Über dieses Buch

In einem Vorort von Zürich schießen im April 1943 zwei junge Menschen aufeinander zu. Felix ist gezeichnet von fünf Jahren Flucht und Fremdenlegion, Louise ist eine zornige Schweizerin, Jungkommunistin und Lehrerin in der Sonntagsschule. Beide sind hungrig nach einer besseren Welt, sie gründen eine Familie.

75 Jahre nach dem ersten Zusammentreffen seiner Eltern spürt ihnen Eric Bergkraut in seinem autobiografischen Roman nach, erzählt von diesen Leben in der großen Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, folgt ihnen von Wien nach St. Maur und Paris, nach Albisrieden, Limoges, Fes und Aarau. Er erzählt von der List des Überlebens und der Last der Verfolgung, vom Lebenshunger und familiären Verstrickungen, den Spuren, die sich bei ihm und seinen Geschwistern niedergeschlagen haben, die er vielleicht bei seinen Kindern hinterlässt.

«Paradies möcht ich nicht» erzählt konzis und poetisch, tabufrei und warmherzig die individuellen Schicksale einer Familie im Strudel der grossen Geschichte bis zum heutigen Tag.

«Eric Bergkraut schreibt die Erinnerungen seiner Familie auf und baut eine Brücke über den Tod, die Pfeiler sind die wunderbaren, atmenden Details, welche die Vergänglichkeit abschaffen.» Michail Schischkin

Foto Ayşe Yavaş

Eric Bergkraut, geboren 1957 in Paris, ab 1961 aufgewachsen in der Schweiz. Ausbildung zum Schauspieler an der Schauspielakademie Zürich. Engagements am Theater sowie für Film und Fernsehen. Seit 1991 Dokumentarfilmer, u.a. über Anna Politowskaja, Agota Kristof, Peter Bichsel, Michail Chodorkowski).

In Erinnerung an Selma Bergkraut Bodmer und
Egon Bergkraut, meine Eltern. Mit großem Dank
an alle, die mir beim Schreiben geholfen haben.

In einem Vorort von Zürich fliegen im April 1943 zwei Menschen aufeinander zu. Sie treffen sich nur, weil rundherum Krieg herrscht. Sie stammen von unterschiedlichen Planeten, nichts hält sie auf. Louise ist sechzehn Jahre alt, zornige Jungkommunistin und zugleich Lehrerin in der christlichen Sonntagsschule. Felix ist zehn Jahre älter, Meister des Überlebens, gezeichnet von Flucht und Fremdenlegion. Beide sind hungrig nach einer besseren Welt; sie gründen eine Familie, sie sind meine Eltern.

Das Wiener Telefonbuch

Ich bin an vier Orten soweit zu Hause, dass mein Name an der Tür steht und eine Zahnbürste bereitliegt. Gelegentlich weiß ich nicht sicher, wo ein Buch steht, das ich suche. Ich träume regelmäßig, ich schlösse meine Pariser Wohnung auf und dahinter öffne sich nichts als ein Loch.

Meine Eltern lebten mir und meinen beiden Ge­­schwis­tern eine extreme Sparsamkeit vor, es war fast schon Geiz. Als Gastgeber waren sie großzügig. Fuhren wir in unserem ewigen dunkelblauen 2CV oder Deux cheveaux mit dem aufrollbaren Faltdach in die Ferien nach Südfrankreich, durften immer entweder Cathe­rine oder Edmond einen Freund oder eine Freundin mitnehmen.

Es bleibt mir ein Rätsel, wie wir alle in den Wagen passten, Gepäck gab es auch noch. Die Stimmung war gut, in den Kurven neigte sich die Ente, wie man auf Hochdeutsch sagte, unter dem Gewicht extrem nach links oder rechts, und die Schwerkraft drückte uns vier hinten Sitzenden auf je einer Seite zusammen. Das störte uns nicht, die grobe Federung war typisch für den Deux cheveaux, den wir doch liebten, schon weil er eine Antwort war auf ein anderes Tierchen, das wir hässlich fanden, den VW Käfer. Außerdem ergab es sich, dass eine Freundin meiner Schwester, Regi, in der er­sehnten Kurve fast mit mir verschmolz oder sich, ein andermal, Michèles luftig langes Haar im Fahrtwind des offenen Daches über mein Gesicht legte.

