„Merk: es gibt nur eines, das die Freundschaft noch mehr fördert:

Den Freund nie auf die Probe zu stellen, die Freundin nicht, niemand. Denn einer, der sein Leben lang einen Lederbeutel voller bunter Steine hütet, die er für Edelsteine hält, der ist reich. Auch, wenn es bunte Glasstückchen sind. Er darf nur den Beutel nicht aufmachen.

Gott erhalte uns die Freundschaft. Man möchte beinah glauben, man sei nicht allein.“

Kaspar Hauser (Kurt Tucholsky)

Kapitel 1

8. Juli 2001

Liebe Leserin und lieber Leser, Sie sind genau so imaginär wie meine Geschichte real ist. Nur, weil es angenehmer für mich ist, Sie mir in Gedanken vorzustellen und so einen Ansprechpartner zu haben, gibt es Sie. Denn in Wahrheit schreibe ich die Geschichte für mich, für meinen Seelenfrieden, den ich wiederzufinden hoffe, indem ich den Abstand zu allem im Aufschreiben suche, Abstand von den Geschehnissen und besonders Abstand von Harras, dem Teufel.

Entschuldigen Sie, ich sollte mich erst einmal vorstellen: Mein Name ist Henning Wennemann, am 10.10.1958 geboren, also jetzt zweiundvierzig Jahre alt. Weitere Daten zu meiner Person später.

Ich befinde mich in einer sehr prekären Lage, einer Zwickmühle sozusagen. Ich kann weder vor noch zurück, ich bin bewegungslos, gefesselt, eingesperrt, nein, eher im Moment des Startschusses eingefroren, erstarrt, aber voll kinetischer Energie. Etwa so, wie die berühmte Darstellung des griechischen Diskuswerfers: Dieser hat in der extremen Drehung seines Körpers all seine physische Kraft, all seine mentale Energie und all seine mystische Verbundenheit mit dem Olymp konzentriert, um mit Körper, Geist und Seele im nächsten Augenblick in der Drehbewegung zu explodieren, um den Diskus herauszuschleudern, mit aller Macht. Und genau in diesem, so kurzen, aber so entscheidenden Moment hat der Künstler diese Pose in seiner Skulptur eingefroren, versteinert, ohne den Sportler zu fragen, wie er das aushält. So ähnlich geht es mir jetzt, wobei ich alles andere als ein Sportler bin und es mir noch weniger um den Diskuswurf geht. Was mich hat versteinern lassen, liebe Leserin, lieber Leser, wird im Fortgang meiner Geschichte erst Stück für Stück offenbart werden. Und meine Energie, die in mir gefangen ist, taugt nicht gerade zu einem Diskuswurf, sondern eher zu einem Mord. Jetzt in diesem Augenblick möchte ich ihn töten. Ihn, meinen alten Freund und meinen neuen Feind: Harras.

Immer habe ich mir das gewünscht, erträumt sogar. Nicht das Töten, um Himmels Willen, sondern Zeit zu haben, eine Auszeit für mich. Jetzt habe ich den Salat. Und nie war ich weiter weg von diesem Gefühl, was man gemeinhin Glück nennt. Es ist, kurz gesagt, ein Dilemma, ein Desaster, eine Katastrophe.

Dass ich jetzt erst einmal all meiner beruflichen, familiären und andersgearteten Alltagspflichten entledigt bin, liegt daran, dass ich in einem Krankenzimmer in der Uniklinik Essen liege. Einzelzimmer mit Telefon, TV-Video-Kombination, Stereoanlage und Laptop mit Internetanschluss. Dieser Laptop ist mein Rettungsboot, das mich davon abhält, in abgrundtiefe Depressionen zu versinken oder in den unheilbaren Wahnsinn abzudriften. So hacke ich meine Geschichte in die Tastatur wie der Bergsteiger seinen Eispickel ins ewige Eis, um nicht abzurutschen auf dem glatten Gletscher meiner haltlosen Gegenwart.

