz. Dann schreibt ihnen jemand „Ist das nicht bei euch um die Ecke?“ und die Katastrophe ist da. So ähnlich hat ein Elternpaar hier in der Gegend vom Unfalltod seiner zwei Söhne erfahren. Glaub mir, Vincent, lieber direkt benachrichtigen und nicht warten, bis die Polizei die Zeit dafür findet.“

Ich nickte. Frauke war Profi. „Was schlägst du vor?“

„Wer hat das getan?“

Kerstins Stimme aus dem Wohnzimmer, Frauke und ich eilten zu ihr. Kerstin hatte ihre Position nicht verändert, aber sprach leise vor sich hin.

„Warum macht einer sowas?“

Vorsichtig setzte ich mich auf die Sofalehne an ihrem Kopf. „Ja, das ist nicht zu verstehen.“

„Ich stelle mir das immer wieder vor“, Kerstin wandte mir den Kopf zu. „Was meinst du? Hat Manu lange gelitten?“

„Das glaube ich nicht. Ich denke, es war ein schneller, schmerzloser Tod.“

Kerstin schien darüber nachzudenken. Schließlich wandte sie sich wieder an mich. „Weißt du, was das Schlimmste ist, Vincent? Bevor er losgefahren ist, haben wir gestritten!“

Ich machte keinen Einwand, sprach keine beruhigenden Worte, ließ sie einfach erzählen.

„Immer muss ich alles packen, habe ich gesagt. Immer bin ich zuständig. Warum mache ich immer alles allein.“

Der alte Konflikt. Kerstin hatte mir davon schon in der Schule berichtet. Sie machte eine volle Stelle, wuppte den ganzen Haushalt und fühlte sich von Manuel zu wenig unterstützt.

„Wir wollten schon heute Nachmittag die Fahrräder aufpacken, aber dann war Manu plötzlich am Keyboard beschäftigt. Ich war stinksauer und habe ihn angeschrien, dass wir das nun am späten Abend machen müssen. Und dass er nach der Probe bloß direkt nach Hause kommen soll. So sind wir auseinandergegangen.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, sah zu Frauke hinüber, die schweigend am schwarzen Klavier lehnte.

„Und natürlich ist er nach der Probe direkt nach Hause gefahren, ich habe ihm ja gar keine Wahl gelassen. Nur deshalb ist er in den Draht gerast!“

„Das stimmt nicht“, versuchte ich sie zu trösten. „Die Straße ist kaum befahren. Das wäre auch eine Stunde später passiert.“

Kerstin schüttelte fahrig den Kopf. „Aber wer macht sowas?“

„Tja“, sagte ich leise, „das genau ist die Frage.“

5

Max saß im Auto und wartete, dass seine Schmerztablette wirkte. Die halbe Nacht hatte er sich mit Kopfschmerzen im Bett herumgewälzt. Morgens nach dem Aufstehen wurden die Schmerzen normalerweise besser, heute allerdings brauchte er eine Extraportion. Er musste dringend zum Arzt.

Vielleicht hatte ja Vincents Nachricht zu viele Neuronen gleichzeitig in Gang gesetzt. Er hatte sie morgens beim Rasieren gehört und dann abrupt den Stecker gezogen, um bloß kein Wort zu verpassen. Jetzt saß er hier in seinem Auto und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Einfach fragen, ob er in die Ermittlungsgruppe durfte? Sagen, dass er gern in seiner Heimatstadt ermitteln würde? Oder einfach abwarten?

Noch auf dem Weg ins Gebäude war er unschlüssig, bis ihm auf der Treppe Basti entgegenkam. „Schröder sucht dich“, meinte er kauend.

Max nahm die nächste Stufe schneller. Das mit Schröder klang gut. In dessen Team fehlten derzeit ein paar Leute, vielleicht rutschte er auf diesem Wege in die Ermittlungsgruppe hinein.

Er erwischte Schröder, als der gerade aus Silke Brandners Büro kam.

„Max“, sagte er. „Bist du verfügbar?“

„Klar!“, antwortete Max ein bisschen zu schnell.

„Eine üble Leichensache. Einen Motorradfahrer hat es per Drahtfalle vom Sattel rasiert.“

„Wahnsinn“, sagte Max und machte die Beckerfaust in seiner Tasche.