Anders als in der Schweiz kehrten wir in Bistrots ein, der erste Diabolo menthe war die Begrüßung in Frankreich. Louise und Felix sangen gerne, wenn es über die endlosen, baumgesäumten Landstraßen ging, die regelmäßig schroff abfielen, es war vor der Zeit der Autobahnen. Den Schwung galt es zu nutzen, um trotz schwachem Motor den auf dem Fuß folgenden Aufstieg zu schaffen. Autofahren war noch ein kleines Abenteuer, Felix ein Pilot.

Einmal hielten wir am Straßenrand, um zu hören, wie Staatspräsident Charles de Gaulle eine Ansprache hielt. Autoradio hatten wir nicht, einen Transistorempfänger mit Batterien schon. Als der General, der immerhin Frankreich mitbefreit hatte, zum Schluss ausrief: Vive la République, vive la France, brüllten meine Eltern mit und die großen Geschwister auch, und ich träumte davon, wenn schon nicht ein General zu werden, so doch ein ähnlich pathosfähiges Stimmorgan zu entwickeln.

An einem meiner Lebensorte, in Zürich, steht ein sehr altes, rotes Telefonbuch im Regal. Wie war es in meinen Besitz gekommen? Edmond hatte mit der Familie gebrochen, aber Catherine hütete die Relikte der Geschichte fast eifersüchtig. Das Buch machte mit mir viele Umzüge, lange hatte ich es fast vergessen, bis es mir wieder in die Hand fiel, ich begann, darin zu blättern.

In der großen Stadt an der Donau, in die meine Vorfahren einst aus Galizien eingewandert waren, war es vor dem Zweiten Weltkrieg nicht selbstverständlich, in einem solchen Buch zu erscheinen, ein Telefonanschluss war etwas Besonderes. Ich entdeckte einen Ad­ler, Dr. Alfred (Seite 3 ) oder einen Freud, Dr. Sigmund (Seite 155 ).

Wohl gehörte es sich für meinen Großvater Rudolf, in diesem Buch Platz zu finden, ein Telefonanschluss war ja auch praktisch. Er war ein technikinteressierter ehemaliger Erster-Weltkriegs-Hauptmann, bewunderter Besitzer des ersten fahrbaren Staubsaugers weit und breit. So ist heute das abgewetzte rote Wiener Telefonbuch, Ausgabe Mai 1938, in meinem Besitz. Bestimmt hat es Rudolf, ein Mann, der Ordnung geschätzt hat, zu­sam­men mit allerhand Möbeln 1938 zunächst nach Paris geschickt.

Rudolf, aufrechte Gestalt mit glattem Gesicht, einer graden Nase ohne jeden sogenannt jüdischen Anklang, stets im Anzug und korrekt gescheitelt, und seine Frau, meine Großmutter Aranka, energische, klein gewachsene Frau, in Budapest geboren, mit damals schon angegrautem Haar, besaßen offizielle Ausreisedokumente.

Akkurat wie später jene für die Vernichtung waren auch die Formalien für den Transport des Hausrates verfasst. Gegen erhebliche Gebühren war es möglich, Möbel und anderes außer Landes zu schaffen, natürlich auch das rote Buch. Es war in der Emigration ohne praktischen Nutzen, eine schnelle Rückkehr war unvorstellbar, aber Rudolf und Aranka wollten sich nicht trennen vom Buch und den vielen Namen, die darin standen.

Schwieriger war es, selber heil in ein anderes Land zu gelangen. Die Ausreisepapiere konnte man auf dem Amt beantragen, es war ein demütigender Gang und teuer. Die Bescheinigung durch das nunmehr Deutsche Reich garantierte aber in keiner Weise die Aufnahme durch ein anderes Land.

Die beiden hatten einen Plan: Sohn Richard, in Paris lebend, hatte einen Helfer gefunden, der ab Saarbrücken die illegale Einreise nach Frankreich vorbereiten sollte. Treuherzig legte Rudolf dem SS-Mann an der Gren­ze die gültigen Nachweise vor, das kümmerte diesen nicht, er schickte beide zurück, man wolle den Franzosen auf der anderen Seite keinen Ärger machen, das seien auch nur Menschen. Es nutzte nichts, dass Großvater daran erinnerte, die Familie sei zu Hause keineswegs wohlgelitten.