Gott sei Dank bin ich privat versichert. Ich leide an Frakturen beider Oberschenkel, linksseitig spiralbruchartig verkompliziert, nebst diverser Rippenbrüche, Prellungen, Abschürfungen und Schnittwunden. Die ersten vier Wochen waren von Operationen und Schmerzen bestimmt. Jetzt geht es so leidlich, abgesehen von der Tatsache, dass ich für die nächsten sechs bis acht Wochen völlig bewegungsunfähig bin. Nicht einmal aufstehen kann ich, um aufs Klo zu gehen oder mich zu waschen oder zu duschen. Meine Beine liegen in Plastilinschienenstreckverbänden an Seilzügen mit Stahlgewichten, die an ein Fitnessstudio für Frankensteins Kreaturen erinnern. Das mit dieser Bettpfanne ist mir hochnotpeinlich, jedes Mal.

Wie kam es dazu? Bevor ich mich in weiterer Jammerei ergehe, will ich jetzt mit der Geschichte beginnen, mit meiner Geschichte, die mein bisheriges Leben völlig auf den Kopf gestellt hat und vielleicht – das ist mir jetzt noch nicht klar – mein weiteres Leben bestimmen wird.

Kapitel 2

Mitte August 2000

Vor etwa einem Jahr flog mir eine Einladung zu einer Geburtstagsparty ins Haus. Zwei gute alte Freunde wollten ihren 44. Geburtstag gemeinsam feiern – wegen der Schnapszahl oder weil sie keine Lust hatten, noch sechs Jahre zu warten – und dazu viele Leute einladen: die üblichen Verwandten, derzeitige Freunde und Leute, die sie sehr lange nicht mehr getroffen hatten.

Ich ging allein hin, weil wir keinen Babysitter für unseren Sohn gefunden hatten. Und überhaupt hatte Helen, meine Frau, gemeint, sie würde sich bestimmt eher langweilen, wenn ich mit meinen alten Freunden über alte Zeiten plaudere.

Die Feier fand in der alten Rektoratsschule in Essen- Steele statt, die schon seit Jahren als das Steeler Kulturzentrum „Grend“ bekannt ist. Es war ein schöner Partysaal mit einer großen Theke, langen Tischen und einfachen Bänken, wunderbarem bunten Licht, einer kleinen Bühne, auf der eine Rock-Revival-Band ihre Anlage aufgebaut hatte und viel Platz vor der Bühne zum Tanzen. Ich traf gegen halb neun ein, gratulierte den beiden Freunden, überreichte Geschenke, nahm das obligatorische Sektglas zum Anstoßen auf weitere glückliche Lebensjahre entgegen und schaute mich um. Ich fühlte mich wohl, weil ich eine ganze Reihe von Leuten kannte und selbst meine Freunde nennen konnte, aber auch einige Menschen traf, die ich sehr lange nicht gesehen hatte. Ich kam mit ihnen ins Gespräch, erst oberflächlich, eher begrüßend, später auch näher, intensiver.

„Schön dich wiederzusehen.“

„Hey, du auch hier?“

„Ja, echt gut, viele lange Jahre nicht gesehen. Schau’n wir uns mal um.“

„Was machst du denn so?“

„Habe mich selbstständig gemacht, mit ’nem kleinen Fortbildungsinstitut.“

„Klasse.“

„Und du?“

„Bin letztes Jahr Schulleiter geworden, muss bildungsmäßig mal was bewegen.“

„Prima, klingt nach Karriere.“

„Ja, geht ganz gut. Hast du Familie, Kinder?“

„Ja, Helen, ist aber nicht mitgekommen, keine Betreuung für Karl, ist erst sieben.“

„Was, du hast ein Kind? Hätte ich dir gar nicht zugetraut, entschuldige.“

„Lass man, schon in Ordnung. Ja, Karl ist gut drauf.“

„Toll, interessant, echt super.“ ... und so fort.