Eine Stunde später saßen sie zu siebt im Besprechungszimmer. Max freute sich, dass er dabei war, trotzdem fühlte er sich ein klein bisschen fremd. Die Leute aus seinem eigenen Team – Ina und Jan, Marlene und Nenad – waren ihm so vertraut, dass er von jedem hätte sagen können, was er sich aus der Colorado-Tüte nahm. Die Kollegen in der „Ermittlungsgruppe Biker“ kannte er zwar, aber zugegebenermaßen nicht besonders gut.

Am vertrautesten war ihm vielleicht noch Arnold Geizmann, der Kollege mit dem immergleichen Rollkragenpulli und dem braunen Vollbart. Er war wegen seiner Kollegialität sehr geschätzt. Max hatte ihn mal hinzugezogen, als er bei einer Internetrecherche nicht zurechtgekommen war. Arnold war Experte auf dem Gebiet.

Silke Brandner war ihm zumindest sympathisch. Eine patente Outdoor-Frau um die vierzig, die im Sommer gelegentlich in Klettersandalen zum Dienst kam. Max hatte sich in der Cafeteria mal mit ihr über Immobilienpreise im Sauerland unterhalten.

Gerd Busche wirkte für seine fünfzig Jahre sehr behäbig, doch Max wusste, dass das durchaus eine Qualität sein konnte. Leute, die nur herumhektikten, kriegten oft nichts auf die Reihe.

Dann ein neuer Kollege, Max kannte nur den Vornamen. Robin kam aus dem KK 23, Schwerpunkt Glücksspiel, und saß wahrscheinlich zum ersten Mal in einer Mordkommission. Der junge Kerl war um die zwei Meter groß, ein Basketballer-Typ mit knallroten Turnschuhen.

Auch über Schröder, den Leiter, konnte Max nicht viel sagen. Ernst, zielstrebig, ergebnisorientiert. Max war gespannt auf seine Führungsqualitäten, seine Chefin Marlene hatte mal über ihn gemotzt, aber das musste nichts heißen.

Vorn am Laptop saß Piet vom Kriminaldauerdienst, der Arme hatte bestimmt keine Minute geschlafen. Wenn er gleich mit seinem Bericht durch war, würde er sicher verschwinden.

„Die Straße ist keine Anwohnerstraße“, erklärte er gerade, „also zumindest nicht in der Woche. Also, am Wochenende und bei Krötenwanderung ist sie für alle außer Anwohner gesperrt, aber in der Woche gibt‘s Durchgangsverkehr, besonders im Sommer.“

Max versuchte zu folgen.

„Hier ist ein Kartenausschnitt“, Piet klickte auf seinem Laptop etwas an. Per Beamer erschien auf der Wand ein kurviger Weg, der zu einem Hof führte. Auf halber Strecke ein kleineres Gebäude, das mit einem Kreuz gekennzeichnet war. „Das Wohnhaus des Opfers“, sagte Piet, „und hier ist der Tatort.“

Er klickte und ein weiteres Kreuz erschien, etwa dreihundert Meter vom Wohnhaus entfernt. „Tatort Biker“, war es markiert. Max brauchte nicht lange, um sich zu orientieren. Er kannte die Ecke verdammt gut, vor allem „Beckers Hof“, den Bauernhof, der dort eingezeichnet war. Zu seiner Schulzeit wurden im Hühnerstall des Hofes die besten Feten gefeiert.

„Der Draht wurde auf 1,50 Meter Höhe zwischen zwei Bäume gespannt und zwar mit herkömmlichem Befestigungsmaterial aus dem Baumarkt. Den Motorradfahrer hat es exakt auf Halshöhe erwischt. Er trug dort nur ein Halstuch, kein Leder. Der Draht hat ihm quasi die Kehle durchschnitten, gleichzeitig wurde er durch den Widerstand von der Maschine geschleudert und ist auf den Rücken geknallt. Zumindest glaubte das die Ärztin vor Ort.“

„Der Kopf war aber nicht abgetrennt?“, fragte Arnold total sachlich. Max‘ Blick fiel auf Robin, der bei der Frage das Gesicht verzogen hatte.

„Nein, aber ein tiefer Schnitt, das hat gereicht.“

„Okay“, sagte Schröder. „Piet, vielen Dank. Schaffst du noch ein paar Fragen?“

„Wie sehe ich denn aus?“ Er machte eine Grimasse.

„Wie ein Zombie – also wie immer.“

Ein paar Leute lachten. Piet verzog gleich nochmal das Gesicht.