Ein Bett für die Nacht fand man, als Aranka den Portier des Hotels an einen biblischen Pilger erinnerte, der einst in Not eine Unterkunft gesucht hatte; dann ging es zurück an die Donau, hier waren am ehesten nütz­liche Informationen zu erhalten, vielleicht gar neue Papiere. Es war Dezember 1938, Wien voller Hakenkreuze, die Auslagen dekoriert für Weihnachten, die Nazis und ihre Mitläufer waren fast unter sich. Aranka und Ru­­­dolf versteckten sich bei einer Schwester, die bleiben wollte, aber sie wussten, dass sie wieder wegmussten, schnell sogar.

Ein Passeur für die deutsche Seite wurde über Be­kannte gefunden, es gab einen Markt für dergleichen, wie auch für Einreisedokumente, echt oder falsch, die sich bewährten oder in den Tod führten. Treffpunkt Saarbrü­cken, Wartesaal Bahnhof erster Klasse, Erkennungszeichen: Aktentasche und vier rote Nelken.

Aber niemand, auf den die Beschreibung gepasst hätte, saß zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Platz. Der Wartesaal der dritten Klasse blieb die Nacht offen, den Kopf auf den Tisch gestützt, dösten beide vor sich hin, bis die Züge wieder fuhren, es ging nach Frankfurt und abends zurück nach Saarbrücken. Wichtig war, das Grenzgebiet zu verlassen, die Gestapo kontrollierte diese Zone, es herrschte Willkür.

Am Abend, wieder im Saal erster Klasse, sahen die beiden einen Mann mit Aktentasche, aber ohne Nelken. Man näherte sich vorsichtig, ein Lothringer, wie er er­klärte, er verlangte als Erstes, noch im Bahnhofsge­lände, die ausgemachte Summe, dann drängte er zum Aufbruch.

Der Passeur führte das Paar im Auto vorbei an Kohleminen und dann zu Fuß bis an den Merlebach, es war tiefe Nacht, der 6. Januar 1939, exakt 68 Jahre später sollte meine Tochter Juliette zur Welt kommen, eine Nachzüglerin, geboren in einen Männerhaushalt. Es war Vollmond, und um Mitternacht habe sich dieser gezeigt, genau in dem Augenblick, als die beiden in der Mitte des Flüsschens standen. Ich hätte das nicht zu schreiben gewagt, hätte nicht wiederum Juliette in der Gaststätte eines Tessiner Bergdorfes, keine hundert Meter entfernt vom Felsen, von dem sie Kopf voran und jedes Mal zu meinem Schrecken in das Becken eines Bergflusses zu springen pflegte, per Handy eruieren können, dass tatsächlich Vollmond war, wenn auch schon am 5. Januar um 22.29.42 Uhr, aber wer wollte es schon so genau nehmen.

Der Schlepper hatte sie vorausgeschickt und war am Ufer zurückgeblieben, das Gepäck, einen Rucksack und einen Handkoffer, hatte er ihnen abgenommen, damit sie besser durch das Flüsschen waten könnten. Als aber die Großeltern sich am anderen Ufer nach ihm umdrehten, war der Mann schon unterwegs zurück nach Saarbrücken und mit ihm ihre Habe.

Aranka und Rudolf waren in einem sprichwört­lichen Niemandsland, keinem Land zugehörig, sie gin­gen weiter, die Richtung ungefähr, da entdeckten sie nach einer Viertelstunde in der Ferne ein kleines, näherkommendes Licht, das stetig größer wurde, ein Glück ohnegleichen, es waren Richard und der elsässische Passeur, seit Stunden im Auto unterwegs, kreuz und quer.

Der Elsässer hatte seine Sache gut gemacht: Noch bevor das französische Zollhäuschen im Blick seiner Passagiere auftauchte, bremste er das Fahrzeug ab, fuhr im Schritt weiter, hupte lang und betont kräftig, die Großeltern lagen jetzt geduckt auf der Rückbank, niemand zeigte sich im Haus, in dem es dunkel blieb, man war in Freiheit.