Die Gattinnen meiner Freunde sprachen einleitende Worte und eröffneten das Büffet. Ich aß eine Kleinigkeit und hielt mich ansonsten eher ans Bier. Das ist für mich ein Getränk, das mich zwar stimuliert und mir Berührungsängste nimmt, das ich aber fast grenzenlos trinken kann, ohne wirklich richtig betrunken zu werden.

So ging die Party dahin, mit vielen kleinen, schönen Begegnungen und auch längeren intensiveren Gesprächen. Man redete von alten Zeiten und von neuen Ereignissen, tauschte Telefonnummern oder E-Mail-Adressen aus, hatte Spaß.

Ich kam von der Toilette, es war so gegen halb zwölf, betrat den Vorraum das Festsaals, in dem die Rockgruppe tobte und dachte noch, dass ich besser an den Stehtischen im Foyer bleibe, um zu schauen, wer mir sonst noch für einen netten Plausch über den Weg liefe, als in den vollen und dröhnenden Saal zurückzugehen. Dort war es mir zu laut für Gespräche und mein Bierkrug stand eh noch auf einem der Stehtische. Da öffnete sich die Tür zum Foyer und ein Mann trat ein:

Schwarzes, schütteres Haar, ausgemergeltes, blasses Gesicht mit schiefer Nase, krumme Beine in engen schwarzen Jeans, schwarzes T-Shirt unter einer abgewetzten, ehemals schwarzen Lederjacke. Ich erkannte ihn sofort. Sein etwas linkischer Blick zwischen Arroganz und Schüchternheit und sein schmaler Mund, irgendwo zwischen Lächeln und Grinsen, kühl und einnehmend zugleich, bestätigte mein sekundenschnelles Wiedererkennen.

Er war es: Harras! Mein bester Freund, mein ärgster Feind, von damals, vor 20 Jahren. Eigentlich hieß er Hans-Joachim, aber seine Art hatte etwas von einem scharfen Schäferhund und sein Gesicht erinnerte an das eines mageren hässlichen Pferdes.

Ich hielt die Luft an. Das kann doch nicht wahr sein. Keiner meiner Gastgeber-Freunde hatte noch Kontakt zu ihm. Sie hatten zwar einige jugendliche Dummheiten und Abenteuer mit ihm erlebt, aber schließlich haben sie ihn für untragbar gehalten. Er war zu chaotisch, nicht berechenbar, manchmal peinlich und nicht vorzeigbar, selten angepasst und unauffällig, oft maßlos und noch häufiger betrunken, selten still und nachdenklich.

Wieso ist der hier?

Eine ungeheure Freude durchflutete mich, als hätte ich meine erste große Liebe wiedergesehen, und gleichzeitig schämte ich mich für diese Freude, als sei sie für mich und von mir selbst verboten. So hielt mich eine diffuse Scheu zurück vor diesem schwarz gekleideten Menschen, wie vor einer Gefahr. Und meine Freude war mir fremd.

Ich trank einen Schluck Bier, straffte meinen Körper, strich mir über die Schläfen, riss mich zusammen und ging dann doch auf ihn zu. Die Neugier hatte gesiegt.

In diesem Moment kam einer der Gastgeber auf ihn zu, begrüßte ihn eher erstaunt, drückte ihm ein Sektglas in die Hand, nahm ein Päckchen entgegen, tauschte ein paar Worte mit ihm und verließ ihn gleich wieder, schulterklopfend.

Er scheint nicht eingeladen zu sein, dachte ich. Was macht er hier?

Jetzt stand er da mit seinem Glas, etwas verloren. Ich ging auf ihn zu und sagte:

„Hey, Harras, ich glaub’ es nicht. Du hier? Ich wusste gar nicht, dass du zu Bernhard oder Benno noch Kontakt hast? Du bist ja echt die absolute Überraschung!“

Er stellte sich zu mir an einen der Stehtische, grinste verschmitzt und sagte:

„Tja, wusste ich auch nicht.“

„Wie ?“

„Mein Anrufbeantworter hat mich eingeladen. Keine Ahnung, woher Benno meine Telefonnummer hat.“

„Was, wer, wie?“

„AN-RUF-BE-ANT-WOR-TER, neumodisches Gerät, kennst du nicht, oder wie? Hab nicht drauf geantwortet, weil ich nicht wusste, ob ich wirklich ...“

„Das alte arrogante Arschloch, wie früher. Mein Gott, ich freu’ mich, dich zu sehen.“

„Du musst mich nicht Gott nennen, ich bin inkognito hier. Du darfst Harras zu mir sagen.“ Und wieder dieses alte, arrogante und geliebte Grinsen.