„Ist der Erkennungsdienst schon durch?“

„Die sind noch beschäftigt, deshalb ist die Straße gesperrt. Die Hofbewohner kommen ja noch auf anderem Wege vom Hof.“

„Irgendetwas über den Draht?“

„Ist in der KTU. Keine Ahnung bislang.“

Plötzlich öffnete sich ohne Klopfen die Tür und Vera schneite herein, Sekretärin, guter Geist, alles auf einmal.

„Was gibt‘s?“, fragte Schröder.

„Eingang der Dienststelle Sundern, scheint wichtig zu sein.“ Vera legte Schröder ein Blatt hin. Alle sahen gespannt zu den beiden hin.

„Eine Drahtfalle bei denen im Wald“, erklärte Vera, während Schröder noch las. „Der Draht wurde offenbar von einem Auto durchtrennt. Jedenfalls hängen die Enden da an zwei Bäumen herunter.“

„Scheiße!“, Schröder lehnte sich nach hinten und klopfte nervös mit seinem Kuli auf den Tisch. „Dann ist das möglicherweise nicht die letzte Falle gewesen.“

6

Ich hatte unserer Schulleitung in aller Frühe eine Nachricht geschrieben, nur um sie eine Minute später in der Leitung zu haben. Man war geschockt, natürlich war man geschockt, und wir verabredeten, bezüglich Kerstins Fehlen vorerst nur „von familiären Gründen“ zu sprechen. Genauso hatte ich es auch beim Frühstück mit meinen Kindern gehalten. Marie hatte bei „Frau Kreuzer“ Mathe, Paul kannte sie zumindest vom Sehen. Die beiden mussten sich vor den Ferien nicht noch mit einer Sensationsmeldung hervortun.

Als ich auf dem Lehrerparkplatz das Auto verließ, bildete ich mir ein, eine gedämpfte Stimmung zu spüren. Zwei Schüler saßen auf einer Bank und unterhielten sich leise, ansonsten war wenig los, die erste Stunde in vollem Gange.

Im Schulgebäude die übliche Arbeitsatmosphäre. Aus den Klassenräumen waren halblaut Stimmen zu hören, gelegentlich ein Lachen oder Husten – ein bisschen wie in einer Unterwasserwelt.

Vielleicht, so kam es mir in den Sinn, würde mir das einmal fehlen. Bei allem Ärger über Qualitätsanalysen, Bürokratismus und Verwaltungseinmischung – das Arbeiten mit jungen, unbeschwerten Menschen war verdammt schön.

Es waren diese tiefen Gedanken, die mich unaufmerksam machten, vielleicht auch das nächtliche Drama und mangelnder Schlaf. Eigentlich war ich in Sachen Schwester Gertrudis sehr auf der Hut – heute allerdings lief ich ihr direkt in die Arme. Gertrudis, eine von vier Ordensschwestern, die noch auf dem Schulgelände lebten, war mit ihrem Rollator unterwegs.

„Guten Morgen, Herr Vincenz!“, begrüßte sie mich. Ich verbesserte sie nicht, für Schwester Gertrudis war „Herr Vincenz“ eine spezielle Form des Du. Stattdessen begutachtete ich ihr Rollatorkörbchen, es war wie immer voll mit Papier.

Während Gertrudis früher im Sekri den Papierkram bearbeitet hatte, war sie heute mit dem Sammeln desselben beschäftigt. Genauer: Sie spürte Papier auf, das illegalerweise im Restmüll gelandet war. Regelmäßig brachte sie ihre Beute zu einem papierverarbeitenden Betrieb, der aus Nächstenliebe oder Bedrängnis viel zu hohe Preise dafür zahlte. Diese Einnahmen spendete Schwester Gertrudis für einen guten Zweck. Allerdings brachte die Nonne das Papier nicht selbst zur Fabrik, wie auch, sie fuhr ja kein Auto, stattdessen ließ sie es bringen. Genau deshalb war man immer auf der Hut.

„Herr Vincenz, Sie fahren in den Ferien nicht in Urlaub?“

„Doch“, beteuerte ich, „mit meiner Familie nach Holland.“

„Aber erst in der zweiten Woche.“

Woher wusste sie das? Hatte ich versehentlich einen privaten Zettel im Restmüll entsorgt?

„Das stimmt“, murmelte ich.

„Dann hätten Sie nächste Woche Zeit?“.