Später, als der große Krieg ausbrach und die deutschen Truppen sich rasend schnell Paris näherten, wurde mein Großvater, von den Franzosen als feindlicher Ausländer betrachtet, in der Normandie eingesperrt, er konnte ja ein Spion sein, während meine Großmutter die Metro bis zur südlichsten Haltestelle nahm, Porte d’Orléans, und zu Fuß aufbrach durch den nicht besetzten Teil des Landes, vierhundert Kilometer weit.

Mein Vater Felix weilte zu diesem Zeitpunkt wie seine Brüder Richard und Theo in Nordafrika: Sie hatten sich für die Fremdenlegion verpflichtet, sie hofften, in den Krieg ziehen zu dürfen. Rudolf gelang es, mittels ei­­­ner Leiter über den Zaun des Lagers zu klettern, er schlug sich bis nach Limoges durch, in die unbesetzte Zone, wo er Aranka fand, wenigstens war das Paar jetzt wieder vereint.

Gewiss hat zu diesem Zeitpunkt niemand aus der Familie Gedanken verschwendet an den Verbleib des Wiener Telefonbuches. Ich weiß, dass die Möbel aus Wien irgendwann im Jahr 1941 in Limoges angekommen sind. Sissy muss sich darum gekümmert haben, die Frau meines Onkels Richard, die als französische Jüdin Privilegien genoss.

Sie und Richard verkauften später in Limoges einen Teil dieser Möbel, das wurde ihr Geschäft, die Ein­nah­men teilte man sich in der Familie redlich. Aber wie kommt es, dass außer dem Telefonbuch heute auch ein aus Wien stammender sogenannter Servierboy aus Ma­hagoni bei mir steht? Warum wurde dieses Stück damals in Limoges nicht verkauft, wo es für die Familie doch dringend darum ging, zu Geld zu kommen?

Ich nehme an, dass das amtliche Teilnehmerverzeich­nis aus Wien 1941/42 in Limoges war und vermutlich bis 1945 auch blieb, aber wo?

Es gab bald keine Wohnung mehr, die von Dauer war, die Brüder waren wieder zu den Eltern gestoßen, sie wechselten den Standort öfter, die französische Re­gierung verschärfte die Gesetze gegen Juden, es begannen Verhaftungen, Frauen waren noch ausgenommen, Männer kamen manchmal wieder frei, den Brüdern half, dass sie als ehemalige Soldaten Kontakte hatten zu amtlichen Stellen, mehrmals warnten Beamte vor an­stehenden Razzien, die Résistance war in Limoges stark und gut organisiert. Die Monate vergingen und die Razzien in Limoges wurden systematisch, für die Kontaktleute wurde es gefährlich, die Flüchtlinge zu warnen. Einmal noch konnten sich die Brüder bei der Mutter eines bekannten Soldaten verstecken, als die franzö­sischen Milizen kamen.

Ab und zu nehme ich das rote Telefonbuch aus dem Regal und verliere mich darin. Es war Rudolfs amtliche Versicherung, zur Wiener Gesellschaft zu gehören. Er entstammte dem polnischen Ostjudentum, Assimilation war ihm wichtig gewesen und hatte ihn doch nicht geschützt. Auf dem Deckel oben rechts prangt der deutsche Reichsadler mit dem Hakenkreuz am Fuße, die erste Doppelseite ist unbedruckt, rechts steht groß in Ru­dolfs nach oben fliehender Handschrift sein Name.

In diesem Punkt hatte der Führer aus Braunau recht gehabt. Was er rausgekrächzt hatte, mit dieser gepresstesten aller Stimmen, war nicht mehr und nicht weniger als eine «Vollzugsmeldung», Österreich war parat gewesen. Zwei Monate nach diesem «Anschluss» war das neue Telefonbuch schon gedruckt gewesen. Nach Hinweisen wie «Nimm Dir ein Telefon, dann bist Du nicht allein», folgen direkt die NSDAP-Nummern: Von der «Arbeitsfront» bis zum «Zentralverlag der NSDAP», sie zeugen von der neuen Ordnung, die über diese Stadt gekommen war, als sei sie für ewig, dann erst begann das reguläre Buch mit dem Eintrag «Aaabas, Sicherheitsschlösser».