Anfangs umkreisten wir uns, tasteten uns ab wie im Boxring. Und dann erzählten wir die alten Geschichten von früher und tranken Bier und erzählten und tranken Bier ... Und bald, eher sehr bald, war die alte Kumpanei durch die alten Geschichten, die alte Nähe, nicht die alte Freundschaft, aber die alte Nähe wieder da.

Ich fühlte mich gut mit ihm, unheimlich gut, aber auch seltsam unheimlich. Es war ein ambivalentes Gefühl aus windiger Unentschlossenheit und erwartungsvoller Zurückhaltung, etwa so, wie nach dem ersten Telefongespräch und vor dem ersten Rendezvous mit einer Frau, auf dem Weg dorthin. Ich weiß nicht, ob Sie mir da jetzt folgen können? Was ging da ab, fragte ich mich. Ich wusste es nicht, aber ich ergab mich seiner schwarzen, überheblichen, krummbeinigen und pferdegesichtigen Faszination.

Kapitel 3

10. Juli 2001

Ich muss hier einmal meine Geschichte unterbrechen. Sie werden natürlich noch viel mehr über diesen Menschen, über diese „Erscheinung“ erfahren. Doch haben Sie ein wenig Geduld. Ich muss in diesem elendigen Krankenbett erheblich mehr Geduld aufbringen als Sie. Doch vorher sollten Sie mich erst ein wenig kennenlernen. Ich werde bald dreiundvierzig, habe einen wunderbaren, sieben Jahre alten Sohn namens Karl, führe oder führte – und das ist mir jetzt, ehrlich gesagt, selbst nicht mehr so klar – eine gute und normale Ehe mit einer bezaubernden Frau, eben der besagten Helen und habe oder hatte bis jetzt berufliche Erfolge mit meinem kleinen, aber expandierenden Unternehmensberaterbüro im Bereich Betriebsorganisation, Mitarbeitermotivation und Personalführung für mittlere Betriebe und soziale Träger. Ein kleines, aber frei stehendes Haus kann ich fast mein Eigen nennen, mit Garten und Baumhaus für den kleinen Karl. Ich habe mir einen gewissen Lebensstandard erarbeitet, der mir auch einmal etwas unbescheidenere Urlaubsreisen, gutes Essen und guten Wein erlaubt. Nur die Zeit war mein Problem. Ich hatte immer zu wenig davon. Jetzt habe ich sie, diese Zeit. Und deswegen spreche ich zu Ihnen aus dem Krankenhaus, in Gipsbeinen und Streckverbänden. Sie haben vielleicht keine Zeit, aber ich. Haben Sie Geduld.

Es ist ja gar nicht so, dass ich vorher, ohne dieses großzügige Zeitkontingent, unglücklich gewesen wäre, nein. Unglücklich bin ich jetzt.