„Nein“, sagte ich. Ich hatte schließlich Ferien.

„Ja“, sagte ich. Schwester Gertrudis war alt.

„Also ja“, fasste Schwester Gertrudis zusammen.

„Worum geht’s?“, fragte ich nach.

„Um das Papier.“

Um das Papier. Natürlich ging es um das Papier. Es ging ja immer um das Papier. Letztens war Schwester Gertrudis während der QA-Hospitation mit ihrem Rollator in eine Klasse gerollt, hatte vor den Augen der Prüfer seelenruhig den Papierkorb geleert und war mit vier zerknüllten Blättern in ihrem Körbchen wieder aus dem Unterricht gerollt. Das hatte ich lustig gefunden.

„Ich bräuchte etwas Hilfe mit meinem Papier.“

„Können Sie dafür nicht ein paar Schüler –?“

Früher hatten Schüler als Ordnungsmaßnahme im schuleigenen Park arbeiten müssen, heute wurden sie fast ausschließlich zu Gertrudis‘ Müllsortierung gebraucht.

„In den Ferien geht das nicht“, sagte Schwester Gertrudis.

„Und bei mir geht das?“, fragte ich nach. Es sollte ein Spaß sein.

„Haben Sie ja gerade gesagt“, Schwester Gertrudis verstand keinen Spaß. „Am Montag um zehn? Dauert höchstens zwei Stunden.“

„Am Montag um zehn.“ Ich gab jeden Widerstand auf.

Ferien waren ja eigentlich keine Ferien. Ferien waren ja nur unterrichtsfreie Zeit. Also dann, Montag um zehn.

7

„Wir brauchen eine Karte vom gesamten Sauerland“, meinte Schröder in das allgemeine Gemurmel hinein. Arnold fing auf seinem Laptop gleich an zu suchen.

„Wo genau wurde denn die zweite Drahtfalle entdeckt?“, erkundigte sich Silke. Klar, die Kollegin wohnte in einem Bungalow an der Sorpe, Stadtgebiet Sundern.

Schröder rückte sich die Brille zurecht und studierte den Mail-Ausdruck, den Vera ihm hingelegt hatte. „Ochsenkopf“, sagte er irgendwann stirnrunzelnd, als sei das ein unappetitliches Fleischgericht.

„Ja klar“, Silke seufzte. „1a-Motorradstrecke, da gibt’s jedes Jahr Ärger.“

„Von dort bis zu unserem Tatort dürften es fünfzwanzig Kilometer sein“, schätzte Max. Er war ja nicht umsonst früher Taxi gefahren.

„Ihr beide kennt euch ja mächtig gut aus“, feixte nun Gerd. „Geht ihr da gelegentlich gemeinschaftlich wandern?“

Irgendjemand lachte, die anderen gähnten nur müde.

„Fünfundzwanzig Kilometer“, ging Schröder darüber hinweg. „Heißt das, wir haben es im Sauerland flächendeckend mit Fallen zu tun?“

Keiner antwortete, wie auch? Der Tag würde es zeigen.

„Wir sollten eine Pressemeldung herausgeben“, meinte Max, „für den Fall, dass es weitere Drahtfallen gibt.“

Bevor jemand antworten konnte, klopfte es wieder. Alle dachten dasselbe: Da war sie, die nächste Meldung. Aber falsch, die Staatsanwaltschaft stand vor der Tür. In Form von Rebecca Sterner-Leiss. Eine Frau Mitte vierzig, stylish, sehnig, taff. Max hatte noch nie mit ihr zusammengearbeitet, aber sie hatte einen Ruf.

„Holla“, sagte Schröder und stand auf, um ihr die Hand zu schütteln. „Mir war Frau Evers angekündigt worden.“

„Das wäre mir auch deutlich lieber gewesen“, Sterner-Leiss wirkte angesäuert. „Ich habe ab Montag Urlaub. Den kann ich mir nun klemmen.“

„Oh, tut mir leid“, Schröder stand etwas unbeholfen herum.

„Können Sie ja nichts für“, Sterner-Leiss zog sich einen Stuhl heran. „Ich komme gerade vom Tatort und dachte, ich schaue mal eben herein. Wie ist der Stand?“

Schröder referierte die nächtliche Leichensache und dass es einen neuen Fund gab. Arnold hatte im Internet endlich eine Karte gefunden und markierte dort den „Ochsenkopf“. Per Routenplaner ermittelte er die Distanz, während Schröder sprach. Sechsundzwanzig Kilometer zwischen Tatort Biker und Ochsenkopf. Max gratulierte sich heimlich zu seiner Schätzung.