Mein Exemplar ist vermutlich 1945 von Limoges nach Paris gegangen, als Großvater Rudolf seinen Kindern aus der Schweiz dorthin folgte. Und 1961 von dort nach Aarau, als die Großeltern wiederum ihrem jüngsten Sohn nachzogen, das Schicksal hatte die Familie unentrinnbar verbunden.

Irgendwann hatte Großvater im ganzen Buch von 734 Seiten die Namen aller ihm persönlich bekannten Menschen rot angestrichen. Er kannte viele Leute, als ehemaliger k.u.k. Offizier, aktiver Sozialdemokrat und Mitglied einer Freimaurerloge. So reicht die Liste der Kolorierten von «Abeles, Ing. Erwin» bis zu «Zwecker, Dir. Wilhelm (Ruth)».

Auf Seite 167 fand ich einen überraschenden Gegenstand, ein getrocknetes, nicht vier-, sondern fünfblättriges Kleeblatt. Auf welchem Boden diese Pflanze einst gewachsen war und wie sie ins Buch gekommen ist?

Die Clivia

Felix wusste genau, was sich in seinem Heimatland im Jahr 1938 vorbereitete, obwohl manche Nachrichten, die vom großen Nachbarn über die letzten paar Jahre gekommen waren, zunächst zu schlimm geklungen hatten, als dass er sie für ganz wahr hätte halten können. Zug um Zug hatte er und hatten seine Nächsten etwas bemerkt, was ich viel später an ganz anderen Orten und in ganz anderen Zusammenhängen auch feststellen sollte: Menschen konnten sich in einer Weise verhalten, die viel schlimmer war als alles, was man sich nur vorstellte.

Vater hatte sofort zu trainieren begonnen, als er das Studium der Jurisprudenz abbrechen musste. Den Körper und den Geist. Es war Training fürs Überleben. Auf einem toten Arm des Donaukanals ruderte er seine Kilometer, das war gut für Muskeln und Ausdauer. Und hatte den Vorzug, dass man weder zu Hause noch auf der Straße aufgegriffen werden konnte. Dabei konnte er die Browning aus Vaters Schublade in der Donau versenken, Waffen sollte man zu Hause niemals finden. Er besuchte einen Kurs in Automechanik und stellte sich geschickt an, das war wertvoll. Und er übte Französisch und Englisch, das waren die Sprachen, die man würde brauchen können.

Der «Anschluss» Österreichs an das Deutsche Reich mit des Diktators hunderttausendfach fanatisch be­jubeltem Auftritt auf dem Heldenplatz war ein Schock, trotz aller Erfahrung der letzten Monate. Schlimm war nicht Hitler, waren nicht die Nazis, schlimm waren die ehemaligen Mitschüler und Nachbarn, die jetzt alle auftraten, als seien sie Nazis. Oder waren sie es geworden?

Felix streifte durch die Stadt, alleine, die Beine lenkten ihn zum Tempel, wie man die Synagoge nannte, ei­nem Ort, wo er sonst selten war. Nur wenige Juden hatten sich versammelt, die Stimmung war gedrückt, sie beteten, geredet wurde kaum. Vater reihte sich ein, blieb eine Weile, ging dann weiter.

Später war er in der Praterstraße bei Annie, seiner Freundin, sie lernte Schneiderin, unten hatten die El­tern einen Schreibwarenladen, der war mit Brettern ge­schützt, aus dem ersten Stock beobachteten die beiden mit Abstand zum Fenster das Treiben der entfesselten Männer in weißen Kniesocken und braunen Hemden.

Dann ging Felix nach Hause. Im Haus Schüttelstraße 27, direkt am Donaukanal, brannte hinter allen Fenstern außer in jenen der beiden jüdischen Familien eine Kerze, so hatten es die Nazis gewünscht, platziert zwischen Vor- und Hauptfenster. Wer mit ihnen einverstan­den war, sollte das deutlich für alle zeigen. Und wer es nicht war: Das wusste man jetzt.

Als Felix die Wohnung im zweiten Stock betrat, vor zwei Monaten erst war der Esstisch aus Kirsche geliefert worden, Maßarbeit, der Sitz der sechs entsprechenden Stühle war geflochten, an den Lehnen versehen mit Kupferverschlägen, die zwei Früchte am Stiel darstellten, saß sein Vater im Lehnstuhl neben seiner geliebten Clivia, einer Zimmerpflanze, die ursprünglich aus Südamerika stammt und damals sehr in Mode war, die schmalen langen Blätter wuchsen symmetrisch nach zwei Seiten aus dem Topf in die Höhe, um dann abzufallen und spitz zu enden.