In meiner zeitlosen Zeit habe ich mir immer gewünscht, Zeit zu haben über Grundsätzliches nachzudenken. Nicht über diese alltäglichen Organisationsfragen: Wer holt das Kind vom Fußballverein ab, wer geht einkaufen, wann bügle ich meine Hemden, bereite ich meinen nächsten Vortrag vor, putze die Fenster, packe das Auto für den Urlaub, mache ich einen Termin für den Zahnarzt, für den Kinderarzt, für den Hausarzt, für den Tierarzt? Wer, wie, wo, mit wem, für wen, gegen wen und wann? Und nie hatte ich Zeit für die Warum-Fragen. Warum habe ich diesen Weg eingeschlagen? Gibt es Gründe dafür, dass ich verheiratet bin und einen Sohn habe oder ist es einfach so passiert? War es Helens Wunsch und ich konnte nicht Nein sagen? Früher empfand ich die Institution Ehe als Liebestöter des Spießbürgertums und Kinder waren für mich grundsätzlich in Ordnung, nur nicht für mich. Ich wollte keine, ich hatte fast Angst vor ihnen und ihrer Distanzlosigkeit. Bin ich eingeknickt oder umgefallen? Habe ich meine Grundsätze verraten? Nein, ich habe nur festgestellt, dass ich mich verändert habe und dass vieles viel relativer und subjektiver ist, als ich als junger „Linksalternativer“ (oder „Alternativlinker“?) zu erkennen fähig war. Jetzt habe ich die Zeit, darüber nachzudenken und komme doch nicht dazu, weil mich die Geschichte mit Harras nicht in Ruhe lässt. Harras hat mich verraten. Die Kränkung sitzt tief. Er herrscht immer noch über mich, meine Gedanken und meine Zeit. Und das passiert mir als Referent für Zeitmanagement. Ich trainiere angehende und ausübende Manager darauf, ihre Zeit effizient einzusetzen. Ich lasse sie Zeittabellen und Prioritätenlisten erstellen, bringe sie dazu, Blockzeiten durchzusetzen und Time-out-Planungen vorzunehmen. Ich sage ihnen, dass sie zeithart und zielorientiert sein müssen, denn das ist das Wichtigste und teuerste, was sie haben, die Zeit. Sie dürfen nicht geliebt werden wollen, sondern müssen Leistung bringen, effizient sein. Für die Streicheleinheiten sind die Betriebsräte und die Vertrauensleute zuständig oder vielleicht ihre teuer bezahlten Therapeuten. Dafür verdienen sie ja auch genug.

Kapitel 4

11. Juli 2001

Jetzt noch einmal etwas zu Harras und mir:

Wir lernten uns auf dem Gymnasium kennen. Als er das zweite Mal sitzen blieb, kam er in meine Klasse, die Obersekunda, so hieß das damals. Zuerst fand er mich nur interessant, weil ich mit den „richtigen“ Leuten zusammen war. Es waren die, die Bier tranken, kifften, feierten, Unterricht schwänzten, gegen die Lehrer revoltierten, auf Demos gingen und sich wehrten. Das Politische war ihm immer gleichgültig gewesen, im Unterschied zu mir, aber das Aufmüpfige, das Unangepasste und das Ausgeflippte hatte ihm gefallen. Er machte auch die damalige Mode der langen Haare und der Che-Guevara-Parka nicht mit, wurde aber deswegen seltsamerweise von keinem kritisiert oder ausgeschlossen. Mein politisches Bewusstsein war damals eher von erzählter Kommunistenromantik über Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Sacco und Vanzetti, Ernesto Cardinal, Che Guevara und von einem allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl geprägt als von fundiertem Wissen über Marx, Engels und dem dialektischen Materialismus als Kritik am kapitalistischen System und von der Musik dieser Zeit natürlich, von Bob Dylan, Donovan, Joan Baez, den Stones und Beatles, Zappa und Pink Floyd und den Liedermachern mit ihrem naiven Sendungsbewusstsein. Es war für mich ein zeitgeistiges Phänomen aus Philosophie, antibürgerlichem Widerstand, sozialem Engagement und Hippiegefühl. Politisch gesehen war ich eher ein Mitläufer. Harras und mich verbanden die Gemeinsamkeit der philosophischen Gedankenexperimente, das Verlangen, anders zu sein und ..., nun ja: das Bier. Und uns verband unsere gemeinsame Faszination an unseren Unterschiedlichkeiten: Er war ein Spieler, Schach und Poker, so selbstsicher, so arrogant, so kühl, so egoistisch, so belesen, so gescheit, so distanziert, so sprachgewandt, so chaotisch und so entwaffnend ehrlich. Und die Frauen liefen ihm nach. Mir nicht. Ich bemühte mich um sie, verliebte mich andauernd, ohne anzukommen, hing unerfüllten Lieben nach, traute mich nicht und wenn, dann ohne Selbstvertrauen. Ich wollte keinem Menschen wehtun, am wenigsten mir selbst, war hilfsbereit und geduldig, suchte Sicherheit und Anerkennung in Gruppen. Doch das war es nicht, was er an mir mochte. Denn das war nur Grund für ihn, sich besser zu fühlen. Doch ich konnte die Lieder von Dylan, Donovan und Cohen mit so einer Inbrunst spielen, als hätte ich sie selbst geschrieben. Ich war ziemlich fit auf dem Klavier und konnte bei zufälligen Treffen von Musikern, und die gab es damals reihenweise auf Feten, mit ihnen improvisieren. In meiner Jugend hingen überall Gitarren herum, nicht selten gab es in Kneipen oder bei Freunden zu Hause auch Klaviere. Ich konnte durch die Musik viel von mir geben. Meine Philosophie, mag sie auch noch so naiv gewesen sein, war sichtbar oder hörbar in Liedern und Tönen. Ich konnte weinen am Klavier und schreien in meinen Liedern. Harras hatte überhaupt keine Ahnung von Musik. Da bekam er glänzende Augen, da bewunderte er mich.