„Na toll“, stöhnte die Staatsanwältin, nachdem Schröder geendet hatte. „Haben wir es da mit der Anti-Motorrad-Liga zu tun?“

„Ich wohne in Sundern“, griff Silke das auf. „Der Motorradlärm ist dort eine große Belastung und immer wieder ein Thema.“

„Das Problem ist mir bekannt“, Sterner-Leiss nickte. „Ich wohne in Hüsten.“

„Oh, eine Sauerland-Kommission“, Arnold lehnte sich zurück. „Darf ich dann überhaupt mitmachen? Ich komme aus Dortmund.“

„Kommt darauf an, wie Sie sich anstellen“, retournierte Rebecca Sterner-Leiss furztrocken, Max gefiel ihr Humor.

„Wir sprachen gerade über eine Pressemeldung“, kam Schröder aufs Thema zurück. „Möglicherweise gibt es weitere Fallen. Wenn etwas passiert und nachher herauskommt, dass wir Hinweise hatten, macht uns die Presse einen Kopf kürzer.“

Max schaute sich um, ob jemand auf das makabre Wortspiel reagierte. Nur Sterner-Leiss schien es überhaupt bemerkt zu haben, sie hatte eine Augenbraue gehoben. „Ich denke, es ist vor allem in unserem Interesse, dass niemand in eine solche Falle gerät.“

Max freute sich. Die ständige Argumentation, was die Medien mit einem machten, wenn dieses oder jenes passierte, kotzte ihn an. Wenn Schröder als Ermittlungsleiter nicht klar war, dass per se nicht noch jemand abrasiert werden durfte, saß er auf dem falschen Stuhl.

„Wollen wir uns kurz zusammensetzen?“, lenkte die Staatsanwältin ein. „Vielleicht kann die Gruppe ja eine Pause gebrauchen und wir gehen kurz die Pressemeldung durch.“

Am Ende dauerte die ganze Sitzung sehr lange. Erst zwei Stunden später war die Marschrichtung klar und jede Aufgabe verteilt.

Max und Silke würden Kontakt zur KTU halten, die Spurenauswertung im Auge behalten und sich um den Draht kümmern. Schröder und Robin würden zum Wohnhaus der Kreuzers fahren, den Tatort in Augenschein nehmen und mit den Angehörigen sprechen. Arnold war mit der Auskundschaftung der Motorradlärm-Gegner betraut. Gab es da militante Aktivisten? Stand etwas im Netz?

„Wenn ich nicht irre, hat es schon früher einmal solche Drahtfallen im Sauerland gegeben“, nahm ihn Schröder in die Pflicht. „Bitte recherchier das!“

Gerd übernahm das Anfordern von Telefonlisten, die Hinweise aus der Bevölkerung und die Aktenverwaltung, er hatte ja gerade schon protokolliert.

„Eine Kleinigkeit noch“, sagte Rebecca Sterner-Leiss zum Schluss. „Ich habe mich um diesen Fall nicht gerissen, das ist wohl deutlich geworden. Zum einen, weil ich ab Montag Urlaub habe – aber noch aus einem anderen Grund. Der Motorradfahrer, der in die Drahtfalle gerast ist, ist mir bekannt. Er ist Chorleiter, in diesem Zusammenhang hatte ich vor Jahren oberflächlich mit ihm zu tun. Als Chormitglied sozusagen.“

Max nahm wahr, wie zwischen Arnold und Piet geflüstert wurde. Er hatte eine Ahnung, warum. Rebecca Sterner-Leiss machte nicht den Eindruck, als ob sie in einem Chor sänge. Sie machte den Eindruck, als ob sie überhaupt kein Privatleben hätte.

„Sollte irgendwann irgendwo irgendwer auf meinen Namen stoßen, was sehr unwahrscheinlich ist, da wir es hier offenbar mit einem kranken Motorradhasser zu tun haben, sei er oder sie vorgewarnt. Ich habe den Chef gebeten, jemand anderen mit diesem Fall zu betrauen. Diesem Wunsch wurde leider nicht nachgegeben. Danke dafür, sage ich mal. Ansonsten schönen Tag noch allerseits.“