Mutter sei schon im Bett und lasse grüßen, meldete er knapp. Dann schwieg er, fassungslos, erschlagen. Va­ter und Sohn saßen eine Weile da, zu reden gab es nichts. Außer vielleicht noch: Wo ist Theo, wann kommt er nach Hause, weißt du es?

Ein paar Tage später versuchte Felix, auf der englischen Botschaft eine Einreiseerlaubnis zu erhalten. Er ging auf der Kärntnerstraße Richtung Stephansdom, als er fünfzig Meter weiter eine Sperre aus Polizei und SA bemerkte. Es war zu spät, unbemerkt abzudrehen, hinten stand ein Lastwagen mit offenen Bänken und grünem Verdeck bereit, um die Verhafteten wegzubringen. Wo­hin, wusste man.

Felix tat instinktiv das Richtige, trat scheinbar seelenruhig ein paar Meter vor der Sperre vom Gehsteig auf die Straße, ging ohne jede Hast an dieser vorbei, um nach ein paar Metern ebenso seelenruhig, aber mit ra­sendem Herzschlag, wieder auf das Trottoir zu treten, bloß nicht schneller werden oder sich gar umdrehen. Niemand hatte ihn bemerkt.

«Ich wusste mir zu helfen, aber ich war dafür nicht geschaffen», sagte mir Felix Jahrzehnte später, da saß er in einer Schweizer Kleinstadt auf einem ausgebeulten braunen Stoffsofa in einem düsteren Raum. Auch hier stand, auf einem Schemel vor dem Fenster, eine Clivia, sie war groß gewachsen, fleischig die Triebe. Hatte meine Mutter mit der Pflanze ihrer Schwiegermutter Reverenz erweisen wollen, obwohl sie es ihr nie hatte recht machen können, sosehr sie sich auch bemüht hatte?

Felix gehörte nicht zu jenen, welche später nie zu­rückkehrten in die Stadt der Jugend. Aber es brauchte seine Zeit, bis er reiste, und er blieb vorsichtig dabei, auf der Hut, als könnte da plötzlich wieder eine Sperre ­stehen. Er fuhr später auf Klassentreffen, und glücklich stimmte ihn, dass da eine Frau war, Botschafterin mittlerweile, die von sich aus die alten Zeiten ansprach und nicht wie andere tat, als sei damals nichts Besonderes vorgefallen.

Halma im Oktober

Wenn Louise die Spielfigur bewegte und in ein neues Loch steckte, fiel mir auf, dass zwischen dem Handknochen im Vorlauf zum Zeigefinger und dem seitlichen Ansatz des Daumens gar kein Fleisch mehr war, nur Haut.

Mutter war dünn geworden, ich hatte sie ein paar Wochen lang nicht gesehen. Zum Tisch, vorne am Fenster, wo das Halmabrett stand, bewegte sie sich bevorzugt im Rollstuhl, manchmal ging sie an meinem Arm. In beiden Fällen drehte sich Louise eineinhalb Schritte vor dem Stuhl um und ließ sich, die Richtung einigermaßen einschätzend, rücklings in den Sitz plumpsen. Das machte mir jedes Mal Angst, erinnerte aber auch an den Moment, als ich erstmals gesehen hatte, wie der Hochspringer Dick Fosbury rücklings über eine Latte gesegelt war.

Das Spielfeld war eine runde Holztafel, ursprünglich vielleicht zur Benutzung als Schnittbrett in der Kü­che gedacht, mit regelmäßig eingebohrten Öffnungen. Als Spielfiguren dienten grüne und weiße Stifte mit feinen Rillen an den Seiten, nicht unähnlich jenen, die Ikea zur Montage von Gestellen mitliefert, womöglich waren es gar solche. Keine Ahnung, woher das Brett stammte, Mutter wusste es auch nicht, vielleicht aus einer Werkstatt handicapierter Menschen?