Kapitel 5

Mitte August 2000

Zurück zum Fest:

Die fast erwachsenen Kinder der Gastgeber machten auf der Geburtstagsfete den Service.

„Jan bringst du uns bitte zwei große Pils.“

„Du scheinst die Leute hier gut zu kennen“, bemerkte Harras und sein aufmerksamer Blick wanderte über die Gäste.

„Geht so. Ich bin froh, mir endlich die Namen der Kinder von Bernhard und Benno gemerkt zu haben. Was treibt dich hier hin und was machst du eigentlich? Wie geht es dir denn überhaupt?“ Ich wollte gleich alles auf einmal wissen.

Harras bremste mich aus:

„Erstens, die Neugier, zweitens, mal dies mal das, drittens, ich kann nicht klagen. Aber bitte, nicht weiter so in diesem Interviewstil. Lass uns von früher reden. Heute ist mir nach Weißt-du-noch-damals-Geschichten, okay?!“

„Kein Problem.“ Ich hatte schon verstanden. Mit ihm konnte ich nicht so, wie mit einigen anderen, die ich lange nicht gesehen hatte, da anknüpfen, wo wir jetzt stehen. Es brauchte die Vergangenheit, nur die Vergangenheit, erst einmal.

Das Bier kam. Wir prosteten uns zu, grinsten beide unbeholfen und tranken.

Pause.

Schweigen.

Ich schaute auf ein Plakat an der Wand, er auf den vollen Aschenbecher.

„Du warst der Erste mit einem Auto in der Klasse“, begann ich unsicher.

„Ja, das war echt wichtig. Mein altes blaues Baby, dieser Kadett B“, biss er an.

„Weißt du noch, als wir damals nachts zum Baggersee nach Kirchhellen gefahren sind?“

Oh, Mann, wenn er darauf nicht anspringt, muss ich gehen.

„Ja, das war geil. Ich bin gefahren, du hast gelenkt, ich hab mit Hugo, der auf dem Rücksitz saß, Schach gespielt, und wir waren alle blau. Und Anna war noch dabei. Die zeterte so rum, wegen Unfallgefahr und so.“ Er grinste breit.

„Es war stockdunkel am Baggersee. Wir haben uns die Arme, Beine und die Gesichter an den Büschen blutig gekratzt und sahen aus wie die Kannibalen. Und dann sind wir mitten in der Nacht schwimmen gegangen, nackt im Baggersee. Das war schon wahnsinnig, das hatte was“, spann ich den Faden weiter.

„Ja, und du hast dich erst noch geniert, dich auszuziehen, weil Anna dabei war. Mein Gott warst du verklemmt. Bist du immer noch so katholisch?“

„Nee, lass mal, das hat sich gelegt.“

Wir bestellten frisches Bier, es kam auch prompt.

Wir tranken.

„Und weißt du noch, wie wir die Kiste Bier in diese Studentenkneipe reingeschmuggelt haben? Wie hieß der Laden noch?“ machte ich weiter.

„Tu nicht so, als wüsstest du den Namen nicht mehr. Das URS war’s, am Wasserturm in Huttrop. Und geschmuggelt war auch übertrieben. Wir haben einfach deinen alten Che-Parka drübergelegt, sind am Türsteher vorbei und haben den ganzen Tisch freigehalten. Das war nicht schlecht.“

Wieder dieses schiefe Grinsen.

Wir tranken.

„Dann hast du immer im Auto so tierisch laut und extrem falsch gesungen. Mein Gott war das schrecklich. Und als ich dir dann sagte, du solltest endlich mal aufhören mit dem Geheule, hast du eine Vollbremsung gemacht, dass ich mir in den alten Gurten – Automatik: Nein danke – fast das Schlüsselbein ramponiert hätte und hast mich aus dem Auto geworfen. Du warst früher schon ein exzentrischer Vogel.“

„Das hattest du auch verdient, das war meine kleine Rache. Erstens wusstest du nämlich genau, dass ich unmusikalisch bin und so gerne Musik gemacht hätte und zweitens habe ich dich ja dann wieder eingesammelt.“

Jetzt war sein Grinsen eher verlegen und sein Blick ging nach unten. Wir tranken und rauchten. Dann machte er weiter:

„Dafür hattest du das mit den Mädels ja überhaupt nicht raus. Wenn du wüsstest, wie viele Tussis dich wegen deiner Musik, deinen Weltverbesserungsliedern und deiner sanften Stimme angehimmelt haben. Aber du hast das überhaupt nicht gemerkt und dich immer in die Falschen verguckt. Selbst die hast du nur aus der Entfernung angestarrt, nicht mal ordentlich angebaggert, sondern platonisch angeschmachtet und dir nachts allein einen runtergeholt.“

Er lachte lauthals auf. Mir blieb das Lachen im Hals stecken.

„Ja, stimmt. Du Arschloch. Du bist echt noch so übel drauf wie früher.“

Ich spürte wieder den Feind in ihm.

Ein Friedensangebot meinerseits: „Mit den Mädels hattest du überhaupt keine Probleme. Du warst immer so arrogant und selbstbewusst, dass sie dir nur so zuflogen. Das habe ich nie verstanden. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie suchten deine Demütigungen.“

„Ich habe die Frauen nicht erfunden. Warum sie so sind, dafür kann ich nichts. Ich kann halt Liebe nur und sonst gar nichts“, sang er schräg, wie immer.

Er schaute dabei so pseudo-unschuldig und charmant, dass ich es schon fast wieder verstand.

„Und du hast dann die Ulli angemacht, obwohl du wusstest, wie unsterblich ich in sie verliebt war, du Sausack. Aber lang ist’s her, Schwamm drüber.“

„Ich wollte dir nur mal zeigen, wie einfach das ist. Es war eine Lektion, mehr nicht. Aber du mit deinen katholisch verklebten Augen hast das nicht verstanden. Klappt es denn jetzt besser mit dir und den Frauen?“

Ich stellte die Ohren auf. Ob wir in diesem Augenblick die Kurve zur Gegenwart kriegten? Denn es interessierte mich schon, was der jetzige Harras so machte.

„Du kannst beruhigt sein, ich brauche keine neuen Nachhilfestunden mit dem Holzhammer von dir. Ich habe nach langem Suchen und Ausprobieren eine wunderbare Frau gefunden, die ich vor sieben Jahren geheiratet habe. Und wir haben einen siebenjährigen Sohn zusammen, den kleinen Karl. Danke, es geht mir gut.“ Ich sah ihn stolz an.