Mich erstaunte, wie Louise Sprünge nach vorne über Rückwärtszüge einleitete. Keck sei ich, meinte sie, wenn auch mir ein geschickter Zug gelang, beide wollten gewinnen, jedenfalls brauchte ich mich nicht ab­­sicht­lich ungeschickt anzustellen, die zwei Züge, die ihr noch fehlten, als alle meine Figuren am Ziel waren, wollte Louise noch ausführen. Der Sportsgeist imponierte mir, und ich fragte mich, weshalb wir erst jetzt angefangen hatten, miteinander Halma zu spielen. Ich mochte die Ruhe, Konversation war nicht nötig, es war ein Spiel der Wiederholungen, auch wenn jede Konstellation einzig war.

Im dritten Stock des Hauses zur Bachwies, in dem sie jetzt lebte, ging es bunter zu als vorher im achten. Ein paar Bewohner hatten Ticks, ein Mann im Entree machte mit seinem rechten Arm stete Kreisbewegungen, ein anderer spielte ununterbrochen mit einer Perlenkette, wie man sie aus Griechenland kennt, andere lachten schrill oder schienen im Dauerschlaf. Ins­gesamt gab es hier, wie die leitende Ärztin sagte, weniger Kontrolle über die Psyche der Insassen und daher mehr Emotion als im achten Stock, wo sich die Damen und Herren dumpf von Medikamenten den ganzen Tag im Wohnzimmer aufhielten, meist ohne Regung.

Zuvor war Mutter immer wieder abgeprallt mit ihrem deutlichen Wunsch nach Austausch, nach Erfahrung. War sie die kleine Louise aus dem Chratz, war sie die Alte aus dem Heim, verloren war sie oft, verloren in der Zeit, verloren in der Welt. Zuletzt hatte sie aus ihrem Zimmer heraus durch die offene Tür so oft Hallohallo gerufen, dass es lästig geworden war. Man hatte be­­schlos­sen, ihre Rufe seien pathologisch und Mutter gehöre daher in den dritten Stock, wo ihre Rufe sich in den an­deren verloren und vom Personal mit mehr Verständnis aufgenommen wurden.

Als ich mit Louise erstmals den Aufenthaltsraum betreten hatte, sagte sie: Es bedrückt mich, die sind alle meschugge, die Männer mehr noch als die Frauen, ich selber bin es auch, aber nur halb, lass uns ins Zimmer ge­hen.

Auf dem Weg hatte sich mir eine Clara vorgestellt und meine Hand geküsst wie auch jene von Juliette, die dabei war, und vorgeschlagen, später mit uns mitzukommen. Meine Tochter besuchte Louise gerne, auch ohne mich, die beiden konnten Stunden zusammen verbringen, der Großmutter gefiel, dass ihre Enkelin sich in die Bewegung zur Verteidigung der Umwelt ein­gereiht hatte. Sie war stolz darauf, dass Juliette im­mer wieder in den Klimastreik trat, obwohl die Schullei­tung es ebenso verboten hatte wie irgendwann auch ich, ihr Vater. Amüsiert ließ sich Louise erzählen, wie die Lehrerin immer hilfloser nach einer passenden Stra­fe suchte.

Aus dem Gang schon hatte ich in Mutters Zimmer eine andere, füllige Frau entdeckt, die vorne am Fenster gemütlich am Brötchen kaute, das Juliette neben dem Halmabrett hatte liegen lassen. Sie und ich fanden das komisch, es war wie im Theater, Louise aber war durch die Frau verwirrt, ich bat sie aus dem Zimmer, täglich begleitete Mutter die Not, sie müsse den Ort wechseln, sie sei nirgends zu Hause.

Zur Welt gekommen war Louise fast einundneunzig Jahre vor diesem Halmaspiel in Albisrieden, heute ein Quartier von Zürich, damals ein Dorf. Im Chratz, dem Dorfteil gleich hinter der Kirche, bestehend aus lauter alten Fachwerkbauten, betrieb ihr Großvater das Restaurant Alperösli. Die Pöstler kehrten täglich zum Zvieri ein, Landjäger und Cervelat gab es, die Lehrer kamen zweimal jährlich zum Examensessen, ihnen wurde no­bler Pot-au-feu serviert. Der Großvater, gelernter Schuhmacher, klein und untersetzt, mit Nickelbrille, war zu­gleich Friedensrichter, er sollte den Streit im Dorfe schlichten.